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FELIX DAHN
(1834-1912)
Über den Begriff des Rechts

"Der Verbrecher hat sich selbst durch seine Tat außerhalb des Friedens gestellt: er wird friedlos, er darf jetzt von jedermann getötet, gefangen werden, wie das schädliche, reißende Tier des Waldes, wie der Wolf, der das häufigste, den Herden gefährlichste Raubtier jener Zeiten, jener Wälder war. Eben deshalb hieß der Friedlose der Wolf. Und eben deshalb wird der Rechtsbruch als solcher dargestellt in der Gestalt eines riesigen Wolfes: des Fenriswolfes der Edda, jenes Ungeheuers, das nicht durch natürliche Bande zu fesseln war, nur durch ein unsichtbares Netz, das, aus unkörperlichen Fäden gewoben, den Verbrecher unabschüttelbar festhält. Dieses unsichtbare, ideale Netz, - es ist das Recht."

"Friede ist nicht gleichbedeutend mit bloßer Ruhe: nicht irgendeine beliebige Ruhe, sondern durch die Anerkennung und den Schutzwillen der Lebensgenossen gesicherte vernunftbefriedigende Ruhe wird durch das Recht gewährt."

"Die Erfordernis des Vernunft-Befriedigenden ist es, was das Ideale im Recht enthält, darauf ist schwerster Nachdruck zu legen; dies ist das Merkmal, welches das Recht mit der Sittlichkeit, der Religion, der Kunst, der Wissenschaft als eine ebenbürtige Schwester auf die gleiche Stufe stellt. Dies ist der Adelsbrief des Rechts. Oder richtiger noch sein Freiheitsbrief: denn nur durch diese Auffassung wird das Recht freigelassen aus der unwürdigen Stellung einer Magd, die lediglich als Mittel zum Zweck der Sittlichkeit oder gar nur dem äußerlichen wirtschaftlichen Nutzen dient."

"Gar viele Juristen, aber auch materialistische Philosophen, sind zu einer gar öden, geist- und würdelosen Auffassung von Recht und Staat gelangt, zu einem kläglichen Utilitarismus, einer Alleinanbetung des Nutzens, die den Zusammenhang des Rechts mit den übrigen Gebieten des menschlichen Geisteslebens völlig unbeachtet läßt und alles Ideale aus Recht und Staat verbannt; gelangte ich je zu einer so weihelosen Vorstellung vom Recht, - ich hörte in derselben Stunde auf, Jurist zu sein."

"Und die Moral? Worin unterscheidet sie sich von, worin berührt sie sich mit dem Recht? Sie berühren sich darin, daß auch die Moral eine vernunftgeforderte Friedensordnung ist, aber eben nicht der äußeren Beziehungen, sondern der inneren Beziehungen unter den Menschen, d. h. der Gesinnungen, der Beweggründe, der Maximen. Daraus folgt, daß es das Recht überwiegend mit den Handlungen, die Moral überwiegend mit den Gesinnungen und Triebfedern zu tun hat."


I.

Wir wollen heute den Begriff des Rechts erörtern.

Bei der großen Zahl von Nicht-Juristen, die wir zu dieser festlichen Stunde als Gäste hier begrüßen dürfen, mag es vielleicht wenig geeignet erscheinen, wählt der Redner bei einem solchen Anlaß einen juristische Gegenstand. Allein nähere Betrachtung wird zeigen, daß die Wahl doch nicht unberechtigt ist. Denn man darf behaupten, eine gelinde Unterweisung der Laien auf diesem Boden ist ersprießlicher, notwendiger als auf manch anderen Gebiet. Auch nicht akademisch Geschulte - z. B. Frauen und Mädchen - haben klarere, richtigere Vorstellungen vom Wesen der Religion und den Aufgaben der Theologie, vom Beruf der Heilwissenschaft, der Geschichts- und Sprachwissenschaft als von Recht und Rechtswissenschaft. Nur bezüglich der Philosophie etwa such die Nicht-Eingeweihten häufig wohl auch "in Nebeln ihren Weg".

