ra-2von JheringC. RetslagM. RumpfA. V. LundstedtR. StammlerE. Müller    
 
JULIUS von KIRCHMANN
(1802-1884)
Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz
als Wissenschaft

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"Was ist der Inhalt all jener Kommentare, Exegesen, jener Monographien, Quaestionen, Meditationen, jener Abhandlungen und Rechtsfälle? Nur ein kleiner Teil davon hat das natürliche Recht zu seinem Gegenstand; neun Zehntel und mehr haben es nur mit den Lücken, Zweideutigkeiten, Widersprüchen, mit dem Unwahren, Veralteten, Willkürlichen der positiven Gesetze zu tun. Die Unkenntnis, die Nachlässigkeit, die Leidenschaft des Gesetzgebers ist ihr Objekt. Selbst das Genie weigert sich nicht, dem Unverstand zu dienen; zu dessen Rechtfertigung all seinen Witz, all seine Gelehrsamkeit aufzubieten. Die Juristen sind durch das positive Gesetz zu Würmern geworden, die nur vom faulen Holz leben; vom gesunden sich abwendend. Es ist nur das kranke, in dem sie nisten und weben."

"In welcher Hoheit stehen dagegen die Naturwissenschaften da. Nur das natürliche, das ewige, das notwendige ist ihr Gegenstand; der kleinste Grashalm trägt diesen Stempel; jedes Geschöpf ist wahr, stimmt mit sich selbst und die Willkür vermag es der Wissenschaft nicht zu verfälschen. Irrtümer, falsche Gesetze haben auch diese Wissenschaften, aber  ein  leuchtender Blick des Genies und der Irrtum verschwindet wie die Nacht vor der Sonne. Nur die Rechtswissenschaft trägt die Schmach, trotz besserer Einsicht, noch Jahrhunderte lang dem Irrtum dienen, den Unverstand ehren zu müssen."

"Was mit Scharfsinn und Gelehrsamkeit in erster Instanz als das Wahre künstlich bewiesen ist; das wird mit gleichem Scharfsinn und gleicher Gelehrsamkeit in zweiter Instanz als das unwahre bewiesen und ein Glück, wenn in dritter Instanz die Wahrheit sich nicht nochmals verkehrt."

Hat das natürliche Recht, wie gezeigt, am positiven Gesetz schwer zu leiden, so ist doch das Übel für die Wissenschaft noch größer. Aus einer Priesterin der Wahrheit wird sie durch das positive Gesetz zu einer Dienerin des Zufalls, des Irrtums, der Leidenschaft, des Unverstandes. Statt des Ewigen, Absoluten, wird das Zufällige, Mangelhafte ihr Gegenstand. Aus dem Äther des Himmels sinkt sie in den Morast der Erde.

Es sei mir fern, zu behaupten, das positive Gesetz enthalte nichts als Unwahrheit; ein großer Teil ist wahr, vielleicht nur der geringere unwahr. Allein, so weit das positive Gesetz nach Inhalt und Form der wahre Ausdruck des natürlichen Rechts ist, hat es schon das getan und erreicht, was das Tun und Streben der Wissenschaft ist; auch ihr Ziel ist nur die Auffindung der wahren Gesetze des Rechts. Insoweit bleibt also der Wissenschaft nur das Werk des Erklärens, Verdeutlichens, das Werk des Schulmeisters; kein Wunder, daß die Wissenschaft sich damit nicht befassen mag. Man hat sich oft gewundert, weshalb umfassende Gesetzbücher überall eine Zeit lang die Wissenschaft unterdrückt haben und die Gründe dafür hie und da gesucht, namentlich aber dem Gesetzbuch einen schweren Vorwurf daraus gemacht. Aber das Entgegengesetzte ist die Wahrheit. Je vorzüglicher das Gesetzbuch gelingt, je mehr es die Wahrheit erreicht, umso mehr ist es der Inhalt der Wissenschaft selbst, gefaßt in die präziseste Form, also dasselbe, was nur die Wissenschaft geben kann. Es ist deshalb natürlich, daß für den guten Teil des Gesetzbuches die Wissenschaft erst wieder Raum gewinnt, wenn im Laufe der Zeit die Entwicklung des Rechts darüber hinausgegangen ist.

Ist so im wahren Teil jedes positiven Gesetzes für die Wissenschaft nichts zu tun, so bleibt für sie nur das Unwahre und mit Gier und Eifer ist sie zu allen Zeiten darüber hergefallen.

Was ist der Inhalt all jener Kommentare, Exegesen, jener Monographien, Quaestionen, Meditationen, jener Abhandlungen und Rechtsfälle? Nur ein kleiner Teil davon hat das natürliche Recht zu seinem Gegenstand; neun Zehntel und mehr haben es nur mit den Lücken, Zweideutigkeiten, Widersprüchen, mit dem Unwahren, Veralteten, Willkürlichen der positiven Gesetze zu tun. Die Unkenntnis, die Nachlässigkeit, die Leidenschaft des Gesetzgebers ist ihr Objekt. Selbst das Genie weigert sich nicht, dem Unverstand zu dienen; zu dessen Rechtfertigung all seinen Witz, all seine Gelehrsamkeit aufzubieten. Die Juristen sind durch das positive Gesetz zu Würmern geworden, die nur vom faulen Holz leben; vom gesunden sich abwendend. Es ist nur das kranke, in dem sie nisten und weben. Indem die Wissenschaft das Zufällige zu ihrem Gegenstand macht, wird sie selbst zur Zufälligkeit; drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.

Solch hartes Urteil verlangt ausführlichen Beweis, einige Beispiele werden vielleicht am besten dazu dienen.

