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GERARD HEYMANS
(1857-1930)
Zurechnung und Vergeltung
[4/5]

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"Das höchstmögliche Kollektivwohl der Gesellschaft wird als der Zweck der Rechtsordnung bezeichnet, vom Wert der Gerechtigkeit wird behauptet, er liege im sozialen und individuellen Nutzen, den sie gewährt. Zwar sei die Liebe die höhere Tugend; in unzähligen Fällen aber sei um der größeren Summe nachteiliger Folgen willen der Gnade und Geduld die Vergeltung vorzuziehen."

"Was auch die Philosophen sagen mögen, der Gedanke, menschliche Wesen als bloßes Mittel zum größeren Glück anderer leiden zu lassen, wird dem unbefangenen Menschen immer als ein empörendes  Unrecht  erscheinen und ebenso wird er glauben, die Belohnung des Verdienstes verliere ihren ganzen sittlichen Charakter, wenn man sich damit nur die Dressur anderer zu gemeinnützigem Lohndienst zum Ziel setzt."


Vierter Artikel

Der zweite Punkt, den wir zu untersuchen und womöglich zu erklären hatten, war der Gedanke der Vergeltung, der lohnenden und strafenden Gerechtigkeit. Hier wie früher ist unser Ausgangspunkt eine Reihe nicht zu leugnender Tatsachen: die Vorstellung gewisser Handlungen oder Charaktere, welche als gut oder böse bezeichnet werden, ruft im Bewußtsein die deutlich wahrgenommene Forderung wach, daß die Person, welche diese Handlungen verübt hat oder diesen Charakter besitzt, glücklich oder unglücklich sein soll. Wie bei jeder naturwissenschaftlichen Untersuchung gilt es nun, zuerst diese Tatsachen genau kennen zu lernen, dann eine Hypothese aufzufinden, welche dieselben entweder auf schon bekannte Gesetze zurückzuführen oder als Manifestationen einer besonderen Kraft zu erklären sich genügend erweist.

Es ist nun eine auffallende, wenn auch als Beispiel dauernder Nachwirkung längst überwundener Standpunkt keineswegs unerklärliche Erscheinung, wenn die meisten Denker, welche klar eingesehen haben, zu welchen logischen und ethischen Absurditäten die Lehre der Willensfreiheit mit Notwendigkeit führen muß, sich nun ohne weiteres zur Erklärung veranlaßt fühlen, mit der Beseitigung dieser Lehre werde auch den Begriffen von Schuld und Verdienst, Lohn und Strafe (wenigsten im landläufigen Sinn als Selbstzweck gefaßt) Grund und Boden entzogen. Zwar behalte auch für den Deterministen die Unterscheidung von gut und böse ihre volle Geltung, - man spreche ja auch bei den gänzlich unfreien Körpererscheinungen von krank und gesund -, aber hier wie dort habe man das Anormale, Unvollkommene zu bemitleiden, statt es zu verurteilen; der Verbrecher sei ganz wie der Kranke ein Produkt feindlicher Umstände; Vererbung, Erziehung, böses Beispiel haben ihn zu demjenigen gemacht, was er ist; man solle also mit ihm verfahren, wie mit dem Wahnsinnigen und sich seine Besserung, nicht aber seine Bestrafung zum Ziel setzen. Nur als Erziehungsmittel, höchstens auch als Präventivmaßregel zum Schutz der Gesellschaft sei die Anordnung der Strafe gerechtfertigt, ihre Ausführung aber nur darum, weil ohne sie die Drohung natürlicherweise ihre Wirkung verfehlen würde. Jedenfalls sei es reine Barbarei, irgendeiner Person ein Leid zufügen zu wollen, wenn dieses Leid nicht als die notwendige Bedingung eines größeren Quantums Lust zu betrachten sei.

Die Argumentation a contrario [durch Gegensatz - wp] ist aber immer eine sehr gefährliche gewesen. Seit Jahrtausenden hat man bemerkt, daß diejenigen Handlungen, welche für "frei" galten, zugleich das Objekt von Hass und Liebe bildeten und die Forderung des Lohnes und der Strafe hervorzurufen pflegten; und da man endlich gefunden hat, daß die Annahme dieser Freiheit bloß auf einem Mißverständnis beruth, schließt man ohne weiteres, also müssen auch die Affekte und Strebungen, welche man sich ohne sie kaum zu denken vermag, Grund und Boden verlieren, - es sei denn, daß man dieselben als ein Mittel zu anderswo gerechtfertigten Zwecken betrachten könne. Dieser Schluß nun scheint mir unbegründet. Man hätte sich dann doch zuvor Rechenschaft ablegen sollen über das Warum dieser Zusammengehörigkeit, über den tiefsten Grund jenes psychischen Kausalnexus, welcher mit der Vorstellung des "Guten" die Forderung der Liebe und der Belohnung, mit der des "Bösen" diejenige des Hasses und der Strafe verknüpft. Oder wäre vielleicht in der Voraussetzung der Willensfreiheit der Begriff der Vergeltung schon etwas Selbstverständliches? Könnte man ohne weiteres mit GROTIUS behaupten: natura ipsa dictat, ut, qui male fecit, malum ferat? [Die Natur regiert mit bösen Wafen und bösen Taten - wp] Ich glaube es kaum. Denn erstens beruth das scheinbar logische Band auf einem bloßen Wortspiel, da das erste "malum" das sittlich Böse, das zweit aber Leid oder Unglück bedeuten soll: zwei ganz verschiedene Begriffe, zwischen welchen kein unmittelbarer Zusammenhang zu finden ist. Und zweitens ist schlechterdings nicht abzusehen, was die Freiheit, in welchem Sinne man sie auch nehmen mag, mit dieser Sache zu schaffen haben kann. Nimmt man sie aber, wie alle diejenigen, welche aufgrund des Determinismus das Recht der Vergeltung leugnen, in der landläufigen Bedeutung als Verneinung der Kausalität, so braucht man sich nur einen Augenblick zu besinnen, um einzusehen, daß eben eine Handlung, wofür man  kein  Motiv zu finden vermag, nur Verwunderung und Neugierde hervorrufen kann, - Hass und Liebe aber nur insoweit, als man derselben doch, halb unbewußt vielleicht irgendein Motiv als das Wahrscheinlichste unterschiebt. Es scheint erlaubt, aus dem Angeführten zu schließen, daß der Zusammenhang zwischen Böses tun und Böses leiden kein logischer, sondern ein psychologischer ist und daß man zur Entscheidung der Frage, inwieweit und in welchem Sinne der Begriff der Freiheit hier eine Rolle spielt, das psychologische Grundgesetz aufsuchen muß, welches dieser Verbindung zugrunde liegt.

Immerhin bleibt es möglich, daß diese tiefste Grundlage nur in egoistischen und sympathischen Strebungen zu suchen ist und daß sich die ethische Forderung der Vergeltung auf dem Weg der Assoziation aus diesen Elementen entwickelt hat. So behält dann die utilitaristische Erklärung, welche Strafe und welchen Lohn nur als Mittel zur Erziehung und Abschreckung entstehen läßt, vorläufig den Wert einer möglichen Hypothese und verdient als solche eine eingehende Untersuchung, - eingehender jedenfalls als die meisten ihrer Verteidiger derselben zuteil werden lassen. Es ist auffallend, wie eben diejenigen, welche am allerliebsten die sämtlichen psychischen Wissenschaften zu einer Unterabteilung der Physiologie machen möchten, sich, sobald sie versuchen, diesen Gedanken durchzuführen, Überstürzungen zuschulden kommen lassen, welche die naturwissenschaftliche Methode selbst am allerschärfsten verdammt. Sie konstatieren so unbestimmt wie nur möglich die zu erklärenden Tatsachen und wenn die aufgestellte Hypothese im Großen und Ganzen zu diesen oder verwandten Ergebnissen zu führen scheint, wird sie ohne weiteres zur Theorie erhoben und als unabweisbares Resultat der echten, vorurteilsfreien Wissenschaft aufgestellt. Daß es für den unparteiischen Untersucher eine Pflicht gibt, die vorliegenden Tatsachen genau kennen zu lernen, daß er sich von den Bedingungen ihres Eintretens, vom Zusammenhang zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen im einzelnen Rechenschaft abzulegen hat, daß endlich ohne scharfe Verifikation keine Hypothese als wahr angenommen werden darf, an alles das wird wohl kaum gedacht. Überall ist nur zu deutlich die Absicht erkennbar, bei der Erklärung des psychischen Geschehens, es koste was es will, ohne Zuhilfenahme des Apriori auszukommen und schwerlich kann sich der Außenstehende des Eindrucks erwehren, als stünde beim Untersucher das zu erreichende Resultat schon im Voraus felsenfest und als gälte es ihm nur, durch einige Beispiele nicht sowohl die Richtigkeit desselben darzutun, als vielmehr seine Bedeutung zu erläutern.

