ra-2tb-1Emil Laskvon Kirchmannvon RümelinE. KaufmannR. Stammler    
 
ERICH KAUFMANN
Kritik der neukantischen
Rechtsphilosophie

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"Der Neukantianismus kann zeigen, daß im Erkenntnisakt kategoriale Verbindungen und Verknüpfungen, Synthesen des Mannigfaltigen zur Einheit vorgenommen werden, daß das Erkennen Formelemente enthält, die die Gegenstände der Erkenntnis erst schaffen; er kann diese Formen als ein Sollen, als Normen auffassen, die das erkennende Subjekt anerkennt und die es im Erkenntnisakt befolgt; er kann selbst das Gegebensein, das Etwas, das  Diessein als Formen ansehen, ohne die wir einen Komplex von Empfindungsinhalten nicht als gegeben, als etwas, als gerade dieses erfassen können. Aber selbst wenn es möglich wäre, ein System solcher reinen Formen und Normen aufzustellen, so wäre damit nur ein System von abstrakten Sollungen gegeben, wie etwa: verknüpfe Empfindungsinhalte zu Dingen! setze Relationen zwischen Empfindungsinhalten! betrachte Empfindungsinhalte als ein Gegebenes, als ein individuelles Dieses! Aber niemals kann mit all dem etwas darüber gesagt sein, wann wir diesem, wann jenem Sollen gehorchen sollen, wann dies, wann jenes richtig ist, ob im einzelnen Erkenntnisakt eine Befolgung der Sollensnormen Wahrheitswert hat, ob wir damit die Wirklichkeit erkennen."

Die deutsche Rechtsphilosophie befindet sich in einer eigentümlichen und kritischen Situation, die mit der Krisis im engsten Zusammenhang steht, in der sich unsere Philosophie überhaupt, ja unser ganzes geistiges Leben befindet. Nach dem langsamen Abebben der großen spekulativen Flut des deutschen Idealismus hatten wir lange Zeit überhaupt keine Rechtsphilosophie. STAHLs großes Werk ist die letzte bedeutende und originelle Erscheinung auf diesem Gebiet; daneben kommen höchstens noch die Leistungen der KRAUSE'schen Schule in Betracht. HEGELs Rechtsphilosophie erschien 1820, die von STAHL in erster Auflage 1829, in fünfter 1878; AHRENS' Rechtsphilosophie, als Übersetzung aus dem Französischen 1846, die sechste deutsche Auflage 1870; ROEDERs Naturrecht in erster Auflage 1860, in zweiter 1868. Der deutsche Geist scheint nach den gewaltigen Leistungen seiner Spekulation philosophisch erschöpft, metaphysisch todmüde zu sein. Er hat andere, bsiher vernachlässigte Aufgaben zu erfüllen, die seine Kraft zu absorbieren scheinen, die Eroberung der empirischen Welt: den Ausbau der technischen Naturwissenschaften und der historischen und philologischen Forschung und den Aufbau seines staatlichen und wirtschaftlichen Daseins. Die metaphysische Periode ist wie abgeschlossen, wie in einem Meer versunken scheint es, als ob keine Verbindungslinien zwischen beiden bestehen. Das ist gewiß nicht der Fall: denn ohne die metaphysische Periode, die das Reicht des Geistes erobert und zugleich die Wege zur Wirklichkeit des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens aufgezeigt hatte, ist jene nicht denkbar. Aber beide Phänomene stehen doch hintereinander und nicht in wechselseitiger Durchdringung nebeneinander, wohl in zeitlichem und sachlichem, aber nicht in organischem, sich dauernd gegenseitig befruchtendem, lebendigem Zusammenhang. Wohl kann die wissenschaftliche Forschung die Verbindungslinien von der einen zur anderen ziehen; aber es bleibt Tatsache, daß wir uns in der wirklichen Welt eingerichtet, Staat, Recht und Wirtschaft aufgebaut haben ohne eine begleitende zeitgenössische Metaphysik und Staatsphilosophie. Wohl kann man die geistigen Erbschaften, die die eine von der anderen angetreten hat, aufzeigen; aber es sind eben Erbschaften, kein unmittelbar von der eigenen Generation erarbeiteter Besitz, und darum dazu verurteilt, immer mehr zu Schatten, wenn nicht zu leeren Phrasen zu verblassen. Die Intensität mit der der Deutsche als Individuum wie als Nation seine Aufgaben erfaßt und bewältigt, scheint die gleichzeitige und sich gegenseitig durchdringende Erfüllung mehrerer Aufgabenn auszuschließen, wie sie geistig flacheren und schwächeren, aber dafür soziologisch stärkeren Nationen beschieden ist. Das jähe Steigen und Fallen in geistiger und politischer Hinsicht, das unsere Geschichte charakterisiert, das dialektische Ausschlagen in Antithesen, das ebensosehr ein Symptom unserer Tiefe und unseres inneren Reichtums, wie unserer Schwäche und unserer unorganischen Art ist, dürften mit dieser Veranlagung zusammenhängen. Weil wir keine Staats- und Rechtsphilosophie hatten, weil Staat und Gesellschaft nur durch verblaßte Erschaften, Erbschaften von KANT, HEGEL, STAHL und MARX, und nicht durch eine lebendige eigene Sozialphilosophie unterbaut waren, standen sie letztlich auf tönernen Füßen und zerbrachen in der großen geschichtlichen Probe, die der deutsche Geist wie der deutsche Staat im Weltkrieg zu bestehen hatten.

Nun soll zwar nicht geleugnet werden, daß wir seit der Jahrhundertwende doch wieder etwas wie eine Rechtsphilosophie hatten, ja daß die rechtsphilosophischen Interessen in einem starken Wachsen begriffen waren. 1896 erschiem STAMMLERs "Wirtschaft und Recht als erstes seiner drei großen Werke, 1904 LASKs kleiner Abriß, 1913 EHRLICHs "Soziologie des Rechts", 1914 RADBRUCHs "Grundzüge", 1915 BINDERs "Rechtsbegriff und Rechtsidee", um nur einige der wichtigsten Werke zu nennen. Aber die Tradition war seit den 50er und 60er Jahren völlig unterbrochen, und Neues ließ sich nicht so schnell wieder aufbauen, jedenfalls nicht so wieder aufbauen, daß es bald zu einem Bildungsferment der Zeit werden konnte. Es mag sein, daß sich aus den mannigfaltigen Ansatzpunkten, die wir hatten, wieder etwas wie eine große Rechtsphilosophie entwickelt hätte. Zu dieser Auswirkung aber war und ist es jedenfalls noch nicht gekommen. Und man kann zweifeln, ob das überhaupt von den vorhandenen Ansatzpunkten aus - ohne hinzutritt ganz neuer Gedankenmassen und ohne grundsätzliche Neueinstellungen - möglich gewesen wäre. Denn, was wir an Rechtsphilosophie hatten, war grundsätzlich antimetaphysisch wie die Philosophie der Zeit überhaupt; und ein grundsätzlich jede Metaphysik ablehnendes philosophisches Denken kann wohl die Kathederphilosophie einer Zeit beherrschen, aber nicht ein die Zeit selbst beherrschender oder auch nur mit dem Leben der Zeit in geistigem Zusammenhang stehender Faktor werden. Mit dieser Tendenz zur bewußten Metaphysiklosigkeit der Philosophie hängt es zusammen, daß die rechtsphilosophischen Systeme dieser letzten Jahre keine positive Stellung zu den großen inhaltlichen Problemen des sozialen und politischen Lebens suchten, und darum an den metaphysischen Problemen des Staates, der Ehe, des Eigentums, des Vertrages usw. vorübergingen. Darin war ihnen der Marxismus jedenfalls über, der zu allen diesen Fragen eine ausgesprochene, wenn auch negative Stellung besaß. Ihm und seiner materialistischen Geschichtsmetaphysik hatte die "bürgerliche" Wissenschaft wohl eine Kritik, aber keine positive eigene Metaphysik entgegenzustellen vermocht. Auch hier war dem politischen Zusammenbruch der bürgerlichen Welt ihr geistiges Versagen vorangegangen.

