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JULIUS von KIRCHMANN
(1802-1884)
Die Grundbegriffe des
Rechts und der Moral

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"Die Lust oft als das Ziel des Begehrens definiert, und das Begehren dementsprechend als die Wirkung der vorgestellten Lust; allein damit erhält man so wenig Aufschluß über ihre Natur, als vom Menschen, wenn man ihn als die Ursache seines Schattens, und vom Donner, wenn man ihn als die Wirkung des Blitzes definiert. Besonders beliebt ist die Definition, wonach die Lust in einer Steigerung der Macht zu handeln, oder der Lebenskraft besteht. Allein im besten Fall sind die Lust und diese Steigerung nur kausal miteinander verbunden; deshalb kann aber das Eine nicht zur Definition des Anderen benutzt werden. Man kann die drei Seiten eines Dreiecks nicht durch seine drei Winkel definieren, obgleich beide untrennbar zusammengehören."

"Der Begriff der  Bildung  beruht weniger auf einem gesteigerten Wissen oder einer höheren Sittlichkeit, als auf einer veränderten Empfänglichkeit für die Ursachen der Gefühle. Im Allgemeinen erhöht die Bildung die Reizbarkeit für dieselbe, so daß schwache Ursachen die gleiche Wirkung, wie grobe beim rohen Menschen hervorbringen."

"Die Sitten der Menschen zeigen oft sehr sinnreiche Einrichtungen, um die Lust durch den Wechsel zu erhöhen, oder den Schmerz durch die Abstumpfung zu mindern. Man wechselt deshalb bei einem Gastmahl mit den Weinen, bei einem Ball mit den Tänzen, bei der geselligen Unterhaltung mit den Gegenständen; aber man wechselt nicht gern in der Art der Ausführung der täglichen Arbeit, weil die gleiche Art gegen das Schmerzliche derselben abgestumpft hat."

"Die müßigen Reichen vermissen die Arbeit als Unterbrechung des Geniessens schmerzlich; deshalb suchen die Verständigen darunter nach einer Arbeit. Ohne Arbeit steigert sich die Abstumpfung für die Genüsse des Lebens so, daß gerade die Reichsten aus Lebensüberdruß häufig zum Selbstmord schreiten."


II. Die Gefühle der Lust

A. Das Wesen der Lustgefühle

1. Mit  "Lust"  und  "Lustgefühlen"  werden hier der Kürze halber alle Gefühle bezeichnet, welche den Gegensatz zu den Gefühlen der Achtung oder den sittlichen Gefühlen bilden; es sind also darunter, wo der Sinn nicht das Gegenteil ergibt, auch die  Schmerzgefühle  mit zu verstehen.

2. Die Lust und die Achtung sind oben als die Beweggründe des Handelns dargelegt worden. Es wird sich ergeben, daß außer ihnen keine weiteren bestehen; sie sind die beiden Quellen, aus denen alles menschliche Handeln hervorgeht und bald gesondert, bald verbunden, in kleinen und großen Strömen und in den mannigfachsten Windungen die Welt durchfließt. Indem diese Beweggründe sich zu vielfachen Arten besondern, welche mit dem Äußerlich-Seienden und mit dem Wissen der Seele in einem mannigfachen ursächlichen Zusammenhang stehen, ist ersichtlich, daß es vor allem auf eine genaue Erforschung dieser Quellen ankommt, um den Inhalt und den Reichtum der aus ihnen abfließenden Handlungen und Gestaltungen des Lebens zu verstehen. Die Lustgefühle sind zunächst in Betracht zu nehmen. Es ist notwendig, sie in ihrer Reinheit und frei von aller Beimischung sittlicher Elemente zu untersuchen; ähnlich, wie dies von SPINOZA geschehen ist. Nur in dieser Isolierung kann ihre Natur richtig und erschöpfend erfaßt werden. Es werden deshalb in diesem Abschnitt die Lustgefühle rein wie ein Gegenstand der Natur betrachtet werden.

3. Durch diese Spaltung der Beweggründe des Handelns in zwei Arten besondert sich auch der Begriff des Sittlichen. Es bildet sich damit der Begriff des  Sittlichen im engeren Sinne,  welcher das Handeln aus dem Beweggrund der Achtung bezeichnet; ihm gegenüber kann das Handeln aus Lust als das  natürliche,  nur nach Naturgesetzen sich bestimmende Handeln bezeichnet werden. Es ist deshalb im Folgenden unter "Sittlich" das Sittliche im engeren Sinne zu verstehen, wo der Zusammenhang nicht klar das Gegenteil ergibt.

4. Die  Lust  und der  Schmerz  können ebensowenig wie das Wollen definiert werden. Das Eigentümliche derselben kann nur durch die Selbstwahrnehmung erfaßt werden; Jeder kennt deshalb nur seine  eigene  Lust und seinen  eigenen  Schmerz; der Vorstellung des fremden Gefühls kann er nur sein eigenes unterlegen. Aber aus dieser Quelle sind ihm auch seine Gefühle auf das Genaueste bekannt. Diese eindringende, durch kein Organ vermittelte Erkenntnis bei der Selbstwahrnehmung hat SCHOPENHAUER verleitet, sie als eine  intuitive  Erkenntnis zu behandeln, welche von der Spaltung ihres Inhaltes in Objekt und Subjekt befreit ist. Andere, wie SPINOZA und HERBART, sind dadurch verleitet worden, die Lust mit dem Wissen und Denken identisch zu setzen und nur als eine Besonderung des letzteren zu behandeln.

5. Allein die Lust ist, wie das Begehren, vielmehr der Gegensatz des Wissens; jene beiden bilden die  seienden  Zustände der Seele, welche nicht, wie das Wissen, nur ein Anderes (den Gegenstand) spiegeln und in diesem Anderen sich selbst verlieren; sondern welche für sich bestehen, auf kein Anderes hinweisen, nicht das Bild eines Anderen bieten, vielmehr selbst einen Gegenstand oder Inhalt für das Wissen abgeben. Sie sind deshalb zwar in der Regel vom Wissen (Bewußtsein) begleitet, allein in ihrem Dasein nicht davon abhängig. Es besteht oft ein Kopfschmerz, welchen man im Eifer der Arbeit vergißt, nicht bemerkt, aber dessen Dasein doch nachher aus der lähmenden Wirkung auf den Gedankengang geschlossen werden kann. Alle Systeme, welche die Lust mit dem Wissen identisch setzen, sind daher genötigt, den Unterschied unter einem anderen Namen wieder einzuführen, und eine Vermischung von Zuständen so durchaus entgegengesetzter Natur dient nicht, die Erkenntnis zu fördern, sondern zu verwirren.

6. Man hat eine Menge von  Definitionen  der Lust versucht, welche aber zum größten Teil nur auf andere Worte hinauslaufen. Wo man eine sachliche Definition versucht hat, wird darin nicht die Lust, sondern nur ihre Ursache oder Wirkung erläutert; so eine Beziehung auf ein Anderes gibt aber keinen Aufschluß über den Inhalt und das Wesen der Lust selbst. So wird die Lust oft als das Ziel des Begehrens definiert, und das Begehren demnächst als die Wirkung der vorgestellten Lust; allein damit erhält man so wenig Aufschluß über ihre Natur, als vom Menschen, wenn man ihn als die Ursache seines Schattens, und vom Donner, wenn man ihn als die Wirkung des Blitzes definiert. Besonders beliebt ist, nach dem Voranschreiten SPINOZAs, die Definition, wonach die Lust in einer Steigerung der Macht zu handeln, oder der Lebenskraft besteht. Allein im besten Fall sind die Lust und diese Steigerung nur kausal miteinander verbunden; deshalb kann aber das Eine nicht zur Definition des Anderen benutzt werden. Man kann die drei Seiten eines Dreiecks nicht durch seine drei Winkel definieren, obgleich beide untrennbar zusammengehören.

