ra-2R. HirzelA. H. PostJ. MausbachF. DehnowK. SchneiderL. Stein    
 
FRANZ KLEIN
(1854-1926)
Die psychischen Quellen des
Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung

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"In der zivilisierten Gesellschaft beruth das sittliche Handeln nur zum geringen Teil und insbesondere nur oberhalb eines gewissen Niveaus auf der intuitiven Moral des einzelnen Individuums. Entstehen und Gedeihen des Gesellschaftskörpers verlangen viel Verallgemeinerung und Gleichförmigkeit und dem können sich auch die moralischen Auffassungen nicht entziehen. Es gibt immer noch individuelle Moral, das sind aber bloß die Flammenspitzen, die aus dem Feuer emporzüngeln, um bald wieder darin zu verschwinden. Das Machtvolle sind die von der Gesellschaft anerkannten moralischen Traditionen und Postulate, in denen und für die jedes Geschlecht erzogen wird."


4. Das Gewissen

Die vorangehenden Ausführungen setzen voraus, daß das Bewußtsein des Einzelnen auch das nötige Rechtswissen enthält. Diese wesentliche Prämisse bewußten Wollens des Rechts ist jedoch bloß in einem Bruchteil der Gesellschaft wirklich gegeben, bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung ist sie, wenngleich mit zahllosen Differenzen sowohl quantitativ als qualitativ unvollkommen erfüllt. Die Kenntnis abstrakter Normen und Regeln des Rechts beschränkt sich der Hauptsache nach auf die juristischen Berufsstände und die durch eine besondere Fachbildung für ihre Aufgaben erzogenen Angehörigen der wirtschaftlichen und technischen Berufe, für welche Vertrautheit mit gewissen Partien des Rechts unerläßlich ist. In Sachen des öffentlichen Rechts steht es vielleicht etwas besser; namentlich auch deshalb, weil die Beschäftigung mit Politik und öffentlichem Leben stets einige Gesetzeskenntnis verlangt. Darüber hinaus ist theoretisches Rechtswissen Seltenheit und Zufall. Hier stammen die Rechtsvorstellungen der Laien größtenteils aus der Rechtsanwendung, wie an früherer Stelle gesagt wurde; aus eigenen oder fremden Erlebnissen. Das ist mit der Gefahr verbunden, daß man die Rechtssätze nicht rein empfängt, sondern eingewachsen und verwoben in allerlei Tatsachen, in irreführenden Projektionen und oft zu sehr spezialisiert. Die auf diese Art gewonnene Rechtskenntnis wird daher meistens ein lückenhaftes Gemenge wenig präziser Vorstellungen sein. Diese Erscheinung ist etwas regelmäßiges, sie bedeutet aber nicht immer das Nämliche. Es gibt Staaten und Perioden, in welchen sich das Recht rasch erneuert und solche, die am alten Erbe solange wie möglich treu festhalten. In manchen Ländern und Zeiten wird das ungeschriebene, das Gewohnheitsrecht begünstigt, während anderswo und zu anderen Zeiten das Gesetzesrecht ausschließlich herrscht oder dem Gewohnheitsrecht nur einen untergeordneten Platz gönnt. Ein Rechtsterritorium ist von geringem Umfang und seine Gesetze sind auf die wesentlich gleichen und allen bekannten Verhältnisse dieses Gebietes zugeschnitten, in einem andern erstreckt sich dasselbe Recht über weite, sehr ungleiche Provinzen und ordnet daher Lokales vielfach abweichend von den lokalen Auffassungen. Einmal beschränkt sich die Rechtsbildung auf die allgemeinsten Beziehungen, ist sparsam mit Spezialrecht, ein anderes Mal überflutet das letztere. Dann sind auch die Rechtsinstitutionen nicht immer gleich. Abgesehen davon, daß sie dem Fassungsvermögen der Menge näher oder ferner stehen können, wechseln wie in der Volkswirtschaft so auch in der Organisation des Rechtslebens und der Justzi Selbsthilfe und Staatshilfe. Bald wird das Individuum sich allein überlassen, es muß auf eigene Gefahr sehen, wie es mit den Normen zurechtkommt, bald nimmt sich der Staat der Einzelnen an und geleitet sie mittels Behörden, freiwilliger Gerichtsbarkeit usw. durch den Normenwald heil hindurch. Diese Übersicht ist deshalb nicht ganz überflüssig, weil sie zeigt, daß auch ohne Umsturz des nun einmal in Sachen der Rechtsunkenntnis angenommenen Systems die Rechtspolitik in verschiedener Weise die Nachteile der geringeren Rechtskenntnis der Menge mindern kann. Doch ohne Rücksicht darauf, ob dies geschieht oder nicht, betrachten es Staats- oder Rechtsordnung für das rechtliche Handeln grundsätzlich als gleichgültig, ob sich die richtigen Rechtsvorstellungen an der Willensbildung überhaupt beteiligen können. Das ist die psychologische Seite der Fiktion oder, wenn man diesen Ausdruck vorzieht, der Annahme einer allgemeinen Rechtskenntnis. Sie wird als ein unerläßliches Axiom behandelt, obwohl zugegeben werden muß, daß die Präsumtion der Gesetzeskenntnis theoretisch ein Widersinn ist und obwohl psychologisch der Widersinn, wenn möglich noch ärger ist. Die Bitterkeit ist nicht ganz unbegründet, mit der ANTON MENGER hervorhebt, die Rechtsnachteile, die an die Unkenntnis der Gesetze geknüpft sind, seien das offenbarste Unrecht, und es sei leicht zu erweisen, daß dieses Unrecht vorzüglich die unteren Volksklassen trifft. Merkwürdigerweise wird jedoch tatsächlich von Millionen, die vom Recht oder den für sie gerade wichtigen Normen keine oder nur sehr vage Vorstellung haben, rechtgemäß gehandelt. Nicht daß auch ihr Gehorsam fingiert würde. Sie tun wirklich, was die Rechtsordnung will, sie leisten mit ihren dürftigen Mitteln oft dasselbe wie die genauen Kenner des Rechts, wenn auch ihr Handeln manche Spur der Ungeübtheit und des unsicheren Tastens an sich tragen mag. Soll es für diese schwer zu begrenzende Gruppe eine eigene Psychologie des Rechtsgehorsams geben? Oder ist die dargelegte Ansicht falsch, weil sie nicht imstande ist, nach außen ziemlich gleiche Phänomene einheitlich auszulegen?

