ra-2S. KornfeldR. HirzelF. DehnowA. H. PostO. GierkeF. Klein    
 
HEINRICH DERNBURG
(1829-1907)
Die Phantasie im Recht
[Vortrag]

"Was wären Staat, Familie, Dienstverhältnis ohne Treue? Wie müßte das gesellschaftliche und das Staatsleben ohne Festhalten des Volkes am Überlieferten ins Schwanken geraten! Treue aber ist kein Handelsartikel. Sie ist das Erzeugnis einer edlen Einbildungskraft. Mit dem Gefühl der Treue ist das der Ehre verknüpft, der Standesehre, der geschlechtlichen, der Geschäftsehre. Ohne Treue und Ehre müßte das Recht zusammenbrechen. Beide aber sind Töchter der Phantasie. Denn die innere Ehre, die Grundlage aller äußeren, ist nichts anderes als eine hohe, unmittelbar empfundene Achtung der eigenen Persönlichkeit."

"Auf Ehrfurcht und Ehrgefühl einerseits, auf Furcht und Schrecken andererseits, beides erst durch die Phantasie im Menschen lebendig, ist das Strafrecht gebaut."


Hochansehnliche Versammlung.

Als die ehrenvolle Aufforderung Ihres Vorstandes zu einem Vortrag in Ihrer Mitte an mich gelangte - zwischen den Jahren nach der Weihnachtszeit -, fand sie mich im Studium des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich begriffen und darüber sinnend, daß doch ein Gran Phantasie so ganz überflüssig für den Gesetzgeber nicht sei. Dies galt mir als Fingerzeig für meine Antwort. Meine rasch, vielleicht zu rasch gegebene Zusage, über die Bedeutung der Phantasie im Recht vor Ihnen zu sprechen, muß ich heute auslösen, wenn ich mich auch der Besorgnis nicht verschließe, mit einem solchen Thema die Kritik herauszufordern, ja von derselben  a limine  [von vornherein - wp] zurückgewiesen zu werden.

Was hat die Phantasie mit dem Recht zu tun, höre ich hier skeptisch fragen, dort spöttisch ausrufen. Was hat sie in unserem verstandesmäßig angelegten, logisch durchgeführten, und deswegen durchsichtig und klaren, infolge dessen aber auch praktisch brauchbaren Rechtssystem zu schaffen? Ein Fremdling ist sie bei den trockenen Paragraphen der Gesetze, in den weißgetünchten Amtsstuben, am grünen Tisch und bei den staubigen Akten, um welche sich das Recht und seine Übung dreht. Die Phantasie walte im Reiche der Töne, sie bilde Werke der Dichtkunst, führe der Malerei den buntfarbenen Pinsel oder belebe Marmor und Erz. Aus den Zirkeln des Rechts aber sei sie ausgeschlossen. Da hat die Logik zu scheiden und zu entscheiden. Da handelt es sich um Rechnen mit Begriffen, haben wir mit Rechtssätzen nach Art der Mathematik zu operieren, um sichere und bestimmte objektive und unpersönliche Urteile zu gewinnen. In einem solchen Sinn erstrebte ja dereinst der große Philosoph und Mathematiker LEIBNIZ, der Vater des modernen Kodifikationsgedankens, als dessen höchste Erfüllung die tabellenmäßige Zusammenstellung der Rechtssätze. Dahin ist es nicht gekommen, doch manche Kompendien sind allzuweit von diesem Ziel entfernt.

So bedrängt, sehe ich mich nach einem Schutzpatron um. Und wer könnte dies anders sein, als der große Rechtslehrer, welcher dereinst Wien seine zweite Heimat nannte, als RUDOLF von JHERING, in dessen reichem Geist sich ein starkes Gefühl für die Wirklichkeit und für Zweckmäßigkeit, logischer Scharfsinn und hohe Phantasie einigten.

Gern rufe ich mir die Zeit zurück, als JHERING, kaum in das Mannesalter getreten, seinen "Geist des römischen Rechts" zuerst veröffentlichte. Damals erschien JHERING den jüngeren Wissenschaftsgenossen als ein  Prometheus,  berufen, göttliches Feuer hernieder zu bringen. Im Licht seiner phantasievollen Gedanken belebten sich die Gestalten der Römer, und das Geheimnis des Rechts aller Zeiten schien offenbart als eines Organismus, welcher der willensstarken Persönlichkeit weitesten Spielraum gewährt. Im römischen Recht erachteten wir die Rechtsidee absolut als verwirklicht.

Lebhaft erinnere ich mich auch des Eindrucks der naiven Selbstbekenntnisse JHERINGs in seinen bald darauf erscheinenden Aufsäten, jenen echten Perlen in der Krone der deutschen Rechtswissenschaft. Wir erbauten uns daran, als JHERING von seiner Gemütsaufregung berichtete, da aus einem "neuerlichen Rechtsfall seine Ansicht von der dabei interessierten Partei in Bezug genommen war und er beichtete, "daß Alles, was ihm an Rechtsgefühl und juristischem Takt inne wohnte, sich gegen die Anwendung seine Ansicht sträubte, daß er wochenlang keinen Ausweg finden konnte, bei dem sich sein juristisches Gewissen beruhigen konnte."

Das unmittelbare Empfinden dessen, was Recht sein soll, durch die Einbildungskraft bestimmte hier also vorsehend das Ziel. Der nüchtern rechnende, systematisch arbeitende Verstand folgte mühsam. Schwerlich entstehen selbständige und originelle wissenschaftliche Arbeiten in anderer Weise.


So wage ich zu behaupten,  die Phantasie ist letztlich der Grund allen Rechts, sie ist das belebende Element, durch welches es besteht. 

Welch gewaltiger Organismus ist das Recht. Das ganze äußere Leben der Individuen, der Korporationen, der Staaten weiß es zu umspannen. Im öffentlichen und privaten gewährleistet es Jedem eine Sphäre des Wirkens, um nach eigenem Ermessen zu schalten und zu walten. Es adelt die Persönlichkeit des Einzelnen und bereitet den Boden, auf welchem die Menschheit ihre höchsten Ziele erreicht.

Diesen Organismus übersichtlich zu regeln, ist die Logik stetig am Werk. Sie entwickelt die Normen, welche den zahllosen Fragen, die stündlich an den Juristen herantreten, Rede und Antwort stehen, sie schafft die juristische Technik, ohne welche das Recht nicht sicher und gleichmäßig verwaltet werden kann, und ordnet unzählige Einzelheiten zu einem übersichtlichen System.

Aber die  Grundlagen hat die Logik nicht gelegt.  Sie zerlegt und verbindet Vorhandenes, entwickelt gegebene Gedanken, wahrhaft schöpferisch ist sie nicht. -

Einen bestimmenden Einfluß auf die Bildung des Rechts hat ohne Zweifel zu allen Zeiten das wirtschaftliche Bedürfnis der Menschen gehabt. Unstreitig ist auch, daß sich das Recht auf den sich folgenden ökonomischen Kulturstufen verschieden gestalten mußte. Es war ein anderes, als der Stamm noch ein Jäger- und Fischerleben führte; eine andere Färbung mußte es erhalten, als derselbe zum Hirtenleben überging, und sich wesentlich wandeln, als die Nation die Stufe des Ackerbaus erreichte, bis schließlich das Aufblühen von Gewerben, Industrie und Handel wieder neue Rechtsanschauungen und Bildungen erzeugte.

Infolge dessen findet sich eine gewisse Gleichförmigkeit der Rechtsentwicklung bei Völkerstämmen, welche weder durch Abstammung, noch durch eine wirtschaftliche oder politische Verbindung etwas Gemeinsames haben, welche verschiedenen Weltteilen angehören, sofern sie nur auf derselben ökonomischen Kulturstufe stehen. Dies zur Anschauung gebracht zu haben, ist ein Verdienst der vergleichenden Rechtswissenschaft.