Recht und Staat - wahrlich, es ist der Mühe wert, einiges von ihrem Wesen zu wissen. Machen sie doch seit Jahrtausenden bis heute ziemlich viel Lärm in der Welt; mit Trompeten und Kanonen verkünden sie laut und schmetternd und krachend ihr Dasein. Welche Opfer an Geld, an Zeit, an Blut und Leben legen sie der Volkswirtschaft, der Familie, den Einzelnen auf! Da mag der Laie füglich fragen: "Muß denn das so sein? Sind Recht und Staat dieser gewaltigen Leistungen wert? Sind diese Einrichtungen nicht durch anspruchslosere zu ersetzen? Sind sie nicht vielleicht nur Notbehelfe einer noch niedrigen Entwicklungsstufe, auf freieren Bildungshöhen entbehrlich?"

Solche Fragen werden nicht erst heute von gewissen, wenig erfreulichen Leuten aufgeworfen und mit einem mehr lärmenden als überzeugenden "Ja" beantwortet. Auch früher schon tief gebildete und hoch angelegte Geister zu solchen Anschauungen gelangt, so z. B. FICHTE; er wollte, der "Notstaat" des Rechts solle sich im Fortschritt der Menschheit auflösen in den Kulturstaat: als ob es einen Staat, also einen Rechtsbegriff, geben könne ohne Recht! Aber nicht bloß Laien tut solche Erörterung not, - auch gar vielen, vielen, die sich stolz Juristen nennen. Die Rechtsphilosophie ist das Aschenbrödel unter den Töchtern der juristischen Gesamtmutter und nur selten erscheint die hilfreiche Fee, ihr einen treu werbenden Märchenprinzien zuzuführen; es gibt eben unter unseren Rechtsstudenten, wie es scheinen will, nicht gar viele Märchenprinzen.

Übrigens würde die Rechtsgeschichte diese Zurücksetzung teilen, käme ihr nicht der unaussprechliche Vorzug zu, daß sie - Prüfungsgegenstand ist. Darauf kommt nämlich alles an. Nicht für die Wissenschaft, nicht für ihre geistige Befriedigung und Vertiefung arbeiten viele unserer Rechtsstudierenden, sondern für die leidige Prüfung. Nicht nur die Kunst, auch die Wissenschaft "geht heutzutage nach Brot".

So kommt es dann, daß gar viele Juristen stecken bleiben in der Überfülle von Einzelheiten des Stoffes, den sie sich nicht in der viel zu knapp bemessenen Zeit des Rechtsstudiums in Preußen geistig und innerlich aneignen, nur auswendig lernen und sich von Trichter-Leuten eintrichtern lassen können. Jene preußische Studienordnung mit ihren sechs Halbjahren stammt aus einer Zeit, da eine ganze Reihe von Vorlesungen noch gar nicht gehalte war, wie Handelsrecht, preußisches und deutsches Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht und andere mehr. So geschieht es, daß mancher Jurist, der ein ganz brauchbarer "Routinier" der Praxis geworden ist und ohne erhebliche Fehler eine Menge von Registraturfächern jahraus jahrein mit erledigten Akten füllt, sich noch niemals die Frage aufgeworfen, geschweige denn beantwortet hat, warum der denn eigentlich auf der Welt ist, d. h. als Jurist und wie die Göttin beschaffen ist, der er dient? Es wird daher auch manchen Juristen nicht schaden, wird er veranlaßt, sich Fragen vorzulegen, die freilich weder die Konkursordnung noch das Zwangsversteigerungsgesetz entscheiden.


II.