Wer zur Philosophie BERGSONs hält, könnte sich auf die Wunderkraft der Intuition verlassen, nüchterner Denkende werden zunächst versuchen, diesen Rechtsgehorsam ohne verläßliche Richtlinien und Sanktionen im Bewußtsein gleichfalls aus den gegebenen Anlagen des Menschen zu erklären. Es müßte etwas in seinem Inneren sein, das ihm in Situationen, wie sie das Recht zu regeln pflegt, einen Wink gibt, wie er sich zu verhalten habe, und ihn zugleich dieses Verhalten als Pflicht fühlen läßt. Würde die Handlungsweise, die aus einem inneren Antrieb als notwendig erscheint, der durch das Recht vorgezeichneten gleich oder ähnlich sein, so wäre allerdings für die unzulängliche Rechtskenntnis Ersatz geboten. Es gibt eine Potenz im Menschen, die diese Fähigkeit besitzt und keinem geistig Gesunden abgeht: das Gewissen. MOLTKE schrieb einmal, das Gewissen sei der unbestechliche und unfehlbare Richter, der sein Urteil in jedem Augenblick spricht, wo wir ihn hören wollen, und dessen Stimme schließlich auch den erreicht, der sich ihr verschließt, wie sehr er sich dagegen sträubt. Der Richter, der Unkundigen mahnend das Rechte weist, das ist es, was nötig wäre! Nach manchen Indizien läßt sich der Gedanke nicht schlechthin abweisen, daß in Sachen des rechtgemäßen Handelns das Gewissen mitwirkt. Man begegnet ihm im Rechtsleben allenthalben. Im Bereich der Verbrechen und strafbaren Handlungen ist es die Stimme des Gewissens, die warnt und abwehrt oder als Reue den Täter zur Verzweiflung bringt und zum Geständnis treibt. Man macht sich ein Gewissen daraus, die berechtigten Ansprüche eines anderen unerfüllt zu lassen, fremdes Gut zu beschädigen oder behördlichen Verfügungen Widerstand zu leisten, die aus Sicherheits-, hygienischen oder aus anderen Gründen des öffentlichen Wohles ergangen sind und deren Vereitelung die Interessen anderer gefährden würde usw. Es gibt hierin Unterschiede, das Gewissen mahnt und straft nicht immer mit gleichem Nachdruck, doch es scheinen die Menschen tatsächlich auch in unserer Zeit in ihrem rechtlichen Handeln oft durch das Gewissen gelenkt zu werden.

Nach PAULSEN (7) ist das Gewissen das Dasein der Sitte im Bewußtsein des Individuums und dessen inneres Verhältnis zu ihr. Im Gewissen glauben die Menschen die Stimme der ewigen Gerechtigkeit selbst zu vernehmen. Seiner Form nach ist es ein Wissen um einen höheren Willen, durch den sich der Eigenwille des Individuums innerlich gebunden fühlt. Das eigenartig Unheimliche, Quälende, das unerbittlich Jagende und Plagende des Gewissens, das die Alten in den Erinnyen versinnbildlichten und das heute für das Gewissen noch ebenso charakteristisch ist, lassen diese Sätze ebensowenig ahnen wie den plötzlichen Blick in die Zukunft, der die Folgen eines Tuns geisterhaft vor sich sieht, und die durch nichts zu betäubende Gewissensregung, die aus dem Geschauten, unser Innerstes aufwühlend emporsteigt. Diese unwillkürlichen, heftigen Gemütsreaktionen sind ein Zeichen dafür, daß an diesem Prozeß das Ich sehr nahe beteiligt sein muß, durch das bloße Bewußtsein, einem überindividuellen Willen zu unterliegen, sind sie nicht erklärt. In jener Bestimmung dürfte das wichtige Moment übergangen sein, daß unser Gewissen nicht bloß nach Regeln des Sollens und deren Sanktionen, sondern ebenso nach den praktischen Zielen und Erfolgen des Handelns denkt, die es auf die eigene Person zurückbezieht und nach den sich daraus ergebendenn Eindrücken bemißt, beurteilt und fühlt. Diese Duplizität der Betractung scheint das Besondere des Gewissens zu sein: man denkt nicht bloß an die möglichen religiösen, sozialen, rechtlichen Folgen des geplanten Tuns für das eigene Selbst, sondern man denkt auch an die Folgen, die das Handeln für den Anderen hat, an dessen Gefährdung und antizipiert sie, indem man sich selbst an dessen Stelle als leidende Person, von den Schmerzen und Übeln, welche die Tat bringen wird, betroffen denkt. Letzteres, das Erwachen von Sympathie und Selbsterhaltung stört die innere Ruhe und verursacht den starken Gefühlston. Durch dieses Unlustgefühl erhält die Vorstellung, daß ein gewisses Handeln nicht gut, nicht recht sei, Bekräftigung und es unterbleibt nun entweder infolge der stärkeren Gegengefühle oder falls diese die Neigung zum Handeln nicht überwinden können, geht nach der Tat jene Unlust in Reue und Gewissensbisse über. Das ist mehr und etwas anderes als die Erregung, in die uns die Sanktionen des moralischen Gebotes versetzen. Nur die Identifizierung des Ich mit dem Objekt der Tat gibt eine Erklärung für die spontane Beunruhigung, die wunderbare Feinheit und Regsamkeit des Gewissens und seine Hellsichtigkeit; daher auch die verschiedene Stärke der Gewissensregungen nach dem Charakter des Handelnden, nach dem Wert, den er selbst den bedrohten Gütern beilegt, und nach der Schwere der realen Folgen.