Natürliche Bedingungen, ökonomische Rücksichten, Klasseninteressen und Klassenkämpfe gaben dem Recht die Bausteine.

Aber nicht richtig ist, wenn neuerdings ausgeführt wurde, daß es dem menschlichen Leben gegenüber nur  einen  wissenschaftlichen Standpunkt gibt, nämlich den Standpunkt der Anatomie und Physiologie.

Die  Individualität  der Völker, wie der Einzelnen ist ein Geheimnis, welches der Verstand nicht zu ergründen weiß. Und doch liegt in ihm für Sitte und Recht das entscheidende Moment.

Aus der Eigenart der Phantasie und des Gemüts der Völker erhalten deren große Rechtsinstitutionen, die Ehe, die väterliche Gewalt, das Eigentum, das Strafrecht, das Königtum ihre besondere Gestalt und Färbung und den eigenartigen Charakter. In uralten Bräuchen stellten sie sich fest und schlugen Wurzeln.

Die historische Schule hat zuerst die Bedeutung der Gewohnheit für die Bildung des Rechts erkannt. Vor ihrer tieferen Auffassung wich die überkommene naturrechtliche Lehre, daß die Verbindungskraft der Gewohnheit einzig in stillschweigender Genehmigung des Gesetzgebers beruth, wie Nebel vor den Sonnenstrahlen. Das war ein großer Fortschritt in der Erkenntnis. Aber wenig glücklich war es, daß die historische Schule die Gewohnheit als Ergebnis der  Volksüberzeugung  betrachtete, als eigentliche, schlechthin verbindliche Rechtsquelle also die Volksüberzeugung ansah, so daß, wenn nur diese vorhanden ist, es auf nichts anderes, insbesondere nicht einmal auf eine lange Übung ankommt.

Jene der Gewohnheit  vorgehende, sie begründende Überzeugung des Volkes ist der Wirklichkeit fremd,  eine  Fiktion.  Nicht bewußt, sondern unbewußt bildet sich die Rechtsgewohnheit; allgemeines, unmittelbar empfundenes Bedürfnis, Zweckmäßigkeit, religiöse wie sittliche Anschauungen wirken in ihr und befestigen sie. Völker mit niederer und unreiner Phantasie kommen zu brutalen und gemeinen Gewohnheiten, z. B. zu jenen rohen Formen der Geschlechtsverbindung, von welchen die vergleichende Rechtswissenschaft zu erzählen weiß, an welchen sich wohl das moderne Barbarentum innerhalb der zivilisierten Welt ergötzt. Völker mit edlerer Phantasie, diejenigen, welchen die Menschheit die Poesie verdankt, Griechen, Römer, Germanen, Semiten haben reinere Gewohnheiten gebildet.

Nicht schwankende Meinungen und Überzeugungen fixieren das Recht. Zum Recht wird vielmehr, was  Autorität über die Gemüter der Menschen gewinnt,  ihr Urteil gefangen nimmt und ihr Handeln regelt.

Im Menschengeist liegt das Gefühl der Abhängigkeit von Höherem, Ehrfurchtgebietendem. Das alt Hergebrachte, lange Bestehende insbesondere wird einfachen und unverdorbenen Gemütern stets ehrwürdig und heilig erscheinen. Es imponiert, denn es hat die wechselnden Schicksale, welche die Einzelnen und die Gesellschaft in der Schwebe halten, überdauert, es weckt Erinnerungen ohne Zahl; die Poesie rankt sich um dasselbe und weiht selbst den Frevel, welcher bei der ursprünglichen Begründung unterlief. Was die Generationen hindurch gleichmäßig dauerte, erregt der menschlichen Phantasie den Eindruck des Kräftigen, Unzerstörlichen,  Notwendigen und des Verbindlichen. 

Schwer begreiflicher Irrtum der historischen Schule war es daher, von der Grundbedingung des Gewohnheitsrechts, dessen langjähriger Dauer, abzusehen.

Da hat der Sachsenspiegel das Wesen der Gewohnheit besser erfaßt:
    "Dies Recht hab ich nicht erdacht,
    Es habens von Alters uf uns bracht,
    Unsere guten Vorfahren."
Die Anfangssstadien der Staatenbildung mußten längst überschritten sein, ehe  Gesetzgeber  auftraten, welche in reflektierter Weise allgemeine Gebote und Verbote erließen. Damit dieselben dauernde Autorität über die Volksmassen gewannen, reichte aber der Wille der Herrscher nicht aus. Sie suchten und fanden die Stütze für ihre Befehle im göttlichen Willen. Religiöse und weltliche Satzung sind  einem  Schoß entsprossen; ihre Kraft entstammt der Phantasie, welche das Überirdische und Unbegreifliche zum Bestimmungsgrund des Irdischen macht. Im Donner und Blitz des Berges Sinai kam das Gotteswort hernieder: "Du sollst nicht töten", "Du sollst nicht ehebrechen". Göttliche Fürsorge führte die Völker durch heilige Gesetze zu einer höheren Stufe hinauf.

Die Zeit mußte kommen, in welcher die Gesetzgebung sich verselbständigte,  verweltlichte. 

Vor allem war es der römische Staat, welcher sich als solcher mit seiner gewaltigen Kraft die Gemüter seiner Bürger und der Fremden unterwarf und seinen Gesetzen eine fast unzerstörliche Dauer gab.

An der Pforte des römischen Weltrechts steht die Gesetzgebung der 12 Tafeln. Welche Anschaulichkeit und Plastik! Wie fallen die Worte in Gehör und Sinn! Wie groß gedacht, fast phantastissch ist die Selbstherrlichkeit des Einzelnen bei Verfügungen von Todes wegen und unter Lebenden. Aber auch welche Härten, z. B. in der Vollstreckung gegen den verurteilten Schuldner. Alle Schauer blutigen Todes wurden dem bankrotten Schuldner vor Augen gestellt.

Die Formen, unter welchen sich in Rom die juristischen Handlungen noch lange nach der 12-Tafel-Zeit vollzogen, waren alle dramatisch, voll Sinnlichkeit und Phantasie.

Der Prozeß um "mein" und "dein" wurde durch den Zweikampf eröffnet. Jede Partei trat mit kecker Rede, ihr Recht behauptend, der anderen entgegen. Jeder der Streitenden drohte mit der Lanze, Jeder sagte dem Anderen die Fehde an. Da trat der Prätor auf und erließ den Friedensbefehl. Und nun warf Jeder dem Anderen den ungerechten Friedensbruch vor und Jeder hatte eine Weihe- und Sühnegeld für den Fall des Unrechts zu hinterlegen. Um dieses Weihe- und Sühnegeld wurde gestritten.

Dazu das feierliche Abholgen einer Scholle vom Grundstück, ein wahres Schaustück.

Ohne solche dramatischen Szenen konnte sich der alte Römer einen Prozeß nicht denken.

Dies war die Knospe, aus welcher sich die reiche Frucht des modernen Prozesses entwickelte. Selbst die Namen der alten Klagen haben sich erhalten. Vom gedrungenen, schneidigen, plastischen Wesen des antiken römischen Prozesses ist freilich wenig übrig geblieben.

Die Volksphantasie bildet den Urgrund allen Rechts. Sie ist auch, behaupteten wir, die  Nährquelle,  welche dasselbe belebt und entwickelt.

Das bewährt die Geschichte der Staaten. Sie wachsen, sie werden groß und mächtig, indem sie die Volksphantasie emporträgt. Sie geraten in Verfall, wenn sich die Phantasie des Volkes von ihnen abwendet, ja wenn dieselbe erschlafft.