Diese Sachlage ist nur zu verstehen, wenn man sich die beiden Ausgangspunkte vergegenwärtigt, auf denen jene Neublüte der rechtsphilosophischen Forschung beruth. Das ist einerseits die neukantische Philosophie und andererseits der gesellschaftswissenschaftliche, soziologische Empirismus, wie ihn namentlich das westeuropäisch Denken ausgebildet hatte: zwei geistige Richtungen, die in grundsätzlichem Gegensatz zueinander stehen, und deren gegenseitige Auseinandersetzung immer mehr in den Mittelpunkt der rechtsphilosophischen Diskussionen getreten ist. Trotz dieser Gegensätzlichkeit, die vorläufig mit dem Gegensatz des Rationalismus und Empirismus charakterisiert sein mag, bestehen Gemeinsamkeiten und Beziehungen zwischen beiden. Die folgenden Ausführungen stellen sich nicht die Aufgabe, diesen Gegensatz zu entwickeln, wenn sie auch veranschaulichen wollen, warum es zu jener großen soziologischen Reaktion gegen den neukantischen Rationalismus gekommen ist. Sie wollen vielmehr das Augenmerk auf die Beziehungen zwischen dem Denken der neukantischen Philosophie und dem der Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft lenken. So soll hier weder der Versuch gemacht werden, den Neukantianismus erschöpfend zu würdigen und die mannigfaltigen Förderungen darzulegen, die die neukantische Rechtsphilosophie durch Auseinandersetzungen innerhalb der Bewegung und mit Außenstehenden jedenfalls gebracht hat, noch auch schon hier eine grundsätzliche und in einzelne gehende Kritik am Neukantianismus vorzunehmen. Die Probleme sollen nur so weit verfolgt werden, als nötig ist, um die Beziehungen zwischen dem philosophischen Denken der Neukantianer und dem juristischen Denken der herrschenden Rechtswissenschaft bloßzulegen. Es wir dem Juristen nicht unerwünscht sein, zu erfahren, wie auch  seine  Denkmethoden als ein Ausdruck des allgemeinen Geistes der Zeit aufgefaßt werden können und müssen, der sich auch in der zeitgenössischen Philosophie eine Projektion verschafft hat. Und andererseits wird es dem Philosophen wichtig sein, zu hören, wie seine Denkformen in einer philosophisch besonders interessanten, zugleich mit der Praxis des Lebens in steter Verbindung stehender Wissenschaft aussehen und wirken: das kann und soll sein Gefühl der Verantwortlichkeit für die Grundrichtung des geistigen Lebens der Zeit schärfen. Und wenn man alle Projektionen und Expressionen des Geistes einer Zeit als  geistige Einheit  faßt (1), kann die folgende Betrachtung zugleich als ein - wenigstens zweidimensionaler - Beitrag zur Kritik der Zeit aufgefaßt werden.

Es wird stets eine in der deutschen Geistesgeschichte merkwürdige und für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristische Tatsache bleiben, daß die deutsche Philosophie nach dem Abebben des spekulativen Denkens auf einen Denker zurückgegriffen hat, von dessen Kritik man fast zwei Menschenalter vorher ausgegangen war. Es war eine geistesgeschichtliche Rezeption, und jede Rezeption bietet ihre besonderen Erklärungsschwierigkeiten. Was war es, was KANT zur Rezeption durch die Zeit geeignet machte? Ich glaube, es war vor allem zweierlei. Einmal schien sein apriorischer Rationalismus, seine Lehre von der unbedingten Herrschaft der rationalen Gesetzlichkeit ein Halt bieten zu können gegenüber der überwuchernden, alles verschlingenden Empirie des immer komplizierter und unübersehbarer werdenden modernen Lebens, seiner ungebändigten Stofflichkeit und den daraus folgenden Gefahren des Materialismus oder des Relativismus. Wo KANT daher nicht geradezu in Agnostizismus und Relativismus umgebogen wurde, ist es das Pathos der absoluten, reinen, rationalen Formwerte, der die neukantische Bewegung in ihren beiden Hauptspielarten der sogenannten Marburger und der sogenannten südwestdeutschen Schule charakterisiert. Dazu kam aber ein Zweites. Die rationale apriorische Gesetzlichkeit wurde als eine formale gefaßt; und dieser formale Rationalismus war der Zeit gerade wegen seiner Inhaltsleere willkommen. Denn dadurch brauchte er die Spezialwissenschaften in ihrer Bearbeitung der empirischen Stoffe und Inhalte nicht zu stören. Seine von empirischen Stoff befreite "Reinheit", seine Erhebung der rationalen Begriffe und absoluten Form- und Sollwerte in eine von aller Empirie unberührte, mit ihr in keinem begrifflichen oder begreifbaren Zusammenhang stehende Sphäre, seine Auflösung der Metaphysik in Methodologie konnten dem empiristischen und spezialistischen Zeitalter die vermeintlich philosophische, "erkenntnistheoretische" Grundlage und Legitimation bieten, soweit dieses Zeitalter überhaupt noch philosophisches Bedürfnis und Schamgefühl besaß, das ihm eine Bedeckung der philosophischen Nacktheit notwendig machte. Die Versicherung, daß jene reine und absolute Welt der Werte und Geistigkeiten rein formal, bloß erkenntnistheoretisch, nicht metaphysisch hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], gemeint sein, ließ dem empiristischen Zeitalter den Neukantianismus als  seine  Philosophie, als Fleisch vom eigenen Fleisch erscheinen: diese Philosophie wollte ja keine Metaphysik sein, sie wollte ja nur durch kritische Selbstbestimmung die  formalen Voraussetzungen  der Spezialwissenschaften formulieren; von ihr konnte nie ein Übergriff gefürchtet werden; sie war eine Spezialwissenschaft neben den anderen geworden.