Worauf beruth das  juristische  Interesse am Polenprozeß? Auf nichts, als auf der mangelhaften Definition des Landrechts vom Hochverrat. Die Losreißung ganzer Provinzen vom Staat steht gewiß dem Umsturz der Verfassung im natürlichen Recht gleich; aber weil das positive Gesetz jenen Fall übersehen hat, deshalb ist die Behörde genötigt, mit Hilfe von Wörterbüchern, Geschichte und Konstitutionen fremder Länder ein kunstvolles Gebäude aufzuführen, das die Verteidigung mit denselben Waffen alle Tage wieder zerstört; drei vervollständigende Worte des Gesetzgebers, wie sie der neue Entwurf in Aussicht stellt und all jene Arbeiten, trotz ihres hohen wissenschaftlichen Wertes, sieht niemand mehr an.

Jene gründlichen und interessanten Ausführungen in den Preßprozessen der letzten Jahre über die Frage, ob die Druckerlaubnis des Zensors eines anderen Bundesstaates den Schriftsteller auch im Inland deckt, worauf beruhen sie? Auf der zweideutigen Fassung der § 7 des Bundestagsgesetzes vom 20. September 1819. Nur soweit jene Ausführungen mit der Natur der Sache, mit dem natürlichen Recht sich beschäftigen, haben sie einen dauernden Wert; das andere ist nicht minder wissenschaftlich und doch liest es kein Mensch mehr, seit die Deklaration dieses Jahres erschienen ist.

Die Frage, ob es 2 oder 3 Grade der  culpa  [Schuld - wp] gebe, ist Jahrhunderte lang der Zankapfel der Juristen gewesen. Für das natürliche Recht war man längst einig. Das natürliche Recht kennt keine solche Zahlen und Scheidewände in einem seinem Wesen nach stetigen Gegenstand; schon HÖPFNER bekennt, daß die Praxis nicht nach dem Grad, sondern nur danach frage, ob überhaupt Schuld vorhanden sei. Aber für das römische Recht genügten einige nicht bestimmt genug gefaßte und durch Herausreißung zweideutig gewordene Stellen, um die Gelehrten vollauf zu beschäftigen.

Ganze Bibliotheken kann man mit den Werken füllen, über den Vorzug der Erbtochter oder Regredienterbin. Ein kleiner Paragraph im  liber feudorum  [Lehnsrecht - wp] mehr und alle jene Gelehrsamkeit hätte nicht das Licht der Welt erblickt.

Um indessen den Schein zu vermeiden, als wären meine Beispiele besonders ausgesucht, habe ich den neuesten Band der Entscheidungen des Geheimen Obertribunals mitgebracht. Ich will ohne Auswahl von vorn anfangen und die Plenarbeschlüsse der Reihe nach durchgehen. Die Erörterungen sind sämtlich durch Gelehrsamkeit und Scharfsinn ausgezeichnet und stehen denen in den früheren Bänden mindestens gleich. Was ist nun aber der Gegenstand solcher vortrefflichen wissenschaftlichen Erörterungen? ist es das Absolute, das Wahre, das Notwendige? haben jene wissenschaftlichen Arbeiten eine unvergängliche Dauer, eine unbegrenzte Nützlichkeit, wie es die Wissenschaft fordert?

Der erste Plenarbeschluß behandelt die Frage: ob die Formen zur Attestierung der Handzeichen schreibensunerfahrener Parteien bei Verträgen für den Richter dieselben seien, wie bei prozessualischen Verhandlungen. Diese Frage gibt Anlaß zu einer neun Seiten langen Erörterung der hierher gehörenden positiven Gesetze; und doch ist der ganze Zweifel lediglich durch eine mangelhafte Redaktion des Anhangs zur Allgemeinen Gerichtsordnung veranlaßt. Hätte man den Vorschriften der Zirkularverordnung vom 30. Dezember 1798 eine richtigere Stelle gegeben, wo sie sich von selbst auf beiderlei Verhandlungen bezogen hätten, so wäre jener Plenarbeschluß mit seinen Erörterungen niemals nötig gewesen. Ein Fehler ist der Gegenstand des Beschlusses und eine kleine Berichtigung der Stellung des Anhangs macht seine wissenschaftliche Bedeutung verschwinden.

Der nächste Plenarbeschluß behandelt die Frage: ob der Nießbraucher nicht bloß dem Eigentümer, sondern auch dem Hypothekgläubiger zur Zahlung der Zinsen der auf der Sache haftenden Schulden verpflichtet sei. Sie ist der Gegenstand einer vierundzwanzig Seiten langen, durchaus gründlichen und scharfsinnigen Untersuchung.

Schon früher haben sechs Gelehrte, daruntern BORNEMANN und KOCH, sie zum Gegenstand ihrer Untersuchung gemacht. Für das natürliche Recht ist die Frage nicht zweifelhaft; die Natur des dinglichen Rechts kennt gar keinen persönlich Verpflichteten, wie auch von BORNEMANN ausdrücklich anerkannt wird. Aller Zweifel kommt lediglich aus der Fassung des § 70 des Allgemeinen Landrechts, wo es heißt:
    Die Zinsen der auf der Sache haftenden Schulden muß der Nießbraucher entrichten.
Wäre der Paragraph so gefaßt worden, wie der Satz vom Königlich Geheimen Obertribunal ausgedrückt ist, so wären wlle jene scharfsinnigen Untersuchungen erspart geblieben, so wie sie umgekehrt all ihren Wert verlieren, sobald der Gesetzgeber sich entschließt, seinen Fehler zu verbessern.

Der folgende Plenarbeschluß bestimmt, daß die Einwilligung des Mannes zu Darlehen der Frau auch über fünfzig Taler nicht notwendig schriftlich erteilt sein müsse. Die ungekünstelte Auffassung des Gesetzes führt offenbar zur entgegengesetzten Entscheidung; denn nach § 133 des Allgemeinen Landrechts sollen auch bloß einseitige Willenserklärungen bei Gegenständen über fünfzig Talern, wenn ihre Folgen sich auf die Zukunft erstrecken, schriftlich abgefaßt werden; im Vermögensrecht der Eheleute ist davon keine Ausnahme gemacht. Allein die Billigkeit, das natürliche Recht verlangt offenbar die entgegengesetzte Bestimmung, wie auch in den Gründen des Beschlusses am Ende angedeutet ist. Deshalb, um den hier nicht formellen, sondern materiellen Fehler des Gesetzes zu beseitigen, wird aller Scharfsinn aufgeboten, einen Schlupfwinkel des positiven Gesetzes zu finden, durch den das natürliche Recht eingeschmuggelt und zur Geltung gebracht werden könne; und dieser Schlupfwinkel findet sich dann, freilich in etwas kühner Weise dadurch, daß die Konsense nicht zu den Willenserklärungen gerechnet werden.