7. Die Beobachtung zeigt, daß die Lustgefühle unterschiedene  Grade  der Stärke annehmen können, und daß das Steigen und Abnehmen derselben allmählich stattfinden kann; es besteht so ein Nullpunkt, wo Lust und Schmerz verschwinden. Dieser Umstand hat SCHOPENHAUER veranlaßt, die Lust nur als die Minderung oder Verneinung des Schmerzes zu nehmen, ähnlich wie in der Physik die Kälte nur als die Minderung der Wärme gilt. Der Schmerz allein soll das  Seiende  sein (Die welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Seite 657). Allein mit demselben Recht könnte umgekehrt der Schmerz als die Verneinung, und die Lust als das Bejahende und Seiende behauptet werden. Die Selbstwahrnehmung bietet  beide  Gefüle als Seiende, welche nicht bloß im Grad, sondern auch in der Art verschieden sind. Beide können bis zum Nullpunkt oder zur Gefühllosigkeit herabsinken, aber beide sind, indem sie sich über diesen Nullpunkt erheben, ein Positives.

8. Die Gefühle treten in den meisten Fällen gleich mit einer bestimmten Stärke plötzlich ein, und KANT hat Unrecht, wenn er für jedes Dasein einer Empfindung ein Werden derselben behauptet, was vom Nullpunkt beginnen muß (Kr. d. r. V., Seite 190). Ebenso brauchen sich diese Gefühle in ihrer Stärke nicht immer allmählich zu ändern, sondern können auch sprungweise steigen oder fallen. Man freut sich über das Geschenk einer Brieftasche, wenn man aber Kassenscheine als zweites Geschenk darin findet, erhält die Freude einen plötzlichen und sprungweisen Zuwachs. - Die Stärke der Gefühle ist in der Regel auf- und absteigend; kein Gefühl erhält sich, selbst auch nur auf Minuten, in gleicher Stärke. Dies gilt auch für die Gefühle aus dem Körper; es wird sich später ergeben, daß dieses Schwanken die Folge des Wechsels im Vorstellen ist. - Der Mensch ist der Lust und des Schmerzes nur bis zu eingem gewissen Grad fähig; wird dieser Grad überschritten, so schlägt die Freude in Schmerz um, oder es tritt eine Betäubung ein, welche alles Gefühl aufhebt. Dies gilt für alle Arten der Gefühle.

9. Die  Zeitdauer  der einzelnen Gefühle ist, wie die des Begehrens, infolge ihrer  seienden  Natur länger als die Dauer der einzelnen Vorstellungen. Letztere erhalten vielmehr eine ausnahmsweise längere Dauer nur durch eine Verbindung mit Gefühlen oder Begehren. Gefühle aus dem Körper verschwinden mit ihrer körperlichen Ursache; es bleibt nur die Erinnerung. Gefühle anderer Art können ihre Ursache überdauern. Der körperliche Schmerz aus einer Ohrfeige verschwindet mit der Rückkehr der sensiblen Nerven in den normalen Zustand; allein der Schmerz aus der damit erlittenen Schmach hält tagelang ununterbrochen an, selbst wenn man nicht daran denkt, wie sich aus der Lähmung der geistigen Tätigkeit und veränderten Empfänglichkeit für die Vergnügen erhellt; und doch ist dieser Schmerz nur aus Vorstellungen entsprungen, welche im Laufe des Tages anderen Platz machen. - Jede gewaltsame Abkürzung der Dauer eines Gefühls wirkt deshalb störend und wird als ein Unnatürliches unangenehm empfunden. Dies gilt selbst für den Schmerz. Auch hier will man sich ausweinen, und die Tröstungen der Freunde dürfen nicht zu schnell beginnen. Deshalb sind auch unvermittelte Kontraste in Kunstwerken für das ästhetische Gefühl verletzend. Umgekehrt wirkt jede zu lange Dauer eines Gefühls abstumpfend; d. h. das Gefühl sinkt im Grad, wenn nicht neue Ursachen verstärkend auf dasselbe einwirken.


B. Die Ursachen der Lustgefühle

1. Lust und Schmerz sind die Gattungsbegriffe, welche sich in eine reiche Zahl von  Arten  besondern. Diese Arten sind von den Arten der Ursachen bedingt, welche das Gefühl bewirken. Die Sprache hat deshalb nur wenige selbständige Worte für die Bezeichnung der Arten gebildet; sie werden vielmehr, wie die Gerüche, durch ihre Ursachen bezeichnet. Die Beobachtung zeigt, daß in der Verknüpfung der Gefühle mit ihren Vorbedingungen gelten deshalb als ihre Ursachen. Insbesondere zeigt sich, daß die Gefühle nicht vom bloßen Wollen abhängig sind; man kann sich nicht vornehmen, heute traurig und morgen lustig zu sein; die Gefühle hängen von anderen Umständen ab, und der Wille kann nur mittelbar, durch die Herbeiführung dieser Ursachen, dabei einwirken. Damit widerlegt sich die Identität von Wollen und Gefühl, welche SCHOPENHAUER in seinem Willen als Ding-ansich annimmt. Das Gefühl ist so wenig Wollen wie Wissen, sondern der dritte elementare Zustand zu jenen.

2. Die Mannigfaltigkeit der Ursachen der Gefühle erscheint unerschöpflich; dennoch gelingt es der Beobachtung, sie auf  acht  obere Arten zurückzuführen, deren nähere Betrachtung für die Erkenntnis der sittlichen Welt unentbehrlich ist. Diese Ursachen sind weder selbst ein Gefühl, noch ein Begehren, sondern entweder ein Zustand des eigenen Körpers oder ein Vorstellen der Seele. Die Lust ist demnach entweder
    1) eine Lust aus dem  eigenen  Körper, oder
    2) eine Lust aus dem  Wissen,  oder
    3) eine Lust aus der  Macht oder
    4) eine Lust aus der  Ehre oder
    5) eine Lust aus dem  Leben oder
    6) eine Lust aus  fremder  Lust oder
    7) eine Lust aus der  kommenden  Lust oder
    8) eine Lust aus dem  Bild  der Lust
Weitere Ursachen der Lust gibt es nicht; alles Einzelne, was Lust gewährt, fällt unter eine von diesen acht Arten.

3. Für den  Schmerz  bestehen gleiche Ursachen durch die Umkehrung jener. Die Ursachen des Schmerzes sind nicht bloße Verneinungen der Ursachen der Lust, sondern bejahende Bestimmungen, welche aber den konträren Gegensatz zu den Ursachen der Lust bilden. Im Leben gilt allerdings die Verminderung oder Aufhebung einer Ursache der Lust schon als Schmerz, und umgekehrt. So gilt der Verlust eines Kindes als schmerzlich, obgleich er nur die Aufhebung einer Ursache der Lust enthält, und keine bejahende Ursache des Schmerzes. Ebenso gilt die Freisprechung von einer schweren Anklage als eine Ursache der Lust, obgleich sie nur die Aufhebung einer Ursache des Schmerzes ist. Diese Täuschung entspringt aus einer Verschiebung des Nullpunkts zwischen Lust und Schmerz im Vorstellen des Fühlenden. Nur im  Vergleich  mit dem vorigen Zustand gilt bei der Freisprechung der gegenwärtige als der bessere; läßt man aber diese Rücksicht beiseite, so besteht nur ein Zustand, wie damals, als noch gar keine Anklage stattfand und deshalb dieser Zustand damals gar nicht als eine besondere Lust gegolten hat. Dies zeigt, daß die Meinung auf einer Täuschung beruth.

4. Die Lust aus dem  Körper  wird gewöhnlich die  sinnliche  Lust genannt. Es gehört dahin die Lust aus dem Essen, Trinken, der Bewegung, der Ruhe, der Wärme, aus dem Fahren, Reiten, aus dem Wohlgeruch der Blumen, aus der Elastizität der Polster, aus dem Kitzel, aus dem Geschlechtstrieb usw. Ebenso mannigfach sind die Schmerzen aus dem Körper. Beide sind aber nur in der Seele; im Körper ist nur die  Ursache  des Gefühls, welches der Leidende nur fälschlich in den kranken oder reizenden Teil verlegt, weil die sensiblen Nerven von dort die Wirkung aufs Gefühl vermitteln. PLATO schwankt noch über die geistige Natur der Gefühle aus dem Körper; ARISTOTELES erkennt sie schon bestimmter an. Diese Gefühle aus dem Körper sondern sich nach dem Unterschied der Ursachen in die mannigfachsten Unterarten. Kenner unterscheiden verschiedene Weine nicht bloß nach ihrem gegenständlichen Geschmack, sondern auch nach dem Unterschied der Lust, weshalb sie auch nicht vom Geschmack, sondern vom Wohl geschmack  derselben sprechen.