Man wird mir erlauben, meine Beschuldigung durch ein auffallendes Beispiel zu begründen. Ich wende mich dazu an ERNST LAAS, der in seinem Artikel über Vergeltung und Zurechnung (1) die beste Gelegenheit hatte, der Sache auf den Grund zu kommen.

"Revenge is a kind of wild justice", meint schon BACON und auch LAAS führt historisch die Gerechtigkeit auf die Rache zurück. Was ist aber die Rache? Nach LAAS "eine Form der Reaktion, der Gegenwirkung und zwar einer bewußten Gegenwirkung" (2). Sehr richtig, aber doch wohl mehr ein Wortspiel als eine Erklärung; niemand wird ja hier die physischen Gesetzes des Stoßes und Gegenstoßes in Anwendung bringen wollen. In der Tat geht LAAS mit seiner Erklärung tiefer in die Sache hinein: er nennt als Vorstufen der Rache "den Trieb, schmerzhafte Erregungen durch psychisch innervierte [Nervenimpulse - wp] Bewegungen und Exklamationen loszuwerden oder zu erleichtern" (3) weiter die "repulsive Tätigkeit gegen die Ursache des Schmerzes" (4), endlich "die bewußte Absicht, uns durch Reaktion nach Außen von Schmerz zu befreien" (5). Aber nun die Rache selbst! "Mischt sich endlich der Drang, der Ursache unserer Schmerzen wieder Schmerz zu errgen, ein, so stehn wir bei der spezifischen Reaktion, die wir Rache nennen." (6) Ganz unbestreitbar; woher stammt aber dieser Drang? LAAS selbst unterscheidet in demselben drei Momente. Erstens die Prävention, das Streben abzuschrecken, unschädlich zu machen und sicher zu stellen. Zweitens Genugtuung und Vergeltung im eigenen Interesse (Rache im engeren Sinn). Drittens die ethisiere Rache (Strafe), welche "das Hauptgewicht darauf legt, daß der Missetäter  seine Schuld  büsse." (7) Noch einmal muß ich mich völlig einverstanden erklären. Nun kommt aber erst die große Frage, wie denn dasjenige, was LAAS Rache im engeren Sinn und Strafe nennt, zu  begreifen  sei. Was den ersten Punkt betrifft, erhalten wir keine weitere Aufklärung, ob es gleich dem Philosophen kaum selbstverständlich scheinen dürfte, daß der Beleidigte,  abgesehen von Präventionsgedanken,  "den erlittenen sinnlichen oder materiellen Schaden ausgeglichen sehen" will, (8) oder daß er im Leiden des Beleidigers einen "Ersatz" erblickt "für die psychische Einbuße, für den Schreck, Schmerz und Ärger, den die Schädigung in ihm erregt hat." (9) Denn die Ausdrücke "Genugtuung für das beleidigte und verletzte persönliche Gefühl", "restitutio in integrum" [Wiederherstellung der Unversehrtheit - wp] und desgleichen mehr (10) bezeichnen doch wohl mehr das zu lösende Problem, als daß sie selbst eine Lösung darbieten sollten. - Was aber den zweiten Punkt, die eigentliche Strafe, betrifft, scheint mir der LAASsche Standpunkt ein sehr schillernder. Er fängt damit an, sie scharf von allen präventiven Maßregeln zu trennen, ihr einen "sittlichen Charakter" zu vindizieren, der diesen, auch wenn sie im objektiven Interesse stattfinden, fehlt, und ihr Zusammengehen mit denselben als etwas rein Gelegentliches, Zufälliges zu bezeichnen. (11) Als "theoretische Einseitigkeit" wird energisch diejenige Anschauung bekämpft, welche die Strafe zu einer bloßen "Verwaltungsmaßregel" herabdrücken will, scharf hervorgehoben, daß die Sprache "im Begriff der Strafe vor allen Dingen die sittliche Vergeltung als Teilinhalt fordert", ausdrücklich verneint, "daß die historische Dialektiv hier wie sonst einen vulgären Ausdruck in einen solchen Bedeutungswandel verwickelt hätte, daß er gerade denjenigen Inhalt schließlich einbüßte, der ursprünglich sein Konstituens war." (12) Man lese den ganzen schönen Passus (Seite 166- 175) nach, um zu sehen, wie kräftig LAAS dem "urwüchsigen Genugtuungs- und Vergeltungstrieb", ohne welchen die Menschheit "sich selbst aufgeben", "ihre edelsten Bestrebungen und Güter im Stich lassen" würde, das Wort redet. Umso sonderbarer muß es berühren, wenn der Verfasser im nächsten Paragraphen die Quelle des Vergeltungsgedankens im positiven, vom Dasein staatlicher Gemeinschaft bedingten Rechte finden will, den Grund dieses Rechtes aber wieder nirgends anders als im Nutzen sucht und auch die Forderungen der Gerechtigkeit, welche als zweites Konstituens des eigentlichen Strafgedankens bezeichnet werden, auf dieselbe Grundlage zurückführt. "Das höchstmögliche Kollektivwohl der Gesellschaft" wird als der Zweck der Rechtsordnung bezeichnet (13), vom Wert der Gerechtigkeit wird behauptet, er liege im sozialen und individuellen Nutzen, den sie gewährt". (14) Zwar sei die Liebe die höhere Tugend; in unzähligen Fällen aber sei "um der größeren Summe nachteiliger Folgen willen" der Gnade und Geduld die Vergeltung vorzuziehen. (15)

So sind wir also wieder glücklich beim alten Präventionsgedanken angelangt; ob aber LAAS das Recht hatte, diesen Weg zu gehen, bleibt sehr fraglich. Zwar kann ihm niemand die Befugnis absprechen, für die Tatsachen des Vergeltungstriebes eine beliebige Hypothese aufzustellen; kaum dürfte es aber gestattet sein, an einer Stelle so scharf zu trennen, was später vollständig und restlos aufeinander zurückgeführt wird. Nun könnte man zwar sagen, die Strafe als Verwaltungsmaßregel sei die bewußte, die Strafe als Vergeltung aber die unbewußte, zur Gewohnheit gewordene Form desselben Phänomens und damit den scheinbaren Widerspruch der Darstellung zu entschuldigen versuchen. Wie nun aber, wenn LAAS an einer anderen Stelle die Gerechtigkeit "vorschreiben" läßt, "daß man dem anderen kein geringeres Gut und kein schwereres Übel zufüge, als man erfahren hat?" (16). Wie, wenn er weiterhin für die Verteilung der vom Staat zu fordernden Opfer und Lasten im Namen der Gerechtigkeit das Retributionsprinzip [Racheprinzip - wp] fordert und dennoch zugibt, daß "das Ganze am besten gedeihen wird, wenn jeder für dasselbe nach Kräften" (und also nicht in Proportion der vom Staat empfangenen Dienste) arbeitet und steuert?" (17) Wie, wenn in der ganzen weiter folgenden Besprechung der Strafverschärfung und Strafmilderung immer wieder der Gedanke zurückkehrt, "daß für eine bis zu einem gewissen Grad in die bleibende Charakterform zurückreichende Wollensweise, die wollende Person, als ein zugleich fühlendes Wesen,  büßen  solle (18); wenn Not und Affekt straflindern wirken sollen, weil hier in der Entscheidung kein getreues Abbild des eigentlichen regelrechten Seins und Wesens" vorliege (19); wenn, wo abnorme Triebe existieren, im Namen der Gerechtigkeit Straffreiheit postuliert und die Strafe nur zugelassen wird mit dem Gedanken, daß die getroffene Person "ein Opfer der Nützlichkeit" ist? (20) Wie, wenn wir bei einem Deterministen auf Aussprüche stoßen, wie diese: "die Vergeltung kann die naturbedingte Impotenz und Insuffizienz nicht strafen wollen, sondern nur das Wollen und die in ihm sich darstellende Gesinnung; soweit es an Macht fehlte, muß sie den Täter als unzurechnungsfähig ansehen;" (21) - und wenn der Verfasser damit endet, aus dem Gebiet der verantwortlichen und straffordernden Handlungen alles auszuscheiden, was Vererbung, Erziehung und äußere Umstände verschuldet haben und nur den "Bruchteil" gelten lassen will, der "unsere Tat, Resultat unseres Willens, unseres Strebens" ist? (22)