Werfen wir nun die Frage auf: was ist das Recht? so wäre die einzig wissenschaftliche Weise der Untersuchung die des Historismus, die geschichtliche: das heißt wir hätten als Vorschulung für die Feststellung unserer Begriffe zu erforschen, wie im Fortschritt der Entwicklung nicht etwa bloß Philosophen und Juristen, lange vor ihnen die Völker selbst über das Recht gedacht haben. Allein auf diesem Wege würden wir heute und hier nicht einmal bis zu dem großen Denker gelangen, der die Grundlage wissenschaftlicher Rechtsphilosophie für alle Zeiten gelegt hat, ARISTOTELES, der uns eine Weisheit gelehrt hat, die spätere - und auch die jüngsten Weltweisen wieder - zu ihrem schweren Schaden vergessen haben oder zu bestreiten sich vergeblich erhitzen. Wir gehen deshalb heute - ausnahmsweise - nicht geschichtlich zu Werke, sondern stellen umgekehrt die Begriffsbestimmung des Rechts an die Spitze. Diese Bestimmung wird den verehrten Hörerinnen und Hörern freilich zunächst gar nichts sagen, sie ist ihnen vorläufig nur "ein tönendes Erz und eine klingende Schelle". Der Sinn der einzelnen Begriffsmerkmale muß erst klar gemacht werden. Aber andererseits soll ein wackere Begriffsbestimmung das ganze System zusammengefaßt enthalten: sie muß das bieten, daß man aus ihr alles Wesentliche herausschöpfen kann, so daß alle folgenden Vorlesungsstunden nur zu erläutern haben, was die Begriffsbestimmung bedeutet; freilich kann man nichts herausholen an Gedanken, was man nicht vorher hineingelegt hat, "hinein geheimnist", würde GOETHE sagen.


III.

Wir behaupten also: "das Recht ist die vernunftgeforderte Friedensordnung einer Menschengenossenschaft in ihren äußeren Beziehungen zu den Menschen und den Sachen."

Das Begriffsmerkmal der "Ordnung" wird wohl nirgends auf Widerspruch stoßen. Daß das Recht eine "Ordnung" ist, Ordnung schaffen will, ist unter Juristen unbestritten und wird auch den Laien ohne weiteres einleuchten: das Recht ist eine Lebensform für einen Lebensinhalt.

Aber freilich, gleich hier begegnet die Frage: eine Ordnung von was? Eine Form für welchen Inhalt? Denn eine Ordnung ist z. B. auch die Harmonielehre in der Musik, eine Ordnung bilden die Regeln des edlen Schachspiels, Ordnungen stellt auch die Sittlichkeit, die Kunst, die Religion auf; die Kirche ist auch eine Lebensform für einen Lebensinhalt. Es frägt sich nur, was hat das Recht, was haben die anderen Gebiete zu "ordnen"? Über diese Grenzzweifel ist nicht nur mit Worten und Tinte, ist gar oft mit Waffen und Blut gestritten worden.


IV.

Das zweite Merkmal, "Friedensordnung", führt uns der Entscheidung solcher Zweifel schon näher. Dieser ehrwürdige Begriff ist dem germanischen Rechtsgedanken entnommen. Nach germanischer Grundanschauung vom Recht hat das Recht den Frieden zu schützen: wer das Recht bricht, bricht den Frieden, wer den Frieden bricht, bricht das Recht; der Zweck des Rechts ist Friede, der Friede aber ist der Inbegriff der von den Rechtsgenossen als schutzwürdig anerkannten Lebensverhältnisse. Der "Verbrecher" ist es, der diesen Frieden bricht: d. h. durch seine Tat zu brechen versucht, die "Maxime seiner Handlungsweise", würde KANT sagen, ist unvereinbar mit dem Bestand des Rechts.

Hieran knüpft sich eine tiefsinnige und feinsinnige Auffassung des germanischen Rechts vom Wesen des Verbrechens und der Strafe, so zugespitzt dialektisch, wie sie HEGEL nicht schärfer hätte ausdisteln mögen. Der Verbrecher wollte durch seine Tat das Recht aufheben, er handelte so, als ob z. B. die Tötung nicht vom Recht verboten wäre. Nun ist selbstverständlich der Einzelne in seiner Selbstsucht viel zu schwach, das Recht objektiv aufzuheben, aber subjektiv - gegen ihn selbst gerichtet - tritt die Wirkung seiner Handlungsweise ein: die "Maxime seiner Handlung" wendet sich mit dialektischer Notwendigkeit gegen ihn. Er wird nun so behandelt, als ob es wirklich kein Recht, keine alle schützende Friedensordnung gäbe: am eigenen Leib soll er die Folgerungen seiner Tat verspüren; für die anderen besteht der von ihm angetastete Friedensschutz fort, aber  er  hat sich selbst durch seine Tat außerhalb des Friedens gestellt: er wird "friedlos", er darf jetzt von jedermann getötet, gefangen werden, wie das schädliche, reißende Tier des Waldes, wie der Wolf, der das häufigste, den Herden gefährlichste Raubtier jener Zeiten, jener Wälder war.