Abgesehen davon wird gegen die Ansicht PAULSENs wenig einzuwenden sein. Im Gewissen wirkt demnach ein sittliches Denken, mag es die ursprüngliche Gestalt der Sitte bewahrt haben oder Religions- oder Rechtsgebot sein. Da Macht hier ausgeschlossen ist, sind Sitte, Religion und Recht die einzigen Formen höheren Willens, die das Individuum binden können. Von religiösen Vorstellungen werden für das Gewissen vornehmlich die moralischen Lehren und Gebote in Betracht kommen. Rechtsvorstellungen im engeren Sinne werden im Gewissen, namentlich in den Volksschichten, die sich mit beschränktem Unterricht zufrieden geben müssen, wohl nur in der Gestalt vorkommen, in der sie ins allgemeine Bewußtsein übergegangen sind, und auch dann, was schon gesagt wurde, kaum allzuviel Raum einnehmen. Übrigens behält bei einer Divergenz von Sitte und Recht das sittliche Empfinden meistens die Oberhand. Der Besitzer des Hauses hat die fällige Miete zu beanspruchen, hält es aber angesichts der Notlage des Mieters mit seinem Gewissen unvereinbar, seine Forderung einzutreiben. Bei Abschluß eines Vertrages ist auf einer Seite ein Irrtum unterlaufen, der, obwohl für einen der Kontrahenten von größtem Belang, juristische von der Vertragserfüllung nicht befreit. Das Gewissen kann es dem anderen Teil verbieten, aus dieser Bestimmung des Privatrechts Nutzen zu ziehen. Notwehr ist nur zum eigenen und seiner Nächsten Schutz erlaubt. Man sieht eine fremde Person angegriffen und steht ihr vom Gewissen getrieben bei usw. Der Inhalt des Gewissens ist nichts stationäres. Er wächst mit der Entfaltung der Persönlichkeit, mit der Vervielfältigung der gegenseitigen Beziehungen und mit der Erweiterung des ethischen Gesichts- und Pflichtenkreises. Selbst da, wo man vom Gewissen mehr im übertragenen Sinne spricht (z. B. künstlerisches, wissenschaftliches Gewissen) hat man durch die Kunst, durch die Gelehrtentätigkeit auferlegte sittliche Pflichten, ein dadurch entstandenes Pflichtbewußtsein im Auge, was natürlich eine nur vereinzelt mögliche Sublimierung der Berufsausübung und Sittlichkeit zur Voraussetzung hat. Von ausnahmsweiser Empfindsamkeit abgesehen, repräsentiert das Gewissen die jeweils vorherrschenden, als verbindlich anerkannten sittlichen Ideen, die für den regulären Verkehr der Menschen in einer bestimmten Epoche geforderten sittlichen Pflichten, in der Form und Ausbildung und in einem Stärkeverhältnis, wie diese sittlichen Ideen und Pflichten sich in den verschiedenen Gesellschaftskreisen durchgesetzt haben.

Im Gewissen tritt also im Rechtsleben sittliches Denken und Empfinden auf. Die Mahnung des Gewissens kann ein gewöhnliches Motiv rechtlichen Handelns sein, ein Motiv mehr in der für das rechtgemäße Handeln entworfenen Liste. Sie kann aber ebenso ein durchaus selbständiges Handeln hervorrufen, das im Gebot des Gewissens zugleich Impuls, Inhalt und Richtung erhält. Rechtliches und Sittliches Handeln heben sich in mehrfacher Hinsicht voneinander ab. Zumindest in der Theorie, die, von der formalistischen Moralphilosophie gar nicht zu reden, für das sittliche Handeln etwas viel verlangt: durch moralische Ideale bestimmtes Wollen, auf das Glück Anderer gerichtetes Denken, sympathische Gefühle usw. Bei solchen Anforderungen müßte das moralische Handeln eine seltene Blume bleiben, es könnte kaum zu einem sittlichen Verkehr im Großen kommen. In Wirklichkeit verhält es sich anders. In der zivilisierten Gesellschaft beruth auch das sittliche Handeln nur zum geringen Teil und insbesondere nur oberhalb eines gewissen Niveaus auf der intuitiven Moral des einzelnen Individuums. Entstehen und Gedeihen des Gesellschaftskörpers verlangen viel Verallgemeinerung und Gleichförmigkeit und dem können sich auch die moralischen Auffassungen nicht entziehen. Es gibt immer noch individuelle Moral, das sind aber bloß die Flammenspitzen, die aus dem Feuer emporzüngeln, um bald wieder darin zu verschwinden. Das Machtvolle sind die von der Gesellschaft anerkannten moralischen Traditionen und Postulate, in denen und für die jedes Geschlecht erzogen wird. Indem sie ihm bezeichnen, was als gut und böse zu halten ist, stellen sie ihm seine sittliche Aufgabe, und wenngleich diese Traditionen nicht unabänderlich sind, solange die sozialen Sanktionen nicht anderen sittlichen Urteilen zur Seite treten, ist die moralische Selbstbestimmung der Einzelnen ziemlich reduziert, man kann dann wirklich kaum mehr zu ihren Gunsten sagen als daß die Sitte "in der Idee" das Moralische dem Wollen anheimstellt und den Schein freiwilliger Unterwerfung wahrt. Die Verschiedenheiten ethischen Empfindens werden sich daher fast nur in der Anwendung der allgemein gültigen Sittennorm zeigen können. Im Leben der Gesellschaft nimmt eben auch die Sittlichkeit "soziale Formen" an. Der Einzelne führt das fertige allgemeine Urteil aus und handelt damit moralisch. Zumindest greift eine solche Mechanisierung des sittlichen Denkens in der großen Mehrzahl der Fälle Platz. Die Philosophen tragen diesem Stand der Dinge Rechnung, indem sie teils zugeben, daß die Freiheit des Handelns nicht notwendig eine Bedingung der Sittlichkeit ist, teils die strengen Konsequenzen der kantischen Moralphilosophie ablehnen, daß nur Handeln aus Pflichtgefühl moralischen Wert hat. Die widerspruchslose Unterwerfung der gesamten Umgebung unter den von der Gesellschaft angenommenen Moralkodex im Verein mit den Folgen, die dem Zuwiderhandelnden drohen, wird im Einzelnen natürlich mit der Zeit auch ein Gefühl des Sollens erzeugen, das ist jedoch für sich allein nicht das Pflichtgefühl KANTs. Das Individuum wird im Gegenteil mitunter gehorchen, obwohl das generelle objektive und sein eigenes persönliches moralisches Urteil nicht übereinstimmen und es sich deshalb nach seiner besonderen Auffassung unmöglich verpflichtet halten kann, der allgemeinen Sittennorm gemäß zu handeln.