Ich glaube, die gerechte Vergeltung, wovon in diesen Zitaten die Rede ist, ist doch noch etwas anderes als diejenige, welche LAAS aus egoistischen Neigungen, sympathischen Gefühlen und Rücksicht auf das Kollektivinteresse entstehen läßt und deren Wert er ausschließlich im Nutzen findet, welchen sie der Gesamtheit gewährt. Daß aber ein Denker wie LAAS sich solche Inkonsequenzen zuschulden kommen läßt, beweist nur wieder, wie doch immer die Natur über die Lehre geht und wie unmöglich es ist, die Tatsachen des menschlichen Bewußtseins mit einseitigen Theorien hinweg zu disputieren. Es bleibt aber sonderbar, daß er auch nicht den geringsten Versuch gemacht hat, diese Tatsachen mit seinem Prinzp in Einklang zu bringen. Ob dieses möglich gewesen wäre, können wir für den Augenblick dahingestellt sein lassen; näher berührt uns die Frage, was die Untersuchungsmethode von LAAS selbst im günstigsten Falle würde leisten können. Da scheint dann nur eine Antwort möglich: nicht die Tatsache des Vergeltungstriebes in ihrem vollen Umfang hat der Verfasser zu erklären unternommen, sondern er hat untersucht, was sich aus den Tatsachen des Egoismus, der Sympathie und der Rücksicht auf das Interesse der Gesamtheit in dieser Richtung ableiten läßt; statt dem gemeinsamen Grund für eine Reihe verwandter Erscheinungen nachzuspüren, hat er aus gegebenen Ursachen ihre notwendigen Folgen zu deduzieren versucht. Nun wird man freilich meinen, wenn Ursachen und Folgen nur zusammenstimmen, sei es ziemlich gleichgültig, ob man von oben oder von unten anfängt, ob man aus dem Prinzip die Tatsachen ableitet oder aus diesen jenes begründet. Gegen diese Meinung muß ich aber im vorliegenden Fall entschieden protestieren. Zwar wäre der Einwand richtig, wenn es sich um die Darlegung einer bereits bewiesenen Theorie handelte; wo es aber um eine Hypothese geht, die erst noch bewiesen werden soll, ist er es keineswegs. Denn erstens wird ohne genaue Fixierung der zu erklärenden Tatsachen niemals der Beweis geliefert werden können, daß nicht nur dasjenige, was sich aus der Hypothese ableiten läßt, eine gewisse Ähnlichkeit mit diesen Tatsachen besitzt, sondern daß es sich auch vollständig und ohne Rest mit denselben deckt; namentlich auf psychologischem Gebiet, wo die zu beobachtenden Erscheinungen so leicht durch Vorurteile, Erwartungen und dgl. modifiziert werden, wird immer die Möglichkeit vorliegen, daß man äußere Ähnlichkeit mit innerer Identität verwechselt. Und zweitens führt die deduktive Methode naturgemäß immer nur auf solche Tatsachen, welche sich eben aus dem angenommenen Prinzip erklären lassen; gibt es daneben andere, welche nicht aus derselben Quelle fließen, so bleiben diese notwendigerweise unberücksichtigt. Eine Untersuchung, wie diejenige von LAAS, behält also immer, sofern sie von richtigen Prinzipien ausgeht, diesen Wert, daß sie gewisse, vielleicht schon bekannte, vielleicht auch noch nicht berücksichtigte Tatsachen aus ihren Gründen ableitet; aber diese Tatsachen sind für sie Resultat, nicht Ausgangspunkt; deshalb geht ihr die Befugnis ab, von Anfang an eine bestimmte Gruppe derselben als Ziel ins Auge zu fassen: wird sie doch vielleicht von ihrem Prinzip aus nur einen Teil derselben erreichen können. Statt "Vergeltung und Zurechnung" hätte LAAS seinen Artikel "die Metamorphosen des Präventionsgedanken" nennen sollen.

In einer auf positive Darstellung berechneten Arbeit hätte ich der Kritik nicht einen so großen Platz eingeräumt, wenn es sich nicht darum handelte, ein Prinzip, das in der heutigen Psychologie eine bedeutende Rolle spielt, ins rechte Licht zu rücken und auf seinen wahren Wert zu prüfen. Dieses Prinzip ist die - ich möchte fast sagen apriorische Verneinung des Apriorischen. Von den beiden großen Regulativen aller wisschenschaftlichen Forschung, einerseits die Prinzipien nicht ohne Not zu vermehren, andererseits aber nicht vor der Annahme verschiedener Prinzipien zurückzuschrecken, wo nach genauer Untersuchung die Tatsachen solche zu fordern scheinen, - wird im jetzigen Entwicklungsstadium der Geisteswissenschaften das Erste zwar fortwährend im Auge behalten, das Zweite aber umso weniger berücksichtigt. In der Ethik beschränkt man sich beim ersten Schritt auf Lust- und Unlustgefühle als Grundlage für die Erklärung aller Erscheinungen des sittlichen Bewußtseins; in der Psychologie überhaupt soll alles, sollen Gefühle und Affekte, Leidenschaften und Willen, auf Bewegung der Vorstellungen zurückgeführt werden. Eine solche Tendenz mag nun ansich hohen Wert besitzen; sie weist ohne Zweifel auf das höchste Ideal aller wissenschaftlichen Forschung hin, auf ein Ideal, das dem ernsten Denker immer gegenwärtig bleiben muß; dennoch liegt für den Augenblick in ihr eine Gefahr, welche nicht übersehen werden darf. Die Psychologie, welche immer um ein Jahrhundert bei den Naturwissenschaften im engeren Sinne zurückzustehen verdammt scheint, sollte aus dieser Sachlage doch wenigstens den Vorteil ziehen, den ein genaues Studium der Geschichte jener, der Gefahren, welche sie überstanden und der Mißverständnisse, welche in ihrem Entwicklungsgang hemmend eingegriffen haben, der Schwesterwissenschaft gewähren muß. In der Physik nun sehen wir im vorigen Jahrhundert dasselbe übereilte Einheitsstreben, welches sich jetzt in der Psychologie breitmacht - und unzertrennlich damit verbunden die höchste Unfruchtbarkeit der wissenschaftlichen Forschung. Sobald man das Prinzip inne zu haben glaube, macht man sich für die genaue Zerlegung und folgerichtige Ableitung der Tatsachen nicht mehr viel Mühe; sie müssen sein, wie sie sich aus diesem Prinzip deduzieren lassen und wer sie sich anders vorstellt, muß Beobachtungsfehler gemacht haben; unbestimmte Anweisungen, Vermutungen und Analogien, geistreiche Spielereien nehmen den Platz ein, den die scharfe Beobachtung und das strenge Denken ledig gelassen haben. Erst dann hat die Naturwissenschaft ihren glänzenden Siegeszug wieder angefangen, als sie zur Einsicht zurückkehrte, daß eben die Zeit für solche hochfliegende Pläne noch nicht da war, daß man, um einen Turm zu bauen, Fundamente legen muß und daß es sich vor allem darum handelte, genau im Einzelnen zu erkennen, was erklärt werden soll, "empirische Gesetze" aufzufinden, in der festen Überzeugung, daß sich, was zusammengehört, im weiteren Gang der Untersuchung von selbst um den gemeinsamen Mittelpunkt ordnen wird. Und so beruhigte man sich dann bei einer beträchtlichen Anzahl "Naturkräfte" und studierte jede für sich und verzichtete für den Augenblick auf den Genuß allumfassender Aussichtspunkte; bald aber fand sich, daß man in dieser bescheidenen Art dem Ziel viel näher gerückt war, als man früher auch nur zu hoffen gewagt hätte.