Eben deshalb hieß der Friedlose "der Wolf": gotisch  vargs,  altnordisch  vargr  ("vargr i veum", der Wolf im Weihtum). Und eben deshalb wird der Rechtsbruch als solcher dargestellt in der Gestalt eines riesigen Wolfes: des Fenriswolfes der Edda, jenes Ungeheuers, das nicht durch natürliche Bande zu fesseln war, nur durch ein  unsichtbares  Netz, das, aus unkörperlichen Fäden gewoben, den Verbrecher unabschüttelbar festhält. Dieses unsichtbare, ideale Netz, - es ist das Recht. Und weil der Fenriswolf die Verneinung, die Zerstörung aller geistigen Friedensordnung im All bedeutet, tritt die Götterdämmerung dann ein, wenn er sich losreißt. Und weil ODIN als Allvater, als Gott des Geistes auch der des Rechts, jene Ordnung schützt, ist es gerade der Fenriswolf, der ihn, wenn alle Ordnung stürzt, verschlingt. Die Gleichung "Wolf" und "friedlos" wurzelte - wie schon jene beiden früh getrennten germanischen Sprachen, die nord- und die ostgermanische, beweisen - so tief in der Volksseele aller Germanen, also auch der Westgermanen, d. h. der späteren Deutschen, daß sie noch ganz spät - lange nach ihrer Verchristlichung - ihren Ausdruck findet. Dem Fenriswolf war nach seiner Fesselung ein Schwert zwischen die beiden Kiefer gezwängt worden: das Verbrechen muß zuletzt mit überlegener Waffengewalt unschädlich gemacht werden; daher stellen noch die Bilder zum Sachsenspiegel, die frühestens zu Ende des 14. Jahrhunderts entstanden sind, den friedlos gelegten Verbrecher als einen Mann dar, aber statt mit einem Menschenkopf mit einem Wolfsrachen, dem ein Schwert zwischen beide Kiefer gezwängt ist. Das kann nicht Entlehnung aus der in Deutschland damals völlig unbekannten Edda, muß germanische Urgemeinschaft der Anschauung sein.


V.

Friede ist nicht gleichbedeutend mit bloßer "Ruhe": nicht irgendeine beliebige Ruhe, sondern durch die Anerkennung und den Schutzwillen der Lebensgenossen gesicherte vernunftbefriedigende Ruhe wird durch das Recht gewährt.

Dies leitet uns von selbst zu einem weiteren Merkmal unserer Begriffsbestimmung: vernunftgeforderte Friedensordnung. Denn, wie gesagt, nicht die bloße Ruhe ansich, nicht jede "Ordnung" irgendwelcher Art nennen wir Recht. Nehmen wir an, ein Schiff ist von Seeräubern genommen, die Besatzung ist entwaffnet, unter Deck gebracht, jeder Versuch, heraufzusteigen ist mit dem Tod bedroht und die Seeräuber haben wiederholt gezeigt, daß sie stark genug sind, diese von ihnen gesetzte "Ordnung" aufrechtzuerhalten: sie haben mehrere Matrosen, die sich herauf wagten, erschossen, nun herrscht "Ruhe". Auch der Zustand auf diesem Schiff ist eine gesicherte "Ordnung", aber nicht "Recht"; warum? weil wir wie die Beteiligten selbst sie nicht als eine "vernunftgemäße" anerkennen.