5. Die Art, wie der Körperzustand das Gefühl in der Seele erweckt, ist unbekannt und unerkennbar. Die sensiblen Nerven erscheinen dabei als die Organe; aber die Kluft zwischen Geist und Körper schneidet hier jede Erklärung und Beobachtung ebenso ab, wie beim Wahrnehmen (siehe E 2). Selbst die angebliche Einheit oder Identität von Seele und Körper führt dabei nicht weiter, weil die Unterschiede, wenn auch mit anderen Worten in diese Einheit wieder eingeführt werden müssen, und daher die Frage nach der Art ihrer Verknüpfung immer wiederkehrt. Die Lust aus dem Körper ist die vorherrschende bei Tieren, bei Kindern und bei rohen Menschen; daher besteht ein Vorurteil gegen dieselbe, von dem sich selbst die Wissenschaft nicht hat freihalten können.

6. Die Lust aus dem  Wissen  entspringt daraus, wenn das Wissen für wahr gehalten wird, oder das  Seiende  bietet. Sie sonder sich in die Lust aus der  Neugierde  und aus der  Wißbegierde,  von denen die erste auf das Einzelne, die letzte auf das Allgemeine geht. Der Nutzen und Gebrauch, der für andere Zwecke vom Wissen gemacht werden kann, gehört nicht zur Lust aus dem Wissen;, hier ist es die Wahrheit allein, welche erfreut. Die Freiheit oder der Selbstzweck der Wissenschaften beruth darauf, daß sie fähig sind, als bloße Wahrheit diese Lust zu erwecken. Der Zweifel, der Irrtum, die Täuschung bewirken den Schmerz, welcher dieser Lust gegenübersteht. Die Lust aus dem Wissen genießt auch der Erfinder und Entdecker eines Neuen. Da die Philosophen vorzugsweise diese Lust aus dem Wissen genießen, so ist sie von ihnen als die höchste behauptet, ja aslebst zu einem sittlichen Gefühl erhoben worden. PLATO und ARISTOTELES erklären die Erkenntnis für das höchste Gut; bei SPINOZA ist seine intellektuelle Liebe zu Gott nur die Lust aus der Wissenschaft und Philosophie; sie vertritt bei ihm das Sittliche, dessen wahrer Begriff in seiner Ethik fehlt. Dies sind Beispiele, wie selbst bei den größten Denkern persönliche Neigungen in Gestaltung des Sittlichen sich geltend machen.

7. Die Lust aus der  Macht  entspringt gleichsam aus einer Umkehrung der Lust aus dem Wissen. Diese entsteht, wenn das Seiende in Gewußtes umgewandelt wird; jene aus der Macht entsteht, wenn das Gewußte in Seiendes umgesetzt wird. Diese Lust entspringt nur aus dieser  Verwirklichung  des Vorgestelltten, ohne eine weitere Rücksicht auf die Folgen. Deshalb erscheint diese Lust am reinsten in den tätigen Spielen. Diese Lust empfindet der Knabe, der über einen breiten Graben springt; der Reiter, der ein Pferd bändigt; der fertige Spieler; der, welcher ein Rätsel errät; der Beamte, welchem Gehorsam geleistet wird; der Theoretiker, wenn er von seinem Wissen eine Anwendung macht und sich damit die Natur unterwirft; der Besitzer des Geldes, auch ohne daß er Gebrauch davon macht. Der Geizige ist deshalb nicht so töricht, als er gewöhnlich hingestellt wird; er genießt in der Regel eine dauernde Lust aus der Macht infolge des Besitzes des Geldes als der, welcher andere Ursachen der Lust dafür eintauscht.

8. Die Lust aus der  Ehre  wird oft mit den sittlichen Gefühlen verwechselt. Es kann sein, daß die Regeln der Ehre dieselben Forderungen stellen, wie das Recht und die Moral; allein beide sind dadurch wesentlich verschieden, daß das Gebot der Ehre nur um der  eigenen  Ehre wegen befolgt wird, während das sittliche Gebot in Hingebung und Achtung vor den sittlichen Mächten befolgt wird. Im Sittlichen verschwindet das Ich in die Erhabenheit der Autorität; bei der Ehre ist das eigene  Ich  das Herrschende; das Ich will sich dabei unverletzt, d. h. ohne den Schmerz der Schande erhalten. Deshalb gehört das Gefühl aus der Ehre zu den Lustgefühlen. Auch HEGEL sagt (Werke Bd. X, Seite 174): "Der Mann von Ehre denkt bei allem zuerst an sich und nicht, ob etwas an und für sich recht ist."

9. Die Ehre selbst besteht in der Anerkennung der Nebenmenschen in Bezug auf einen Vorzug, welchen der Geehrte von ihnen besitzt. Welcher Art dieser Vorzug ist, hängt ganz von der Meinung und den Sitten der Anderen ab. Unter Studenten bringt die Stärke im Biertrinken Ehre; unter Offizieren die Gewandtheit im Duell; unter Mädchen, die Erste beim Tanz zu sein. Unter Dieben bringt die Geschicklichkeit im Stehlen und unter Hofleuten die Geschicklichkeit im Schmeicheln Ehre. Der Genuß aus der Ehre ist in all diesen Fällen derselbe und höchstens im Grad verschieden. Die äußeren Zeichen, durch welche die Anerkennung kund gegeben wird, wechseln nach den Ländern und Zeiten, sind aber an sich gleichgültig. Ein Lorbeerkranz bei den Griechen gewährte dieselbe Lust, wie ein seidenes Band von der Dame beim Turnier im Mittelalter, und wie ein Orden oder Titel in der Gegenwart. Der Gegensatz der Ehre ist die  Schande,  d. h. der Schmerz, in Bezug auf einen Vorzug unter die Anderen gestellt zu sein. Zwischen beiden steht die  Gleichheit  mit den Anderen, welche von den Juristen als die  gemeine Ehre  erklärt wird. Sie dient nur als Maßstab für die Verletzung der Ehre, ohne selbst eine Quelle der Lust zu sein.

10. Die Lust aus  fremder Lust  und der Schmerz aus fremdem Schmerz ist das, was gemeinhin  Liebe  genannt wird. ARISTOTELES sagt (Rhetorik 2, 4): "Lieben ist, daß wir für jemanden das wollen, was er für gut hält, und zwar seinetwegen, nicht unseretwegen." Noch trefender sagt LEIBNIZ (Nouveaux essais II. 20 § 4): "Liebe ist die Empfänglichkeit für die eigene Freude an der Vollkommenheit, dem Wohl oder Glück des geliebten Gegenstandes." Die Lust des Anderen wird hier der Zweck, weil sie die Ursache der eigenen Lust ist. In dieser Verknüpfung von Gegensätzen liegt das Wunderbare der Liebe. Man kann als ihr Ziel ebenso gut das fremde Wohl, wie die eigene Lust setzen. Deshalb erzeugt die Liebe eine so innige Verbindung, und die Liebe ist deshalb von jeher für Philosophen und Dichter, welche das Überschwängliche liebten, eine unerschöpfliche Fundgrube gewesen für geistreiche, d. h. den Widerspruch enthaltende Aussprüche.