Ich glaube, das Apriori in der Psychologie ist nichts anderes, als die Kraft in der Naturwissenschaft. Das eine wie die andere vollständig zu beseitigen, wird wohl kaum je gelingen; wo überhaupt etwas geschieht, wird der Kausalitätstrieb uns immer nötigen, ein Ding anzunehmen, woran sich die Veränderung vollzieht und feste Beziehungen zwischen diesem und anderen Dingen, vermöge welcher die Veränderung in der Zeit und in der Form eintritt, in welchen wir sie wahrnehmen. Überall noch, wo man versucht hat, in der Physik ohne die Kraft, in der Psychologie ohne das Apriori auszukommen, hat man sich genötigt gefunden, dieselben durch eine Hintertür wieder hereinzulassen; der Gegenstand der Untersuchung wäre ja sonst ein Ding ohne Eigenschaften gewesen, ein Nichts, das dem Forscher unter den Händen zerrinnen müßte. Dieses schließt nun natürlich nicht aus, daß man fortwährend danach streben soll, zwischen den verschiedenen Beziehungen, die anfänglich primär und unreduzierbar erscheinen, Zusammenhänge aufzufinden und sie womöglich als Äußerungen allgemeinerer, umfassenderer Prinzipien darzustellen; die Geschichte der Physik zeigt uns diesen Vereinfachungsprozeß in großartigen Beispielen. Aber immer soll derselbe nur das Resultat gewissenhaftester tatsächlicher Untersuchung sein; höchstens auch, wenn die Tatsachen unverkennbar auf denselben hinweisen, Regulative der weiteren Forschung; niemals aber darf der Umstand, daß mit gewissen Erklärungsprinzipien in der Tat viel Unfug getrieben worden ist, dazu führen, solche ohne weiteres von der Untersuchung auszuschließen und andere, sei es auch momentan besser erkannte, apriori als einzig möglichen Erklärungsgrund zu postulieren. Und am allerwenigsten ist man zu solchem Tun berechtigt, wenn man so klar wie LAAS das Unzulängliche der Argumente eingesehen hat, mit welchen man die zur Seite geschobenen Erklärungsprinzipien widerlegen zu können meint. Es muß wohl jedem unbefangenen Leser seines Buches über Idealismus und Positivismus der Widerspruch aufgefallen sein zwischen der richtigen Einsicht, womit an einer Stelle die Möglichkeit, daß ein allgemeingültiges ethisches Prinzip sich in ganz verschiedenen, scheinbar widersprechenden Regeln äußere, behauptet, - und der ungenügenden Vorsicht, womit dann weiterhin eben das faktische Dasein solcher widersprechender Urteile als ein endgültiges Argument gegen die Annahme eines moralischen Gefühls verwendet wird. (23)

Zur vorläufigen Charakterisierung der Methode, welche man zu befolgen und derjenigen, welche man nicht zu befolgen hat, wird das Obenstehende genügen. Wenn wir nun aber von der theoretischen Darlegung zur praktischen Durchführung der bezeichneten Prinzipien übergehen wollen, dürfen wir nicht die Möglichkeit übersehen, daß doch vielleicht die utilitaristische Erklärung des Vergeltungsgedankens besser sein könnte als die Argumente, womit man sie zu begründen meint; entweder ein glücklicher Zufall oder eine Art von genialischem Instinkt hat schon oft frühere Forscher zur Konzeption eines großen Gedankens geführt, deren Richtigkeit unzweifelbar darzutun erst viel späteren Geschlechtern und ganz neuen Methoden gelingen konnte. In gleicher Weise wäre es nun auch möglich, daß der Utilitarismus wirklich für die vorliegenden Tatsachen des sittlichen Bewußtseins die richtige Erklärung geahnt hätte, auch ohne daß es bis jetzt gelungen wäre, für diesen Sachverhalt den endgültigen Beweis beizubringen.

Stellen wir die Frage so scharf wie möglich. Die Vorstellung gewisser Handlungen oder Charaktere, welche wir mit dem Prädikat  gut,  respektive  böse  bezeichnen, ist in unserem Bewußtsein kausal verknüpft mit dem Bestreben, die Subjekte dieser Handlungen oder Charaktere glücklich, respektive unglücklich zu sehen; und dieses Bestreben wird im Allgemeinen (ich werde späterhin die scheinbaren Ausnahmen zu erklären versuchen) vom sittlichen Bewußtsein gebilligt. Das sind also die Tatsachen. Quaeritur [es wird gefragt - wp]: ob solche in ihrer ganzen Ausdehnung, in ihrem Wo und Wie, aus dem Egoismus, den sympathischen Gefühlen und der Rücksicht auf das Gemeinwohl zu erklären seien.

Von vornherein wird nun die Untersuchung dieser Frage außerordentlich erschwert durch den Umstand, daß in der Tat jene zur Erklärung herbeigezogenen Potenzen im Leben eine überaus wichtige Rolle spielen und daß sie unverkennbar zu ähnlichen Ergebnissen führen müssen, als uns in den Äußerungen des Vergeltungsgedankens entgegentreten. Auch wenn wir nur mit diesen Potenzen rechnen wollen, sehen wir unschwer ein, wie man dazu kommen mußte, für bestimmte (gemeinnützige oder gemeingefährliche) Handlungen Lohn oder Strafe zu fordern; wir begreifen, wie sich diese Forderung nach und nach von der Handlung auf die Person übertragen mußte und die bekannten Tatsachen der Gedankenassoziation machen es uns selbst erklärlich, daß im Laufe der Jahrhunderte der Zweck aus den Augen verloren und ein primärer, nicht weiter reduzierbarer Zusammenhang zwischen "Böses tun" und "Böses leiden" angenommen wurde. Selbst wenn es also, neben den angeführten Motiven, noch ein anderes gibt, um das Streben nach "gerechter Vergeltung" zu begründen, läßt sich im Voraus erwarten, daß beide Kausalreihen sich zu so komplizierten Geweben verschlungen haben werden, daß auf die scharfe Trennung beider die äußerste Sorgfalt zu verwenden sein wird. Keinesfalls dürfte es bei diesem Unternehmen zulässig erscheinen, wie LAAS das positive Strafrecht zum Führer zu wählen, da wir ja wissen, daß es, zumal in seiner jetzigen Entwicklungsperiode, zum größten Teil aus bewußt-utilitaristischen Motiven hervorgegangen ist, welche nur bisweilen, mit Rücksicht auf die energischen Äußerungen des sittlichen Volksbewußtseins, anderen Erwägungen einigen Einfluß gestattet haben. Vielmehr werden wir uns, zur Verifikation der aufgestellten Hypothese, unmittelbar an das sittliche Bewußtsein selbst zu halten haben; wir werden uns auf die Ursachen, welche energische Manifestationen des Vergeltungstriebes hervorzurufen pflegen, auf die Bedingungen, unter welchen solche eintreten und auf die Umstände, welche hebend oder mildernd auf sie einwirken, besinnen müssen.