Aber der Neukantianismus versucht Unvereinbares miteinander zu vereinen. Eine transzendente Welt reiner Formen und Werte soll der empirischen Welt Rückhalt und Sinn verleihen; aber beide Welten werden dualistisch so auseinandergerissen, daß ihr Verhältnis zueinander unbegreiflich wird. Die Gegenüberstellung von Form und Inhalt ist mehrdeutig, sie stellt Probleme und löst keines. Die rationale Formwelt soll für die empirische sowohl konstitutiv als auch regulativ und normativ sein, und dieses regulative Verhältnis wird bald bloß im Sinne der Beurteilung und des Maßstabes, bald zugleich im Sinne des Zielpunktes, des Ideals der Erkenntnis, des Wollens, bald sogar im geschichtsphilosophischen Sinne des Richtpunktes der Entwicklung aufgefaßt. KANT hatte Formen der "Anschauung", kategoriale und konstitutive Formen des "Denkens" und regulative "Ideen der Vernunft" unterschieden, und durch seine rationalistische Geschichtsmetaphysik, die letztlich auf seiner Ding-ansich-Spekulation beruth, den Ideen der Vernunft zugleich eine geschichtsphilosophische Funktion geben können. Daneben hatte er in der "Kritik der Urteilskraft" eine rationale Teleologie zu regulativem und heuristischem Gebrauch für das Verständnis der geschichtlichen Welt entwickelt. Das alles fließt in der neukantischen Philosophie in einer je nach ihren Richtungen verschiedenen, durchaus unkantischen und, was wichtiger ist, in einer durchaus unklaren Weise ineinander. Man hatte ja nicht die kantische Metaphysik mit rezipieren wollen, und geriet so überall da, wo KANTs Denken metaphysisch verankert ist, in unauflösbare Schwierigkeiten, nicht nur mit der Kantphilologie, sondern mit sich selbst. Denn die erkenntnistheoretische Umdeutung des bei KANT metaphysisch gemeinten Verhältnisses von phänomenalem und noumenalem Reicht nimmt der Formwelt die ihr zugedachte Mission, der empirischen Welt Rückhalt und Sinn zu verleihen. Durch "Erkenntniskritik" aus dem Monismus des Lebens herausgelöste  abstrakte Formen  können weder Richtmaß noch Rückgrat sein. Die Vernunftideen sind bei KANT auch keine reinen Formen, sondern positive Inhalte. Wenn STAMMLER sein formales "soziales Ideal" mit dem Polarstern vergleicht, zu dem der Schiffer aufschaut, nicht um dort zu landen, sondern um sein Fahrzeug danach zu steuern, so hat RÜMELIN ihm mit Recht erwidert, daß der Polarstern sowenig wie der Kompaß jemals einem den Weg gewiesen hat, der nicht wußte, wohin er wollte. Und man kann hinzufügen, daß der Polarstern auch kein bloß formaler Begriff, keine bloß erkenntnistheoretisch abstrahierte Methode des Richtung suchens,  sondern ein an einem bestimmten Ort fest lokalisierter Richtungs punkt  ist. Aber der Neukantianismus will ja gerade diese  formale  Rationalität, um die empirische Wirklichkeit nicht durch metaphysische Hypostasierungen zu vergewaltigen. Auch das ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Lehre. Damit hat er natürlich recht, aber er kann ihr damit auch keinen transzendenten Rückhalt geben: die rationale Formenwelt schwebt so erkenntnistheoretisch abstrakt, so losgelöst als reiner Geltungswert über der inhaltlichen Wirklichkeit, daß keine Beziehung mehr zwischen beiden Sphären denkbar, geschweige denn philosophisch anschaubar ist. Die scholastische Auffassung der absoluten Werte als metaphysischer Substanzen mit metaphysischen Zwischenstufen wird vom Neukantianismus abgelehnt; aber er setzt nichts positiv Greifbares an deren Stelle. Die Erkenntnistheorie und Methodologie kann den Ersatz nicht bieten: die unklare Charakterisierung des Verhältnisses durch das von Form und Inhalt läßt das entscheidende Problem, eben des Verhältnisses von Form und Stoff, ungelöst. Man kann die scholastische Metaphysik ablehnen, kann sie aber nur durch eine andere Metaphysik, nie durch formale erkenntnistheoretische Abstraktionen ersetzen.

Der Neukantianismus kann zeigen, daß im Erkenntnisakt kategoriale Verbindungen und Verknüpfungen, Synthesen des Mannigfaltigen zur Einheit vorgenommen werden, daß das Erkennen Formelemente enthält, die die "Gegenstände der Erkenntnis" erst schaffen; er kann diese Formen als ein Sollen, als Normen auffassen, die das erkennende Subjekt anerkennt und die es im Erkenntnisakt befolgt; er kann selbst das *"Gegebensein", das "Etwas", das "Diessein" als Formen ansehen, ohne die wir einen Komplex von Empfindungsinhalten nicht als "gegeben", als "etwas", als gerade "dieses" erfassen können. Aber selbst wenn es möglich wäre, ein System solcher reinen Formen und Normen aufzustellen, so wäre damit nur ein  System von abstrakten Sollungen  gegeben, wie etwa: verknüpfe Empfindungsinhalte zu Dingen! setze Relationen zwischen Empfindungsinhalten! betrachte Empfindungsinhalte als ein Gegebenes, als ein individuelles "Dieses" an! Aber niemals kann mit all dem etwas darüber gesagt sein,  wann  wir diesem,  wann  jenem Sollen gehorchen sollen,  wann  dies,  wann  jenes  richtig  ist, ob im einzelnen Erkenntnisakt eine Befolgung der Sollensnormen Wahrheitswert hat, ob wir damit die Wirklichkeit erkennen. Es ist eine "abstrakte" Form "erkenntnistheoretisch" aus dem psychologischen Erkenntnisakt "begrifflich" herausgelöst, aber keine dem Erkenntnisakt gegenüberstehende Norm gegenständlich oder als Beurteilungsmaßstab für die Richtigkeit gegenübergestell. Alle diese Formen und Normen sind leer, und es führt keine Brücke von ihnen nach unten zum Sein. Und es führt vor allem auch keine Brücke nach oben zum absoluten Wahrheitswert: die Norm "erkenne die Wahrheit" ist durch nichts mit der Norm "verknüpfe zu Dingen", "setze Relationen", "erfasse als Individuelles " verbunden und verbindbar. Die Wirklichkeit soll als eine  Ordnung  erkannt werden, dazu sind gewisse Ordnungsformen "begrifflich" "vorauszusetzen"; aber selbst wenn - was durchaus nicht ausgemacht und vielleicht nicht einmal ein Ideal ist - ein "geschlossenes System" dieser Ordnungsformen auffindbar wäre, so bliebe dieses Formensystem eben ein  abstraktes  Formen system  und keine materielle  Ordnung  von Erkenntnis inhalten.  Zum System könnte die Gesamtheit der Ordnungsformen auch nur werden unter der Herrschaft eines abstrakten Einheitsgesichtspunktes. Welcher sollte das aber sein? Der absolute Wahrheitswert soll ja selber rein formal sein, und es ist nirgends auch nur der Versuch gemacht, diesen Wert inhaltlich im Gegensatz zu anderen Werten zu bestimmen, weil damit ja schon der rein formale Charakter dieses Philosophierens verlassen wäre. Als eine Begriffsbestimmung kann jedenfalls die Tautologie nicht angesehen werden, daß er die "Allgemeingültigkeit" bedeutet, die "bei allen normal denkenden Menschen stattfindet". Dargetan ist vom Neukantianismus wirklich nur das "transzendente Minimum" RICKERTs, eben daß es ein "Sollen überhaupt" gibt: einen absoluten Wahrheitswert und kategoriale Formen der Synthesis, Verknüpfungsformen. Mehr  kann  er auch gar nicht aussagen, wenn er seine eigenen Prämissen nicht aufheben will. Sogar der einfache Satz "etwas ist" ist für ihn unbegreiflich; er kennt eigenlich nur die formale  Kategorie  des "Etwas", die "Etwashaftigkeit" als solche; die Verbindung von einem Wirklichen mit dieser Etwashaftigkeit, die Setzung eines  bestimmten  Etwas als Etwas ist für ihn ebensowenig verstehbar, wie daß die Setzung von Etwashaftigkeiten überhaupt und die Setzung von bestimmten Etwassen gerade  Wahrheitswert  hat. Der formale Apriorismus läßt uns daher führerlos auf dem Meer der Wirklichkeit umhertreiben (2).