Sofern die Rechtsordnung mit den herrschenden sittlichen Normen harmoniert oder letztere innerhalb der Rechtsnorm befolgt werden können, mag es auf diese Weise geschehen, daß das sittliche Handeln dem rechtlichen bisweilen sehr ähnlich ist. Es ist daher in Rechtssachen sittliches Handeln denkbar, das vom Gewissen diktiert, bald enger angeschmiegt, bald in einem weiteren Abstand dem Zug des Rechts folgt. Das Gewissen wird dem Menschen sehr oft als  loi des lois  [Gesetz der Gesetze - wp], wie es LAMARTINE nennt, das Rechte tun heißen, ohne daß er die Rechtssätze selbst bis ins einzelne kennt. Man könnte fast sagen: somnambul wandelt er vom sittlichen Empfinden über die Schwierigkeiten hinweg, die sich aus den komplizierten Methoden des Rechts ergeben können, dem richtigen Ziel zu, indem sich Sitte und Recht begegnen. Es kommt ihm dabei in hohem Maß zustatten, daß ihn das Gewissen heißt, sein Handeln hypothetisch an sich selbst auf die Richtigkeit zu prüfen.


5. Das Rechtsgefühl

Es wird vielleicht eingewendet werden, daß es nicht notwendig oder sogar unrichtig ist, das Gewissen und die im Volk verbreiteten sittlichen Anschauungen in den Dienst des Rechtsgehorsams zu stellen. Es gäbe doch anerkanntermaßen ein Rechtsgefühl und es sei unglaublich, daß dieses gerade dann untätig bleibt, wenn es sich darum handelt, sein Vorgehen nach dem Recht zu richten. Da aus manchen Gründen ein Abirren des sittlichen Handelns vom eigentlichen Rechtsgebiet immerhin möglich ist, würde damit dem Rechtsgehorsam der Laien statt des sicheren Führers, den er dringend braucht, ein unverläßlicher gegeben, für einen solchen bedenklichen Tausch liegt aber kein Anlaß vor. Es ist nicht überflüssig, sich mit diesem Einwurf kurz auseinanderzusetzen.

Wenn das Rechtsgefühl ein echtes Gefühl ist, und des fehlt an jedem Grund, es als begrifflich verschieden von den logischen oder moralischen Gefühlen aufzufassen, so wird vor allem der Vorstellungs- oder psychische Inhalt zu ermitteln sein, dem sich das Gefühl zugesellt. Diese Vorstellungen können sich, da das Wort  Recht  all dies umschließt, auf das Recht im objektiven Sinne, auf das Recht oder die Berechtigung eines Einzelnen oder auf das beziehen, was richtig ist. Das ist Ursache zahlreicher Mißverständnisse und Fehlschlüsse und macht es auch schwierig, sich über den Begriff zu einigen. Eine Standardmarke für Rechtsgefühl gibt es bisher nicht, und so mag jeder nach seinem Geschmack viel oder wenig sich darunter denken. Es bleibt daher einstweilen nichts übrig als an sich selbst und an anderen zu studieren, wann die Gemütsbewegung, die wir als Rechtsgefühl qualifizieren, wach wird und wieweit sie reicht. Leider gestaltet sich selbst dies insofern ungünstig, da das Rechtsgefühl ihm allein eigene Reaktionsformen nicht besitzt. Jedenfalls sind vom Rechtsgefühl zu sondern  Rechtsbewußtsein  oder  Rechtsüberzeugung,  die mitunter Rechtsgefühl genannt werden, beides Begriffe, die in verschiedenem Grad die subjektive Wahrhaftigkeit einer Rechtsbehauptung bejahen und ohne alles Rechtsgefühl auftreten können, und ebensowenig hat eigentliches Rechtsgefühl mit dem bekannten Vorgang etwas zu schaffen, daß jemandem bei der Erzählung eines Rechtsfalls sofort "blitzartig" die richtige Entscheidung gegenwärtig ist, ohne daß ihm das Durcheilen aller vermittelnden Urteile und Schlüsse bewußt wird. Von Rechtsgefühl ist hier schon deshalb nicht die Rede, weil das wesentlichste Merkmal dieser Erscheinung: der rasche, mit Überspringen vieler Zwischenglieder ablaufende Denkprozeß, das abgekürzte Denken und Schließen, das Erreichen des richtigen Denkziels in wenigen großen Sätzen ebenso bei der Diagnose des Arztes, bei strategischen Entschließungen eines Heerführers und namentlich oft in den Denkprozessen von Kaufleuten und Finanziers sowie schließlich auch bei den Menschen zu beobachten ist, die ihnen aufgegebene Rätsel schnell richtig zu lösen das Talent haben. Es ist eine besondere intellektuelle Behendigkeit und daher selbst wenn sie an Rechtsdingen sich erprobt, nicht Rechtsgefühl, das wir ohne weiteres auch dem schwerfälligen Bauern zuschreiben, der seine Gedanken lange hin und her wälzt, bis er zu einem Schluß kommt.