Jedem unbefangenen Beobachter muß dann  zuerst  die Tatsache aufgefallen sein, daß nicht nur im Volksbewußtsein dem Vergeltungsgedanken jede Rücksicht auf irgendeinen damit zu erreichenden Zweck abgeht, sondern daß auch Lohn und Strafe, als Selbstzweck gefaßt, unbedingt edler und moralischer erscheinen, als die utilitaristische, immer den Nutzen berechnende Gerechtigkeit. Es gehört selbst eine beträchtliche theoretische Bildung oder Verbildung dazu, sich unter diesem letzteren Namen rein präventive, nur den Nutzen der Gesellschaft bezweckende Maßregeln auch nur zu denken. Was auch die Philosophen sagen mögen, der Gedanke, menschliche Wesen als bloßes Mittel zum größeren Glück anderer leiden zu lassen, wird dem unbefangenen Menschen immer als ein empörendes  Unrecht  erscheinen und ebenso wird er glauben, die Belohnung des Verdienstes verliere ihren ganzen sittlichen Charakter, wenn man sich damit nur die Dressur anderer zu gemeinnützigem Lohndienst zum Ziel setzt. Und der bekannte Ausspruch KANTs: auch wenn morgen die Welt vergehe, solle noch heute der letzte Verbrecher nach Verdienst bestraft werden, wird von jedem normal fühlenden Menschen, freilich mit Ausnahme einiger dissidenter Philosophen, als ein erhabenes Muster richtiger ethischer Einsicht empfunden. Vielleicht ließe sich daraus schon im Voraus schließen, daß sich dieser Aussprch zwar in der bezeichneten Form mit den strengen Forderungen der Wissenschaft unvereinbar zeigt, daß aber das unbefangene, an exakte Formulierung nicht gewohnte Volksbewußtsein doch irgendeine große Wahrheit herausfühlt, welche dem kühlen, scharf analysierenden Denken notwendig verborgen bleiben mußte. Jedenfalls darf die Wissenschaft auf die Erklärung eines so allgemeinen und so scharf hervortretenden Phänomens nicht ohne weiteres verzichten; und ebensowenig scheint sie berechtigt, sich bei der von LAAS vorgebrachten Erklärung zu beruhigen (24). Den hohen und höchsten Wert, welchen man auf die Gerechtigkeit zu legen pflegt, auf bloßen "Priestertrug" zurückzuführen, also den längst überwundenen Standpunkt, aus welchem die Aufklärer des vorigen Jahrhunderts das religiöse Bewußtsein zu begreifen meinten, jetzt für die Ethik rehabilitieren zu wollen, das heißt doch wohl, sich die Sache etwas leicht machen. Gewaltige Kulturpotenzen, wie der Gedanke der "ewigen Gerechtigkeit", müssen doch wohl eine feste Grundlage im menschlichen Gemüt vorgefunden haben, wenn sie sich von irgendeinem genialischen Individuum so ohne weiteres haben hineinpflanzen lassen. Ob es aber dem Utilitarismus jemals wird gelingen können, diese feste Grundlage an den Tag zu fördern, erscheint sehr fraglich. Vielmehr müßte man von diesem Standpunkt aus glauben, der Gedanke der Vergeltung habe immer wieder aufs Neue auf seinen Zweck bezogen werden müssen, da ja erstens die Menschen sich um ihr eigenes Wohl und Wehe doch immer noch mehr gekümmert haben, als um "jenseitige Ideen oder die Gottheit selbst" und da zweitens die allgemein verbreitete utilitaristische Auffassung der Gerechtigkeit unbedingt notwendig ist, um die vollständige Erreichung des von ihr erwarteten Nutzens zu ermöglichen. Denn erfahrungsgemäß umfaßt die Gerechtigkeit als Selbstzweck ebensowenig alle gemeinnützigen oder gemeingefährlichen Handlungen, wie sie sich auch nicht auf dieselben beschränkt; sie berücksichtigt nur die vollbrachte Handlung oder die offenbarte Willensrichtung und setzt allen weiteren Nützlichkeitserwägungen ihr "pereat mundus" [möge die Welt untergehen - wp] entgegen; sie straft und belohnt auch im Verborgenen, wo der Nützlichkeitssaldo für die Gesellschaft nur ein verschwindend kleiner sein kann. Von allen diesen Nachteilen ist die utilitaristisch verstandene Gerechtigkeit frei; von keinen Vorurteilen beschränkt, kann sie überall Nutzen und Schaden gegeneinander in die Waage stellen und bei der Verteilung des Guten und des Bösen das Interesse der Gesamtheit vollständig berücksichtigen. Da würde man dann, darwinistisch zu reden, meinen, nirgends habe sich der Gedanke der Gerechtigkeit als Selbstzweck im Kampf ums Dasein handhaben können; überall hätten jene Menschengruppen am Besten prosperieren und sich ausbreiten müssen, wo die angeblich ursprüngliche utilitistisch Auffassung am schärfsten hervortrat. Vollständig unbegreiflich bliebe jedenfalls die prinzipielle Unterscheidung, welche das natürliche Bewußtsein zwischen der Gerechtigkeit als Selbstzweck und der Gerechtigkeit als Präventionsmaßregel statuiert, die Tatsache, daß nicht die eine mehr als die andere gelobt wird, sondern daß man die erste eben so entschieden billigt, als man die zweite entschieden verdammt.

Einen Pfeil wird nun aber der Utilitarismus noch ein seinem Köcher haben und gewiß nicht abzuschießen versäumen; ich meine das ewige, in jedem utilitaristischen System bis zum Überdruß wiederholte "Geizargument". Ganz wie das Gold, wird man meinen, sei auch die Gerechtigkeit ursprünglich nur als ein Mittel zu anderswo begründeten Zwecken geschätzt worden; wenn aber Ersteres, wie wohl niemand zu verneinen gesonnen sei, dem Geizhals von höherem Wert scheint als alles, was dafür zu haben ist, so lasse sich auch nicht die Möglichkeit leugnen, daß Letztere denselben Entwicklungsgang durchgemacht habe, daß man also im Laufe der Zeit dazu gekommen sei, die Durchführung der Gerechtigkeit als Selbstzweck zu betrachten und sich dieselbe weit erhaben über alle Nützlichkeitserwägungen vorstellen muß. Gegen diese Argumentation hat man nun zwar vieles angeführt; man hat sich herzlich empört über die Geschmacklosigkeit der Vergleichung und den Urhebern derselben alles moralische Gefühl abgesprochen, - alles wohl völlig mit Unrecht. Die Wissenschaft erstrebt nun einmal ein anderes Ziel, als die Kunst; in dieser herrschen die Gesetze der Schönheit, in jener aber diejenigen der Wahrheit und wenn sie sich nur um die Wahrheit, um eine harmonische Darstellung und sittliche Erhebung aber gar nicht kümmert, so tut sie eben, was ihres Amtes ist. Dennoch ließe sich, auch ohne den festen Boden wissenschaftlicher Nüchternheit zu verlassen, gegen die Zuverlässigkeit jener Parallele noch wohl etwas einwenden. Zwar ist es vollständig richtig, daß der Geizige, der mit ganzer Seele seine Reichtümer zu vermehren bestrebt ist, nicht daran denkt, sich für dieses Geld etwas zu kaufen; daß es ihm darum Selbstzweck geworden wäre, läßt sich aber bezweifeln. Denn nur so lange und insoweit wird das Geld auch für den Geizhals Wert behalten, als es den Charakter eines Mittels, andere Wünsche zu befriedigen, nicht eingebüßt hat und die Möglichkeit bestehen bleibt, es späterhin zu solchen Zwecken zu benutzen. Daß es nun beim Geizhals zu dieser Benutzung niemals kommt, ist für die vorliegende Frage gleichgültig; sie zu entscheiden, denke man sich nur den Fall, es gelänge der Chemie, mit sehr geringen Kosten aus unwertigem Material Gold herzustellen: mit einem Schlag wird die Leidenschaft für das Gold auch beim eingefleischtesten Raffkragen vernichtet sein, - es sei denn, daß seine maßlose Sucht ihn schon wahnsinnig gemacht hat. Denn wenn er auch niemals dazu kommt, seine Schätze zu genießen, vielmehr, wenn er Tausende hat, nach Hunderttausenden und wenn er diese besitzt, nach Millionen strebt, so liegt doch diesem Streben immer halb unbewußt der Gedanke zugrunde, er könne doch noch einmal Geld nötig haben, jedenfalls mache es ihn unabhängig von Menschen, die er haßt, usw.; - und wenn er sich auch die größten Entbehrungen auferlegt, um seinen Besitz zu vermehren, so gibt ihm dafür das Gefühl der größten Sicherheit hinreichenden Ersatz. Wenn man aber utilitaristischerseits auf eklatante Beispiele leidenschaftlicher Geizhälse hingewiesen hat, welche in der Mitte ihrer Schätze den Hungertod gestorben sind, so ist diese Tatsache darum nicht entscheidend, weil doch immer der Beweis fehlt, die betreffenden Leute hätten auch gewußt, daß ihre maßlose Knauserei ihnen das Leben kosten werde. Solches nun erscheint sehr unwahrscheinlich, - wie denn auch SHAKESPEARE seinen großen Geizhals damit zufrieden sein läßt, sein dem Gesetz verfallenes Leben mit der Hälfte seiner Güter zu kaufen. (25) Wenn also die Leidenschaft für Gold den primären Trieben unterliegen muß, sobald sie mit denselben in Konflikt gerät oder wenn auch nur die Möglichkeit, daß sie denselben wird dienen können, aufgehoben wird, so ließe sich von der Leidenschaft für die Gerechtigkeit, sofern diese nur ein Mittel zu egoistischen oder sympathischen Zwecken wäre, kaum etwas anderes erwarten. Daß irgendjemand bei vollständiger Kenntnis der Lage imstande sei, für die Gerechtigkeit sein Leben zu opfern und das ein anderer bei ungeschwächten Geisteskräften behaupten könne, der Verbrecher solle bestraft werden, auch wenn nicht die geringste Möglichkeit vorhanden ist, daß dieser andere aus seiner Strafe einen Nutzen zieht, erscheint also utilitaristisch unerklärbar. Wenn nun aber das faktische Vorkommen solcher Handlungen und Urteile selbst im gegnerischen Lager nicht geleugnet werden kann, darf man schon in diesem Stadium der Untersuchung die utilitaristische Hypothese zur Erklärung der vorliegenden Tatsachen als ungenügend bezeichnen.