Nicht kluge Staatskunst, nicht die Masse äußerer Mittel allein geben den Staaten Kraft und Stärke. Die klügsten Staatsmänner verrechnen sich. Oft schlagen die Ergebnisse ihre diplomatischen Kunst gegen ihre Ziele aus, die überwältigendsten Machtmittel fallen auseinander, wenn sie Ideen und die Phantasie des Volkes nicht zusammenhalten.

Das Häuflein der Spartaner in den Thermopylen, welche fielen, "Spartas Gesetzen gehorchend", hat größere Erfolge errungen, als Heerscharen vermocht hätten, denen Phantasie und Begeisterung gefehlt hätte, um sich für Gesetz und Vaterland zu opfern.

Wären die Wurzeln des römischen Wesens nicht abgestorben gewesen, nie hätten die Germanen das Römerreich übermannt. Als das römische Reich deutscher Nation in der Phantasie der deutschen Stämme seinen festen Halt hatte, überragte es Europa. Als es nicht mehr von der Volksphantasie getragen war, wurde es zur Mumie, bis es unter dem Stoß des Franzosenkaisers wie Staub zerflog.

Die Phantasie des griechischen und italienischen Volkes hat Neugriechenland und Neuitalien hergestellt, und als die deutschnationale Idee wieder die Herrschaft über die Phantasie der deutschen Völker gewann, erstand das neue deutsche Reich.

Die dauerhafte und nachhaltigste Stütze erhält der Staat, wenn der Erbe alter Fürstengeschlechter, welche seit Jahrhunderten Glück und Unglück ihrer Völker teilten, an welche sich zahllose Erinnerungen knüpfen, Träger der Staatsidee ist. Gleichsam sichtbar tritt der Staat dann der Volksphantasie gegenüber, Hingebung und Liebe werden persönlich. Glücklich sind die Völker, an deren Spitze hochgesinnte und gütige Fürsten stehen, in welchen sich ihr Staat und ihr Recht verkörpert.

Ich wende mich von den allgemeinen Betrachtungen, im weiteren Verlauf meines Vortrags, besonders zu den Entwicklungen Deutschlands, um zu untersuchen, welche Stellung die Phantasie dereinst im deutschen Recht besaß und was sie heute für die Gesetzgebung und die Rechtswissenschaft in Deutschland bedeutet.

Der schroffste Gegensatz besteht hier zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Einst  war das deutsche Recht durchaus poetisch, erfüllt mit sinnlichen Anschauungen, voll Phantasie. Die Rechtssatzung war der Ausfluß der dichterischen Kraft der Volksseele, das Recht vom Glauben erfüllt; daber die Gottesurteile in ihren zahlreichen Gestaltungen und Formen.

Reizvolle Züge haben JAKOB GRIMM in seinem Aufsatz "Die Poesie im Recht" und GIERKE "Der Humor im deutschen Recht" aus den Rechtssatzungen der deutschen Vorzeit hervorgehoben.

Nicht geschlossen und plastisch wie die älteste römische Rechtssprache ist die alte deutsche, aber bildlich und anschaulich mit einem Anflug von Humor.

Die Anknüpfung an das Naturleben und seine geheimnisvollen Kräfte, insbesondere die Beziehungen auf die scheinende, mittägliche und untergehende Sonne ist dem alten deutschen Recht mit anderen Rechten der Vorzeit gemeinsam. Besonders eigentümlich ist aber die poetische Neigung, bei der Feststellung von Rechten und Pflichten das unabänderliche Maß und die mechanische Zahl zu vermeiden, vielmehr auch hierüber gleichsam eine Art von Gottesgericht entscheiden zu lassen. Da wird das Land zugeteilt, soweit der Hahn schreitet oder fliegt, oder über Hahnensporn oder Katzensprung oder soweit ein Stein geworfen werden mag.

Die Versenkung in die Natur und das innige Zusammenleben mit ihr offenbart sich in der überreichen Zahl der Rechtssymbole. Erde, Kraut, Gras, Wasser, Wein und Blut, Hund, Katze, Hahn und Huhn waren wie Schild, Spindel, Handschuh, Schuh symbolische Zeichen für Rechtsbeziehungen. Jedes dieser Zeichen hatte, sagt JAKOB GRIMM, "seine dunkle, heilige, symbolische Bedeutung. Mangelt diese, so fehlt der allgemeine Glaube daran und seine herkömmliche Verständlichkeit."

Doch das Naturleben, welches sich in den alten Rechtssatzungen aussprach, mußte einem tieferen Geistesleben weichen.

Als die Germanen die überlieferte Abneigung gegen die Städte aufgaben, als sich über dem Haupt eines großen, bald des maßgebenden Teils der Bevölkerung nicht mehr der grüne Wald und der Himmel wölbte, sondern steinerne Dächer lasteten, als sie sich in engen Gassen und Häusern zusammendrängten, wo kein Korn wächst und keine Frucht blüht und reift, mußte sich auch ihr altes Recht wandeln. Und als es notwendig wurde, zu festeren Organisationen überzugehen, trat an die Stelle der Schöffen der Amtmann, der gelehrte Jurist, welcher das Recht nicht mehr in der überlieferten Weise verwaltete, sondern nach fremden, den römischen und kanonischen Gesetzen seine Sprüche fällte.

Es liegt mir fern, dies zu beklagen. Denn ohne die festgefügten Normen der fremden Rechte wären aus den deutschen  Stämmen  niemals deutsche  Staaten  erwachsen.

Aber nicht milde und gnädig, nein hart und rücksichtslos verfuhren die Juristen mit dem Volk und seinen Anschauungen. Unter der großen Flut der Rezeption des römischen Rechts wurde auch viel poetisches, altnationales Recht weggeschwemmt, was wohl der Erhaltung wert war.  Die modernen Gesetzgeber  aber sind in dieser Hinsicht nicht minder destruktiv als die Doktoren aus dem 16. Jahrhundert.

War aber nicht auch dies Notwendigkeit? Folgte die Gesetzgebung nicht einem allgemeinen Zug der Zeit, welcher sie bestimmte und fortriß?

Nüchtern, rein geschäftsmäßig bewegt sich der moderne Verkehr, mit welchem das Recht zu tun hat. Bei der atemlosen Jagd nach Gewinn und Reichtum erscheint ihm Alles als Ballast, was den jähen Lauf aufhält, schützende Formen, hemmende Normen. Mancher meint wohl, daß im modernen Rechtsleben Phantasie nur noch in waghalsigen Spekulationen zutage tritt, wo sie mit Zahlen hantiert, addiert und multipliziert.

Das hieße doch bloß an der Oberfläche haften: die  dauernden Beziehungen der Menschen untereinander im öffentlichen wie im privaten Leben ruhen nach wie vor auf Verkettungen, welche die Phantasie trägt.  Was wären Staat, Familie, Dienstverhältnis ohne  Treue?  Wie müßte das gesellschaftliche und das Staatsleben ohne Festhalten des Volkes am Überlieferten ins Schwanken geraten! Treue aber ist kein Handelsartikel. Sie ist das Erzeugnis einer edlen Einbildungskraft.

Mit dem Gefühl der Treue ist das der  Ehre  verknüpft, der Standesehre, der geschlechtlichen, der Geschäftsehre.

Ohne Treue und Ehre müßte das Recht zusammenbrechen. Beide aber sind Töchter der Phantasie.

Denn die innere Ehre, die Grundlage aller äußeren, ist nichts anderes als eine hohe, unmittelbar empfundene Achtung der eigenen Persönlichkeit.

Und das ritterliche Gefühl, welches den Gesetzgeber dazu bestimmt, Minderjährig, Frauen, Schwache unter seinen Schutz und Schirm zu nehmen, ist es nicht auch Ausfluß einer edlen Phantasie?