Der demselben folgende Plenarbeschluß bietet hierzu einen merkwürdigen Gegensatz; beinahe sollte man in seiner Stellung an eine Tücke des Zufalls glauben. Er bestimmt, daß der Konsens der Frau zu des Mannes Veräußerungen der in Gütergemeinschaft befindlichen Grundstücke schriftlich erteilt werden müsse. Man sollte meinen, es sei ganz dieselbe Frage, die hier bejahend und vorher verneinend entschieden worden ist und in Wahrheit bedarf es auch einer 16 Seiten langen, auf der Geschichte des Gesetzbuchs und gemeines Recht gestützten Ausführung, um einen Unterschied aufzufinden. Der wahre Grund, weshalb man hier nicht einfach die Entscheidung aus den Worten des § 133 des Allgemeinen Landrechts hergenommen hat, war lediglich, die Konsequenz der Auslegung des Paragraphen im vorhergehenden Fall zu retten.

Man sieht, die Entscheidung aus der Natur der Sache ist in beiden Fällen einfach; die aufgewandte Gelehrsamkeit und Auslegungskunst ist nicht auf das natürliche Recht und dessen Bestimmung gerichtet, sondern auf Beseitigung der Gewalt, welche das positive Gesetz durch seine abstrakte Regel diesem Recht angetan hat.

Der folgende Plenarbeschluß hat es wieder lediglich mit der schlechten Fassung des Gesetzes zu tun. Es wird die Frage erörtert, die schon so vielfach die Gerichte, das Ministerium und die Ausleger beschäftigte; die Frage: was unter den Kapitalien zu verstehen sei, die den Kindern zur besonderen Sicherheit verschrieben wurden und über die nach § 169 des Allgemeinen Landrechts dem Vater keine volle Disposition zustehen soll. Der Grund zu all diesen vielfachen Erörterungen liegt lediglich darin, daß das Gesetz hier in den Worten: zur  Sicherheit verschriebene Kapitalien  eine Kategorie aufstellt, die nirgends weiter im Gesetzbuch vorkommt, auch hier nicht entwickelt ist, ja mit den Grundsätzen der preußischen Hypothekenverfassung sich nicht wohl vereinigen läßt. Deshalb allein die mannigfachen Zweifel und die gelehrten Erörterungen zu ihrer Beseitigung.

Der folgende Plenarbeschluß bewegt sich wieder lediglich in einer Versöhnung und Vermittlung des positiven Gesetzes mit dem natürlichen Recht. Bekanntlich herrscht in den meisten Provinzen des Staates beim Bauern die Sitte, mit dem herannahenden Greisenalter das Gut einem der Kinder als Gutsannehmer zu überlassen, welchem die Verbindlichkeit auferlegt wird, bestimmte Verträge des Annahmepreises seinen Geschwistern auszuzahlen, wenn sie heiraten oder eine eigene Wirtschaft anfangen. In dem Sinne, wie das Volk dieses Institut auffaßt, herrscht kein Zweifel, daß die Geschwister diese ihnen überwiesenen Summen einklagen können, auch wenn sie beim Vertrag nicht zugezogen worden sind, so lange der Vater nicht widerspricht.

Allein im Landrecht hat man unglücklicherweise dieses Institut übersehen und so bleiben für dasselbe nur die allgemeine Bestimmung des § 75 des Allgemeinen Landrechts übrig, wonach ein Dritter die ihm im Vertrag anderer Personen ausgesetzten Vorteile nur einklagen kann, wenn er sie mit Bewilligung dieser angenommen hat, dem Vertrag beigetreten ist. Die Anwendung dieser Bestimmung führt indessen für das erwähnte Institut zu den unerträglichsten Härten und deshalb hat man schon von jeher irgendeinen Ausweg gesucht, das Institut der zerstörenden Wirkung des § 75 zu entziehen. Fiktionen, Konversionen, antizipierte Sukzessionen und dergleichen gelehrte Kunststücke mehr wurden versucht, das positive Gesetz geschmeidig zu machen. Das Geheime Obertribunal weist sehr gründlich nach, daß diese Aushilfen für das Landrecht anwendbar seien, allein um das, überdem historische Institut doch zu retten, wird ein neuer Ausweg von ihm versucht. Ich weiß aber nicht, aber er ein glücklicher zu nennen ist. Der Vater wird zum Bevollmächtigten der Kinder gemacht, der für sie akzeptiert habe. Abgesehen davon, daß in der Regel die Worte solcher Überlassungsverträge hiervon keine Spur enthalten, steht diesem Ausweg entgegen, daß wider die Natur der Sache ein und dieselbe Person offeriert und akzeptiert und daß damit die Rechte der Geschwister über das natürliche Recht hinaus erhöht werden. Denn nach dieser Auffassung verliert auch der Vater selbst alles Recht an die überwiesenen Kaufgelder, was nach der Natur dieses Instituts nicht der Fall ist. So ist nichts als seine Unvollständigkeit des Gesetzbuchs der Grund zu all diesen mannigfachen Versuchen der Wissenschaft und man kann es nur beklagen, wenn man sieht, wie Scharfsinn und Gelehrsamkeit sich vergeblich abmühen, diesen Fehler gut zu machen.

Lassen Sie mich hier abbrechen; ich glaube genug der Belege zu dem Satz geliefert zu haben, daß nur der Irrtum, das Mangelhafte aller Art der Gegenstand ist, dem sich die Jurisprudenz beinahe ausschließlich zuwendet und leider, zuzuwenden gezwungen ist; ein Geschäft, so widerwärtiger Art, daß man sich wundern muß, noch so viele dazu willig zu finden. Notwendig mag es vielleicht sein, aber deshalb noch kein der Wissenschaft würdiges.