So muß sich beim Neukantianismus das Verhängnis jedes formalen Rationalismus erweisen, daß er nur durch Anleihen bei der Empirie, durch Erschleichungen von Inhalten, also durch unbewußte Hypostasierungen von empirischen Gegebenheiten zu metaphysischen Realitäten oder durch psychologische und soziologische Substruktionen seiner reinen Formen zu Ergebnissen kommen kann. Ohne solche Anleihen bliebe er nichts als eine leere Pathetik der absoluten Werte, die nicht von der Stelle kommen kann.

STAMMLERs "reine" Begriffe sind - das hat BINDER treffend dargestellt - durch generalisierende Abstraktion aus empirischen Rechtstatsachen gebildet, sie sind oberste Gattungsbegriffe, empirische Allgemeinbegriffe, keine apriorischen Kategorialbegriffe im Sinne KANTs. Er erfüllt diese empirischen Allgemeinbegriffe nur mit dem Pathos der Unbedingtheit, er verleiht ihnen die Würde der Kategorien, ja der Vernunftideen, und er neigt sogar bedenklich dazu, sie zu metaphysischen Potenzen zu hypostasieren, die den Fortschritt in der Geschichte garantieren, ganz im Sinne des Fortschrittsoptimismus der rationalistischen Geschichtsmetaphysik. Auch darauf hat bereits BINDER hingewiesen. Und nur durch diese Erschleichungen marschiert der STAMMLER'sche abstrakte Rationalismus. Nur dadurch können auch die aus dem reinen Rechtsbegriff abgeleiteten "Grundsätze des richtigen Rechts" unmittelbar auf die Lebenstatbestände angewandt werden: unter echte Kategorien kann man nicht wie unter empirische Allgemeinbegriffe einfach Subsumtionen vornehmen; weil aber STAMMLERs reine Rechtsbegriffe nur empirische Allgemeinbegriffe sind, kann er sie unmittelbar an die Tatbestände des Lebens heranbringen ganz ebenso wie die empirischenn Begriffe der "technischen" Rechtssätze. Sollen doch die Grundsätze des richtigen Rechts überall da als Obersätze für die juristischen Subsumtionen herangezogen werden, wo die technischen Rechtssätze Lücken enthalten, oder wo sie selbst in wechselnden Formulierungen auf die reine Rechtsidee verweisen. Zur Vermittlung zwischen dem konkreten Stoff und den abstrakten Grundsätzen schiebt STAMMLER den Begriff der "Sondergemeinschaft" ein, nur als "gedankliches Hilfsmittel", als formales "Schema"; aber auch dieser rein abstrakte rationale Apparat kann nur dadurch helfen, daß er Anleihen beim positiven empirischen Recht macht (Erbfolge, Pflichtteilsrecht, Ausgleichspflichten usw.), worauf ich bereits hingewiesen habe (3).

Einerseits soll nach STAMMLER "die Sondergemeinschaft" nicht "eine Einrichtung aufgrund einer bestimmten Rechtsordnung" sein, sondern nur "ein gedankliches Hilfsmittel, welches einen konkreten Stoff den abstrakten Grundsätzen des richtigen Rechts zuführen soll". Andererseits aber führt er aus, daß man sich, um die Sondergemeinschaften "zutreffend darzustellen", jedes Individuum mit "konzentrischen Kreisen" umgeben vorstellen muß; und "die Feststellung dieser konzentrischen Kreise  gibt das geschichtliche Recht".  Das ist eine Kapitulierung vor dem Positivismus. Und was für eine, wenn wir auf die Regelung der Erbfolge, des Pflichtteilsrechts, der Ausgleichspflichten usw. verwiesen werden! Die  entscheidende  Frage für die Lösung von  Rechts problemen liegt aber gerade in der Beurteilung solcher "Sondergemeinschaften": wie steht der Forderungsberechtigte zum Leistungsverpflichteten bei langfristigen Lieferverträgen, wenn Krieg oder Revolution nichtvorhersehbare Preissteigerungen verursacht haben? wie der Boykottierte zu den Boykottierenden? was hat der Prinzipal von seinen Angestellten hinzunehmen, was diese von jenem? was muß die Ehefrau von ihrem Ehemann hinnehmen, was er von ihr? STAMMLER selbst hatte das richtige Gefühl, daß aus den abstrakten und formalen, überall gleichen Grundsätzen des richtigen Rechts eine Entscheidung nicht gewonnen werden kann. Darum schiebt er die "Sondergemeinschaft" dazwischen. Da er diese aber wieder - seinem formalen Rationalismus entsprechend - als bloßes "Schema", als "verblaßten Schatten", statt in irgendeiner konkreten Lebendigkeit, faßt, bietet er Steine statt Brot. Jene schematischen konzentrischen Kreise können natürlich niemals das leisten, was sie leisten sollen: ein  rechtliches  Verständnis für die feinen Differenziertheiten und Mannigfaltigkeiten der  Gemeinschaftsverhältnisse,  die das bunte  Leben  der Gesellschaft hervortreibt. Hätte er den Gedanken der Sondergemeinschaften in zutreffender Richtung weiter verfolgt, dann hätte er freilich erkennen müssen, daß in ihnen eine zweites,  auch  "normatives" Problem neben dem der überall identischen abstrakten Grundsätze steckt, das  zumindest  ebenso wichtig ist, wie das in jenen rationalen Grundsätzen liegende. Da er aber das Normative echt rationalistisch nur in abstrakten Allgemeinheiten erkennen kann, so mußte er jene Sondergemeinschaften nicht zu bedeutsam erscheinen lassen. Darum läßt er sie in der Sphäre des "bloß" Inhaltlichen, im bloß "geschichtlichen Recht". So rettet er zwar die alleinige normative Geltung der formalen Grundsätze, macht aber die eigentliche Entscheidung aller Rechtsfragen vom bloß Positiven des geschichtlichen Rechts abhängig,, ohne freilich irgendwie begreiflich zu machen, wie dies die der Sondergemeinschaft zugedachte Funktion erfüllen kann.