So bildet die Phantasie auch heute die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens und des Rechts. -

So wenig dies Alles die moderne Gesetzgebung ganz verleugnen konnte, soweit ist sie doch entfernt davon, die klar zu würdigen, voll zu verwerten.

Nur zu oft greift sie ohne Not in das ein, was der Volksphantasie und dem Volksgemüt wert ist, bald im Drang nach rascher geschäftsmäßiger Erledigung, bald auch, um prinzipielle Postulate rücksichtslos durchzuführen.

Unmöglich, daß ich in diesem Vortrag, um das nachzuweisen, die neuere Gesetzgebung nach dieser Richtung hin Schritt für Schritt verfolge! Würde ich gar den Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs hier in eigehender Weise meiner Betrachtung unterstellen, wo sollte ich ein Ende finden!

Einiges Wichtigere, Frappanteres mag doch angedeutet werden.

Eines gewissen ritterlichen Zuges sollte das Recht eines Volkes, wie das deutsche, nicht entbehren.

Die moderne privatrechtliche Gesetzgebung zeigt hierfür geringes Verständnis.

Die Grenze der Minderjährigkeit wurde herabgesetzt, um die Gerichte zu entlasten zum Schaden der Minderjährigen und der Familien. Zahlreiche Institutionen, welche dem Schutz der Minderjährigen dienten, mußten dem Merkantilinteresse weichen.

Das Vorrecht der Ehefrauen im Konkurs ihrer Männer ist durch die Konkursordnung des deutschen Reiches beseitigt. Es besteht also auch da nicht mehr, wo, wie nach dem System des allgemeinen preußischen Landrechts, das Vermögen der Ehefrau in die Verwaltung und den Nießbrauch des Ehemannes von Rechtswegen übergeht und selbst der Verdienst der Frau während der Ehe dem Ehemann zugeschrieben wird. Aller Vorteil also dem Ehemann, alle Gefahr der Ehefrau. Und die im merkantilen Interesse getroffene Beseitiung des Vorrechts trifft doch nur die  mittleren Schichten,  denn die  Wohlhabenderen  wissen sich vorsichtig durch  Eheverträge  abzusichern.

Wie ungünstig gestaltet sich im neueren Recht vielfach die Stellung der Ehefrau, welche von ihrem Ehemann  tatsächlich verlassen  ist.

Ungütig ist die neuere Gesetzgebung gegen die unglückliche Gesellschaftsklasse der unehelichen Kinder. Der Entwurf des deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs will ihnen das bescheidene Erbrecht auf den geringen Teil nehmen, welcher ihnen das bisherige Recht für den Fall gewährt, daß ihr Erzeuger keine ehelichen Kinder hinterließ. Wenn ein Millionär ohne eheliche Deszendenz [Verwandtschaft - wp] stirbt, sollen also die Verwandten, auch die entferntesten, Alles erhalten, die anerkannten außerehelichen Kinder nichts. Das ist hart, phantasielos.

Die tief in der Volksseele wurzelnde Auffassung, daß Grundbesitz und Grundbesitzer untrennbar zusammengehören, findet in der neueren Gesetzgebung wenig Unterstützung. Das auszuführen wäre ein eigenes weitläufiges Kapitel. Nur eins will ich hervorheben. Wie ist heutzutage die Zwangsversteigerung doch so ganz auf rasches, geschäftsmäßiges Abmachen gerichtet. Zur Zeit des allgemeinen preußischen Landrechts war das anders. Wurde im ersten Termin die Taxe nicht erreicht, so erfolgte kein Zuschlag; ein zweiter Versuch war zu machen. Die neuere preußische Gesetzgebung kennt keine Taxe mehr, keinen zweiten Termin. Er vervielfältigt ja das Geschäft. Keine Würdigung findet, daß der fehlgeschlagene Termin die Aufmerksamkeit weiterer Kreise weckt, daß danach günstigere Ergebnisse zu erwarten sind, daß auch der Grundbesitzer mittels wiederholten Ausbietens vielleicht noch zu retten ist. -

Von dem Ungefähr beim Zumessen der Grundstücke, wie es sich im alten deutschen Recht fand, weiß das deutsche Leben seit langem nichts mehr. Viel zu nahe sind sich die Menschen gerückt, viel zu genau müssen sie rechnen.

Aber im  Handel und Wandel  haben sich die uralten, auf natürliche Beziehungen gegründeten Raumbezeichnungen erhalten. Da spricht man noch wie vor Zeiten von "Fuß" und "Schuh", von "Ruten" und "Morgen". Das deutsche  Gesetz  dagegen ignoriert alle diese Bezeichnungen. Um des großen, weltumspannenden Verkehrs willen kennt es allein noch als Maß "Meter", "Ar" und "Hektar".

Das Meter hat sich mühsam in der Volksanschauung eingebürgert. Was ein "Ar" ist, davon hat man im Leben aber keine Anschauung. Noch Jahrhunderte lang wird im Grundstücksgeschäft nach Ruten und Morgen gerechnet werden. Die Grundbücher und die Grundsteuerbücher, die notariellen und gerichtlichen Urkunden aber schreiben nur Meter und Ar ein. Daraus ergeben sich schwere praktische Mißstände. Es dokumentiert sich bis zu den Maßen herab, daß die deutsche Bevölkerung in zwei Schichten gespalten wurde, welche eine verschiedene Sprache reden, die Gelehrten und das Volk.

Nicht viel anders als mit den Raummaßen steht es mit dem deutschen Geld. Fürchten Sie nicht, von Bimetallismus oder Goldwährung zu hören. Bei der Ausführung des deutschen Münzsystems aber, welches als vortrefflich für den großen Verkehr und den Kaufmann gilt, wurde doch auf die Masse des Volkes und seine Bedürfnisse wenig geachtet.

Dahin gehört es, daß das Münzsystem dem  Taler  den Krieg erklärt hat. Nur Ereignisse, welche nicht vorgesehen waren, haben dem Taler einstweilen die Existenze erhalten.

Wenn aber der letzte Silbertaler, welcher das Bild des  großen Friedrich  auf der einen Seite und den über Kanonen und Fahnen schwebenden Aar auf der anderen zeigt, aus dem Verkehr gezogen sein wird, dann ist das deutsche Volk um eine geschichtliche Anschauung ärmer geworden und einer der Fäden gerissen, welche das Königtum der Hohenzollern mit der Phantasie des preußischen Volkes verbinden.

Unwillkürlich schlägt trotz allem an gewissen Punkten die Rücksicht auf die Volksphantasie auch im heutigen Recht durch.

Der Schlußstein des modernen Beweisrechts ist der  Eid,  als Zeugen-, als Schiedseid, als richterlicher Eid; ferner ist der promissorische Eid der Kitt für das Zusammenhalten der bürgerlichen Ordnungen, welchen kein Staatsmann und kein Politiker entbehren zu können glaubt.

Beim Eid aber, das verkennt auch das jetzige Recht nicht, ist die Phantasie der Schwörenden wach zu halten. Daher hat sich der Eidespflichtige und der Vorstand zu erheben, der Schwörende die Finger der rechten Hand emporzuhalten, dazu die feierliche Formel. Der Infanterist schwört den Fahneneid auf seine Fahne, der Artillerist auf sein Geschütz.

Nicht viele Fälle gibt es, in welchen die Volksvertretung die Phantasie des Volkes anregende Sitten zur Geltung brachte; ich erinnere mich aber eines Falles, nämlich der Verpflichtung der  Vormünder durch Handschlag an Eidesstatt in Preußen. 