In welcher Hoheit stehen dagegen die Naturwissenschaften da. Nur das natürliche, das ewige, das notwendige ist ihr Gegenstand; der kleinste Grashalm trägt diesen Stempel; jedes Geschöpf ist wahr, stimmt mit sich selbst und die Willkür vermag es der Wissenschaft nicht zu verfälschen.

Irrtümer, falsche Gesetze haben auch diese Wissenschaften, aber  ein  leuchtender Blick des Genies und der Irrtum verschwindet, wie die Nacht vor der Sonne. Nur die Rechtswissenschaft trägt die Schmach, trotz besserer Einsicht, noch Jahrhunderte lang dem Irrtum dienen, den Unverstand ehren zu müssen.

Die Leiden der Wissenschaft sind indessen damit nicht erschöpft; der Schematismus, die starre Form des positiven Gesetzes dringt in die Rechtswissenschaft; den Reichtum der Individualität muß die Wissenschaft verschmähen, selbst wenn sie ihn erkannt hat. Das positive Gesetz gleicht einem eigensinnigen Schneider, der nur 3 Maße für all seine Kunden hat; die Wissenschaft ist die gutmütige Meisterin, sie sieht, wo das Kleid drückt, verunstaltet ist, allein der Respekt vor dem Hausherrn läßt sie nur verstohlen hie und da die Naht ein wenig öffnen, einen Zwickel einschieben.

Die Willkür in den letzten Bestimmungen des positiven Gesetzes zieht auch in die Wissenschaft ein. Das willkürliche in diesen Grenzbestimmungen für Formen, Fristen, Belehrungen muß seine Natur nach, trotz der sorgfältigsten Redaktion eine unversiegbare Quelle des Zweifels bleiben; die Wissenschaft überkommt die undankbare Aufgabe, diese Zweifel zu lösen, die Willkür in ein System zu bringen. Alle Kommentare sind da am dickleibigsten, wo es sich um solche Formalien handelt. Die Feierlichkeiten der Testamente im Römischen Recht, die Verwarnung der Frauen bei Bürgschaften im Landrecht, welche Fundgruben für die Gelehrsamkeit sind sie geworden! Noch ein ganz neues Gesetz von 1845 über die Form der Notariatsverhandlungen, liefert dazu einen glänzenden Beleg. Gewiß hat man bei Redaktion dieses Gesetzes die höchste Sorgfalt angewandt und doch welche Masse von Zweifeln hat seine Anwendung schon in 2 Jahren hervorgerufen. Sieht man naher nach, welcher Art diese Zweifel sind, so möchte die Wissenschaft mit Scham ihre Augen abwenden.

Ob die Notariatsverhandlung durchaus geschrieben werden müsse oder ob lithographierte Formulare dazu benutzt und ausgefüllt werden dürfen?

Ob als Zeugen nur der Privatschreiber des instrumentierenden Notars unzulässig oder auch die jedes anderen Notars in der Monarchie?

Ob der instrumentierende oder der zweite Notar die Handzeichen der Schreibensunerfahrenen Partei zu attestieren habe?

Ob der Notar bloß seinen Vor-, Zunamen und Wohnort oder auch seinen Amtstitel zu unterschreiben habe? Und dergleichen mehrere und zwar alles dies bei Gefahr der Ungültigkeit der ganzen Verhandlung. Ich berufe mich auf das Ministerialblatt von diesem Jahr.

Dies sind die wichtigen Aufgaben der Wissenschaft geworden; solche Zweifel zu lösen, das ist jetzt ihr Beruf. Wie hoch stehn auch in dieser Hinsicht alle anderen Wissenschaften. Trotz der höchsten Gesetzlichkeit ihres Gegenstandes, doch die reichste Entwicklung und Mannigfaltigkeit des Individuellen; trotz der höchsten Bestimmtheit ihres Gegenstandes doch nirgends eine Spur von Willkür, nur ausnahmslose Notwendigkeit.

Bis hierher ist die Untersuchung von einer Vergleichung des Gegenstandes der Jurisprudenz mit denen anderer Wissenschaften ausgegangen. Die Verfolgung meines Unternehmens führt zu einem weiteren Übelstand. War die hemmende Kraft bisher vom Objekt ausgegangen, so äußert nun die Wissenschaft selbst, durch die Aufnahme des Gegenstandes in ihre Form, eine zerstörende Kraft auf den letzteren; gleich, als wollte sie den hartnäckigen Widerstand, den er geleistet hat, mit der Zerstörung seines Wesens bestrafen.

Das Recht kann nicht sein ohne das Moment des Wissens und Fühlens. Ein Volk muß wissen, was das Recht im einzelnen Fall fordert und es muß mit Liebe seinem Recht ergeben sein. Werden dem Recht diese Momente genommen, so bleibt es wohl ein großes Kunstwerk, aber ein totes, kein Recht mehr! Indem nun die Wissenschaft an das Recht, als ihren Gegenstand herantritt, ist die Zerstörung dieser Elemente unvermeidlich. Das Volk verliert die Kenntnis seines Rechts und seine Anhänglichkeit an dasselbe; es wird der ausschließliche Besitz eines besonderen Standes. Dies folgt aus der Natur der Sache und lehrt die Geschichte. So gerät die Wissenschaft mit sich selbst in Widerspruch; sie will den Gegenstand nur begreifen und sie zerdrückt ihn. Die Folgen dieses Widerspruchs sind außerordentlich.

Die Wissenschaft, ihres natürlichen Bodens dadurch entbehrend, gerät nur zu leicht auf die Abwege der Sophisterei, der unpraktischen Grübeleien; Subtilitäten ohne Ende kommen hervor, Auswüchse aller Art, woran die juristische Literatur so reich ist.