Erheben wir nun  zweitens  die Frage nach dem eigentümlichen Charakter der Objekte, mit deren Vorstellung die Forderung der Vergeltung kausal verknüpft erscheint, so finden wir zuerst, daß das moralische Bewußtsein eine Handlung vielmehr nach der Gesinnung beurteilt, woraus sie entsprossen, als nach dem Nutzen, welchen sie dem Individuum oder der Gesellschaft gewährt. Von zwei materiell ähnlichen Handlungen wird eine die energische Forderung strengster, unerbittlichster Strafe hervorrufen, die andere aber tiefes Mitleid, vielleicht selbst den innigen Wunsch, den Täter glücklich zu sehen, ohne daß auch nur im Geringsten abzusehen wäre, wo die größere Gefährlichkeit der ersten oder der größere Nutzen der zweiten Handlung zu suchen sei. Ja, es kann eine praktisch ziemlich unbedeutende Handlung ewigen Hass hervorrufen, während eine andere, die Menschen, Familien, ganze Nationen unglücklich macht, uns oft im Zweifel lassen, ob wir dieselbe billigen oder mißbilligen sollen. Wenn auch das Gesetz die über irgendeine Handlung zu verhängende Strafe nach dem materiellen Schaden bemißt, welcher daraus entsprungen ist, so wird so etwas vom natürlichen Bewußtsein doch nur insoweit gebilligt, als der größere Schaden auf eine verdorbenere Gesinnung hinweist; ist das aber nicht der Fall, so fühlt der unbefangene Mensch ganz scharf heraus, daß nur ein Teil der Strafe "gerechte" Vergeltung, der andere Teil aber eine ausschließlich im Interesse der Gesellschaft durchgeführte, ethisch aber nicht ohne weiteres gerechtfertigte Nützlichkeitsmaßregel ist. Für solche Tatsachen hat nun freilich der Utilitarismus immer ein nicht zu verachtendes Argument in Bereitschaft. Daß die Forderung der Strafe mehr auf die Gesinnung, als auf die Handlung geht, so wird man sagen, hat seinen guten Grund darin, daß eben die unmoralische Gesinnung, welche eine Anzahl gemeinschädlicher Handlungen hervorbringt, gefährlicher ist, als die einzelne Handlung. Wenn sich selbst nachweisen ließe, daß diese in concreot mehr Nutzen als Schaden gewährt, so wird eben der Fall gleich generalisiert und stellt sich nun heraus, daß die vorliegende Gesinnung, ganz allgemein gefaßt, der Gesellschaft nachteilig sein würde, so wird der zeitweilige Nutzen um dieses Nachteils willen vergessen und ohne weiteres das Verdammungsurteil gesprochen. Oder auch, man geht unmittelbar vom einzelnen Fall auf den einzelnen Fall über; man denkt sich an der Stelle des Benachteiligten und empfindet für ihn den Rachetrieb. So wird der Verräter, aus dessen Verrat man einen Vorteil ziehen könnte oder auch wirklich gezogen hat, dennoch bestraft, entweder weil der Verrat im Allgemeinen dem Kollektivinteresse der Gesellschaft widerstreitet und sich also assoziativ mit der Vorstellung des Verrates diejenige der Strafe verknüpft hat, oder auch weil man sich sympathisch an die Stelle des Verratenen versetzt und vom eigenen Interesse abstrahiert.

In der Tat hat diese Erklärung - in so allgemeinen Zügen, wie es die Vertreter des Utilitismus zu tun pflegen, vorgetragen - etwas sehr Bestechendes. Die Gedankenassoziation ist das Stichwort der Zeit, die Zauberformel, womit man vieles erklärt hat und alles erklären zu können glaubt; und wenn sie zu Ergebnissen zu führen scheint, welche sich im Großen und Ganzen mit den wahrgenommenen Tatsachen decken, liebt man es nicht, die nüchterne Frage zu erheben, ob denn auch in der Tat ihr Gebiet so unbegrenzt sei, als man voraussetzt und ob nicht vielleicht die vorliegenden Erscheinungen außerhalb fallen könnten. Die Antwort auf diese Frage wäre nur von einem genauen Befolgen der naturwissenschaftlichen Methode auf dem Grund scharfer Beobachtung und entscheidender Experimente zu erwarten. Da müßte man dann z. B. untersuchen, ob es auch Fälle gibt, wo alle Bedingungen zur Bildung einer Gedankenassoziation ebenso vollständig realisiert sind, als in dem Fall, wo man dieselbe als Erklärungsgrund verwenden zu dürfen meint und wo sie dennoch nicht eingetreten ist; stellte sich nun aber heraus, daß dem wirklich so wäre, so müßte man sich von der Verschiedenheit der beiden beobachteten Fälle Rechenschaft zu geben versuchen, um darin dem Grund der Verschiedenheit in den Resultaten nachzuspüren. Da würde man dann z. B. auf Tatsachen stoßen, wie diese, daß die moralischen Eigenschaften wohl, die intellektuellen aber nicht jener Assoziation unterworfen zu sein scheinen. Daß man im Krieg einen gefangenen Feind, der sich durch opferfreudige Vaterlandsliebe oder Überzeugungstreue ausgezeichnet hat, mit der höchsten Achtung begegnet und alles tun will, was ihm sein Unglück erträglich machen kann, das werden die Utilitaristen ganz in Ordnung finden: sie werden sagen, es sei im Allgemeinen der Gesellschaft höchst nützlich, wenn jeder seine moralischen Triebe bis zu dem Grad ausbildet, wie es dieser Mann getan hat und wenn nun auch im vorligenden Fall diese Ausbildung der gegenüberstehenden Partei großen Schaden zugefügt hat, so sei dennoch für dieselbe die assoziative Gedankenverbindung das stärkere Motiv gewesen; die "Gerechtigkeit" fordere ja auch im Namen des allgemeinen Nutzens, daß eine solche Gesinnung nicht unbelohnt oder wohl gar bestraft davonkommt. Alles ganz schön. Aber nun hat dieser Mann, um die Sprache der Utilitaristen zu reden, statt seiner moralischen seine intellektuellen Eigenschaften "ausgebildet"; er ist ein scharfblickender, schlauer Diplomat und hat als solcher mit Lug und Trug seinem Staat wichtige Dienste geleistet, - wird nun ein ebenso starkes Gefühl zu seinen Gunsten sprechen? Kein vorurteilsfreier Mensch wird das glauben.  Warum aber nicht?  Wie ist der Unterschied utilitaristisch erklärbar? Beide Eigenschaften, - selbstlose Hingebung an Vaterland und Überzeugung und staatsmännische Gewandtheit - sind in kriegerischen Zeiten, wo sich die "moralischen Instinkte" gebildet haben sollen, den Kampfgenossen überaus nützich, den Widersachern aber im höchsten Grad gefährlich; ihre Heranbildung im eigenen Lager müßte also mit allen Mitteln gefordert, ihrem Entstehen beim Feind aber so kräftig wie möglich entgegengearbeitet werden, und es wäre am Ende sehr erklärlich, wenn sich assoziativ mit dem Vorkommen solcher Eigenschaften beim Feind die Forderung der schwersten Strafe verknüpft hätte. Gesetzt nun aber, wir sehen von dieser Wahrscheinlichkeit vollständig ab; wir nehmen ohne weiteres an, die allgemeine abstrakte Erwägung habe mehr gegolten, als die spezielle konkrete (was freilich in jenen rohen Zeiten völlig undenkbar ist) - so bleibt noch immer die Frage: warum hat sich im vollständig analogen Fall der intellektuellen Bildung nicht eine ähnliche Assoziation wie bei der moralischen festgesetzt? Es wäre damit eine negative Instanz vorgefunden, welche dazu geeignet erscheint, das unbedingte Vertrauen in die Allmacht der Gedankenassoziation, jene bequeme Art, qualitative Verschiedenheiten in graduelle umzuzaubern, auf ihr richtiges Maß zurückzuführen. Wenn nach so vielen Jahrtausenden ungestörten Wirkens es der Gedankenassoziation noch nicht gelungen ist, List und Verschlagenheit beim Kampfgenossen beliebt oder Seelengröße im Feind verhaßt zu machen, so möchte diese Tatsache genügen, das vorurteilsfreie Denken in diesem Punkt zur größten Vorsicht aufzufordern. Übrigens wäre es leicht, die erwähnten Tatsachen mit anderen zu vermehren. Wenn die Furcht vor dem Gemeingefährlichen, Schadenbringenden, stark genug wäre, einen Kausalnexus zwischen der Vorstellung gefährlicher Objekte und den Affekten des Abscheus und des Hasses zustande zu bringen, der im konkreten Fall alle anderen Erwägungen ersticken könnte, so würde sich diese Vorstellungsverknüpfung wohl nicht auf die Handlungen menschlicher Wesen beschränken. Es würde in dieser Voraussetzung z. B. unmöglich sein, gefangene und wohlverwahrte Raubtiere zu betrachten, ohne die unwiderstehliche Neigung zu empfinden, entweder dieselben zu töten oder zu entfliehen; auch im warmen Zimmer müßte uns das Unwetter draußen sehr unangenehm stimmen usw. Bei äußerst nervösen Menschen mag nun dem wirklich so sein; im Großen und Ganzen ist die Menschheit doch gewiß nicht entfernt, in dem Grad Sklave der Gedankenassoziation zu sein, wie es uns die Utilitaristen glauben machen wollen; vielmehr hat unter normalen Umständen immer die Vernunft Kraft genug, den allgemeinen Merkmalen gegenüber das spezifisch Unterscheidende des vorliegenden Falles im Auge zu behalten. Und keineswegs dürfte es zutreffend sein, das hochentwickelte, scharf reagierende moralische Gefühl ohne weiteres der passiven, instinktartig fühlenden und handelnden Kopflosigkeit des Nervenkranken gleichzusetzen.