11. Bei einer nüchternen Betrachtung verschwinden diese Wunder der Liebe; es bleibt die hier gegeben Definition, welche nicht mehr Wunderbares hat, als jede andere ursächliche Verknüpfung unterschiedener Dinge. In Wahrheit ist alle Liebe so egoistisch, wie jede andere Lust, die  eigene  Lust bildet auch hier den Beweggrund, die  fremde  Lust ist nur das Ziel, weil es als Ursache der eigenen gilt. Dies ist so wahr, daß jede junge Frau sich unglücklich fühlt, wenn ihr Mann sie zwar durchaus liebevoll behandelt, aber dies nur aus Pflicht, oder nur ihretwegen tut und nicht um seiner eigenen Lust willen; erst wenn das letztere geschieht, fühlt sich die Frau geliebt.

12. Die Liebe ist nicht bloß Lust, sondern kann auch den Schmerz enthalten; jedes Gefühl im Geliebten weckt das gleiche im Liebenden. - Die Empfänglichkeit für die Liebe gehört zur menschlichen Natur; nur besondere Umstände können sie aufheben oder in ihr Gegenteil, den  Hass,  verkehren, welcher die Lust aus fremdem Schmerz, und der Schmerz aus fremder Lust ist. Durch die Liebe ist ein Gleichgewicht zwischen fremder Lust und eigener Lust hergestellt, welches die Grundlage aller Gemeinschaft der Menschen bildet. Der bloße Nutzen würde dafür nicht ausreichen; auch ist sein Wirksamkeit die spätere, welche die Liebe nie ganz ersetzen kann. Dies gilt nicht bloß für die Ehe und die Familie, sondern auch für die Gemeinde und den Staat. Als Patriotismus tritt diese Liebe im Staat hervor. Deshalb ist es auch falsch, wenn HOBBES und andere den Naturzustand mit dem Krieg aller gegen alle beginnen lassen. Dies findet nicht einmal bei geselligen Tieren statt.

13. So wie die Ehre, so wird auch die Liebe oft mit dem sittlichen Prinzip verwechselt und in der christlichen Moral ist sie ausdrücklich zu einem solchen Prinzip erhoben. Dies darf jedoch nicht wörtlich genommen werden, wie es von der Mehrzahl der christlichen Morallehrer geschieht. Im Neuen Testament ist die Liebe nicht allein durch die Klugheit, d. h. durch die Rücksicht auf das eigene Wohl beschränkt, sondern auch durch sittliche Gebote geregelt. So erscheint die Liebe, insbesondere die Liebe zu Gott, nur als Beweggrund, aber nicht als Leiter und Wegweiser für das richtige und sittliche Handeln. Inwiefern diese Verbindung von sittlichen Beweggründen mit denen der Lust ausführbar ist, wird später untersucht werden.

14. Innerhalb des wirklichen Lebens erscheint eine so überwiegende Betonung des Prinzips der Liebe, wie sie bei der christlichen Moral geschieht, wenig gefährlich, da der Egoismus schon von selbst die nötige Korrektur darin anbringt, und beim Kampf beider eher jene, als dieser eine Stütze bedarf. Allein die Wissenschaft sollte sich hüten, ein solches Prinzip ohne weiteres an die Spitze des Systems zu stellen, da jeder Knabe schon einsieht, daß nur eine  vernünftige  Liebe dazu geeignet sein könnte, und damit anerkannt ist, daß die Liebe allein nicht genügt, um das Sittliche aus ihr zu entnehmen.

15. In der Ethik SPINOZAs herrscht nur der Egoismus; die Sorge für das Wohl anderer beruth da nicht auf der Liebe, sondern darauf, daß der Mensch dem Menschen der nützlichste Gegenstand ist und deshalb im  eigenen  Interesse erhalten und gepflegt werden muß. SPINOZA kennt wohl die Liebe;; allein sie ist bei ihm nur die  eigene  Lust, begleitet von der Vorstellung der diese Lust bewirkenden Ursache. hier fehlt das Wesentliche der Liebe, nämlich die fremde Lust als Ziel und Ursache der eigenen Lust. Deshalb liebt man nach SPINOZA auch die Eisenbahn, welche das schnelle Reisen ermöglicht, und haßt den Ofen, an dem man sich verbrennt.

16. Die Lust aus dem  Leben  scheint nur ein begrifflicher Auszug aus den einzelnen Arten der Lust zu sein, weil ohne Leben keine Lust genossen werden kann. Allein das Leben ansich ist eine selbständig Quelle der Lust, welche wirksam bleibt, auch wenn es im Übrigen nur Ursachen des Schmerzes erfüllen. Deshalb hält auch der Todkranke und von Schmerzen Geplagte am Leben fest; es ist als solches, als Dasein ansich, noch eine Quelle der Lust neben den Schmerzen. In dieser Lust liegt wesentlich der Schutz gegen den Selbstmord; sittliche Motive würden nicht ausreichen; wie dann auch die sittliche Frage hierüber bei vielen Völkern eine offene ist.

17. Die  Furcht vor dem Tod  kann leicht widerlegt werden, wenn man des Ausdruck wörtlich nimmt. Dann ist der Tod nur die Verneinung des Daseins, ein Nichts, was mithin keine Ursache eines Schmerzes sein kann und daher nicht gefürchtet zu werden braucht. Dies sind die Gründe der  Stoiker  und CICEROs. Allein man mag auch die vorhandenen Ursachen der Lust nicht verlieren und schützt deshalb das Leben, als Ursache einer solchen Lust. Trotzdem wird in gewöhnlichen Verhältnissen keine Lust weniger empfunden, als die aus dem Leben. Es ist dies die Folge der Abstumpfung, weil diese Ursache ohne Unterlaß vorhanden und wirksam ist. Deshalb tritt diese Lust erst dann stärker hervor, wenn eine Gefahr den Verlust des Lebens nahe gebracht hat, und also gleichsam eine Unterbrechung dieser Lust stattgefunden hat.

18. Die Lust aus der  kommenden Lust  ist die  Hoffnung;  der Schmerz aus dem kommenden Schmerz ist die  Sorge,  im höheren Grad die  Angst Die Gewißheit des Eintreffens der Ursache steigert diese Gefühle. Die Ungewißheit ist deshalb diesen Gefühlen nicht wesentlich, wie SPINOZA (Ethik III, L 50) meint. Hoffnung und Sorge können in einem solchen Fall wechseln, aber die Hoffnung und die Angst sind nicht schon selbst solche Mischungen von Lust und Schmerz, vielmehr ist die Hoffnung reine Freude, die Angst reiner Schmerz, welche sich nur durch die Ungewißheit des Eintreffens einander ablösen und damit auch gegenseitig im Grad schwächen. Durch die Hoffnung wird die Lust der Zukunft schon in eine gegenwärtige umgewandelt und so die Lust des Menschen verdoppelt. Indem die Hoffnung das Kommende in einem rosigen Licht sieht, ist ihre Lust oft größer als die spätere aus der Erfüllun. Durch die Hoffnung kann selbst der bitterste Schmerz der Gegenwart gemildert werden, weil die Zukunft nie ohne Elemente der Lust ist. Aber umgekehrt kann auch die Gegenwart durch die Sorge verbittert werden. SPINOZA (Ethik IV. L 67) tadelt die Sorge und sagt: "Der freie Mensch denkt "über das Leben und nicht über den Tod." Die Lösung dieses Widerstreits wird später erfolgen.

19. Die letzte Lust ist die aus dem Bild der Lust, oder die Lust aus der  Schönheit Ihr steht der Schmerz aus dem Bild des Schmerzes oder aus der Häßlichkeit gegenüber. Diese Definitionen können nur in der Ästhetik ihre Begründung erhalten, und darum wird in dieser Beziehung auf meine "Ästhetik" verwiesen (Berlin 1868). Indem diese Gefühle nicht aus dem wirklichen Gegenstand, sondern nur aus dessen  Bild  entspringen, erhalten sie, wie dieses, eine bildliche oder  ideale  Natur, vermöge deren diese idealen Gefühle den Willen des Menschen nicht bestimmen, ihn nicht in den Kampf der realen Welt verwickeln und somit seine Freiheit nicht beschränken. Dadurch unterscheidet sich der Genuß des Schönen von den Genüssen des Realen.