Dieses Erfordernis des Vernunft-Befriedigenden ist es nun, was das Ideale im Recht enthält, darauf ist schwerster Nachdruck zu legen; dies ist das Merkmal, welches das Recht mit der Sittlichkeit, der Religion, der Kunst, der Wissenschaft als eine ebenbürtige Schwester auf die gleiche Stufe stellt. Dies ist der Adelsbrief des Rechts. Oder richtiger noch sein Freiheitsbrief: denn nur durch diese Auffassung wird das Recht freigelassen aus der unwürdigen Stellung einer Magd, die lediglich als Mittel zum Zweck der Sittlichkeit oder gar nur dem äußerlichen wirtschaftlichen Nutzen dient. Nur diese Auffassung ist eine wissenschaftliche, eine philosophische. Denn wir müssen die einseitigen Herren Juristen doch daran gemahnen, daß nicht nur von der Seite des Rechts, auch von der der Philosophie her der Menschengeist mit Notwendigkeit dahin gezwungen wird, die Prinzipien des Rechts zu suchen. "Prinzipien suchen" aber heißt eben philosophieren. Die Rechtsphilosophie ist so notwendig wie das Strafrecht oder der Zivilprozeß. Und es ist das traurige Geschick der Rechtsphilosophie gewesen, daß sie so häufig, ja, fast ausnahmslos einseitig behandelt worden ist: einseitig von den Herren Philosophen, die den Rechtsstoff nicht beherrschten und im Nebel herumphilosophierten "nova canentes carmina" [ein neues Lied singen - wp], einseitig aber auch von den Juristen, die zuweilen auf diesem Gebiet ersten Ranges - wie JEHRING - von philosophischer Anlage und Schulung nicht die Spur eines Schattens, eines Scheins hatten. So sind denn gar viele Juristen, aber auch materialistische Philosophen zu einer gar öden, geist- und würdelosen Auffassung von Recht und Staat gelangt, zu einem kläglichen Utilitarismus, einer "Alleinanbetung des Nutzens", die den Zusammenhang des Rechts mit den übrigen Gebieten des menschlichen Geisteslebens völlig unbeachtet läßt und alles Ideale aus Recht und Staat verbannt; gelangte ich je zu einer so weihelosen Vorstellung vom Recht, - ich hörte in derselben Stunde auf, Jurist zu sein. Und vollends der Staat! Er wird zu einer Versicherungsanstalt herabgewürdigt, Begeisterung für den Staat, Patriotismus sind dabei ausgeschlossen. Warum man sich für eine solche Anstalt, die Schwester einer Viehsterbeversicherungsgesellschaft, soll totschießen lassen, ist unerfindlich.

Schon die Begriffsbestimmung CICEROs vom Staat entbehrt jenes idealten Gehaltes. Der Staat ist ihm ein "Verband von Menschen, vereint durch übereinstimmendes Recht und gemeinsamen Nutzen": "coetus hominum juris consensu et utilitas communione". Das paßt vortrefflich auf eine - Aktiengesellschaft, etwa zur Düngerbereitung: der  coetus hominum  ist die Generalversammlung,  juris consensus  ist das Statut und  utilitas communio  die geliebte Dividende aus dem Dünger, die "non olet" [nicht stinkt - wp]. Diese unwürdige Auffassung des Rechts hebt ferner jeden Unterschied zwischen dem Staat und einer gut eingerichteten Räuberbande auf: ja, wenn Recht und Staat nur den Inhalt haben, den Nutzen der Schwachen durch Gemeinschaft zu fördern, so kann es der Staat keinem Starken verdenken, der erklärt, auf diesen Nutzen und Schutz zu verzichten und gegen solche Staatsverbände sich auf seine eigene Kraft zu stützen. "Das Recht brechen zu dürfen, ist ein Vorzug des Starken", lehrten in diesem Sinn die Sophisten. Der Raubritter auf seiner sicheren Burg, der Seeräuber auf seinem raschen Schiff steht dann, dem Recht trotzend, auf Schutz verzichtend, des Todes im Unglücksfall gewärtig, dem Staat völlig gleichberechtigt gegenüber. Und das Gesetz? - "Ich pfeife auf das Gesetz!" sprach ja bereits im Deutschen Reichstag ein sozialdemokratischer Staatsmann, der aber mehr musikalisch als staatsmännisch angelegt schien. In der Tat, das Gesetz verliert seine Würde, falls es nur als ein Maulkorb gilt oder als eine Fußfessel.


VI.