Der Regierungsentwurf der preußischen Vormundschaftsordnung von 1875 wollte den Handschlag der Vormünder bei deren Verpflichtung beseitigen. Er fand ganz vernünftig und logisch, der Vormund sei auch ohne Handschlag dem Mündel zu aller Sorgfalt verbunden. Wozu also die Form! Man meinte auch, nicht jedem Richter sei der Handschlag angenehm. Im Landtag aber fürchtete man, es werde nach Beseitigung des Handschlags die Ansicht im Volk entstehen, daß nach der neuen Ordnung die vormundschaftlichen Pflichten nichts mehr bedeuteten. So erhielt man das alte Recht, die preußischen Richter haben neu ernannte Vormünder nach wie vor durch Handschlag zu verpflichten.

Das war ein besonderer Fall. Im Großen und Ganzen hat, wie gesagt, das parlamentarische System der Volkstümlichkeit der Gesetze keinen Vorschub geleistet.

Die Kaiserin KATHARINA von Rußland pflegte zu äußern: ich erinnere mich stets, daß ich meine Gesetze nicht bloß auf dem Papier mache, sondern auf der menschlichen Haut, die kitzlig ist.

Die  parlamentarische Gesetzgebung  schwelgt ganz anders in einem Gefühl vermeintlicher Omnipotenz. Die umfangreichen, technisch gereiften Entwürfe der Regierung zu Gesetzen sind in ermüdender Breite, in einer dem Laien unverständlichen Sprache verfaßt. Soweit sie nicht brennende Fragen der Politik betreffen, werden sie von sachverständigen Juristen, welche dem Parlament angehören, mehr oder weniger sorgfältig geprüft. Der Masse der Parlamentarier aber bleibt ihr Verständnis verschlossen. Mischt sich dagegen die Politik ein, so entbrennt der Kampf der Prinzipien. Um sie wird gestritten. Was das Volk empfindet, fühlt, bedarf, leidet, entschwindet dabei nur allzuleicht dem Auge der Streiter.

Ich betrete brennenden Boden, wenn ich hier von der  Form der Eheschließung  rede. Die Politik hat ihre selbständigen Bedingungen und Ziele. An die Politiker sind meine Worte daher nicht gerichtet. Aber wenn von der Bedeutung der Phantasie für das Recht die Rede ist, kann eine Betrachtung über die Eheschließungsform nicht umgangen werden. -

Eine weihevolle Abschließung der Ehe ist nicht bloß ein gemütliches Bedürfnis für die Verlobten. Auch im  Interesse der menschlichen Gesellschaft und des Staates liegt es, auf eine solche hinzuwirken und sie zu fördern.  Es ist nichts Kleines, daß in dem ernsten Augenblick, in welchem die Ehe geschlossen wird, beim Akt, welcher über das Lebensglück der Verlobten entscheidet, Gemüt und Phantasie derselben angeregt wird, damit ein Lichtschein auf ihren Lebensweg fällt, welcher ihnen in ferne Zukunft hinein leuchtet, auch wenn sie Dunkel und Trübsal umgibt. Es ist fast Pflicht der Gesellschaft, dem jungen Paar in diesem Augenblick auszudrücken, daß es nicht allein durch das Leben geht, daß es ein Glied ist eines großen Ganzen, dem es eingefügt wird. Das ist für Alle, hoch und nieder, wichtig, ganz besonders aber für die Armen, die Mühseligen und Beladenen.

Die tiefste Einwirkung auf das Gemüt kann hierbei die  Kirche  üben, indem sie Irdisches und Überirdisches verbindet. Daher wurde Jahrhunderte lang die kirchliche Eheschließung auch im Interesse des Staates liegend angesehen und zur Bedingung einer staatlich gültigen Ehe gemacht.

Hierbei sollte es bei der selbständigen Entwicklung der modernen Staaten nicht bleiben. Sowie der Staat durch Gründe des öffentlichen Nutzens dahingeführt wurde, andere Bedingungen für die Eheschließung aufzustellen als die Kirche, konnte er das bisherige Lehnsverhältnis zur Kirche in dieser Beziehung nicht aufrecht erhalten. Seine Selbständigkeit forderte, daß er die Eheschließung nicht unbedingt von der Kirche abhängig macht.

War es aber deswegen notwendig, daß er den  Zwang  zur  kirchlichen  Eheschließung durch einen  Zwang  zur  bürgerlichen - durch die sogenannte obligatorische Zivilehe - ersetzte? Genügte nicht die  Wahlzivilehe,  die sogenannte fakultative, welche den Verlobten  frei  läßt, sich  kirchlich  oder bürgerlich ehelich verbinden zu lassen? Muß den alles einförmig geordnet sein? Ist nicht die Gefahr bei der Zwangszivilehe, daß man im Namen der "Gewissensfreiheit" die wahre Freiheit bedrückt? Unter der Herrschaft der  Wahlzivilehe  kann die Gewissensbedrängnis nicht eintreten, wie sie sich an die Zwangszivilehe dann knüpft, wenn sich der eine Teil der standesamtlich Verbundenen der vorher versprochenen kirchlichen Eheschließung nachträglich weigert, und das eheliche Zusammenleben dem widerstrebenden Ehegatten gleichwohl aufnötigt. Derartiges ist nicht ganz selten. Bei der Beratung des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich hat die Kommission ausdrücklich dem getäuschten Gatten das Recht zur Verweigerung der ehelichen Gemeinschaft bis zur Erfüllung des Versprechens kirchlicher Eheschließung  versagt. 

In den Städten ist der Zugang zum Standesamt bequem. Was soll man aber dazu sagen, daß auf dem Land in Preußen das Standesamt oft viele Meilen von den Heimstätten der zugehörigen Bevölkerung entfernt und außerhalb der Pfarre nur auf schlechten Wegen zu erreichen ist. Daraus kann eine wahre Volksnot entstehen.

Aber für solche Dinge hat unsere prinzipielle Gesetzgebung ein geringes Verständnis.

Sie stellt ihre Normen grundsätzlich auf, der Bevölkerung bleibt es überlassen, sich hernach gut oder schlecht, wie es eben geht, einzurichten.

Sind etwas die Eheschließungen vor dem Standesbeamten sicherer als die vor Pfarrern? Das Gegenteil ist der Fall. Daher spricht der französische Kassationshof von "Fallen", welche auf der Schwelle des Standesamtes aufgestellt sind. Wer Pfarrer ist, weiß jeder, aber falsche Standesbeamte - als solche noch nicht höheren Orts bestätigte, in einem fremden Bezirk funktionierende - sind öfters vorgekommen. Eine Nichtigkeit der so geschlossenen Ehen daher nichts Seltenes.

Nur das setzt die Wahlzivilehe voraus, daß die Geistlichen die Register der von ihnen geschlossenen Ehen an die politische Behörde periodisch einschicken, darin liegt keine Schwierigkeit.

Hält man die Zwangszivilehe gleichwohl für unentbehrlich, so ist sie wenigstens eine feierliche, wie die französische, nicht eine bürokratische, wie die deutsche.

Wenn der französische Maire, geschmückt mit der dreifarbigen Schärpe, den Bürger mit der Bürgerin verbindet und ihnen von Vaterland und Brüderlichkeit spricht, so mag auch dies das Gemüt der Verlobten anregen.

Aber traurig ist die Zwangszivilehe, wie sie sich im deutschen Reich gestaltet hat. In der kahlen Amtsstube vollzieht sich geschäftsmäßig, wahrhaft trostlos der Akt der Eheschließung, kaum anders, als die Auflassung eines Grundstücks. Nichts, was an die Bedeutung des Bundes für das Leben erinnert.

Nach der  Absicht  der deutschen Gesetzgebung geschieht das allerdings nicht aus Mißachtung der Ehe. Der weltliche Akt wurde vielmehr deswegen so nüchtern wie möglich gestaltet, damit die ehelich Verbundenen in ihm kein Genüge finden und  außerdem  die kirchliche Eheschließung nicht versäumen.