Vor allem aber ist auch bei STAMMLER das Form-Inhalt-Verhältnis ein unklares und wechselndes. Denn parallel zu der Tendenz,  empirischen  Allgemeinbegriffen eine  philosophische  Dignität zu verleihen, geht die, das Verhältnis der gestaltenden  inhaltlichen Norm  zum zu gestaltenden Stoff in den bloß abstrakt-begrifflichen Gegensatz von  abstrakter,  am Stoff bloß "haftender" und nur begrifflich ablösbarer  Form  und stofflichem "Substrat" umzudeuten. Wenn STAMMLER das Recht als die den Stoff des sozialen Lebens "bedingende und bestimmende Form" charakterisiert, so bemüht er sich, in diesen Ausdrücken und in den näheren Ausführungen dazu, das Verhältnis von sozialer Wirtschaft und Recht darzulegen als ein Verhältnis der abstrakten  kategorialen Form  zum Stoff der Empfindungsinhalte: Wirtschaft und Recht sind in der Realität miteinander ebenso verbunden, wie die Dinghaftigkeit mit dem Ding, sie sollen aus dem "Monismus des sozialen Lebens"nur als durch eine begrifflich-erkenntnistheoretische Abstraktion voneinander lösbar angesehen werden, die Rechtsform ebenso am sozialen Stoff "haften", ebenso in ihm "stecken wie die Dinghaftigkeit am und im Ding, die Gegebenheit am und im Gegebenen. Es wird die analytische Form mit der wirklich gestaltenden Norm verwechselt. Durch diese fehlerhafte Gleichsetzung von abstraktem Formgehalt und inhaltlich normierender, den Stoff inhaltlich gestalten-sollender Norm wird nun aber sowohl das Recht wie die Wirtschaft denaturiert. Die "ökonomischen Phänomene" werden zu bloßen "Massenerscheinungen", die eine eigene "Form" nicht haben; sie entsprechen dem, was KANT in seiner Lehre von den Kategorien als das noch nicht von den kategorialen Synthesen erfaßte und bearbeitete "Materiale der Empfindungen" bezeichnet. Und doch haben die soziologischen Phänomene eine von der rechtlichen Normierung unabhängige Gegenständlichkeit, die das "Materiale der Empfindungen" gegenüber dem abstrakten Formgehalt der Kategorien nicht hat. Und zwar dies schon allein darum, weil es soziologische Phänomene gibt, die bald einer bestimmten Rechtsordnung, bald dem richtigen Recht widersprechen, während es natürlich den Kategorien widersprechende Empfindungsinhalte nicht geben kann. Die analytische, abstraktiv gewonnene Form ist im Monismus des Lebens sozusagen am Stoff festgewachsen und nur unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkgen von ihm ablösbar und als "begrifflich früher" verstehbar. Die gestalten- und umgestalten-wollende, bestimmte Inhalte fordernde Norm ist dagegen nicht am soziologischen Stoff festgewachsen: denn sonst gäbe es kein Unrecht. Sozialer Stoff und rechtliche Norm bewegen sich frei gegeneinander: sie sollen sich gewiß decken, aber sie tun es nicht immer. Das Verhältnis von Wert und Wirklichkeit ist nicht dasselbe wie das vom abstraktem Formgehalt und geformtem Stoff. So wird durch diese bei STAMMLER durchgehende Herabdrückung der Norm zur Kategorie auch das Wesen des Rechts verdunkelt.

Wir haben bereits gesehen und werden noch weiter beobachten müssen, wie in der südwestdeutschen Schule die umgekehrte Tendenz waltet, die analytische Form zur gestaltenden Norm heraufzuschrauben. Es versteht sich von selbst, daß STAMMLER diesen bloß kategoriaen Rechtsbegriff nicht konsequent durchführt. Aber die Risse und Lücken in seinem System werden verdeckt durch die Annäherung der abstrakten Allgemeinbegriffe von unten her, und die der Wertbegriffe von oben her an die kategoriale Sphäre, indem eben seine "reinen Begriffe" nach beiden Seiten schillern: sie sollen bald wie empirische Allgemeinbegriffe zu Subsumtionsschlüssen geeignet, bald wie Wertbegriffe als Richtmaß verwertbar sein. Da diese Wertbegriffe nun aber sowohl von den empirischen Allgemeinbegriffen wie von den kategorialen Formen die Inhaltsleere übernommen haben, können sie die ihnen überwiesene Aufgabe, ein Richtpunkt und Maßstab zu sein, nicht erfüllen. Zwischen sie und das zu beurteilende Objekt muß immer noch etwas irgendwie Inhaltliches eingeschoben werden, bald die aus ganz empirischen Bestandteilen aufgebaute "Sondergemeinschaft", bald der Begriff des "rechten Mittels zum rechten Zweck"; und diese Zwecke sind natürlich nur "empirisch bedingte". Es kann aber durch nichts gezeigt werden, welche begrifflichen Beziehungen zwischen dem "sozialen Ideal" und diesen einzelnen Zwecken obwalten. "Das soziale Ideal schwebt in solcher Reinheit und Unbedingtheit über allem Empirischem, daß es ewig unbegreiflich bleiben muß, wie das wirkliche Recht auch nur den Anspruch  Recht,  ein  Versuch richtiges Recht zu sein  erheben kann" (4). Auch der STAMMLER'sche Rationalismus kann ohne Anleihen bei den empirischen "bedingten Zwecken" und der "Sondergemeinschaft", ohne irgendeine mehr oder weniger versteckte "Konkretisierung" nicht auskommen. Aus ihnen werden seine Entscheidungen im Grunde hergeleitet: "das nicht entscheidende Abstrakt-Allgemeine und Formale ist allein wirklich gesehen und herausgearbeitet", während jene Momente übersehen sind und so ein vom Normativen unberührtes Dasein führen, ja tatsächlich alles überwuchern. "Einen wirklichen Damm gegen den Positivismus kann der abstrakte Rationalismus nicht errichten: er kann ihn an den obersten Stellen ausmerzen, aber nur, um ihn in den unteren Regionen umso ungehinderter wuchern zu lassen" (5). Wie bei RICKERT ist nur das "transzendente Minimum" festgelegt, im übrigen aber dem Positivismus das Feld überlassen.