20. Hiermit sind die elementaren Arten der Lust und ihrer Ursachen erschöpft. Im wirklichen Leben treten die Gefühle selten in dieser elementaren Absonderung auf; vielmehr enthalten die meisten Handlungen und Zustände die Ursachen zu mehreren Arten der Lust oder des Schmerzes zugleich. Dadurch fließen die mehreren Arten der Lust zu einer Mischung zusammen, und ebenso die des Schmerzes. Solche Gefühle erhalten damit den Anschein, als wenn sie unter jenen acht Arten nicht begriffen wären; eine genauere Betrachtung vermag jedoch diese Elemente leicht in ihnen nachzuweisen.

21. So ist die Lust bei einem  Festmahl  zunächst die sinnliche aus dem Essen und Trinken; weiter die Lust aus der Schönheit der Tafelaufsätze und des Geschirrs; weiter die Lust aus dem Wissen in Anhörung der Stadtneuigkeiten; weiter die Lust aus der Ehre, infolge eiens glücklich ausgebrachten Trinkspruchs; weiter die Lust aus fremder Lust, wenn man sieht, wie Frau und Tochter sich ebenfalls erfreuen. Alle diese Arten der Lust fließen allmählich in  ein  Gefühl der Fröhlichkeit zusammen, welches deshalb den Schein eines Besonderen annimmt. - So enthält das Vergnügen an der Jagd
    1) die Lust aus der Macht in Erlegung des Wildes;

    2) Die Lust aus dem Körper im Genuß der frischen Luft und der Bewegung;

    3) die Lust aus der kommenden Lust, in Erwartung des ankommenden Wildes und späteren Frühstücks;

    4) die Lust aus der Ehre, infolge des reichlich erlegten Wildes.
22. Die Eitelkeit einer schönen Frau enthält
    1) die ideale Lust aus der eigenen Schönheit;

    2) die Lust aus der Ehre infolge der ihr vor Anderen erwiesenen Aufmerksamkeiten;

    3) die Lust aus der Macht über die Männer, welche von ihrer Schönheit gerührt sind.
Überwiegt diese letzte Art der Lust, so gilt die Frau als  kokett.  Verliebt sich die Frau, so geht all diese Lust in der Lust und dem Schmerz ihrer Liebe, d. h. des Geliebten, unter. Diese Beispiele werden genügen, um dananch auch die gemischten Gefühle anderer Verhältnisse in ihre Elemente aufzulösen.

23. Da der bei weitem größte Teil allen menschlichen Handelns aus den Beweggründen der Lust hervorgeht, so ist die Auflösung der Tätigkeiten und Vergnügungen des Lebens in die hier dargelegten elementaren Motive von hohem Interesse und bietet in Wahrheit den Schlüssel zu den Rätseln des Lebens. Wenn man sich durch längere Übung diese Auffassung zur Gewohnheit gemacht hat, so fällt der bunte Glanz und die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des menschlichen Treibens wie eine äußerliche Maske vom Inneren ab; es bleiben als Kern nur jene acht elementare Arten der Lust und des Schmerzes und ihre Verbindungen. Um diese allein handelt es sich überall; auf diese ist es von Jedermann abgesehen; sie sind die Mächte, welche die Maschine der menschlichen Gesellschaft in Bewegung setzen und erhalten. Die Gesetze dieser Bewegung gestalten sich dann zu derselben Einfachheit, wie sie für die gleiche Fülle und Mannigfaltigkeit der Naturvorgänge in den elementaren Stoffen und Kräften der Physik und Chemie gewonnen worden ist.


C. Die Empfänglichkeit

1. Die vorstehend betrachteten Ursachen der Lust sind für sich allein noch nicht ausreichend, das Gefühl zu bewirken; es muß ein  Zweites  hinzukommen, d. h. ein entsprechender Zustand des Körpers oder der Seele auf Seiten des Fühlenden, welcher hier mit  Empfänglichkeit  bezeichnet werden soll. Indem die Philosophie diese Bedingung nicht genügend beachtete, hat sich in ihr die Meinung von der Zufälligkeit der Gefühle gebildet, welche auch von KANT festgehalten wird. Wird dagegen dieser Faktor mit in die Rechnung gezogen, so zeigt sich hier dieselbe Gesetzlichkeit, wie in den Vorgängen der äußeren Natur.

2. Die Untersuchung der letzten Elemente dieser Empfänglichkeit ist die Aufgabe der Physiologie und Psychologie. Hier können nur die näheren Umstände in Betracht genommen werden. Danach zeigt sich die Empfänglichkeit für die Ursachen der Gefühle von  vier  Umständen bedingt:
    1) von der  natürlichen  Anlage;
    2) von der  Bildung; 
    3) von der  Abstumpfung  und
    4) von der  Ausgleichung. 
3. Die Unterschiede in den  natürlichen Anlagen  sind bekannt. Der Eine ist empfänglicher für die Lust aus der Ehre, der Andere für die Lust aus dem Wissen, der Dritte für die sinnliche Lust, der Vierte für die ideale Lus aus dem Schönen. Sie bestimmen deshalb in der Regel die Wahl des Berufs. Wegen dieses Unterschiedes der Anlage wirkt dieselbe Ursache bei verschiedenen Menschen sehr verschiedene Grade der Lust. Diese Anlagen sind bedingt von einer größeren Feinheit der einzelnen Sinnesorgane, von einer, nach einer bestimmten Richtung überwiegenden Kraft des Denkens und oft auch von einem besonderen Geschick in gewissen körperlichen Fertigkeiten und Bewegungen. - Hierher gehören auch die vorübergehenden Zustände, wonach das Essen nur dem Hungrigen, die Ruhe nur dem Müden, das Tanzen nur der Jugend Lust gewährt.

4. Die  Bildung,  der zweite Umstand, welcher die Empfänglichkeit bestimmt, ist nicht Naturgabe, sondern das Ergebnis der menschlichen Tätigkeit. Hierher gehören die Wirkungen der Erziehung, des Umgangs, der besonderen Lebensweise und Beschäftigung. Deshalb ist die Empfänglichkeit eines Bergmannes eine andere, als die eines Matrosen, und eine Ursache der Lust für diesen ist eine Ursache des Schmerzes für jenen. Deshalb liebt jeder Stand seine Lebensweise; deshalb ist die Empfänglichkeit eines Wilden eine andere, als die eines Gesitteten. Der Begriff der  Bildung  beruht weniger auf einem gesteigerten Wissen oder einer höheren Sittlichkeit, als auf einer veränderten Empfänglichkeit für die Ursachen der Gefühle. Im Allgemeinen erhöht die Bildung die Reizbarkeit für dieselbe, so daß schwache Ursachen die gleiche Wirkung, wie grobe beim rohen Menschen hervorbringen. Auch wird dadurch die Empfänglichkeit für einzelne Arten der Lust geändert; der Gebildete ist stärker als der Rohe für fremde Lust empfänglich; daraus geht sein feines und rücksichtsvolles Benehmen gegen Andere hervor. Die Bildung steigert nicht die Summe des Glücks, aber sie ändert die Art desselben.

5. Da die wissenden und seienden Zustände der Seele zu einer innigen Einheit in ihr verbunden sind, so liegt die Vermutung nahe, daß die für ein höheres Wissen empfängliche Seele auch eine höhere Empfänglichkeit für die Gefühle besitzt. Der geistig überlegene Mensch wird deshalb vergleichsweise jede Art von Lust und Schmerz tiefer fühlen als der geistig schwächere Mensch. Deshalb können die Indianer Amerikas ihre Torturen, welche sie als Gefangene von ihren Siegern erleiden, leichter ertragen als die Europäer. Dasselbe gilt für die Tiere; Tiere auf den untersten Stufen des Tierreichs scheinen den Verlust ihrer wichtigsten Organe kaum so schmerzlich zu empfinden, wie der Mensch einen Schnitt in den Finger. Das Mitleid mit den Tieren, welches diesen Unterschied übersieht, gerät deshalb leicht in eine Übermaß. Aus dem gleichen Grund wird die Lust und der Schmerz der Erwachsenen bei gleicher Ursache stärker sein als der der Kinder.