Die Rechtsvorgänge sind von den verschiedenartigsten Gefühlen begleitet. Was Rechtsgefühl zu sein scheint, sollen einige Beispiele demonstrieren. Eine Schuld wird nicht bezahlt, weil der Schuldner nicht das erforderliche Geld hat oder sonst seine Verpflichtung aus physischen, materiellen Gründen nicht erfüllt. So unerfreulich ihm die Haltung des Verpflichteten sein mag, dürfte sich bei einem solchen Anlaß im Berechtigten kein Rechtsgefühl melden. Wenn aber ein Recht von der Gegenpartei unter Vorbringen von Gründen bestritten wird, die ohne den Berechtigten im Glauben an sein Recht wankend zu machen, doch die ernstzunehmende Absicht einer Bedrohung oder Gefährdung seines Anspruchs bekunden, so werden Gefühle entstehen, die als Rechtsgefühl zu bestimmen sind. Desgleichen wenn etwa die behördlichen Wählerlisten für eine öffentliche Wahl so angefertigt werden, daß Personen, die alle Voraussetzungen eines aktiven Wahlrechts in sich zu vereinigen glauben, übergangen werden. Ist dies ihre aufrichtige persönliche Überzeugung, dann wird die von ihnen für gesetzwidrig erachtete Ausschließung ihr Rechtsgefühl wecken. Wenn die Ausschließung von den Wählerlisten dagegen wider besseres Wissen, nur aus politischen Gründen angefochten wird, so können dabei zwar auch Gefühle mitspielen, es sind aber andere Gefühle, die ins Bewußtsein treten: Abneigung, Vergeltungsgefühle wie Haß, Rache usw. und nicht das Rechtsgefühl. Auch Entrüstung, Zorn, Ärger über Schikane, die Erregung über den durch Widerstand vielleicht zugefügten Schaden dürfen nicht mit dem Rechtsgefühl verwechselt werden, neben dem sie vorkommen können. Bei dem, der einem anderen zufolge Rechtens zu etwas verpflichtet ist, wiederholen sich die Unterscheidungen, die soeben vom Standpunkt des Berechtigten gemacht wurden. Ein eigentliches Rechtsgefühl wird sich beim Verpflichteten nur zeigen, wenn gegen ihn unter Umständen, die es nicht erlaube, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen, Ansprüch erhoben werden, die seiner ehrlichen Meinung nach überhaupt oder in der konkreten Gestaltung unbegründet sind oder gegen die ihm triftige Einwendungen zugestehen. Rechtsgefühl tritt in allen diesen Fällen auf, sofern von einer Person mit voller Überzeugung für richtig gehaltene Rechtsansprüche oder Rechtsbehauptungen mit anderen entgegengesetzten Rechtsansprüchen oder Behauptungen in Konflikt geraten, die - ob überzeugt oder nicht - mit Ernst und Erfolg oder doch mit einer gewissen Möglichkeit des Erfolges zur Geltung gebracht werden. Oder falls es sich nicht um subjektive Rechte handelt, wenn jemand gutgläubig aus irgendeiner Norm die Legitimation zu seinem Handeln schöpfen zu können glaubt und dabei auf eine ernste rechtliche Ableugnung und Bekämpfung dieser Legitimation stößt. Das Rechtsgefühl beschränkt sich jedoch nicht auf die Parteien eines Rechtsverhältnisses oder überhaupt die direkt am Rechtsfall Beteiligten. Jeder Dritte kann es haben, jeder der von einer Rechtsangelegenheit hört, deren Verlauf oder Ausgang unter ungefähr gleichen Umständen mit Rechtsvorstellungen oder Rechtsbegriffen kollidiert, die in ihm festwurzeln. Daher kann z. B. ein unrichtiges Verdikt [Urteilsspruch - wp] der Geschworenen oder ein offenbar vergriffenes Strafausmaß nicht nur beim Ankläger oder Angeklagten, sondern bei jedem Leser, der darüber ein Urteil oder eine feste Ansicht hat, ein Rechtsgefühl erzeugen; möglicherweise bei Letzterem allein, wenn beim Ankläger oder Angeklagten mit dem Spruch kollidierende Rechtsauffassungen fehlen, die ihnen für unzweifelhaft richtig gelten. Dieses Rechtsgefühl unbeteiligter Dritter treibt z. B. in Amerika die Menge nochmal dazu, Lynchjustiz zu üben. Auch in Streitsachen des Zivil- oder Verwaltungsrechts erstreckt sich in analoger Weise das Rechtsgefühl über die Parteien hinaus.

Was sich schon in diesen Vorgängen andeutet, wird unverkennbar, wenn die Maskierung durch das positive Recht wegfällt. An einem Eisenbahnschalter wird ein Billett für den Schnellzug begehrt. Der Kassenbeamte irrt sich, nimmt den Fahrpreis für den Schnellzug, gibt aber nur eine Karte für den Personenzug und der Passagier wird während der Fahrt zum Nachzahlen und zu einer Strafgebühr aufgefordert. Er weiß sich schuldlos, seine Rechtfertigung wird ihm aber nicht geglaubt und schützt ihn nicht gegen die strikte Anwendung des Reglements. Er empfindet das als offenbares Unrecht, in ihm sträubt sich etwas gegen die im Namen des Gesetzes oder aufgrund einer behördlichen Vorschrift ihm angesonnene Leistung und man wird unbedenklich zugeben, daß es sein Rechtsgefühl ist, das dagegen revoltiert. Ein Junge, der knapp die Grenze der Mündigkeit überschritten hat, wird wegen einer Tat verurteilt, die er auf fremdes Anstiften, unter fremdem Einfluß zu eines anderen Vorteil, offenbar nur deshalb begangen hat, weil er sich über die Tragweite und Strafbarkeit seines Tuns nicht im Klaren war. Der Fall wird überall Mitleid, bei Vielen aber noch mehr, nämlich Rechtsgefühl erregen. Doch auch ein beschränktes Wahlrecht zu den gesetzgebenden Körperschaften oder die Beengung der Bewegungsfreiheit des Individuums durch behördliche Willkür kann das Rechtsgefühl herausfordern und ebenso kann es sich an den Konflikten zwischen Staatseinrichtungen und konfessionellen oder nationalen Bestrebungen entzünden, die sich auf das Recht des Gewissens, auf das natürliche Recht des Vaters, die Erziehung seiner Kinder zu bestimmen, oder auf das natürliche Recht jedes Volkes berufen, seinen geschichtlichen Charakter festzuhalten und ein nationales Eigenleben zu führen. In diesen Beispielen stehen sich nicht wie in den früheren Rechtsvorstellungen gegenüber, sondern Normen des positiven Rechts geraten mit Vorstellungen anderen Inhaltes in Widerstreit, in denen gegenüber dem gesetzlichen, geltenden Recht etwas davon abweichendes als richtig oder richtiger behauptet wird. Behauptet wird aus dem tiefsten Inneren heraus, manchmal sogar vielleicht mehr oder weniger unfreiwillig. Diese innere Wahrheit, der Glaube an die Richtigkeit des dem Gesetz gegenüber eingenommenen Standpunktes ist hier ebenso die Voraussetzung des Rechtsgefühls, wie vorhin die innere Überzeugung einer Person, daß der konkrete Rechtsanspruch ihr nach dem Gesetz zusteht oder überhaupt der von ihr eingenommene Rechtsstandpunkt gesetzlich begründet sei. Damit will natürlich nicht gesagt sein, daß ein Rechtsgefühl nicht ebenso gut wie Dankbarkeit, Freundschaft, Bewunderung usw. geheuchelt werden kann. Für die Natur des wahren Gefühls ist dies jedoch gleichgültig.