Wenn alledem nun aber wirklich so ist, so fällt damit das Argument, welches des Utilitarismus immer dem Nachweis gegenüberzustellen pflegt, daß auch Handlungen, welche keinen positiven Nutzen gewähren, gebilligt, auch solche, welche niemandem im mindesten schädlich sind, verurteilt werden. Das ewige Appellieren an die "Wunder der Assoziation" zeigt sich eben zu nahe mit jedem anderen Wunderglauben verwandt, um in ethischen Fragen das entscheidende Wort sprechen zu dürfen; es stellt sich heraus, daß der nicht graduelle, sondern prinzipielle Unterschied, den das moralische Bewußtsein zwischen ausschließlich legalen und wirklich moralischen Handlungen statuiert, - daß die unbedingte Achtung, die sich Überzeugungstreue erzwingt, der Abscheu, welchen Sklavensinn am allerstärksten in demjenigen erweckt, der vermöge seiner eigenen Selbständigkeit den größten Vorteil daraus ziehen könnte, - daß alle diese Tatsachen und unzählige andere, wenn man dieselben aus dem Gesichtspsunkt der Gedankenassoziation zu begreifen versucht, notwendig einen unerklärten Rest zurücklassen und daß jeder unbefangene Beobachter psychischer Erscheinungen eben in diesem unerklärten Rest das eigentümlich "Moralische" erkennen wird. Aber auch wenn wir uns auf ein engeres Gebiet, etwa das der Wohltätigkeit, beschränken, werden wir auf ähnliche Resultate stoßen. Nicht derjenige, welcher die meisten Genüsse, sondern derjenige, welcher sie am gerechtesten verteilt, erfreut sich der höchsten Achtung, wogegen der freigiebige Mann des Augenblicks, der nicht nach Prinzipien, sondern nach momentanen Stimmung viel größere Summen verschenkt, in der öffentlichen Meinung keineswegs auf gleicher Stufe steht. Freilich wird man versuchen, solches auf das größere Vertrauen, welches der Erstere einflößt, wie auf die Ungewißheit der Handlungen des anderen zurückzuführen; wobei man aber vergessen würde, daß die Menschen erwiesenermaßen einen ungewissen großen Vorteil unendlich höher, als einen gewissen kleineren zu schätzen pflegen. (26)

Zu ähnlichen Resultaten werden wir gelangen, wenn wir nun  drittens  die Bedingungen untersuchen, von welchen das Entstehen des Vergeltungsgedankens abhängt und die Umstände, welche einen stärkenden oder schwächenden, überhaupt modifizierenen Einfluß auf denselben auszuüben pflegen. Da stoßen wir dann zuerst auf die von keinem Utilitaristen zu leugnende und auch von LAAS anerkannte Tatsache, daß der Vergeltungstrieb demjenigen gegenüber verstummt, was man als Resultat der Erfahrung, der Umstände usw. zu betrachten genötigt ist. Man würde meinen, ein solches Eingeständnis müsse notwendig zum Aufgeben der utilitaristischen Hypothese führen, - denn die gemeinnützige oder gefährliche Natur einer Handlung wird doch nicht im Geringsten dadurch modifiziert, daß der Charakter, woraus dieselbe entsprossen ist, von äußeren Einflüssen bedingt erscheint. Wenn der Ursprung des Vergeltungstriebes im Bestreben zu suchen ist, zum Tun nützlicher und zum Unterlassen schädlicher Handlungen anzuspornen, - nun so wird man eben an  jede  schädliche Tat, die unterlassen hätte werden können, ein nachfolgendes Leiden, an  jede  nützliche einen Genuß geknüpft haben und es nimmt sich wie reiner Wahnsinn aus, hierbei für die Ergebnisse der Erziehung usw. eine Ausnahme zu machen. Wollte man aber dem gegenüber sagen, in solchen Fällen sei eben die Möglichkeit des Unterlassens  nicht  mehr vorhanden, weil die schlechte Erziehung das unsittliche Handeln zur zweiten Natur gemacht hat, so vergißt man erstens, daß dieses gewiß in solchem Grad nur ausnahmsweise der Fall ist; zweitens aber, daß, wenn es auch so wäre, es umso dringender notwendig sein müßte, durch kräftige Gegenmotive, aus der zweiten Natur eine dritte, bessere, zu machen. Daß aber in solchen Umständen das Schweigen des Vergeltungstriebes nicht aus Verzweiflung an der Möglichkeit der Besserung erklärt werden darf, geht schon daraus hervor, daß dieser Trieb sich sehr deutlich offenbart, sobald man die Unverbesserlichkeit, mit Recht oder mit Unrecht, nicht als Produkt der Erziehung, sondern als Manifestation des eigentlichen "Charakters" betrachtet.

Unter den Utilitaristen hat sich z. B. BÖRNER der Kraft dieser Konsequenzen nicht zu entziehen vermocht. Er behauptet ausdrücklich, es komme, "wenn jemandem irgendeine Handlung oder Unterlassung moralisch zugerechnet werden soll, lediglich  darauf  an, daß dieselbe aus ihm, wie er  ist,  hervorging"; - "diese Zurückführung auf das  Sein  des Menschen und die Beurteilung desselben nach der allgemeinen moralischen Norm stehe an und für sich nicht in der geringsten Beziehung zu der für sich bestehenden Frage, wie der Mensch das, was er ist,  geworden  ist" (27). Es hebe also "die Art der Erziehung, welche ein Mensch genossen hat, dessen Zurechnungsfähigkeit in keinem Fall weder ganz, noch teilweise auf". (28) Dieses ist nun zwar sehr folgerichtig; man fühlt aber wieder gleich den Advokaten heraus, der nicht den bestehenden moralischen Vergeltungstrieb erklären, sondern einen neuen, juristisch gefärbten, an seine Stelle setzen will. - Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen und auch die Aufhebung oder Beschränkung der moralischen Verantwortlichkeit beim Affekt und beim Rausch in Frage stellen. Dann hat jemand in so einem Zustand gefrevelt, so bleibt diese Tat schädlich, aus welchen Ursachen sie auch hervorgegangen sei; der Täter aber hat eben gezeigt, daß er dem Affekt unterworfen ist oder berauschende Getränke liebt und daß ihn dieselben zu gemeingefährlichen Handlungen führen können. Die Androhung einer schweren Strafe wird ihn zwar nicht, wenn er einmal erzürnt oder betrunken ist, von solchen Handlungen zurückhalten, sie wird ihn aber diese Zustände vermeiden lehren und damit wird für die Gesellschaft vollständig dasselbe erreicht sein. Es ist im Allgemeinen vom utilitaristischen Standpunkt aus eine Inkonsequenz, so viel Gewicht auf die Absicht, bzw. die innere Schuld zu legen. Zwar verlieren diese Faktoren auch hier nicht ihre volle Bedeutung: denn nur auf dem Gebiet der willkürlichen, beabsichtigten Handlungen kann die Strafe ihre präventive Wirkung ausüben; auch utilitaristisch setzt die Strafe Absicht voraus. Aber diese Absicht braucht, um gefährlich und utilitaristisch verdammenswert zu sein, keineswegs unmittelbar auf die schädliche Haltung selbst zu gehen; sie ist es in gleichem Maße, wenn sie nur Zustände herbeiführt oder auch entstehen läßt, aus denen die schädliche Handlung hervorgeht. Der Jähzornige, der im Affekt zahlreiche Exzesse begeht, aber dieselben jedesmal von ganzem Herzen bereut, ist vielleicht der Gesellschaft in gleichem Maße wie der Wolllüstling gefährlich; dennoch wird dieser von jedem normal fühlenden Menschen herzlich verabscheut, jener aber, wenn auch getadelt, doch bemitleidet, vielleicht selbst geschätzt und geliebt. Also auch hier, wie in manchen verwandten Fällen, zeigt sich der Utilitarismus als unzureichend, die vorliegenden Tatsachen zu erklären.

