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FRITZ DEHNOW
Wesen und Wert
des Rechtsgefühls


"Wie alles intuitive Denken, funktioniert das Rechtsgefühl schneller und leichter als die diskursive Erwägung. Es tendiert auch dazu, das Richtige zu treffen. In dieser Hinsicht ist es jedoch, wie alles intuitive Denken, durchaus unzuverlässig: durch Lücken, Fehler und Unklarheiten in der Gedanken- und Assoziationskette sowie durch eine unvollständige und einseitige Berücksichtigung der in Betracht kommenden Momente führt es leicht zu falschen Resultaten."

Das Charakteristikum des Rechtsgefühls liegt nicht darin, daß es Rechtssätze besonderen Inhalts postuliert. Das Rechtsgefühl hat die Menschheit zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes gelehrt. Es lehrt auch heute die verschiedenen Völker Verschiedenes. In unserer Rechtswissenschaft berufen sich bei Kontroversen die Vertreter entgegengesetzter Ansichten auf das Rechtsgefühl. Den Gegnern, die einander im Prozeß gegenüberstehen, läßt ihr Rechtsgefühl entgegengesetzte Entscheidungen als gerecht erscheinen. Man würde aber nicht sagen können, daß deshalb manche Völker kein wirkliches Rechtsgefühl besessen hätten, oder daß ein Teil der Bearbeiter einer Streitfrage oder der eine Prozessant eines wirklichen Rechtsgefühls ermangelt. Es ergibt sich hieraus vielmehr gegenteilig, daß es ein Rechtsgefühl von objektivem Inhalt nicht gibt. Damit entfällt zugleich eine Hauptstütze naturrechtlicher Anschauungen, welche im Rechtsgefühl die sichere Erkenntnisquelle eines objektiven Idealrechts erblickten.

Es ist auch nicht richtig, daß die Besonderheit des Rechtsgefühls darin liegen soll, daß es Rechtssätze  als richtig  postuliert. Denn das Rechtsgefühl diktiert Entscheidungen auch als lediglich den Sätzen des positiven Rechts entsprechend, ohne daß wir die letzteren dabei als zweckmäßig zu empfinden brauchen.

Es bezieht sich auf das Recht im vollen Umfang des Begriffs, insbesondere sowohl auf abstrakte Normen wie auf Einzelentscheidungen sowie auf sämtliche Disziplinen des Rechts.

Unzweifelhaft ist beim Rechtsgefühl, daß es ein psychischer Inhalt ist, der zur Aufstellung eines rechtlichen Ausspruches veranlaßt. Diese Eigenschaft hat es mit rechtlichen Erwägungen gemeinsam. Es unterscheidet sich von solchen darin, daß es intuitiv, eine rechtliche Erwägung dagegen diskursiv ist. Das Rechtsgefühl ist mithin die Intuition eines rechtlichen Ausspruchs. Man kann es beim Terminus  Intuition an den sich heute unwissenschaftliche Anschauungen kaum noch knüpfen, belassen, oder auch genauer etwa sagen: Von Rechtsgefühl sprechen wir bei der Herleitung eines rechtlichen Ausspruches, wenn der Gang der Herleitung uns nicht klar bewußt ist. Die früher mit Vorliebe erörterte Frage, ob das Rechtsgefühl Gefühl oder Gedanke oder Wille sei, kommt, nachdem die Anschauung von der Ausschließlichkeit der drei Vermögen fallen gelassen worden ist, als Problem nicht mehr in Betracht. -

Die für die Beurteilung des Wertes des Rechtsgefühls entscheidenden Momente ergeben sich aus der vorstehenden Begriffsbestimmung des Rechtsgefühls ohne weiteres. Wie alles intuitive Denken, funktioniert das Rechtsgefühl schneller und leichter als die diskursive Erwägung. Es tendiert auch dazu, das Richtige zu treffen. In dieser Hinsicht ist es jedoch, wie alles intuitive Denken, durchaus unzuverlässig: durch Lücken, Fehler und Unklarheiten in der Gedanken- und Assoziationskette sowie durch eine unvollständige und einseitige Berücksichtigung der in Betracht kommenden Momente führt es leicht zu falschen Resultaten. Besonders beim Rechtsgefühl der Allgemeinheit, dem früher als dem "Rechtsgefühl des Volkes" eine besondere Autorität zugeschrieben wurde, spielen diese Fehlerquellen mit Rücksicht darauf, daß die Träger dieses Rechtsgefühls einer guten gedanklichen Schulung entbehren und daß nur ein kleiner Teil der für die Rechtsetzung erheblichen Momente in ihrem Gesichtskreis liegt, eine große Rolle.

Der Wert des Rechtsgefühls liegt demnach darin, daß es schnell und leicht einen Fingerzeigt gibt; nicht darin, daß es die Richtigkeit der postulierten Ansicht gewährte. In letzterer Hinsicht ist vielmehr nur zu sagen: ein vom Rechtsgefühl postulierter rechtlicher Ausspruch ist dann zutreffend, wenn das zugrunde liegende Rechtsgefühl sich in eine einwandfreie Erwägung auflösen läßt, mit anderen Worten: dann, wenn das Rechtsgefühl nicht  nur  Rechtsgefühl ist. Eine hinreichende Rechtfertigung für eine rechtliche Ansicht bedeutet mithin die bloße Berufung auf das Rechtsgefühl nicht. Auf dem Gebiet wissenschaftlicher Erörterung ist die Berufung auf das Rechtsgefühl schon wegen des indiskutablen Charakters des letzteren unbrauchbar.

Das Rechtsgefühl büßt an Würde und an einer ihm vielfach zugeschriebenen, aber niemals recht erklärten unantastbaren Autorität nach der im Vorstehenden gekennzeichnet Auffassung ein. Nach ihr sind "angeborene Fähigkeiten" beim Rechtsgefühl nicht mehr und nicht weniger anzuerkennen als bei der intuitiven Gewinnung jeder beliebigen anderen Erkenntnis. - Die Anschauungen vom Rechtsgefühl haben sich auch in letzter Zeit im allgemeinen wesentlich ernüchtert. Immerhin wird noch sehr vielfach, von philsophischer Seite auf dem Gebiet der Ethik, von juristischer Seite in der allgemeinen Rechtslehre und in den allgemeinen Teilen der einzelnen Rechtsdisziplinen, dem Rechtsgefühl eine ihm nicht gebührende Bedeutung zugeschrieben.
LITERATUR Fritz Dehnow, Wesen und Wert des Rechtsgefühls, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge der "Philosophischen Monatshefte", Bd. 20, Berlin 1914