Aber ihre Ehe ist einmal durch den Standesbeamten geschlossen; für den Protestanten ist diese Ehe eine wahre und volle. Die Masse der Bevölkerung hat weder Zeit noch Neigung, um eines nunmehr nur eine Form darstellenden, nicht notwendigen Aktes noch den Geistlichen aufzusuchen.

Die standesamtliche bürokratische Eheschließung ist daher wenigstens in den Städten für einen sehr erheblichen Teil der Bevölkerung, insbesondere der protestantischen, die einzige geworden. Kein Saatkorn wird ausgestreut, welches im Ehestand Frucht tragen könnte. Weder den Eheleuten noch der bürgerlichen Gesellschaft kann dies zum Segen gereichen. -

Auf Ehrfurcht und Ehrgefühl einerseits, auf Furcht und Schrecken andererseits, beides erst durch die Phantasie im Menschen lebendig, ist das Strafrecht gebaut.

Daher wird das Strafgesetz kraftlos, wo es mit dem Ehrgefühl des Volkes in Widerspruch steht, wie die Strafe des Zweikampfes. Tritt es gar in Widerspruch mit tiefen, religiösen Empfindungen weiter Volksschichten, so sind seine härtesten Schläge vergeblich, ja sie stählen die Gegnerschaft; denn sie treffen in der Volksmeinung Märtyrer, nicht Verbrecher.

Das  ältere Strafrecht  wirkt vornehmlich durch Furcht und Schrecken. Diesem Zweck dienten die grausamen Strafen des Mittelalters. Aber der Schrecken stumpft sich ab. Daher sind dann auch Rädern und Säcken und lebendig Verbrennen und was alles die Phantasie an schaudererregenden Strafen erfunden hat, glücklicherweise längt bloße geschichtliche Erinnerungen und selbst einfache Todesstrafe, Zuchthaus, langwierige Gefängnisstrafe sind verhältnismäßig selten geworden.

Überwiegen sind die Strafmittel des  heutigen Rechts  bloße  Ehrenstrafen.  Zu den Ehrenstrafen gehört die kurze Gefängnisstrafe, welche ein physisches Übel kaum bildet, wie die Geldstrafe.

Die Wirkung dieser Strafen ist daher davon abhängig, daß das  Gefühl der Ehre im Volk wachgehalten und gesteigert wird. 

Dies ist der Grund, weswegen die Häufung von Strafandrohungen nicht nützlich ist, ja eine Gefahr bildet; denn je zahlreicher Strafen verhängt werden, ein je größerer Prozentsatz der Bevölkerung "vorbestraft" ist, desto geringer wird die Wirkung der Strafe sein. Nicht weniger wichtig ist, daß sich die Gesetzgebung auch bei der Festsetzung der Strafen in möglichster Übereinstimmung mit der Volksauffassung hält. Je weniger dies der Fall ist, desto mehr verliert die Strafe an Gewicht, so daß schließlich das Ansehen der Strafrechtspflege in Frage gestellt ist.

Eine psychologische Beachtung der Volksseele ist indessen nicht die hervorragende Eigenschaft moderner Strafrechte.

Zu den besseren, neueren Strafgesetzbüchern gehört das deutsche. Sein Strafensystem ist mild, die Todesstrafe auf wenige Fälle beschränkt. Ein VAILLANT, welcher im deutschen Reichstag seine Bombe schleudern würde, ohne zu töten, würde nach deutschem Strafrecht nicht dem Tod verfallen.

Aber auf die  geschichtlichen  Überlieferungen und auf das  Volksgefühl  ist in der Feststellung einzelner Vergehen oft wenig Rücksicht genommen. Der doktrinäre Zug kann sich nicht verleugnen.

Die Vergehen, welche die Strafjustiz bei weitem am häufigsten beschäftigen, welche dem Verbrecher besonders den Stempel der Verächtlichkeit aufdrücken,  Diebstahl, Unterschlagung, Betrug,  bilden frappante Belege.

Diebstahl und Unterschlagung gelten dem Volk als niederträchtig, nicht deswegen, weil sich der Täter die Sachen Dritter widerrechtlich aneignet, sondern weil er dies aus  niederen Motiven,  weil er es  aus Gewinnsucht  getan hat. Gerade das Moment der Gewinnsucht haben aber die Redaktoren des deutschen Strafgesetzbuchs ausgeschieden. Die Staatsanwälte, welchen ein Hauptanteil an der Abfassung zufiel, hatten in schmerzlicher Erinnerung, daß die Verteidiger nicht selten, der Wegnahme fremder Sachen Überführte wegen angeblichen Mangels der Gewinnsucht der Strafe entziehen suchten, und daß dies hie und da auch gelungen war. Der Ausweg sollte verschlossen werden.

Infolge dessen fällt, zumindest nach dem Wortlaut des Gesetzes, unter Diebstahl und Unterschlagung auch bloße  Selbsthilfe,  wenn sich der Täter eigenmächtig zur Befriedigung seiner wohlbegründeten Ansprüche geschuldete Gegenstände aneignet. So ist es zu Strafurteilen gekommen, welche sich mit der Volksauffassung niemals vereinbaren lassen. Beispielsweise wurde ein Kaufmann, welcher eine unbeglichene Rechnung an einen Kunden hatte, dessen Kind Waren für einen geringen Betrag entnahm, wegen  Unterschlagung  verurteilt, weil er den zur Bezahlung der Waren von dem Kind gegebenen Taler nicht wechselte, sondern den Restbetrag auf seine ältere Forderung verrechnete. Das war wohl unerlaubte Selbsthilfe. Aber dem Mann das Brandmal des Diebstahls aufzudrücken, war ein Unrecht gegen ihn. Aber auch eine Versündigung an der Volksphantasie.

Das Übel ist umso größer, weil das deutsche Strafgesetz auch hierin, im Widerspruch mit der Volksauffassung, keinen Unterschied zwischen großem und kleinem Diebstahl macht und jeden Diebstahl mit der absoluten Strafe des Gefängnisses belegt. So konnte es vorkommen, daß jemand wegen Abpflückens einer Blume im fremden Garten als Dieb zu Gefängnis verurteilt wurde.

Vor wenigen Wochen erzählte man sich in Berlin, es sei jemand von einem Schöffengericht wegen Diebstahls zu Gefängnis verurteilt worden, weil er aus einer Gaststube drei Streichhölzchen entnahm, nachdem er vom Wirt, welchen die geringe Zeche des Gastes erboste, denunziert worden war. Über diesem Fall unterhielt man sich in der Gesellschaft, bei den Gerichten, auf dem Katheder. Es entstand fast eine Art Aufregung. Der Verein der Gastwirte veranstaltete eine Enquete.  Diese Enquete  war nicht ergebnislos. Denn es stellte sich heraus, daß sich der Fall gar nicht zugetragen hatte. Sollte die Geschichte aber nicht doch eine Kritik des Gesetzes durch die Volksphantasie enthalten, eine Verwahrung gegen die Übertreibung des Diebstahlbegriffs!

Viel zu weit ausgespannt hat das Strafgesetz auch seine Maschen in seinem Betrugsparagraphen, in welchen Mancher ahnungslos hineinfällt. Betrug soll hiernach sein, wenn man sich einen Vermögensvorteil durch Vorspiegelung falscher oder  Unterdrückung wahrer Tatsachen verschafft.  Was aber kann nicht alles unter Unterdrückung wahrer Tatsachen eingeheimst werden. Eine  besondere Hinterlist  ist nicht erforderlich.