Wo STAMMLER über dieses "transzendente Minimum" hinaus zu positiven Ergebnissen strebt, geschieht dies durch seinen immer wiederkehrenden, aber in sich unmöglichen Versuch aus dem bloß Formalen doch bestimmte Inhalte herauszulocken. Seine "Grundsätze des richtigen Rechts" sollen rein formal sein; daraus folgt, daß sie auch völlig inhaltsleer sein müssen. Das sind sie dann auch in der Tat: denn sie sind durchaus tautologisch. Der einzelne soll nicht gezwungen werden, "seinen wohlberechtigten Interessen zu entsagen". Was ist aber "wohlberechtigt"? In einem Grundsatz des Rechts darf doch nicht wieder der Begriff des Rechts figurieren! - Es darf nicht der Inhalt eines Willens der Willkür eines anderen anheimfallen." "Willkür" sind "die bedingten subjektiven Zwecke des andern"; wie das Wort "Recht" darf natürlich auch das Wort "Willkür" nicht in einem Grundsatz des Rechts stehen; denn es bedeutet nichts als einen Gegensatz zu "Recht", "bedingt subjektive Zwecke" sind nichts als nicht-objektive Zwecke; was aber objektive Zwecke sind, das ist gerade die Frage; und sie kann niemals von einem formalen Rechtsbegriff aus beantwortet werden. - Der Verpflichtete muß "sich noch der Nächste sein" können. Dieser Satz hebt, wörtlich genommen, jede Verpflichtung auf, die dem Verpflichteten unbequem ist oder Opfer zumutet; Sinn bekommt er nur, wenn man an "berechtigterweise" oder Ähnliches hinzudenkt. - Alles diese tautologischen Grundsätze können niemals das leisten, was sie leisten sollen, weil sie immer wieder als bekannt voraussetzen, worauf sie eine Antwort geben wollen: was "berechtigt" und nicht "willkürlich", was "objektiv" und nicht bloß "subjektiv" ist. (6) Dieselbe tautologische Art begegnet uns wieder bei der Deduktion des "sozialen Ideals". "Das unbedingte Gesetz für den Menschen ist ... der gute Wille; das ist die Richtung und Bestimmung empirischer Zwecke, die als allgemeingültig auftreten kann, abstrahierend von den subjektiven egoistischen Trieben." Mit dem "guten Willen" kann aber kein Kriterium für die  inhaltliche  Richtigkeit einer Ordnung gegeben sein, bei der es darauf ankommt, zu fixieren,  wann  ein Wille gut, d. h. "frei" von subjektiven egoistischen Trieben ist, und  wodurch  sich  diese inhaltlich  von objektiv  berechtigten  unterscheiden. Und sodann kann mit dem "guten Willen" kein Kriterium für eine  soziale  Ordnung gegeben sein, weil es bei dieser ja gerade darauf ankommt, eine objektiv richtige Ordnung vom guten Willen der Individuen  unabhängig  zu stellen. Die Frage,  was  objektiv berechtigte, auch nicht-gutwilligen Individuen zumutbare  Zwecke  sind, läßt sich niemals aus dem  formalen  Begriff der Gerechtigkeit oder gar dem des "guten Willens" herausklauben, sondern nur aus einer inhaltlichen Ordnung und Wertung  konkreter Zwecke.  Nach formalen tautologischen Grundsätzen ist auch das soziale "Zusammenwirken" in einer Räuberbande, in einem Bordell, in einem Sklavenverhältnis, in einer  societas leonina  [alle tragen das Risiko, aber nur einer erhält den Gewinn - wp] geregelt. Die Allgemeingültigkeit und allgemeine Zumutbarkeit einer Rechtsordnung muß neben aller  abstrakten  "Richtigkeit" auf der Allgemeingültigkeit und allgemeinen Zumutbarkeit des  konkreten  Gemeinzwecks beruhen, dem sie dienen soll. Und ein solcher konkreter Gemeinzweck ist niemals ein formaler, inhaltsleerer, sondern ein lebendiger und inhaltlicher, nur von bestimmten inhaltlichen Weltanschauungen und Werthaltungen aus bestimmbarer.
STAMMLERs "soziales Ideal", die "Gemeinschaft frei wollender Menschen" als "die Idee einer Menschengemeinschaft, in der ein jeder die objektiv berechtigten Zwecke zu den seinigen macht", ist daher dann auch zwar sehr pathetisch, aber völlig negativ. Denn "frei" soll heißen "subjektiv  un bedingt,  un persönliche". Die positive Frage aber muß lauten:  wie objektiv?  Durch welche  positiven  Kriterien  inhaltlich  bestimmt? STAMMLER will eine "Regelung des vereinten Daseins und Zusammenwirkens, der jeder Rechtsunterworfene zustimmen muß, sobald er  frei von bloß subjetivem Begehren  sich entschiede". Gewiß! Das ist aber eine bloße Tautologie, und keine  positive  Antwort auf die eigentlich gestellte Frage,  was  bloß subjektive, ud was im Gegensatz dazu  objektive  Begehren sind. (7)

Schon als "moralisches" Ideal ist STAMMLERs "soziales Ideal" daher nicht brauchbar, weil es rein formal und damit bloß negativ ist. Nur als religiöses Ideal, als "Gemeinschaft der Heiligen" hat es einen Sinn, weil dann der religiöse Glaube einer endlichen Vereinigung aller Sittlichen in Gott diesem Ziel den notwendigen  Inhalt  durch eine  konkrete Gottesvorstellung  zu geben vermag (8). Der Begriff "Gemeinschaft frei wollender Menschen" ist nach dem Muster des Kantischen "intuitiven Verstandes" geformt, indem beide Begriffsbildungen den Gedanken einer "vollendeten Ausgeglichenheit" zwischen niemals Ausgleichbarem formulieren wollen: im Theoretischen zwischen "diskursivem Denken" und "intuitivem Anschauen", im "Praktischen" zwischen den Endzwecken der Gesamtheit und dem sittlichen Wollen der die Gesamtheit bildenden Persönlichkeiten. LASK hat auf eine ähnliche Analogie einmal hingewiesen; aber er hatte zugleich mit Recht hinzugefügt, daß bei KANT der Begriff des "intuitiven Verstandes" eine "Fiktion" ist, die gerade dazu dienen sollte, die  uns allein beschiedene Art  der Bewältigung des theoretischen Ziels mit möglichster Schärfe durch die Formulierung des  uns  stets Verschlossenen hervortreten zu lassen. Wie unkantisch STAMMLERs "soziales Ideal" ist, kann man am besten daraus ersehen, daß es KANT niemals eingefallen wäre, den "intuitiven Verstand" zum  Ideal der menschlichen Erkenntnis  zu erheben: er hat genau das Gegenteil getan. In der "Gemeinschaft frei wollender Wesen" ist das für das soziale Leben der Menschen ebenso charakteristische wie notwendig mit ihm verbundene Spannungsverhältnis entspannt; darum kann sie diesem ebensowenig als Ideal hingestellt werden wie der "intuitive Verstand" dem menschlichen Erkennen, das unabänderlich in das zwischen begrifflichem Denken und intuitivem Anschauen bestehende Spannungsverhältnis gebannt ist. KANT hätte die Erhebung der Fiktion des intuitiven Verstandes zum menschlichen Erkenntnisideal mit beißender Ironie gegeißelt.