Das Schwanken der Gesetzgebung ist eine andere Folge; ja bis zum Experimentieren läßt der Gesetzgeber sich herab. Die Prozeßgesetzgebung Preußens seit 1833 gibt hierzu den Beleg, namentlich die Gesetze über die Rechtsmittel.

Der größte Übelstand tritt aber in der Handhabung des Rechts für den einzelnen Fall hervor. Schon die Handlungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit werden durch Formulare und Künsteleien aller Art verunstaltet, noch mehr tritt aber hier für die Prozesse eine Umwandlung ein. Ich meine nicht jene Prozesse, wo es sich nur um die Exekution handelt, wo nur die Trägheit, der böse Wille des Schuldners zu besiegen ist; sie sind keine Rechtsstreitigkeiten und für sie bedarf es keiner Jurisprudenz und keiner Richter. Aber die wahren Prozesse, wo das Recht streitig ist, sie sinken durch diese zerstörende Wirkung der Wissenschaft für die Nation zu einer bloßen Operation, Spekulation, wie jede andere, herab; von der Verwirklichung des Rechts im wahren Sinne bleibt dabei keine Spur.

Kein Teil weiß dabei, wer Recht habe; die innere Stimme schweigt; die Advokaten werden befragt; nur äußere Erwägungen, die Wahrscheinlichkeit des Sieges, die Kostspieligkeit des Versuchs, die lange Dauer des Verfahrens bestimmen den Entschluß. Gewinnt man, nun gut, dann ist die Spekulation geglückt; verliert man, nun so tröstet der verständige Mann sich ebenso, wie der Kaufmann sich tröstet, der seine reiche Ladung im Sturm verloren hat; wie der Börsenmann, dessen Berechnung durch politische Konjunkturen zunichte geworden ist. Von Recht ist dort, wie hier, keine Spur, kein empörtes Gefühl über erlittenes Unrecht, keine stolze Erhebung der Brust, daß das Recht den Sieg errungen hat.

Der äußere Gang des Prozesses ist wie dazu geschaffen, diese Ansicht zu unterstützen. Selbst der Richter, der Gelehrte, wissen nicht unmittelbar, was im vorgelegten Fall Rechtens ist. Erst müssen dicke Gesetzbücher, staubige Kommentare nachgeschlagen werden; eine künstliche Rechnung muß angestellt werden, um das zu finden, was in der Brust eines jeden klar geschrieben sein sollte. Was mit Scharfsinn und Gelehrsamkeit in erster Instanz als das Wahre künstlich bewiesen ist; das wird mit gleichem Scharfsinn und gleicher Gelehrsamkeit in zweiter Instanz als das unwahre bewiesen und ein Glück, wenn in dritter Instanz die Wahrheit sich nicht nochmals verkehrt.

Wie kann die Nation in diesen künstlichen Berechnungen, gelehrten Deduktionen, schwankenden Aussprüchen das Recht erkennen, das Recht, was mit ihr geboren und gewachsen ist, das Recht, dessen klare Aussprüche heilig und unverbrüchlich in jeder Brust geschrieben stehen sollen. Unmöglich; die Rechtspflege ist durch die Wissenschaft zum Glücksspiel geworden; nebenbei führt niedrige Leidenschaft durch sie einen kleinen Krieg, weil der Frieden einen größeren ihr unmöglich macht.

Die Sprache des gemeinen Mannes hat für diesen Zustand bezeichnende Ausdrücke. Fragt man einen Bauern, wie es mit seinem Prozeß steht, so ist die Antwort: Er schwebt noch; ein vortreffliches Wort für den schleichenden Fortgang der Sache, die völlige Unverständlichkeit derselben für die Partei. Hat der Bauer den Prozeß verloren, so sagt er nicht, daß er Unrecht gehabt hat, sondern: Ich habe verspielt. Der Verlust des Prozesses und die Verwüstung seines Feldes durch Hagelschlag sind ihm Ereignisse ganz gleicher Natur; Unglück, aber kein Unrecht.

Das also ist der Triumpf der Rechtswissenschaft, ein Recht, das das Volk nicht mehr kennt, das seine Brust nicht mehr erfüllt, das von ihm mit den wilden Mächten der Natur auf die gleiche Stufe gestellt wird.

Ein solches Übel ist zu groß, als daß nicht Rektionen [Regierungen - wp] kommen sollten, sobald die Nationen selbständiger werden, Spuren davon ziehen sich durch alle Zeiten.

Schon JUSTINIUS Verbot, als sein Gesetzbuch vollendet war, dasselbe zu kommentieren, gehört hierher. So sehr er auch deshalb von den Gelehrten belächelt worden ist; es liegt diesem Verbot der hoch zu achtende Wunsch zugrunde, das Recht dem Volk zu erhalten und vor der zersetzenden Macht der Gelehrsamkeit zu schützen. Nach beinah dreizehn Jahrhunderten finden wir dasselbe Verbot im Publikationspatent zum Allgemeinen Landrecht § 18 und in der Einleitung § 47 wieder.

Das Unternehmen FRIEDRICH des Großen, die Advokaten abzuschaffen, ruht auf demselben Grund. Das Unternehmen mußte verunglücken, weil es eine halbe Maßregel war; nicht die Advokaten allein, auch die gelehrten Richter hätte er abschaffen sollen.

Derselbe von der Jurisprudenz abgewandte Geist durchzieht sein Werk, die Allgemeine Gerichtsordnung; das freie Ermessen eines redlichen, in der Billigkeit sich haltenden Richters ist ihr Prinzip; nicht die bis in die feinsten Abstraktionen und Berechnungen getriebene Regel der Wissenschaft.