6. Die Empfänglichkeit wird  drittens  durch die  Abstumpfung  bestimmt. Bei der steten Fortdauer einer Ursache des Gefühls nimmt die Empfänglichkeit dafür ab, so daß zuletzt das Gefühl trotz des Fortbestehens der Ursache ganz erlischt. Dieses Gesetz gilt ebenso für die Lust, wie für den Schmerz. Die letzten Stücke eines Konzerts wirken trotz der gleichen Schönheit einen schwächeren Genuß. Eine romantische Gegend, die man alltäglich aus dem Fenster sieht, wird zuletzt mit Gleichgültigkeit betrachtet. Die Freude über einen Ordne sinkt nach einigen Monaten so, daß man nach einem neuen verlangt.

7. Wenn das  Neue  und der  Wechsel  als eine besondere Ursache der Lust behauptet wird, so ist das unrichtig; es ist damit nur das Gesetz der Abstumpfung anerkannt. Das Neue ist nicht ansich eine Ursache der Lust, sondern es steigert nur die Wirksamkeit einer solchen, weil die Empfänglichkeit dafür noch nicht geschwächt ist. Die Sitten der Menschen zeigen oft sehr sinnreiche Einrichtungen, um die Lust durch den Wechsel zu erhöhen, oder den Schmerz durch die Abstumpfung zu mindern. Man wechselt deshalb bei einem Gastmahl mit den Weinen, bei einem Ball mit den Tänzen, bei der geselligen Unterhaltung mit den Gegenständen; aber man wechselt nicht gern in der Art der Ausführung der täglichen Arbeit, weil die gleiche Art gegen das Schmerzliche derselben abgestumpft hat. Aus dem gleichen Grund scheuen ältere Männer sich vor neuen Kleidern und vor neuen Moden.

8. Die hohe Bedeutung der  Arbeit  liegt neben der Beschaffung der Mittel zum Unterhalt wesentlich darin, daß sie die Empfänglichkeit für die Lust wiederherstellt. Jede Arbeit ist eine Unterbrechung des Genießens; sie muß eine Art von Schmerz in sich haben, damit für die übrige Zeit die Lust wieder ihre Stelle einnehmen kann. Deshalb ist das Prinzip FOURIERs falsch, welcher die Arbeit selbst zu einem Vergnügen umwandeln wollte. Die müßigen Reichen vermissen die Arbeit als Unterbrechung des Geniessens schmerzlich; deshalb suchen die Verständigen darunter nach einer Arbeit. Ohne Arbeit steigert sich die Abstumpfung für die Genüsse des Lebens so, daß gerade die Reichsten aus Lebensüberdruß häufig zum Selbstmord schreiten.

9. Der letzte Umstand, welcher die Empfänglichkeit bestimmt, ist die  Ausgleichung.  Es ist damit ein zweifaches Gesetz bezeichnet. Das  erste  lautet, daß die Lust nicht im gleichen Verhältnis mit der Ursache wächst, sondern in einem geringeren. Der zweite Taler, den man in die Sparkasse einlegt, macht mehr Freude als derselbe Taler, wenn man schon fünfzig drin hat. Der erste Orden macht glücklicher als der zweite, selbst wenn dieser ein höherer ist. Das Kommando über eine Kompagnie macht dem Leutnant mehr Freude, als dem Obristen das spätere über ein Regiment.

10.  Zweitens  liegt in dieser Ausgleichung, daß mit jedem Dasein einer starken Lust die Empfänglichkeit für die Lust überhaupt und  alle  Arten derselben abnimmt, dagegen die für den Schmerz sich steigert. Der Schmerz wirkt das Umgekehrte. Reiche Leute, überhaupt Alle, denen es gut geht, sind für die Vermehrung der Genüsse ihres Lebens sehr unempfindlich; dagegen verletzt sie schon eine kleine Ursache des Schmerzes tief. Der Arme, der Bedrängte empfindet dagegen solche Kleinigkeiten gar nicht; aber für jede auch noch so kleine Ursache der Lust zeigt er die stärkste Empfänglichkeit.

11. Diese Gesetze der Abstumpfung und der Ausgleichung sind im Verein mit den beiden anderen Bedingungen der Anlage und Bildung für die allgemeine Gleichheit des Glücks unter den Menschen von der höchsten Bedeutung. Hinge das Glück von den im vorigen Abschnitt dargelegten Ursachen allein ab, so würde eine Ungleichheit desselben bestehen, welche kaum zu ertragen wäre. Allein durch diesen zweiten Faktor, durch die Empfänglichkeit, wird diese Ungleichheit bis auf ein geringes Maß in wunderbarer Weise ausgeglichen. Indem hiernach die Lust und das Glück nicht von  einem,  sondern von  zwei  Faktoren bedingt sind, und indem dabei mit dem Steigen des einen Faktors der andere sinkt, erhellt sich, daß das Glück, als das Produkt aus beiden, für Arme und Reiche, für Kranke und Gesunde, für Dumme und Gescheite das Gleiche ist. Nur die kurzen Zeiträume, in denen sich die Abstumpfung oder die Ausgleichung noch nicht haben entwickeln können, bringen einen Unterschied hinein.

12. Es bleibt höchst merkwürdig, daß, obgleich Jedermann diese Verhältnisse in der Theorie so ziemlich anerkennt, dennoch im Leben die Jagd nach dem einen, nach dem  äußeren  Faktor des Glücks mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit bis zur letzten Stunde des Lebens fortgeht, und zwar in allen Ständen, von den Niedersten bis zu den Höchsten, von den Ungebildeten bis zu den Gebildeten und Gelehrten. Das Streben, die Arbeit Aller geht nur auf Vermehrung der Güter und Ursachen der Lust; Tag und Nacht müht man sich darum, und dennoch erfährt man täglich, daß jede Steigerung in diesen Gütern nach kurzer Zeit durch das unerbittliche Gesetz der Abstumpfung und Ausgleichung seine Wirkung auf die Erhöhung des Glücks verliert, und der Glückszustand trotz aller Mühe der alte geblieben ist. Die Qual der Danaiden besteht daher nicht bloß als Fabel in der Unterwelt, sondern auch als Wirklichkeit in der Oberwelt. Mühsam werden ohne Unterlass die Ursachen der Lust in das Gefäß des Glücks geschöpft, obgleich Alle sehen, wie jeder Zusatz durch die Ritzen der Abstumpfung und Ausgleichung schnell wieder abläuft.

13. Die Lehre von der Empfänglichkeit ist in den bisherigen Systemen noch sehr mangelhaft oder gar nicht behandelt. SPINOZA berührt sie in seiner Ethik nur nebenbei in zwei einzelnen Fällen. KANT hat sie gar nicht beachtet; daher seine Meinung, daß auf dem Gebiet der Gefühle überhaupt keine Gesetzlichkeit besteht und deshalb alle aus der Lust abgeleiteten Prinzipien keine objektive oder allgemeine Geltung haben. Diese Vernachlässigung ist ums auffallender, da viele im Leben oder in der Wissenschaft umlaufenden Begriffe ohne die Lehre von der Empfänglichkeit weder verstanden noch definiert werden können.

14. So sind die  Neigungen  weder ein Fühlen, noch ein Wollen, noch ein Handeln; sie sind nur eine gesteigerte Empfänglichkeit für bestimmte Ursachen der Lust. Die  Schwächen  oder  schwachen Seiten  eines Menschen bezeichnen dasselbe. Indem die aus diesen Ursachen für ihn hervorgehende Lust einen höheren Grad als bei Anderen erreicht, werden die sittlichen Gebote von ihm hier am leichtesten verletzt, und der Mensch kann hier am leichtesten von Anderen nach ihrem Willen geleitet werden.