Die Vorstellungsmasse, die den Träger des Rechtsgefühls bildet, enthält nach diesen Beispielen außer dem einschlägigen Tatsachenstoff zunächst verschieden entwickelte Vorstellungen rechtlichen Inhalts: Vorstellungen von bestimmten Rechtssätzen oder Rechtsregeln und von dem, was ihnen entspricht oder widerspricht, sowie Vorstellungen von den Rechten und Berechtigungen des Individuums oder Dritter und von dem, was diesen Rechten gemäß ist oder was sie verletzt oder gefährdet. Daneben muß sie aber noch andere Assoziationen umfassen, denn das Rechtsgefühl tritt, ohne Heuchelei, bekanntlich gern auf die Szene, wo das positive Recht gegebenenfalls im Stich läßt oder nur unsichere Lösungen gewährt. Es übt ferner selbst an sicheren Lösungen, Rechtsnormen und Berechtigungen Kritik und es gibt schließlich sehr oft die Richtschnur für Neubildungen, die bis dahin der Rechtsordnung fremde Gedanken einführen. Diese Assoziationen scheinen nach den früheren Beispielen das Ich empfindlicher zu berühren als die Rechtsvorstelungen und sie messen allen Anzeichen nach das Handeln oder Verhalten in Rechtssachen nach einem anderen Maß als nach dem positiven Recht, sonst könnten sie nicht einmal die Lösung nach positivem Recht verwerfen und ein anderes Mal einer auf positives Recht gestützten Behauptung ein erhöhtes ausnahmsweises Gewicht verleihen. Da es zugleich Vorstellungen sein müssen, die wie das Recht das Verhältnis des Individuums zu den anderen Menschen betreffen und sich auf die durch das Recht geordneten Lebensverhältnisse beziehen, da diese Vorstellungen ferner um die Linien des Rechts beständig oszillieren, das Recht zu ergänzen oder zu kritisieren scheinen, sich fast bei allen Menschen finden und schließlich schlechthin oder doch innerhalb größerer Kreise der Gesellschaft wesentlich gleich oder einander sehr ähnlich zu sein pflegen, so wird man den Schluß wohl wagen können, daß es in der Hauptsache moralische Ideen sind. Sie werden inhaltlich als Vorstellungen von dem zu bezeichnen sein, was neben dem positiven Recht oder gegen dieses in Rechtsdingen für richtig, recht oder für unrichtig, unrecht im ethischen Sinne gehalten wird. Neben dem positiven Recht als Überzeugung, daß das, was das positive Recht gewährt, auch ethisch dem Subjekt gebührt, und daß wer verweigert, was ihm das Gesetz auferlegt, sich auch gegen die sittlichen Pflichten vergehen würde, also die zu einer Rechtsbehauptung oder zu einem Rechtsanspruch hinzutretende aufrichtige innerste Überzeugung von ihrer Gerechtigkeit und der ebenso aufrichtige und im Falle einer Enttäuschung dagegen gefühlsmäßig reagierende Glaube, daß deren Negationi ein Bruch des durch die Sitte geheiligten Verhaltens wäre. Gegen das positive Recht aber als Überzeugung, daß eine seiner Verhaltensregeln die aus ethischen Gesichtspunkten daran geübte Kritik nicht verträgt. Es gibt keine anderen Assoziationssysteme, zwischen denen ein annähernd gleiches Verhältnis der Zwecke, der gegenseitigen Hilfe und doch auch der Unterordnung bestände. Das positive Recht verwirklicht das sittlich Richtige, Rechte niemals vollständig, und die Ethik verzichtet niemals auf ein ideales, sittlich richtiges Recht. Die sittlichen Vorstellungen im Rechtsgefühl haben daher nichts  a priori  unwahrscheinliches. Es werden nicht immer die blanken sittlichen Ideen eines Philosophen oder Priesters sein. Nein, vielmehr vergröbert, verschoben, entstellt und individuell gefärbt durch die Art der Überlieferung, durch persönlichen Charakter und durch die Phantasie, daneben eingesprengt oder eingestreut kirchliche Moralgesetze, Reminiszenzen an alte Rechte und Gewohnheiten, volkstümliche Traditionen, allerlei Jllusionen, romantische Vorstellungen vom geltenden Recht und ähnliches. Doch der Hauptstock seines psychischen Inhalts werden neben Rechtsvorstellungen Vorstellungen aus der Sphäre der Sittlichkeit sein. Nur aus der Moral und ihrer gesellschaftlichen Macht ist zu begreifen, wie das Urteil von Tausenden über Dinge, die dem Einzelnen bisweilen sehr fern liegen, mehr oder weniger nach derselben Richtung zu gravitieren vermag, obwohl jenseits des positiven Rechts und in Opposition gegen dieses jeder seinen Maßstab frei wählen und individuell urteilen könnte. ie Schichtungen und Unterschiede in der Moral der Gesellschaft sind im Rechtsgefühl nicht ohne Widerschein und die moralische Reaktion ist es, die aus der "zufällig und unvollständig zusammengerafften Rechtskenntnis und Rechtsbeurteilung", die nach RUDOLF STAMMLER das Reale hinter dem tönenden Wort  Rechtsgefühl  ist, ein wahres Gefühl des Rechten macht.