Aus diesem inneren Widerspruch zwischen Zweck und Resultat der Jurisprudenz ist ferner jene sonderbare Empfehlung und Begünstigung der Vergleiche hervorgegangen. Volk und Regierung sind darin einstimmig und die Juristen naiverweise nicht minder. Und doch ist vom Standpunkt der Wissenschaft jede solche Zumutung zum Vergleich eine Schmach für dieselbe; das klarste  testimonium paupertatis  [Armutszeugnis - wp]. Was würde man zu einem Mathematiker sagen, dem zwei Personen um die Auflösung ihrer gegenseitigen Berechnungen angehen, wenn er ihnen einen Vergleich zumuten wollte, weil die Berechnung zu langwierig, zu unsicher sei? Ein reicher Mann schafft sich einen Kutscher an; er gibt ihm Geld und heißt ihm damit einen bequemen Wagen, festes Geschirr und starke Pferde kaufen. Es geschieht und der reiche Mann heißt dem Kutscher anspannen, um auszufahren. Statt dessen kommt der Kutscher und stellt dem Herrn vor, das Fahren sei doch bedenklich und umständlich und unsicher; er tue besser, wenn er zu Fuß gehe. Wird der Herr so einen Kutscher nicht aus dem Haus jagen? Was soll nun die Nation mit ihren Juristen machen, die ihr zu Vergleichen raten?

Jene Leidenschaft für Schiedsmänner, das Drängen aller Provinzen nach Verstärkung und Ausdehnung deren Wirkungskreises, was ist es anderes, als das dunkle Ahnen jenes Übelstandes und das Streben, das Rechtsprechen den Händen der gelehrten Richter zu entziehen und der Nation zurückzugeben; mit einem Wort: das Recht wieder in sein Recht einzusetzen. Nur so ist der Widerspruch erklärlich, daß man die Pfuscher in der Medizin bestraft und die Pfuscher in der Jurisprudenz privilegiert.

Jener neu erwachte Eifer für Handelsgerichte ohne gelehrte Beisitzer, für Fabrikgerichte, Dorf- und Schulzengerichte ist dasselbe Streben. Selbst die Patrimonalgerichte [Gerichte der adeligen Grundherren - wp] haben darin allein ihren Halt gegen die sonst unwiderleglichen Angriffe der Wissenschaft. Ein Patrimonalrichter, der einige Zeit sein Amt verwaltet und dabei auf dem Dorf oder in einer kleinen Stadt gelebt hat, gelangt sehr bald in jenen glücklichen, seinen Eingesessenen so erwünschten Zustand, wo er allen gelehrten Kram vergessen hat und die Hauptquelle seiner Entscheidungen nur noch in seiner Brust findet, in seinem, auf gleicher Stufe mit seinen Eingesessenen stehenden Rechtsgefühle. Nichts fürchtet der Bauer und Bürger mehr, als einen mit aller Pracht der Gelehrsamkeit und Gesetzeskenntnis angetanen, die Fälle haarscharf scheidenden jungen Assessor zu seinem Richter zu bekommen.

Das Verlangen nach Geschworenengerichten ruht auf demselben Grund. Die Wissenschaft will das zwar um keinen Preis einräumen; aller Scharfsinn wird aufgeboten, um den Vorzug der Jury anderswohin zu verlegen, aber der einfache Sinn des Volkes, von dem das Verlangen ausgeht, kennt diese Subtilitäten nicht; die gelehrte Wissenschaft ist es, die er, sich selbst unbewußt, durch die Geschworenen loszuwerden versucht.

All diese Erscheinungen haben also dieselbe Grundlage. Die Nation ist der wissenschaftlichen Juristen überdrüssig. Die Ahnung, das dunkle Empfinden jenes Widerspruchs zwischen Recht und Wissenschaft ist vorhanden, nur die klare Einsicht des Volkes fehlt noch. Noch traut man sich nicht, diese Gedanken klar zu denken, deshalb die Rechtfertigung jener Erscheinungen aus äußerlichen und falschen Motiven. So bald aber die deutliche Erkenntnis erlangt sein wird, wird man schwerlich bei diesen vereinzelten, lückenhaften Mitteln zur Abhilfe stehen bleiben und die Regierung, der die Juristen nicht minder lästig sind, wird gern hilfreiche Hand leisten. Man wird die Rechtspflege nicht bloß für die Tatfrage, sondern auch für die Rechtsfrage, nicht bloß in Kriminalsachen, sondern auch in Zivilsachen dem Volk zurückgeben. Eine Minderung der positiven Gesetze wird die weitere gute Folge sein; man wird sich auf den Ausspruch der leitenden Grundsätze beschränken und die Anwendung derselben in den feineren Verzweigungen ohne peinliche Abwägung dem gesunden Sinn des Volkes überlassen.

Und, in Wahrheit, ich wüßte nicht, daß damit ein so großes Unglück gesetzt wäre. Die Prozesse werden dann nicht soviel Tage dauern, als jetzt Monate und Jahre; die Kosten werden niemand mehr abschrecken, sein gutes Recht zu verfolgen; die Entscheidungen werden vielleicht mit den seinen Bestimmungen des jetzt künstlich ausgebauten positiven Gesetzes, mit den gelehrten Resultaten der Wissenschaft weniger übereinstimmen, allein sie werden dafür im Sinne  des  Rechts ausfallen, das im Volk lebt. Soweit dieses seine Stimme geltend macht, wird es dann rein und unentstellt verwirklicht werden; und da, wo dieses schweigt, wo die Verwicklung des Falles zu groß ist, da ist am Ende nur irgendeine Entscheidung, nur eine baldige und billige, die Hauptsache. Von Wahrheit, von natürlichem Recht, kann in diesen seinen Verzweigungen der Verhältnisse wohl nicht die Rede sein; in keinem Fall kann die Jurisprudenz sich beklagen, wenn man hierbei nicht nach ihrer Wahrheit verlangt, die nach langem Warten aus 100 Büchern zusammengesucht, künstlich aufgebaut, dennoch nicht einmal die zweite Instanz in derselben Sache zu überdauern vermag.