Gewiß leugnen wir nicht das praktische Bedürfnis als die eine der beiden Wurzeln von Recht und Staat; aber diese Lebensversicherung durch Lebensgemeinschaft, der sogenannte Geselligkeitstrieb allein "tuts freilich nicht", wie LUTHER vom Taufwasser sagt; jenen Geselligkeitstrieb und das gemeinsame Leben und Arbeiten haben auch Bienen, Ameisen und andere Tiere - warum kommen sie nicht zu Recht und Staat? Denn vom Strafrecht der Ameisen und dem Königtum der Bienen zu sprechen, ist doch ein kindischer Mißbrauch der Sprache. Die Tiere kommen, trotz jener auch bei ihnen treibenden realen Wurzel des Bedürfnisses, nicht zu Recht und Staat, weil ihnen mit der Vernunft die andere, die ideale Wurzel fehlt: neben der realen äußeren Not die ideale innere Vernunftnotwendigkeit. Der Mensch dagegen hat wie einen Sprachtrieb, Familientrieb, Kunsttrieb, Moraltrieb, Religionstrieb, Wissenstrieb wie auch einen Rechts- und Staatstrieb, d. h. es ist ein Bedürfnis des menschlichen Geistes, die äußeren Beziehungen zu den Menschen und zur Sachenwelt geordnet zu gestalten, wie der Religionstrieb die unmittelbare Erfassung des Göttlichen, der Kunsttrieb die Darstellung des Schönen, der Wissenstrieb die erklärende Unterordnung der Einzelerscheinung unter den Begriff erheischt.

Die Befriedigung jenes Bedürfnisses ist das Recht.

So ist also das Recht nicht, wie die theokratische Auffassung SANKT AUGUSTINs verkündet und das Mittelalter geglaubt hat, ja auch noch heute eine gewisse Schule lehrt, ein notwendiges Übel, die beklagenswerte Folge des Sündenfalls - im Paradies gab es allerdings weder Richter noch Parteien und nur  einen  Advokaten, seine Robe war eine Schlangenhaut! - nicht eine leidige Krücke, deren die erkrankte Menschheit bedarf, die sie aber fortwerfen wird bei ihrer Gesundung am jüngsten Tage, da Staat und Recht untergehen werden zugleich mit dem Teufel: vielmehr ist uns das Recht ein notwendiges Gut der menschlichen Vernunft, so wohltätig, so unentbehrlich, so wesentlich menschlich wie die Sprache, die Kunst, die Religion, die Sittlichkeit und das Wissen.


VII.

Man wende nicht ein: "wie kann das Recht ein Gut der Vernunft, wie kann es vernunftgefordert sein, da es doch auch viele unvernünftige Gesetze und Rechtssätze gegeben hat und noch gibt?" Gewiß! Aber so wie es in der Kunst, die das Schöne gestalten will, verunglückte Versuche gibt, die eine höhere Entwicklungsstufe unsittlich schilt, z. B. die Blutrache, wie es religiöse Gebräuche gibt, die uns als geradezu irreligiös, als Versündigung gegen Gott erscheinen, wie gewisse asiatische Kultgebote, so gibt es auch Gesetze, die von Anfang an verunglückte, unzweckmäßige Versuche der Rechtsgestaltung sind, z. B. zahlreiche Sätze des Entwurfes eines römischen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, wonach eine Balletttänzerin tanzen soll "mit der Sorgfalt eines ordentlichen Hausvaters."

Viel häufiger aber liegt die Sache anders: zu der Zeit und unter den Voraussetzungen ihrer Entstehung waren solche Einrichtungen zweckmäßig, gerecht, in der Billigkeit begründet und Vernunft war erst Unsinn, Wohltat war erst Plage, indem man die alten Vorschriften aufrecht hielt, nachdem die sie begründeten Verhältnisse sich völlig geändert hatten. Der Zunftzwang war im 14. Jahrhundert begründet und zweckmäßig, die Befreiung der Ritter und Rittergüter von den Steuern war gerecht, was selbstverständlich, so lange diese Steuern ein Entgelt für die Befreiung vom Kriegsdienst waren, den die Ritter leisteten, die zu Hause bleibenden Bauern nicht; höchst unvernünftig und ungerecht war dieses Steuerprivileg erst dann, als umgekehrt die Bauern der Zwangsaushebung unterworfen wurden, die Ritter nicht und diese auch nicht mehr die Vasallen-Heerfahrt leisteten.