Wenn man sich die Architektonik der drei kantischen Kritiken und innerhalb der Kritik der reinen Vernunft den Aufbau auf transzendentaler Ästhetik, Analytik und Dialektik vergegenwärtigt und dann die einzelnen Elemente dieses Gebäudes im STAMMLER'schen System wieder aufsucht, wird man erschrecken über die völlige Zerstörung der großartigen Tektonik des kantischen Gedankengebäudes: was hier tragender Balken war, ist weggefallen, anderes steht völlig in der Luft, das Ganze ohne Dach und ohne Fundament. Das metaphysische Fundament des Dings-ansich fehlt, die alles überwölbende und umschließende Kuppel der Vernunftideen felhlt, als "Ersatz" ist das der kantischen Fiktion des intuitiven Verstandes entsprechende "soziale Ideal" angefügt und daher ohne die Verbindung, die bei KANT zwischen den Vernunftideen und dem Ding-ansich besteht. An der Stelle des "Materials der Empfindungen" aus der "Ästhetik" stehen in unhaltbarer Weise die ökonomischen Phänomene als ungeformte Massenerscheinungen. Die "Grundsätze der reinen Naturwissenschaft" sind durch formale und tautologische "Grundsätze des richtigen Rechts" ersetzt; der "Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" ist zum "Schema" einer "Sondergemeinschaft" verzerrt. Das Recht ist aus der Sphäre praktischer Vernunftideen in die formaler Kategorien geraten; empirische Allgemeinbegriffe, die KANT stets von den Kategorien scharf geschieden hatte, sind in die Späre der Kategorien erhoben. Die "teleologische" Betrachtung, der KANT  nur eine bestimmte heuristische und regulative  Funktion in der "Kritik der Urteilskraft" zugewiesen hatte, ist in die Moralphilosophie verschlagen, wo sie eine  konstituierende  Bedeutung erlangt hat. Es sind allerlei  disiecta membra  [versprengte Glieder - wp] des kantischen Bauwerks aus ihren tektonischen Zusammenhängen herausgerisen, beschnitten, behauen und transformiert, und dann ist aus ihnen ein ganz neues Gebäude errichtet worden, das nicht auf festen Fundamenten ruht, sondern in den luftleeren Raum hineingebaut ist.

Auch der radikalste Versuch auf neukantischer Grundlage den reinen Rechtsformalismus durchzuführen, die Arbeiten von KELSEN bestätigen, daß der reine Rationalismus, wenn er einigermaßen konsequent bleibt, zu gar keinen Ergebnissen kommen kann, und daß, wo er solche liefert, sie erschlichen sind. Während STAMMLER die empirische Rechtswissenschaft als bloß technische Rechtslehre beseite stelle, will KELSEN gerade die empirische Rechtswissenschaft von allem Empirischen reinigen und zum Rang einer "reinen" "normlogischen" Wissenschaft erheben. Das ist ihm möglich dadurch, daß auch sein "reiner" Rechtsbegriff wie der STAMMLERs nur ein empirischer Allgemeinbegriff, der abstrakteste und darum inhaltsleerste Allgemeinbegriff ist. Mit apriorischen Kategorien kann man in der Tat nicht empirische Begriffe "reinigen", wohl aber dadurch, daß man in einem abstraktiven Verfahren aus den empirischen Begriffen alle stofflichen Elemente langsam ausscheidet, bis man zu einem inhaltsleersten Allgemeinbegriff kommt, diesen zum "Ursprungsbegriff" macht und aus ihm durch "logische Erzeugung" die anderen Begriffe "deduziert". KELSEN selbst bezeichnet seinen Begriff des reinen Sollens als "Oberbegriff des Rechts", der "keinerlei materielle Bedeutung hat", als "einen rein formalen Begriff". Wenn nun, wie KELSEN behauptet, die Rechtswissenschaft "reine" Normwissenschaft ist, die ihrem Wesen nach alles auf diesen Begriff des reinen Sollens, auf dessen "einfache und reine Relationen" zurückführen muß, so versteht es sich von selbst, daß er an den Begriffen der empirischen Rechtswissenschaft, die die Welt bis auf KELSEN allein getrieben hat, allerlei stoffliche Elemente findet, die auszuscheiden sind, und daß alle Begriffe und Unterscheidungen, die die vorkelsensche, die von SANDER sogenannte "alte Staatsrechtslehre" gemacht hat, falsch sind und in der nachkelsenschen "neuen Staatsrechtslehre" verschwinden müssen. Wenn man die Wirklichkeit unter einem bestimmten abstrakten Gesichtspunkt betrachtet und von allem anderen als "unwesentlich" absieht, dann springt eben immer wieder nur dieser abstrakte Gesichtspunkt heraus. Das ist ja so selbstverständlich, daß man die dicken Bücher von KELSEN, die an zahllosen Beispielen immer wieder dasselbe vermeintliche Kunststück vormachen, eigentlich gar nicht zu lesen braucht. Das weiß jeder, der weiß, was ein abstraktives Verfahren ist. Wenn das Wesen der Rechtswissenschaft in der Herausholung der reinen Relationen des formalen Sollens aus dem empirischen Stoff besteht, dann gibt es "juristisch" keinen Unterschied von Privat-, Staats- und Völkerrecht, dann gibt es keinen "juristischen" Gegensatz von Staatenbund und Bundesstaat, zwischen Organ und Stellvertreter, keinen "juristischen" Souveränitätsbegriff, sondern dann gibt es "juristisch" eben nur die reinen Relationen des formalen Sollens. Das ist die Trivialität, die große Tautologie, über die KELSEN als "reiner Rechtstheoretiker" nicht hinauskommt. (9)