Der populären Auffassung sind im Rechtsgefühl nicht die Vorstellungsinhalte, sondern die Gefühlstöne die Hauptsache. In einem Gefühl, das uns fast wider unseren Willen unterjocht, erblickt man gewissermaßen eine Offenbarung des Ewigen in uns und das gibt dem Urteil oder der Behauptung, die von diesem Gefühl getragen werden, in den Augen Vieler eine besondere Weihe. Es ist der in die Seelenmystik übergegangene Gedanke des Gottesurteils. Die Psychologie ist anderer Ansicht. Nach ihr ist das Gefühl die persönliche Aneignung eines neutralen Erfahrungsinhaltes; im Gefühlsphänomen wird die Vorstellung vom Ich-Standpunkt daraufhin abgeschätzt, was sie "für das Wohl und Weh des Subjekts" bedeutet. (8) Das Gefühl sagt uns nichts über die Richtigkeit der Vorstellung, sondern nur über deren Verhältnis zu den Interessen des Ich, was nicht notwendig dasselbe ist, und mit dem subjektiven Maß scheint zugleich Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Rechtsgefühls unvereinbar. Die im Rechtsgefühl sich aussprechenden Interessen sind nach dem Gesagten die der sittlich denkenden Gesellschaftsglieder. Das Fundament der Teilnahme am Leben der Gesellschaft ist normal Sitt und (weltliche und religiöse) Sittlichkeit. Wo und weil diese wesentliche Existenzbedingung bedrohnt ist, regt sich eventuell ein Rechtsgefühl. Die Bewertung ist in diesem Gefühl vermöge des ihm eigenen Vorstellungsinhaltes eine soziale, altruistische, nicht eine rein egoistische. Das kann teilweise gegen Befangenheit schützen, doch die objektive Richtigkeit des vom Rechtsgefühl Geforderten ist dadurch allerdings nicht verbürgt. In streitigen Fragen des Arbeitsverhältnisses wird das Rechtsgefühl der Arbeiter, wie schon erwähnt wurde, von dem der Unternehmer differieren, die Beeinträchtigung eines politischen Rechtes mag den Konservativen kühl lassen, während sie das Rechtsgefühl des Demokraten reizt usw. Die positivrechtliche, juristische Richtigkeit eines vom Rechtsgefühl unterstützten oder postulierten Urteils ist sonach keineswegs verbürgt und es ist mehr als zweifelhaft, ob in der Tat das Rechtsgefühl eine Rechtsquelle genannt werden darf, welche die Judikatur benützen muß, um die Gesetze richtig und allgemein befriedigend auszulegen und anzuwenden. Es mag angehen, sofern man die Harmonie von Sittlichkeit und Recht als Prinzip des Rechtslebens hinstellt und voraussetzt. Dem geltenden Recht gegenüber, das diejenige Modalität von Sittlichkeit darstellt, die der Gesetzgeber für das Rechtsleben jeweils nötig und möglich hält, wird jedoch das Rechtsgefühl bald ein gesetzwidriger Überschuß an Sittlichkeit bald eine gesetzwidrige Verteilung des Sittlichen sein, und deshalb wird der Richter jedesmal sehr genau zu prüfen haben, ob er das Rechtsgefühl jedesmal sehr genau zu prüfen haben, ob er das Rechtsgefühl zum Ausgangspunkt seiner Erwägungen nehmen darf. Ob und wieweit er das tun kann, hängt nicht nur davon ab, welches seine Stellung zum Gesetz ist, sondern noch weit mehr davon, welche Gerechtigkeit: die gesetzlich-juristische, die sittliche oder die soziale Gerechtigkeit von seinem Urteil gefordert wird.

Den Ergebnissen dieser Analyse kommen die Auffassungen von zwei neueren Arbeiten über das Rechtsgefühl trotz mancher Divergenzen sehr nahe. KUHLENBECK hat in der Abhandlung "Zur Psychologie des Rechtsgefühls" (9) mehr die Entwicklung als die Definition im Auge. Einige der Charakterzüge, auf die hier aufmerksam gemacht wurde, sind jedoch auch ihm aufgefallen. Seine Ansicht, das Rechtsgefühl gelange erst durch eine Verletzung der Regeln des Gemeinschaftslebens zum Bewußtsein, bestätigt die Wichtigkeit des Kollisionsmoments für das Rechtsgefühl. Dieses ist nach KUHLENBECK in seiner ersten Stufe - nachdem es früher ein Rachegefühl war (?) - ein vom Eigeninteresse sich ablösendes altruistisch gerichtetes soziales (ethisches) Gefühl, d. h. mit allerlei Abweichungen im Detail, das Rechtsgefühl ist der Gefühlston sozial-ethischer Bewußtseinsinhalte! Über die weitere Entwicklung ist nur sovie gesagt, daß das Rechtsgefühl in seiner vornehmsten Ausbildung eine große Ähnlichkeit mit dem ästhetischen Lustgefühl der Harmonie bietet, es wäre aber schwer einzusehen, wie die Entwicklung der Erkenntnis die Substanz des Rechtsgefühls grundsätzlich verändern sollte. Bis knapp an die Wahrheit führt die Abhandlung von KARL SCHNEIDER über das Rechtsgefühl (10). Dieses ist für ihn "das als Recht Empfundene", eine natürliche Befähigung des Menschen, eine gerechte Grenze zwischen zwei sich widerstreitenden Interessen zu finden. Man habe darin die gezähmte natürliche Selbstsucht des Menschen zu erblicken, indem die Selbstsucht verstehen gelernt hat, daß ohne Anerkennung eine fremden Interessenbereiches der eigene schließlich auch keinen Schutz erwarten kann. In der Scheidung der Interessen, in der Anerkennung des  suum cuique  [Jedem das Seine. - wp] liegt der Kernpunkt des Rechtsgefühls und seines lebhaften Strebens nach Gleichheit. Beifällig wird die Äußerung OTTO BÄHRs, zitiert, das lebende Rechtsbewußtsein (= Rechtsgefühl) gehe nicht bloß aus dem Gewissen hervor, es sei zugleich eine Sache des Charakters; es sei der innere Sinn für Gerechtigkeit, der hier in Frage kommt. In allen diesen Wendungen fehlt nichts, als das Wort  sittlich,  um folgern zu können, daß Rechtsgefühl auf sittliches Denken gegründet ist, denn die gegenseitige Anerkennung von Interessensphären, die Gerechtigkeit, das  suum cuique  gehören durchwegs der Ethik an. Im Schema des sittlichen Wollens, der Tugenden bemerkt PAULSEN bei Erwähnung der Tugend der Gerechtigkeit: Sie erscheint zunächst in der habituellen Selbstbeschränkung in der Verfolgung der eigenen Interessen durch die Rücksicht auf die Interessen der menschlichen Umgebung. Darüberhinaus als Rechtssinn, der überall für Recht und Gerechtigkeit eintritt, der Unrecht nicht bloß tut, sondern soviel an ihm ist auch nicht duldet, daß es geschieht.