15. Auch die  Temperamente  bezeichnen wesentlich diese Unterschiede in der Empfänglichkeit für die Gefühle, neben dem Unterscheid in der Beharrlichkeit derselben. Der  Sanguiniker  ist leicht zu erregen (d. h. von reizbarer Empfänglichkeit), aber sein Gefühl ist nicht beharrlich. Der  Cholerische  ist leicht erregbar und auch beharrlich. Der  Phlegmatiker  ist schwer erregbar, aber nicht beharrlich. Der  Melancholische  ist schwer erregbar, aber beharrlich. Man kann auch die Temperamente nach der verschiedenen Empfänglichkeit für Lust und Schmerz unterscheiden. In diesem Sinne ist der Sanguiniker mehr für die Lust, der Melancholische mehr für den Schmerz empfänglich. Die Begriffe der Temperamente sind jetzt weniger in Gebrauch, und mit Recht, weil eine solche Empfänglichkeit nur selten besteht, sich vielmehr alle Temperamente je nach den Ursachen und Arten der Lust bei demselben Menschen finden.

16. Auch der  Charakter  hat ein natürliches Element und ist nicht, wie KANT und andere meinen, ein rein sittlicher Zustand. Insofern die Empfänglichkeit für bestimmte Ursachen der Gefühle eine feste und beharrliche ist, bildet sie den natürlichen Bestandteil des Charakters. Deshalb spricht man von gutmütigen, von rachsüchtigen, von boshaften Charakteren, welche mit sittlichen Beweggründen nichts zu tun haben.

17. Die  Affekte  und  Leidenschaften  sind Zustände, in denen Gefühle und Begehren zugleich auftreten; auch  sie  hängen mit der Empfänglichkeit zusammen. Die Affekte entspringen aus sehr starken  äußeren  Ursachen der Gefühle; die Leidenschaft beruth auf der dauernden  Empfänglichkeit  für gewisse Arten der Lust. Deshalb sind die Affekte starke, aber vorübergehende Erregungen; die Leidenschaften sind weniger heftig, schließen deshalb die ruhige Überlegung nicht, wie jene, aus, aber sie dauern länger.


D. Die Wirkungen der Lustgefühle

1. Die bedeutendste Wirkung der Gefühle geht auf den  Willen.  Das Gesetz dafür ist bereits weiter oben gegeben. Allein Lust und Schmerz haben hier die entgegengesetzte Wirkung; die vorgestellte (nicht seiende) Lust weckt das Begehren; die daseiende erlöscht es; der daseiende Schmerz weckt das Begehren; der erloschene (nicht-seiende) Schmerz ist ohne Begehren. Die zeitliche Dauer der Begehren ist deshalb vom Sein des Schmerzes und vom Nichtsein der Lust bedingt.

2. Falsch ist die Meinung vieler Systeme, daß jedes Begehren vor seiner Erfüllung den Schmerz enthält, und daß die Lust nur die Erfüllung des Begehrens oder die Aufhebung dieses Schmerzes sei. Das Begehren ist, als solches, weder Lust noch Schmerz; es hat diese Gefühle nur zur Ursache oder zum Ziel. Insofern das Begehren nicht von einem daseienden Schmerz erweckt ist, sondern nur auf die Verwirklichung einer Lust abzielt, ist das Begehren vor seiner Erfüllung nicht allein frei von Schmerz, sondern sogar von der Lust aus der kommenden Lust des Zieles begleitet, wenn die Verwirklichung sich als wahrscheinlich herausstellt.

3. Die Gefühle zeigen in vielen Fällen auch eine Wirkung auf die  Kräfte  des Körpers und der Seele, so wie auf die Gesundheit von beiden. In der Regel wird beides durch die Lust erhöht und durch den Schmerz gemindert. Daher sind die oben erwähnten Definitionen dieser Gefühle entstanden. Abgesehen davon, daß diese Definitionen sich nicht mit den Gefühlen, sondern nur mit ihren Wirkungen befassen, sind sie auch deshalb falsch, weil jene Wirkungen keineswegs bei jeder Art von Lust und Schmerz eintreten. Es gibt Arten der Lust, die auch schwächend wirken, und Arten des Schmerzes, die stärkend wirken. Die Systeme sind deshalb zu sophistischen Wendungen genötigt. So SPINOZA, welcher unterscheidet, ob die Lust alle Teile des Körpers gleichmäßig erregt, oder einige vor den übrigen (Ethik III, L 11, IV. L 43); nur jene Lust soll gelten. Allein dieser Unterschied ist für die Organismen überhaupt unwahr, und überdies nicht unmittelbar erkennbar; er wird erst aus den nachteiligen Folgen für Kraft und Gesundheit abgeleitet, und die Begründung dreht sich daher im Kreis.

4. Jedes einzelne Gefühl zeigt auch eine Wirkung auf die übrigen, neben ihm zugleich in der Seele bestehenden Gefühle. Lust und Schmerz jeder Art können zugleich in der Seele sein; der Zuschauer im Theater erfreut sich am Stück und leidet dabei an Kopfschmerzen, oder ist in Sorge um eine krankes Kind zuhaues. Der Schmerz der Beleidigung besteht neben der Lust aus der kommenden, bereits vorbereiteten Rache; der Todesschmerz besteht neben der Lust des Sieges im sterbenden Feldherrn usw. Auch verschiedene Arten der Lust können nebeneinander bestehen, und ebenso verschiedene Arten des Schmerzes.

5. Die Arten der Lust gehen eine Mischung mit einander zu  einem  Gefühl ein; solche Mischungen enthält die  Fröhlichkeit,  die  Heiterkeit,  die  Lustigkeit.  Man bezeichnet solche Mischungen oft mit dem Wort  Stimmungen,  weil der Zusammenhang des ganzen Gefühlszustandes mit den einzelnen seiner Ursachen nicht erkannt oder erloschen ist. Ähnliches gilt für die Arten des Schmerzes. Dagegen gehen Schmerz und Lust keine Mischung miteinander zu einem Neutralen ein; es könnte nur die Gleichgültigkeit sein oder der reine Rest eines stärkeren Gefühls, der nach dem Ausgleich beider Gefühle übrig bliebe. Allein die Beobachtung lehrt, daß vielmehr Lust und Schmerz feindlich und getrennt nebeneinander beharren; nur der  Grad  des einen wird durch die Gegenwart des anderen gemindert, und vermöge der Bewegung im Vorstellen besteht dabei ein Auf- und Abschwanken beider im Grad, je nachdem die Aufmerksamkeit sich mehr diesem oder jenem Gefühl zuwendet.

6. Höchst wunderbar ist die Fähigkeit des Menschen, seine Gefühle nicht bloß miteinander zu vergleichen, sondern auch zu  messen Für die verschiedenen Arten einer Gattung mag dies weniger auffallend erscheinen; aber merkwürdig ist, daß auch die Gegensätze selbst, die Lust und der Schmerz, miteinander verglichen und gegeneinander abgewogen werden können, wie jeden die Erfahrung stündlich lehrt. Bei jedem Kauf mißt man den Schmerz des Geldausgebens mit der Lust aus dem Besitz der Sache. Alle Klugheit beruth auf der Möglichkeit dieses Messens. Es kommt hinzu, daß in den meisten Fällen ein daseiendes Gefühl mit einem noch nicht seienden, nur vorgestellten verglichen werden muß. Selbst SPINOZA nimmt dieses Vorgänge als selbstverständlich und hält eine Erklärung nicht für nötig. (Ethik IV. L 65 und 66).

7. Bei verschiedenen Arten der Lust könnte man annehmen, daß durch die Abtrennung des Besonderen einer jeden das Gemeinsame oder Begriffliche derselben, welches damit ein  Gleiches  geworden ist, die Messung ermöglicht. Allein zwischen Schmerz und Lust fehlt dieses Hilfsmittel, weil das Gemeinsame beider, das Gefühl ansich, gerade derjenigen Bestimmung entkleidet ist, auf welche es hier ankommt. Allerdings entbehren diese Messungen der Genauigkeit; es finden vielfache Irrtümer dabei statt; das gegenwärtige Gefühl wird in der Regel gegen das kommende überschätzt; allein all das widerlegt nicht, daß ein Messen und Abwägen beider gegeneinander wirklich stattfindet. Es bleibt daher nur übrig, einfach anzuerkennen, daß im Menschen die Fähigkeit besteht, diese Gefühle gegeneinander abzuwägen, und durch das größere von beiden sein Handeln zu bestimmen, selbst wenn es das noch Nicht-Seiende, sondern Erst-Kommende ist. Nur die tägliche Übung und Gewohnheit hat für das Wunderbare dieser Fähigkeit so abgestumpft, daß selbst die Wissenschaft sie nicht bemerkt, obgleich sie zu den Fundamental-Bedingungen des klugen Handelns gehört.