Ein solcher Zustand der Rechtspflege, wie er hier angedeutet worden ist, ist außerdem kein bloßes Spiel der Phantasie. Ganze Nationen haben gelebt und sind groß geworden ohne gelehrte Juristen, ohne jener künstlichen Gebäude positiver Gesetze, namentlich für das Privatrecht. Die Griechen hatten selbst in ihren glänzendsten Zeiten dergleichen nicht; Volksrichter entschieden nach dem Recht, das die Sitte geheiligt hatte, was in ihrer Brust seine Stimme erhob. Ihre großen Denker PLATON, ARISTOTELES haben keine Ahnung, daß die Auslegung des positiven Gesetzes, jener kleinliche Streit über Zweifel und Dunkelheit eines solchen, die Würde einer Wissenschaft für sich in Anspruch nehmen könne; dergleichen ist ihnen so geringfügig, daß sie in ihren, sonst so praktisch gehaltenen Schriften nirgends dabei verweilen. Auch bei den Römern bis tief in die Kaiserzeit, wo gewiß großer Handel und Verkehr, wo man die Verwicklung der Verhältnisse nicht leugnen wird, war die Rechtspflege nur in den Händen ungelehrter Richter, der Praetor war in der Regel ein Beamter ohne gelehrte Bildung; sein Werk, das Edikt, dessen Bestimmungen nur aus dem natürlichen Recht hergenommen sind, zeugt dafür, und die  judices  waren rein Männer aus dem Volk, die die Tatfrage ganz nach ihrem schlichten Sinn entschieden und sich selbst in der Rechtsfrage schwerlich so peinlich an die  Formula praescripta  [Verjährungsvorschrift - wp] des Prätors gehalten haben werden, als es in unseren Kompendien zu lesen ist.

In meinen früheren amtlichen Stellungen habe ich nach und nach über 200 Gerichte visitiert und revidiert; ich habe dabei der Fälle mehrere erlebt, wo die Faulheit und der Leichtsinn des Einzelrichters so weit gediehen war, daß die Rechtspflege völlig stillstand. Keine Klage ging vorwärts, die Kontrakte wurden nicht ausgefertigt, das Hypothekenbuch existierte nicht; statt Akten nichts als lose Blätter, in allen Winkeln verstreut. Trotzdem, daß solcher Zustand Jahre gewährt hatte, waren die Leute in solchen Bezirken nicht ärmer, das Land nicht wüster, als anderswo. Die Leute hatten sich mit Vergleichen geholfen, hatten statt des Richters Schulmeister und Dorfschulzen benutzt.

In England ist ein ähnlicher Zustand, Dank seinem Reichtum an Parlamentsakten, nicht bloß die Ausnahme, sondern die Regel. Die Justizpflege ist dort nur ein Luxusartikel für Reiche; der wichtige Friedensrichter ist kein studierter Jurist; und doch hat dies das Land nicht gehindert, das grlßte und mächtigste der Erde zu werden.

Die im Gegenstand der Jurisprudenz eingeschlossenen hemmenden Kräfte sind aufgewiesen; der Widerspruch zwischen Beginnen und Resultat der Rechtswissenschaft dargelegt. Es bleibt noch die Frage:
    Was hat die Rechtswissenschaft für Werkzeuge erfunden, für Einrichtungen geschaffen, um ihren Gegenstand, das Recht, den Menschen zugänglicher zu machen, ihnen die Last, den Schmerz der Entwicklung zu mildern?
Alle anderen Wissenschaften haben hierin der Menschheit die glänzendsten Dienste geleistet; ihre Schöpfungen grenzen an das Wunderbare. Die Naturwissenschaften und Mathematik stehen obenan; über die Wogen des Weltmeeres, in die Tiefen der Erde haben sie den Menschen geleitet; Kanäle, Eisenbahnen, Telegraphen haben die Entfernungen beinahe aufgehoben; Mikroskope haben in die Wunder der kleinsten Natur geführt und Teleskope die Räume des Himmels aufgeschlossen, der Lichtstrahl ist zum treuen Zeichner geliebter Züge gemacht worden. Auch die anderen Wissenschaften sind nicht zurückgeblieben. Die Psychologie hat wesentlich die Kunst der Erziehung unterstützt, die Methode des Unterrichts verbessert; Mnemonik [Gedächtniskunst - wp], Phrenologie [Zuordnung von Geistes- und Gemütszuständen zu bestimmten Gehirnregionen - wp], bieten ihre Dienste an.

Was sind dagegen die Leistungen der Rechtswissenschaft? Ich suche eifrig nach allen Richtungen und was ich finde, sind Formulare zu Rechtsgeschäften und Prozeßhandlungen; eine Menge von Verwarnungen, Belehrungen, Formen und Klauseln, angeblich zur Hemmung des Leichtsinns und zum Schutz gegen Schikane; endlich das Gebäude des gemeinen Prozesses, voll Gründlichkeit und Gelehrsamkeit, kurz alles, nur nicht der Weg, bei seinem Leben zu seinem Recht zu kommen. Dies wird so ziemlich alles sein, was man den Gelehrten in dieser Beziehung verdankt. Dagegen sucht man vergeblich nach einer Hilfe, nach einer Leitung der Wissenschaft an den Orten, wo es wahrhaft Not tut, bei der Fortbildung des Rechtes im Allgemeinen.

Jede Zeit hat ihre Fragen des Rechts, die die Nation auf das Tiefste bewegen; bald treffen sie die Verhältnisse der Familie, bald die Beziehung zwischen Kirche und Staat, bald die Verfassung des letzteren, bald die Vorrechte einzelner Stände, bald das internationale Verhältnis der Völker. Um diese Fragen bewegt sich der Kampf, scharen sich die Parteien; die deuten die Stellen an, wo die alte Bildung erstorben ist und das Recht nach einer neuen Gestaltung drängt. Die große Masse der Nation ist zu Beginn der Entwicklung stets besonnen; sich selbst unklar, wendet sie sich fragend an die Wissenschaft, nach Lösung der Zweifel, nach Leitung im dunklen Gang der Entwicklung. Aber die Wissenschaft hat sich von jeher dazu ohnmächtig erwiesen; die Gegenwart hat sie noch niemals verstanden. Die Völker wurden auf sich selbst zurückgewiesen; kein Wunder, daß sie den Parteien in die Hände fielen und statt des geraden Weges einer stetigen Entwicklung, die Irrwege der Leidenschaft, die Umwege des Irrtums haben durchlaufen müssen, ehe sie zum Ziel gelangten.