Wenn er schließlich doch zu einem bestimmten positiven Ergebnis gelangt, so ist das natürlich erschlichen: sonst könnte sein abstrakter formaler Rationalismus ja niemals aus dem geschilderten Zirkel herauskommen. Er projiziert das reine und formale Sollen auf eine empirische Organisation, auf die  civitas maxima  einer "Weltrechtsgemeinschaft" und gibt ihm damit einen bestimmten "politischen" und "soziologischen" Inhalt. Der eigentliche Standpunkt von KELSEN war der, daß es sich beim Begriff des Sollens nur um einen rein  formalen  Begriff handelt, durch den allein der  "relative  Wert des positiven Rechts als solcher, in seinem spezifischen Gegensatz zur  Wirklichkeit  des sozialen Lebens" erfaßt werden kann,  ohne  zugleich zur Bedeutung eines absoluten  Ideals  aufzusteigen". Danach hätte dieses reine Sollen nur eine erkenntnistheoretische Funktion gehabt, die von jeder soziologischen Substruktion unabhängig ist, ja ihrem Wesen nach bleiben muß. Der rationale Allgemeinbegriff des formalen Sollens, der natürlich gar keine räumliche Beziehung hat, wird nun aber durch Erschleichungen zuerst in den Begriff einer  räumlichen  Allgemeingültigkeit, der Allgemeingültigkeit für die gesamte Welt umgedeutet, und diese räumliche Allgemeingültigkeit, die zunächst noch eine abstrakte ist, sodann in die  konkrete Totalität  der Weltallgemeinheit verwandelt oder zumindest auf die  soziologische  "Realität" einer Weltorganisation projiziert. Das reine Sollen als solches aber hat natürlich weder eine räumliche, noch eine soziologisch-organisatorische Beziehung: in seinem Begriff liegt nichts als eben ein abstraktes Sollen, womit gar nichts darüber ausgesagt wird, ob dieses Sollen in größeren oder kleineren Kreisen "gilt", und in welchen soziologischen Organisationen es "verwirklicht" wird - das waren ja gerade aus der "reinen Rechtstheorie" zu verweisende, nur der "soziologisch-kausalwissenschaftlichen" Betrachtung unterliegende psychologische und politische Gegenstände. Jetzt aber sagt KELSEN, "daß das  soziale  Bewußtsein in seiner  Entwicklung  vom Individuellen zu immer weiteren Kreisen noch nicht die  Schranken  der Nation und des national oder sonst begrenzten Staates  gesprengt,  nocht nicht zu einem Menschen bewußtsein  sich  ausgeweitet  hat". Die gesperrten Worte haben natürlich keine rein "normlogische", sondern "kausalwissenschaftliche" Bedeutung, wie der ganze Satz nicht "normlogisch", sondern "kausalwissenschaftlich" gedacht ist, und zwar "kausalwissenschaftlich" falsch: denn die "kausale" Geschichte im letzten halben Jahrtausend ist tatsächlich den umgekehrten Weg von der einheitlichen "Christenheit" zu den imperialistischen Machtstaaten gegangen, - ob man dies in einer "politischen" Wertbetrachtung nun als wertvoll oder als Verirrung ansehen mag. Mit normlogischer Reinheit hat es auch nichts mehr zu tun, wenn KELSEN schon "unzweifelhaft" "starke  Kräfte"  nach der Richtung der  civitas maxima "wirken"  und die Weltgeschichte darum "auf dem sicheren  Weg"  zur "radikalen  Verdrängung"  der Souveränitatsvorstellung sieht. das alles sind "kausale" Begriffe, freilich ohne die Grundlage einer kausalwissenschaftlichen Forschung. Die "Auflösung der im Denken der Juristen erstarrten, verdinglichten Rechtsgebilde, ihre Zurückführung auf die einfahen und reinen Relationen des Rechtslebens", die KELSEN uns in seiner Vorrede versprach, ist in diesen metaphysischen Spekulationen jedenfalls nicht mehr zu finden. Ja "die Weiterentwicklung der Völkerrechtsgemeinschaft aus ihrem Zustand der Primitivität" soll abzielen auf eine  civitas maxima - auch im politisch-materiellen Sinn  des Wortes". Man traut seinen Augen nicht: das soll die Erfüllung des in der Vorrede gegebenen Versprechens sein, eine "reine, insbesondere von soziologisch-psychologischen und  politischen  Elementen gereinigte Rechtstheorie" zu bringen! Die  civitas maxima  soll "auch" einen politischen Sinn haben! Hatte KELSEN doch die "Zwei-Seiten"-Theorie des Staates mit beißendem Hohn abgelehnt, weil das "gegen den Fundamentalsatz aller Erkenntnistheorie" verstößt, "daß der Gegenstand der Erkenntnis durch die Erkenntnisrichtung bestimmt ist, und daß zwei verschiedene Methoden zwei ebenso  verschiedene Gegenstände  erzeugen müßten, die mit dem gleichen Namen  Staat  zu bezeichnen nur ein irreführender Fehler sein kann". Der letzte Satz des KELSEN'schen Buches lautet: "Als unendliche Aufgabe aber muß ein solcher Weltstaat als Weltorganisation allem politischen Streben gesetzt sein." So steigen hier doch, trotz des anfänglichen Programms, die "rein formalen" Begriffe "zur Bedeutung eines absoluten Ideals" auf! Und es ist wieder derselbe geschichtsphilosophische Hafen der rationalistischen Fortschrittsmetaphysik, die die reinen "Begriffe" zu metaphysischen Potenzen mit empirischer Realität und Wirkung heraufschraubt, die wir bereits kennen. In KANTs rationalistischer Metaphysik mit seiner Lehre vom Ding-ansich, von den Ideen der reinen Vernunft, die etwas ganz anderes sind als abstrakteste empirische Allgemeinbegriffe und als apriorische Kategorien, ist das alles großartig verankert; wenn man es auch dem Mund des "Neukantianers" KELSEN vernimmt, ist man versucht, mit KELSEN zu sagen: "difficile est satiram non scribere." [Es ist schwierig, keine Satire zu schreiben. - wp]. SANDER, der ursprünglich auch diese "ethisch-politische" Substruktion des Weltstaates vorgenommen hatte, hat sie durchaus konsequent später wieder zurückgenommen.
LITERATUR Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie Tübingen 1921
    Anmerkungen
    1) Zu dieser - fast allen meinen Arbeiten zugrunde liegenden - Fragestellung: vgl. mein "Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts", Seite 1 - 3.
    2) Vgl. mein "Das Wesen des Völkerrechts" und die "Clausula rebus sic stantibus", Seite 149
    3) Vgl. Das Wesen des Volkerrechts und die Clausula Rebus sic Stantibus, Tübingen 1911, Seite 207 und 208
    4) Vgl. Clausula, a. a. O., Seite 208 und 209
    5) Vgl. Clausula, a. a. O., Seite 210
    6) Vgl. Clausula, a. a. O., Seite 130 und 131
    7) Vgl. Clausula, a. a. O., Seite 149 und 150
    8) Vgl. Clausula, a. a. O., Seite 148 und 150
    9) Über den trotz dieses Urteils bestehenden Wert der KELSEN'schen Kritik an den herrschenden Staatsrechtsbegriffen siehe weiter unten.