8. Die Gefühle der Lust und des Schmerzes bilden, wenn man vorläufig noch von den sittlichen Gefühlen absieht, den Kern der menschlichen Seele. All ihr Denken, Wollen und Handeln wird durch diese Gefühle bestimmt, und sie bilden den Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Die Gefühle der Lust sind das letzte Ziel, dem alles andere nur als Mittel dient. Alles Wissen, Denken, Wollen und Handeln hat nur Wert, insofern es Mittel für dieses Ziel ist; die Lust ist der letzte Maßstab allen Wertes; alle anderen Wertmesser sind nur relativ und leiten ihre Gültigkeit im letzten Grund von jenem ab. Kenntnisse, Fertigkeiten, Besitztümer, die Liebe und die Teilnahme Anderer haben nur Wert als Mittel oder Ursachen zur Lust. Inwieweit die sittlichen Bestimmungen hierin eine Änderung herbeiführen, wird im folgenden Abschnitt noch zur Untersuchung kommen.

9. Auch der Begriff des  Nutzens  ruht auf der Lust. Ein Gegenstand gilt als nützlich, wenn er  mittelbar  zu einer Lust führt; das, was zu keiner Lust, auch später nicht, beiträgt, ist unnütz. Wenn Lust und Nutzen als Gegensätze behandelt werden, so geschieht es nur insofern, als das Nützliche erst später oder mittelbar zu einer, aber dafür größeren Lust führt. Der Begriff des Nützlichen wird entstellt, wenn man das Sittliche hineinzieht, wie es mitunter geschieht. Der Begriff des  Wohles  und des  Glücks  beruth ebenfalls auf der Lust. Sie bezeichnet eine Summe und Dauer der Lust, wobei die Arten derselben wechseln können, und wobei die Klugheit durch Abwägung des Einzelnen die höchste Summe derselben vermittelt.

10. Indem in der Lust alles Begehren, aller Mangel erloschen ist, erscheint sie als das Vollkommene, Unbedingte in sich selbst Beruhende und der Schmerz als das Gegenteil. EPIKUR nennt sie deshalb die  Lust in der Ruhe  und stellt ihr die  Lust in Bewegung  gegenüber, unter welcher er nicht die eigentliche Lust, sondern das Begehren versteht, das "Stürmen in der Seele". Was die verschiedenen Arten der Lust anlangt, so kann als Lust keine den Vorrang vor der anderen beanspruchen; nur der stärkere Grad und die längere Dauer, aber nicht die Art der Lust kann hier einen Vorzug begründen. Es steht deshalb die sinnliche Lust jeder anderen gleich, und Systeme, welche das Sittliche nur auf die Lust gründen, verfallen in Einseitigkeit, wenn sie einer Art der Lust den Vorrang vor der anderen zusprechen. Dies trifft selbst PLATO, ARISTOTELES und SPINOZA, welche die Lust aus dem Wissen des Allgemeinen (Philosophie) jeder anderen Lust im Wert voranstellen. Wenn kein Wertmesser neben der Lust besteht, so kann aus dieser selbst kein Unterschied für den höheren Wert einzelner Arten abgeleitet werden. Ein Volk, in welchem Jeder dieser Lust aus der Philsophie nachstreben wollte, würde vielmehr sogar die Mittel für diese Lust zuletzt nicht mehr besitzen.

11. Die Gefühle haben auch eine Wirkung auf das  Denken;  sie können zwar nicht unmittelbar seinen Gang bestimmen, allein  mittelbar  dadurch, daß sie die Vorstellung, mit welcher sie sich verbinden, im Grad verstärken, und sie damit zu der erheben, welche den Fortgang der Gedanken und den Eintritt neuer Vorstellungen bestimmt. Deshalb weckt das Angenehme und Unangenehme, das Interessante die Aufmerksamkeit und bestimmt die Bewegung. Die Fülle der zufließenden Vorstellungen ist hier am größten, und das Trennen, Verbinden und Beziehen am tätigsten. Es ist deshalb nichts verkehrter, als die Behauptung so vieler Systeme, daß die Lust oder die Triebe das Vernunftlose sind; vielmehr steht das Denken in all seinen Richtungen den Lustgefühlren ebenso zu Gebote, wie den sittlichen Gefühlen.

12. Aus dieser Macht und aus der Fähigkeit, die verschiedenen Arten der Gefühle gegeneinander abzuwägen und danach den Willen zu bestimmen, besteht die menschliche  Klugheit.  Sie ist kein bloßes Wissen, sondern auch eine Fähigkeit, den Willen und das Handeln nach den Ergebnissen der Abschätzung der Lustgefühle zu bestimmen. In der Klugheit ist besonders enthalten, daß das erst kommende Gefühl mit der gleichen Sorgfalt und Unparteilichkeit wie das gegenwärtige erwogen und abgeschätzt wird. SPINOZA sagt (Ethik IV. L 66): "In Leitung der Vernunft zieht man das größere zukünftige Gut dem kleineren gegenwärtigen vor und begehrt ein kleineres gegenwärtiges Übel, wenn es die Ursache eines größren zukünftigen Gutes ist." Deshalb kann die Mäßigung der Begierden schon aus der Klugheit allein, ohne Hilfe des Sittlichen abgeleitet werden, und die Klugheit hat insofern eine Verwandtschaft mit dem Sittlichen.

13. Die Begriffe des  Glücks,  des  Wohles,  der  Glücksseligkeit  und des  höchsten  Gutes ruhen auf dieser Klugheit und Mäßigung. In diesen Begriffen ist anerkannt, daß eine Mehrzahl von Arten und Ursachen der Lust und des Schmerzes besteht, und daß die menschliche Kraft und Empfänglichkeit nicht vermag, sie alle im höchsten Maß in jedem Einzelnen zu vereinigen. Es muß deshalb die Klugheit nach den vorhandenen Schranken und Gesetzen der Natur eine Auswahl und ein Maß treffen, um als Ergebnis eine Summe von Lust zu erreichen, welche nach der Mannigfaltigkeit ihrer Arten und nach der Stärke und Dauer derselben das Höchste erreicht, was dem Menschen mit seinen Mitteln für die Dauer seines Lebens möglich ist. Dies ist die Glückseligkeit oder das höchste Gut in seiner Reinheit von den sittlichen Zusätzen des ARISTOTELES.

14. Mit Rücksicht auf das den Lustgefühlen zu Gebote stehende Wissen und Denken des Menschen sind diese Gefühle allein hinreichend, ein Handeln des Einzelnen und mannigfache Gemeinschaften und Verbindungen Mehrerer, sowie ein solches Zusammenleben derselben herbeizuführen, welches das höchste Maß an Glück enthält, was unter den obwaltenden Naturverhältnissen erreichbar ist. Ohne alle Hilfe von sittlichen Geboten, unter bloßer Leitung der Klugheit, würden sich die Gestalten des Eigentums, des Vertrags, der Ehe, der Familie, der Gemeinde und des Staates  ihrem Inhalt nach  wahrscheinlich ähnlich entwickelt haben wie gegenwärtig, wo sie als Erzeugnisse sittlicher Prinzipien und selbständiger sittlicher Mächte gelten, und wenigstens durch andere Gefühle als die der Lust mit gestützt und getragen werden. Ehe aber zur Betrachtung dieser Gestaltungen der sittlichen Welt übergegangen werden kann, sind zuvor die  sittlichen  Gefühle ebenso gesondert und in ihrer Reinheit zu untersuchen, wie es hier mit den Lustgefühlen geschehen ist.
LITERATUR Julius von Kirchmann, Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral als Einleitung in das Studium rechtsphilosophischer Werke, Berlin 1869