Ein gleiches Resultat wird sich ergeben, wenn wir uns statt den inneren jetzt den äußeren Bedingungen des Lohn und Strafe herausfordernden Handelns zuwenden. Wenn wirklich der Gedanke der Prävention die tiefste Grundlage des Vergeltungstriebes wäre, so müßte sich derselbe notwendig umso energischer offenbaren, je stärker die Motive sind, die zum unsittlichen Handeln antreiben. Ein Diebstahl ist der gesellschaftlichen Ordnung gleich gefährlich, ob er von einem hungernden Bettler oder von einem wohlhandenden Menschen verübt worden ist; nur ist es ungleich wahrscheinlicher, daß der Erste, als daß der Zweite sich die Tat zuschulden kommen lassen wird. Da wäre es dann utilitaristisch ganz in Ordnung, wenn man dem Hunger, als dem stärkeren Motiv, auch ein stärkeres Gegenmotiv, also schärferen Tadel und schwerere Strafe, entgegenzusetzen geneigt wäre, als dem einfachen Wunsch, seine Besitztümer etwas zu vermehren.

Eifersucht, Provokation, tiefe sittliche Empörung sind kräftigere Motive zu einem Mord, als der bloße Wunsch, einmal seine Macht zu erproben; also müßte auch das sittliche Bewußtsein, wenn es sich im Laufe der Jahrtausende assoziativ aus egoistischen und sympathischen Neigungen entwickelt hätte, im ersten Fall eine empfindlichere Vergeltung fordern, als im zweiten. Auffallenderweise aber zeigt die unerbittliche Wirklichkeit, welche sich eben um unsere schönen Theorien nicht kümmert, genau das Umgekehrte; ja man könnte sagen, die Intensität des Vergeltungstriebes sei derjenigen der Motive, welche die zu beurteilende Handlung hervorgebracht haben, umgekehrt proportional. Es ist eben  nur  die Gesinnung, wie sie aus Tat und Motiven abgeleitet wird, bei vollständiger Ausschließung dieser Motive selbst, welche Lob und Tadel, die Forderung des Lohnes und der Strafe, bedingt; ja es erscheint schon an sich dem natürlichen Bewußtsein als ein ethischer Widerspruch, Lob und Tadel nach demjenigen abzumessen, was an der Tat nicht des Täters ist; - obgleich, utilitaristisch gesprochen, dieser Widerspruch die reine Konsequenz wäre. - Die prinzipielle Verschiedenheit zwischen Theorie und Wirklichkeit liegt aber darin, daß die erste alle sittliche Beurteilung, alle Vergeltung durchweg als Mittel zu einem Zweck betrachtet; welche Auffassung dem natürlichen Bewußtsein niemals gelingt, vielmehr als das höchste Unrecht, die tiefste Barbarei erscheint. Was auch die Philosophen sagen mögen, der Satz:  Lob und Tadel, Lohn und Strafe sind Selbstzweck,  mag als ein ethisches Axiom betrachtet werden. Das ist so wahr, daß wissenschaftlich denkende Männer, welche infolge ihrer deterministischen Überzeugung das Recht zur Vergeltung aufgehoben glaubten, mir doch zugestanden haben, daß,  wenn  der Wille "frei" wäre, das Gute belohnt und das Böse bestraft werden müßte.

Gehen wir nun aber noch einen Schritt weiter. Setzen wir den Fall, ein Mann habe eine Freveltat begangen, die mir das heiße Bedürfnis einflößt, dieselbe an ihm zu rächen. Nach langen Jahren findet sich zu dieser Rache eine schöne Gelegenheit; es zeigt sich aber, daß der Mann seine Tat herzlich bereut und sich wirklich zum Besseren gewendet hat. Ich mag diese Besserung auslegen wie ich will; ich mag dieselbe als eine wirkliche "Charakterveränderung" auffassen oder als einen Beweis, daß ich damals aus der Tat einen unrichtigen Schluß auf den Charakter gezogen habe, jedenfalls finde ich, daß der Mensch jetzt besser ist, als ich ihn damals gehalten habe. Kein Unbefangener wird glauben, daß diese Entdeckung auf die Intensität meines Vergeltungstriebes ohne Einfluß bleiben wird. Wie ist das aber utilitaristisch zu erklären? Die schädliche Handlung ist begangen und wenn auch keine Gefahr mehr da ist, daß der Mann selbst eine solche wiederholen wird, so ist es doch anderen gegenüber im Interesse der Gesellschaft, daß an ihm ein abschreckendes Beispiel geübt werde. Nun wird man zwar sagen, jetzt die Strafe noch zu vollziehen, werde anderen Verbrechern ein Motiv zur Besserung nehmen; dem steht aber die Erwägung gegenüber: wenn ich jetzt dem Mann verzeihe, werden andere meinen, auch nur frisch drauf los sündigen und durch eine späte Reue sich die Straflosigkeit erkaufen zu können. Es ist nun zwar sehr bequem, erscheint aber keineswegs als wissenschaftlich berechtigt, aus dem wirklichen Tatbestand nur dasjenige herauszunehmen, was sich mit der Theorie in Einklang befindet und sich dann später auf diesen Einklang etwas zugute zu tun. So erscheint dann auch von dieser Seite die utilitistische Lehre als eine, wenn auch an sich richtige, doch zur Erklärung des Gegebenen nicht ausreichende Hypothese.
LITERATUR Gerard Heymans, Zurechnung und Vergeltung - eine psychologisch-ethische Untersuchung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 8, Leipzig 1884
    Anmerkungen
    1) ERNST LAAS,Vergeltung und Zurechnung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie V. und VI. Jahrgang
    2) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 146 und 147
    3) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 147
    4) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 147
    5) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 147
    6) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 147
    7) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 152
    8) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 147
    9) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 147
    10) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 151f
    11) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 153
    12) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 164-166
    13) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 183
    14) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 308
    15) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 313
    16) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 316
    17) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 331
    18) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 455
    19) LAAS, a. a. O. Bd. V, Seite 482
    20) LAAS, a. a. O. Bd. VI, Seite 216
    21) LAAS, a. a. O. Bd. VI, Seite 216
    22) LAAS, a. a. O. Bd. VI, Seite 326
    23) LAAS, a. a. O. Bd. II, Seite 17: "Vielleicht läuft ein Teil der Variationen in den moralischen Gewohnheiten und Anschauungen auf diejenige Verschiedenheit der äußeren Umstände zurück, welche auch einen völlig identischen Grundgedanken in mannigfaltigen Anwendungsweisen auseinandertreibt. Selbst wenn es ein absolut Gültiges gibt und dasselbe im sittlichen Bewußtsein allgemein und gleich einsichtsvoll lebendig wäre, müßte mit dem temporären und lokalen Wechsel der Natur und der Menschen eine bunte Vielheit von konkreten Einzelnormen entstehen." Damit wohl kaum vereinbar ist II, Seite 146: "Der Unbefangene kann sich angesichts dieses Faktums" (nämlich der "Tatsache ..., daß der moralische Unwille und Beifall nach Völkern und Zeiten, nach Ständen und Umständen, nach Geschlecht und Familie mancherlei Verschiedenheiten in der Qualität der Objekte zeigt, auf die es fällt) schwerlich des Verdachts erwehren, daß die Autonomie, mit welcher sich der moralische Instinkt äußert, doch nur eine  erworbene  ist ... Das moralische Gefühl ist die Resultante vielseitiger und vielfarbiger, ganz und halb unbewußt zugetragener Eindrücke" usw.
    24) LAAS meint (a. a. . V, Seite 309), die Höhergebildeten "werden es im Interesse des ernsten Gegenstandes meist vorziehen, jede didaktische Erleichterung und Abkürzung zu ergreifen, um die ethische Hauptsache: möglichste Ausbreitung und Befestigung des Glaubens an die  Verbindlichkeit  gerechten Verhaltens so schnell und sicher als möglich durchzusetzen. So bringen es schließlich ununterbrochene und allgegenwärtige Einwirkungen der Erziehung und des Lebens (unter Mitwirkung der Vererbung) dahin, die Gerechtigkeit als ein absolutes, ewiges, heiliges Gut anzusehen," usw.
    25) SHAKESPEARE, Kaufmann von Venedig IV, 1.
    26) JOHN STUART MILL, Principles of Political Economy II, Chapter XV, § 4
    27) MILL, a. a. O. Seite 40
    28) MILL, a. a. O. Seite 40