Die Geschichte lehrt dies von allen Völkern. Die römischen Juristen, in die Kultur des Privatrechts versunken, waren die gehorsamen Diener der Tyrannei. Mit derselben Ruhe, mit derselben Gründlichkeit kommentierten sie die despotische Konstitution der Kaiserzeit, wie das Freiheit atmende Gesetz der Republik. Die Sicherheit des Verkehrs in diesem großen Reich forderte dringend den Schutz des guten Glaubens und ein leicht erkennbares und doch biegsames Pfandrecht. Statt dessen haben die römischen Juristen  rei vindicatio  [Eigentumsklage - wp] starr aufrecht erhalten und ein Pfandrecht mit Privilegien so aufgebaut, daß sie selbst den Vormündern den Rat geben mußten, das bare Geld ihrer Mündel zu vergraben, statt auf Hypotheken auszuleihen. Die ungeheure Veränderung, welche durch das Christentum auch im Privatrecht vorgegangen war, faßten die römischen Juristen nicht. JUSTINIAN, der unwissenschaftliche Gesetzgeber, steht da viel höher als sie. Erst er und später die Päpste, machten dem neuen Geist auch im Privatrecht Raum. Ich erinnere an die Geltung der  bona fides  [guter Glaube - wp] bei der Verjährung und an das  possessorium summariissimum.  [Besitzstörungsklage - wp]

Die deutsche Geschichte weiß von ihren Juristen nichts besseres. Fürsten und Völker mußten in allen Krisen, bei allen neuen Gestaltungen mit ihrem natürlichen Verstand sich selbst helfen. Der Kampf der fränkischen Kaiser gegen die Inhaber der großen Herzogtümer zur Stärkung der kaiserlichen Gewalt, von den Juristen ist er nicht angeraten, als die Reformation die alten Kirchenverfassung zerstört hatte und es darauf ankam, das neue, wahre Rechtsverhältnis der Fürsten zur protestantischen Kirche, der Kirchengewalt zur Gemeinde aufzufinden und zu gestalten, da finde ich nirgends ein Auftreten der Rechtswissenschaft, um die wahre Lage, die zweckmäßigste Einrichtung aufzuzeigen. Sie ließ die Fürsten und die Reformatoren tappen und suchen und noch heute haben wir an diesem Versäumnis der Wissenschaft zu leiden.

Der lebendigere Verkehr unseres Jahrhunderts, die steigende Zersplitterung des Bodens verlangt dringend eine einfachere Form des Hypothekenbuchs. Was die neuere Preußische Gesetzgebung hier geboten hat, das bekannte Formular für Wandeläcker, genügt durchaus nicht. Es ist nur bei einer so großen Zahl von Beamten ausführbar, wie sie in den alten Provinzen vorhanden ist. Es beladet den Richter mi Bogen langen, mechanischen Übertragungen und ist beim geringsten Versehen voll Gefahren für Publikum und Richter. Noch bis heute ist in Wahrheit in dieser Hinsicht nichts Besseres von der Wissenschaft aufgestellt, als was der einfache Sinn ungelehrter Beamter nach dem Erlöschen der Volksgerichte auffand, die Handels- und Konsensbücher. Die französische Form des Hypothekenbuches ist keine andere und diese hat sich, abgesehen von den materiellen Mängeln des französischen Hypothekenrechts, bis auf die Gegenwart als mit wenigen Kräften ausführbar erwiesen und bewährt, obgleich die Zersplitterung des Grund und Bodens in Frankreich bereits die Zahl von 125 Millionen einzelner Grundstücke erreicht.

Man wende gegen diese Angriffe nicht eing, daß dergleichen Dinge nicht zur Rechtswissenschaft, sondern zur Politik und Kunst der Gesetzgebung gehörten. Dies eben ist das klägliche der Jurisprudenz, daß sie die Politik von sich aussondert, daß sie damit sich selbst für unfähig erklärt, den Stoff, den Gang der neuen Bildungen zu beherrschen oder auch nur zu leiten, während alle anderen Wissenschaften dies als ihren wesentlichen Teil, als ihre höchste Aufgabe betrachten.

Jene vielgerühmte Fortbildung des Rechts durch die Juristen, von der man jetzt in allen Kompendien lesen kann, läuft nur auf das Spielwerk des kleineren Details hinaus. Das Fundament zu legen, den neuen Bau kräftig in die Höhe zu führen, das können die Juristen nicht. Aber wohl, wenn der Bau fertig ist, wenn die Säulen ihn tragen, dann kommen sie, wie die Raben, zu tausenden und nisten in allen Winkeln und messen die Grenzen und Dimensionen bis auf Zoll und Linie und übermalen und überschnörkeln den edlen Bau, daß Fürst und Volk kaum noch ihrer Taten Werk darin erkennen.

Ich bin hier zum Ende meiner Aufgabe gelangt. Das Resultat, das ich biete, ist niederschlagend und betrübend. Es ist deshalb der Gedanke natürlich, mit einigen Worten des Trostes zu schließen.

Wo aber die gleiche Überzeugung mit mir jetzt oder später nach weiterer Prüfung geteilt wird, da liegt der Trost für den Mann in der Einsicht von der Notwendigkeit der Sache, in der Einsicht, daß das Substantielle nicht in einem einzelnen Stand, sondern in der Nation im Ganzen enthalten ist.

Wo meine Ausführungen nur die Oberfläche geritzt haben, wo sie den Baum der Überzeugungen und Vorurteile nur geschüttelt, nicht erschüttert haben, da bedarf es keines Trostes: Die unverwüstliche Ironie solcher Subjektivität vermag schon allein die Heiterkeit der Person über den Ernst der Sache wieder zu erheben.
LITERATUR Julius von Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Vortrag gehalten in der juristischen Gesellschaft Berlin, Berlin 1848