Die Ansichten, die IGNATZ KORNFELD in seinem schon erwähnten Werk über das Rechtsgefühl äußert (11), berühren sich vorweg hinsichtlich des "idealen Rechtsgefühls" mit dem hier Vorgebrachten. Dieses hat nämlich, nach Meinung des Verfassers, Ideen von einem guten Rechtssatz zum Inhalt und drückt den Wunsch aus, daß dieser Satz tatsächlich geltendes Recht sein möge; Vorstellungen positivrechtlichen Inhaltes sollen allerdings darin fehlen. Dieses Gefühl wird jedoch der Rechtsphilosophie und Rechtspolitik zugewiesen, praktische Bedeutung soll nur das "positive Rechtsgefühl" haben. Es wird bestimmt als die Gefühlserregungen der gleichmäßigen Motivationen des rechtlich-sozialen Verhaltens der Menschen, als ihre gleichartigen Gefühle für ihre gesellschaftlichen Interessen, für die Autorität der Gesetzgebungsorgane, für die fachlichen Gesellschaftszwecke, vermöge derer den Regeln und Gesetzen regelmäßig gehorcht wird, meines eigenen Wissens als das gefühlte Bedürfnis nach rechtsgsellschaftlichem Leben. Woher in aller Welt die Vorstellung des sozialen Wohlfahrtszweckes und des zu seiner Erreichung dienlichen Handelns ansich und permanent, ohne Reibung den Gefühlston hernehmen, wodurch derart allgemeine, man könnte sagen: professorale Gedanken das Individuum aus der Gleichgewichtslage bringen, das wird nicht gesagt. Es kann aber kein Zweifel sein, daß diese gefühlserregenden Motivationen wenig "positivrechtliches" an sich haben, überhaupt nicht spezifisch rechtliches sind. Rechtsgesellschaftliches Leben ist die Basis aller auf Gemeinsames gerichteten Gedanken in einem Gemeinwesen höherer Stufe. Das Denken an Wohlfahrtszwecke, an gesellschaftliche Interessen, an gleichmäßiges Verhalten und an sachliche Gesellschaftszwecke ist auch jenseits der Rechtsordnung nicht nur möglich, sondern es kommt dort tatsächlich viel häufiger vor. Danach denkt und damit rechnet der Politier, der Volkswirt, der Sozialpolitiker, der Pädagoge usw., kurz jeder, der sich mit Staat und Gesellschaft und deren Geschicken befaßt. Nicht einmal das Gefühl für die Autorität der Gesetzgebungsorgane ist etwas exklusiv rechtliches, in anderen Zweigen des Gemeinlebens ist es ebenso notwendig, da die Gesetzgebung von Heute in Form von Gesetzen auch verwaltet und kontrolliert. Und ebensowenig kann ein Zweifel bestehen, daß im Vorstellungsinhalt, der nicht positivrechtlich ist und doch im Rechtsgefühl mitspricht, das Ethische überwiegt, denn alle diese Motivationen betreffen das Verhältnis zwischen Einzel- und Gesellschaftsleben, bewegen sich also im Bereich der Ethik, obgleich sie darüber hinausgreifend auch Momente der gesellschaftlichen Politik enthalten mögen. Diese letztere Trennung wird selten ganz rein vorzunehmen sein. Je mehr das Rechtsgefühl ethische Kritik ist, desto besser für die Rechtsübung. In der Rechtspolitik kann ein sozialer Zusatz weniger schaden. In Summa: eine soziologische Rechtslehre kann sich, in dem Maße wie sie es wirklich ist, umso schwerer der Anerkennung der Macht des Sittlichen im Recht entziehen.

Rechtsgefühl und Gewissen stimmen sonach - dahin läßt sich hier Erörterte resümieren - trotz mancher Verschiedenheiten in ihrem Kern stark überein. In beiden wirkt sittliches Denken und das Rechtsgefühl kann daher dem Laien bei seinem rechtlichen Handeln keine anderen Dienste leisten als das Gewissen. Gerade an dem, was das Rechtsgefühl in dieser Hinsicht voraus hat, an den Vorstellungen des positiven Rechts fehlt es dem Laien meistens. Jedenfalls hat aber diese Untersuchung vollauf bestätigt, daß am aktiven Rechtsleben neben dem Recht auch starke ethische Energien mitarbeiten.
LITERATUR Franz Klein, Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung, Berlin 1912
    Anmerkungen
    7) FRIEDRICH PAULSEN, System der Ethik, Bd. 1, 1896, Seite 335
    8) FRIEDRICH JODL, Lehrbuch der Psychologie II, Seite 17 und 355. - WILHELM WUNDT, Grundriß der Psychologie, Seite 202.
    9) Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 1907, Seite 16f
    10) Zeitschrift für Deutschen Zivilprozeß, Bd. 41, Seite 297
    11) IGNATZ KORNFELD, Soziale Machtverhältnisse, a. a. O., Seite 100f