So ist dann auch ohne Widerspruch die Mitteilung durch die Blätter gegangen, daß kürzlich ein rheinisches Landgericht jemanden wegen Betrugs verurteilte, welcher einen Bahnsteig - Perron [Vortreppe - wp] - betrat, ohne vorher eine  Bahnsteigkarte gelöst zu haben.  Denn er habe durch die Unterdrückung der Tatsache, daß er keine solche Karte besaß, das Vermögen des Eisenbahnfiskus beschädigt!

Aber wo keine unehrenhafte Handlung vorliegt, sollte man auch keinen Betrug annehmen. Sonst hört der Betrug auf, für die Volksphantasie schmählich zu sein. -

Ein wunder Punkt ist, wie schon bemerkt, die  Massenhaftigkeit  der Strafgesetze, mit welchen der moderne Staat seine Bürger zu zügeln und zu leiten sucht. Von Session zu Session der Landtage und der Reichstage wachsen die Strafbestimmungen.  Kein größeres Gesetz ohne einen Beiwagen von Strafgesetzen.  Die Sozialgesetze, insbesondere über das Maß der Arbeitszeit, die Kranken- und Altersversicherung, die Sonntagsheiligung, die Steuergesetze, überall Strafen. Dazwischen noch besondere kleinere Strafgesetze ohne Unterlaß.

Daran knüpft sich dann bei der Verbitterung der Parteien eine wilde Denunziationssucht.

Das alles schadet aber dem Charakter und verdirbt die Phantasie und die Laune des Volkes.

Man lege sich also auch in dieser Hinsicht Maß an.

Statt der massenhaften Geld- oder auch Gefängnisstrafen würde in sehr vielen Fällen eine einfache  Verwarnung - sei es polizeiliche, sei es gerichtliche - genügen. Nur wer  halsstarrig  trotz solcher Verwarnungen das Gesetz übertritt, soll mit schweren Strafen belegt werden.

Bei Einführung der deutschen Gerichtsverfassung von 1879 hat man  Talare  für Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte eingeführt. Man hat sich dabei französischem und englischem Brauch angeschlossen und mit Recht. Denn das Amtskleid läßt die Person und die Individualität des Einzelnen zurücktreten gegenüber seiner Funktion als Diener des Rechts, und der Phantasie des Volkes tritt die Würde der Justiz lebendiger entgegen.

Aber der Talar fordert doch auch, daß sich die Handhabung des Rechts auf einer würdigen Szene abspielt. Nicht palastähnliche, aber doch  anständige  und  saubere  Gebäude  sind daher für die Justiz nötig. 

Daran fehlt viel, nirgends mehr als in der deutschen Reichshauptstadt. Das Amtsgerichtsgebäude in der Jüdenstraße zu Berlin inbesondere gleicht eher einer Fabrik als einem Gerichtsgebäude. Wie drängen sich da die Richter in engen kahlen Räumen, wie stößt sich die Menge der Rechtsuchenden, der Zeugen in den nüchternen, nicht rein zu erhaltenden Korridoren.

In diesem Winter unterfing sich ein preußischer Richter im Abgeordnetenhaus, für die Justiz würdige Gebäude zu fordern, wie sie der Post in so reichem Maß gewährt werden.

Wie für die Post! Welche Vermessenheit! Schroff wurde von anderer Seite dagegen Verwahrung eingelegt. Scharf getadelt wurde das Selbstgefühl der Richter. In äußerer Ausstattung habe das Gericht seinen Wert nicht zu suchen. Und doch hat auch sie ihre Bedeutung für die Volksphantasie und für die Achtung, welche der Rechtspflege gezollt wird.

Aber allerdings entscheidend ist dies nicht für die Stellung des Richterstandes in der Volksanschauung. Auch darüber wäre Vieles zu sagen. Sicher ist, daß, je hilfreicher sich der Richter, insbesondere der Amtsrichter, zur Bevölkerung stellt, desto mehr wächst der Einfluß des Gerichts; je schroffer er den selbstbewußten Ton anschlägt, je mehr er die Überlegenheit seiner STellung auf äußerlich durchzusetzen sucht, desto weniger bringt er sich zur Geltung.

Zu denken sollte es geben, mit welcher zähen Entschlossenheit das Volk an den Geschworenengerichten festhält. Keine größere Anomalie in der Justizverfassung als dieses Gericht. In allen anderen Rechtssachen entscheiden gelehrte Richter, also Sachverständige, mit oder ohne Zuziehung von Laien. In den wichtigsten Sachen, in welchen es sich um die Freiheit und das Leben handelt, entscheiden nicht Sachverständige, sondern Laien, Ungelehrte. In allen anderen Sachen ist das Urteil zu motivieren, die Geschworenen entscheiden, ohne Gründe für ihre Sprüche angeben zu müssen, zu dürfen. Fast in allen anderen Sachen ist eine Berufung gegen den Spruch des Richters zulässig. Man erkennt es  mit Recht  als einen der größten Fehler der jetzigen Organisation an, daß gegen die Erkenntnisse der Strafkammern der Landgerichte Berufung ausgeschlossen ist und hat einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, welcher diese Berufung einführt. Gegen den Spruch der Geschworenen wird keine Berufung offengestellt.

Dennoch protestiert die Volksphantasie gegen die Beseitigung der Geschworenengerichte, insbesondere auch gegen deren Ersetzung durch große Schöffengerichte, d. h. durch Gerichte, welche aus Richtern und Laien zusammengesetzt sind. An dieser Stelle will man sich den Juristen nicht ergeben. Es mag dies zu bedauern sein. Aber man fürchtet die Statistenrolle, wie sie bei den  amtsgerichtlichen Schöffengerichten der von ungefähr berufene, nur vorübergehend funktionierende,  sachunkundige Laie gegenüber dem sachkundigen Richter häufig hat.



Welche Bedeutung hat nun aber endlich die Phantasie in der gelehrten  juristischen Wissenschaft  unserer Zeit?

Die notwendigsten Eigenschaften für die gelehrte Forschung sind Fleiß und Gründlichkeit in der Sammlung der Tatsachen, das unentbehrliche Handwerkszeug ist Methode, Logik und Kritik. Damit allein kann viel Nützliches geschaffen werden.

Einen höheren Aufschwung wird jedoch die Wissenschaft nur nehmen, eine neue Entwicklungsstufe betreten, wenn  große Gedanken die Einbildungskraft ihrer Jünger befruchten. 

Ohne Begeisterung, die aus der Phantasie stammt, hätten die Doktoren zu Bologna im 13. Jahrhundert nicht vermocht, sich das römische Recht, ein altgenanntes und doch verschollenes Gebiet - wie das Amerika der Konquistadores - zu eigen zu machen; wäre es den Lehrern der französischen historischen Schule im 16. Jahrhundert nicht gelungen, über das Römerrecht ein helles Licht zu verbreiten. Und die nüchterne Aufklärungsepoche der naturrechtlichen Schule, lag nicht auch ihr eine phantasievolle Hingebung zugrunde, welche einen THOMASIUS alle Widerwärtigkeiten mit der Energie eines Ritters und der Duldungsfähigkeit eines Märtyrers ertragen ließ!

Als seit Ende des vorigen Jahrhunderts zur Anerkennung kam, daß das Recht nicht eine willkürliche, bloß auf einem momentanen Nutzen gebaute Satzung bildet, daß es vielmehr ein Ergebnis der Geschichte des Volkes, eine Offenbarung seines Geistes sei, da erstanden die glänzenden Werke eines SAVIGNY und PUCHTA, da durchdrang neuer Lebensodem den Organismus des Rechts, da fügte sich die Entdeckung neuer Rechtsquellen.

Die jetzige Zeit wendet sich mehr von der Vergangenheit ab, sie versucht sich in Recht und Staat in neuen Gestaltungen. Dazu drängt die Entwicklung der Industrie, des Handels, des Weltverkehrs. Die neu hervortretenden Rechtsinstitutionen nötigen und reizen die Theoretiker, sie zu  konstruieren und zu systematisieren. 

Das ist aber auch überhaupt die Signatur der Wissenschaft geworden. Die nüchterne Betrachtung der Tatsachen, ihre Klassifizierung erscheint Vielen nicht bloß als wesentliche, sondern als einzige Aufgabe der Rechtswissenschaft. Von Manchen wird  Rechtsstatistik  in erster Linie der Wissenschaft empfohlen. In noch weit höherem Maß, als bereits geschieht, sollen die  Entscheidungen der Gerichte,  auch der  Untergerichte  gesammelt, gedruckt und systematisiert werden.

Die Methode der  Naturwissenschaften,  Beobachtung, Sammlung, Zerlegung, Vergleichung von Tatsachen gilt als die für das Recht allein maßgebende.

Allein ein altes arabisches Sprichwort, welches unser vielerfahrener, kunstsinniger  Reichspostmeister  anzuführen liebt, lautet:  "Ein Korn Geist wiegt schwerer als zwanzig Scheffel Zahlen." 

Unser Jahrhundert steht unter dem Stern der Naturwissenschaft. Auf dem Weg der Beobachtung und des Experiments hat diese der Natur ihre Geheimnisse abgelockt, ihre verborgenen Kräfte entdeckt und sich dienstbar gemacht.

Aber auch dies ist nicht bloß auf dem Weg der Beobachtung gelungen, befruchtet wurde sie erst durch die Einbildungskraft genialer Naturforscher. Hätte man ohne solche das Gesetz der Erhaltung der Kraft entdecken können?

Staunend steht der Menschengeist vor dem Errungenen und freudig geht er auf den eingeschlagenen Bahnen neuen Eroberungen entgegen.

Aber umsonst wird die Rechtswissenschaft hoffen, auf dem gangbaren Weg der Naturwissenschaft gleiche Ergebnisse zu gewinnen. Das hat unlängst auch Ihr geistvoller Mitbürger, mein Berufsgenosse und Freund, ADOLF EXNER in seinem mutigen Aufsatz "Über politische Bildung" überzeugend zur Anschauung gebracht.

Die Naturwissenschaft hat es zunächst mit  physischen Erscheinungen,  das Recht mit  Ideen  zu tun. Die  Zwecke  derjenigen Erscheinungen, welche den Gegenstand der Naturwissenschaften bilden, fallen  außerhalb der Grenzen naturwissenschaftlicher Betrachtung.  Die  Rechtswissenschaft  dagegen hat ihre Sätze zu prüfen und zu entwickeln  mit Rücksicht auf ihren Zweck. 

Die Frage des Zwecks aber liegt  außerhalb der Erfahrung hier sind Mächte bestimmend, welche nicht sichtbar sind. Fassen wir als den Zweck "soziale Gerechtigkeit"; so fragt es sich, worin sie besteht, wie sie zu erhalten ist, welche Mittel zu ihr führen. Da kommt in Betracht die Wertung der Persönlichkeit und ihr Verhältnis zur Gesamtheit, Freiheit und Autorität, natürliches Sein und physisches Bedürfnis und Sittlichkeit, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Das läßt sich nicht physisch messen, hier bedarf es der  Augen des Geistes,  der Phantasie und des Verstandes.

Mit gutem Grund allerdings dringt man auf eine Erweckung der  Anschauung  bei der Rechtslehre. Durch sie haben wir vor allem den Dogmatismus zu bekämpfen, der uns zu verstricken und niederzuziehen versucht. Traurig ist es, wenn das Rechtsstudium in nichts anderem besteht, als im Erlernen von gesetzlichen Regeln und Gesetzesdaten, wenn Lehrern und Schülern die Rechtswissenschaft zu einer Art Herbarium wird, in welchem fast- und kraftlose Pflanzenreste klassifiziert werden. So gewonnenes Wissen ist wertlos, vielleicht geradezu  schädlich,  da es tot ist, und die unbefangene Auffassung der Lebensverhältnisse trübt. Es ist die elementarste Anforderung, daß der Lernende so ausgebildet wird, daß ihm bei jeder Regel sofort auch deren Wirkung, daß ihm mindestens ein Fall vor Augen steht. Wenn der Studierende hört, daß der Kauf einer nicht existierenden Sache nichtig ist, so muß ihm seine Phantasie sofort einen Fall vorführen, ein Faß Wein, über welches die Parteien im Geschäftslokal handeln, während dasselbe eben im Keller ausgelaufen ist, oder ein Pferd, welches im Wirtshaus verkauft wird, während dasselbe unter seinem Reiter gefallen und verendet war, oder ein Haus, über dessen Verkauf  Schulze  mit  Müller  einig wird, während die Nachricht unterwegs ist, daß es ein Brand in Asche gelegt hat.

Der  Studierende muß juristisch fabulieren lernen,  darauf müssen die systematischen Vorlesungen hinwirken. Dem dienen die  Pandektenpraktika,  welche sich immer mehr einbürgern. Eine neue Förderung erfuhr diese Richtung durch eine von einem hochstehenden Praktiker und Gelehrten gehaltene Art von  juristischer Klinik,  in welcher lahme richterliche Eidesauflagen, geschwollene Erkenntnisse, skrofulöse [geschwürartige - wp] Berufungen untersucht und die Heilmittel für solche Gebrechen angegeben wurden. Eine höchst verdienstliche und belehrende Sache.

Aber  ein schwerer Irrtum wäre es, wenn man die Wissenschaft und ihre Lehren aufgehen lassen wollte in reproduktiver Phantasie, d. h. in der Kunst, die feststehenden Regeln sich zu versinnlichen. 

Zum Juristen gehört noch  anderes, der Sinn für Gerechtigkeit Und diese Eigenschaft wurzelt in der Phantasie und im Gemüt. Wo die Gelehrsamkeit diese lebendige Quelle verschüttet, da ist die Gelehrtheit wenig nutzbar, da herrscht tote Buchstabenjurisprudenz. Wenn uns nicht ein warmes Gefühl für Recht und für das Wohl des Volkes und des Staates das Verständnis der Gesetze erhellt, so bleibt uns ihr Sinn verschlossen. Denn  die Gesetze sind nur Bruchstücke, erst durch die Idee der Gerechtigkeit fügen sie sich zum Ganzen. 



Ich fasse nun zum Schluß meine Ausführungen zusammen. Der moderne Staat hat den fortschreitenden Bedürfnissen, den neu hervortretenden Aufgaben, den allgemeinen Anschauungen der Zeit auch in der Bildung seines Rechts Genüge zu leisten. Aber er soll daneben die  Phantasie des Volkes pflegen und ehren. Denn in ihr liegt der Grund, in welchem das Recht fest wurzelt und aus welchem heraus es von innen wachsen muß. 
    Ohne Anschauung und Phantasie können Gesetzgebung und Wissenschaft ihre Ziele nicht erreichen.

    Nur aus dem Zusammenwirken von Verstand und Phantasie erwächst die Harmonie, in welcher Wirklichkeit und Ideal sich einen.
Manches mußte ich in meinem Vortrag berühren, vieles durfte ich nur andeuten, nichts konnte ich erschöpfen, deshalb muß ich Ihre Nachsicht erbitten.

Was aber hier nur in schwachen Umrissen gezeichnet wurde, wo könnte es eher Ergänzung und Ausführung finden, als im Sinne der Juristen Wiens, dessen Kunst- und Geistesleben durch die Phantasie seit Jahrhunderten vor allen anderen deutschen Städten verklärt wird.
LITERATUR Heinrich Dernburg, Die Phantasie im Recht, Berlin 1894