VIII.

Dazu tritt nun aber - und dieser Gedanke leitet uns zu einem weiteren Merkmal unseres Rechtsbegriffs hinüher - daß die Rechtsideale wechseln wie die sittlichen, künstlerischen, religiösen. Wir sagten, das Recht ist die Friedensordnung  einer  Menschengenossenschaft, d. h. nicht der ganzen Menschheit, sondern je einer, einer einzelnen. Es gibt also kein Naturrecht, kein allgemeines Menschheitsrecht, unabänderlich für alle Völker und Zeiten. Nur die Idee und der Trieb des Rechts sind gemein menschlich, aber die Färbung, die Gestaltung des Rechts ist wechselnd, ist bedingt durch den Volkscharakter und die Volksgeschichte, also durch Vererbung und Anpassung: denn die großen DARWINschen Gedanken sind auch auf dem Gebiet von Recht und Staat wie auf den übrigen des menschlichen Geisteslebens vollständig durchführbar, ja unabweisbar. Ist es doch mit Sprache, Sitte, Kunst nicht anders; ihre Gestaltung in jedem Volk und zu jeder Zeit sind bedingt erstens von der Volksseele und zweitens vom Inbegriff der geschichtlichen Voraussetzungen, die in Raum und Zeit auf diese Seele wirkten und wirken.


IX.

Aber nicht nur  für  Menschen, auch  von  Menschen, ist das Recht im Ganzen und sind die einzelnen Rechtsinstitute geschaffen; nur in den Kindheitszeichen der Völker, auf der Stufe der Unmittelbarkeit, werden das Recht, der Staat oder einzelne Rechtsgebilde: die Monarchie, die Todesstrafe, das Sondereigen [gesondertes Privateigentum - wp] am Acker auf göttliche Einsetzung oder Offenbarung zurückgeführt, wie ja in den Tagen der Vorkultur ganz allgemein Recht, Sittlichkeit, Religion, auch Poesie, noch ungeschieden ineinander verwickelt, die Volksseele füllen. Aber gerade in der Lösung dieser Verwicklung - in der  Entwicklung,  wie unsere Sprache tiefsinnig sagt - liegt der Geistesfortschritt. Die letzten Merkmale unserer Begriffsbestimmung bezwecken daher, das Rechtsgebiet von jenen beiden benachbarten scharf abzugrenzen, mit denen es - zum schwersten Schaden von allen dreien - von Anbeginn der Geschichte durcheinander gemengt worden ist, nämlich einerseits mit der Religion und andererseits mit der Sittlichkeit; nur die allerwenigsten Rechtsphilosophen von PYTHAGORAS bis JEHRING haben die Selbständigkeit des Rechts neben dem Sittlichen genügend erfaßt und auch manche der jüngsten Bücher über den Gegenstand tappen in kläglicher Unklarheit hierüber umher.

Selbstverständlich haben die drei Gebiete wichtige Berührungspunkte; schon deshalb, weil es, wie eine philosophische, so auch eine religiöse Moral gibt, die in der Vorkultur ja sogar die alleinige ist. Und weil andererseits der Moral auch auf dem Rechtsgebiet - nicht nur im Strafrecht, auch im bürgerlichen Recht mit seinen Unterscheidungen von Arglist, Sorgfalt wie in eigenen Angelegenheiten, grober und leichter Fahrlässigkeit - schwerwiegende Bedeutung zukommt. Gleichwohl möchte man glauben, daß Religion und Sittlichkeit einerseits und Recht und Staat andererseits miteinander gar nicht verquickt werden könnten, wenn nicht Jahrhunderte hindurch so viele Scheiterhaufen diese Möglichkeit als traurige geschichtliche Wirklichkeiten beleuchtet hätten. Glaubenszwang und Zwangsglaube haben gar oft die Religion mehr noch als den Staat geschädigt durch das scheußliche Laster der Heuchelei und eine vom Staat kommandierte Sittlichkeit ist die patentierte Unsittlichkeit.


X.

Was ist Religion? Das unmittelbare, nicht durch Reflexion, nicht durch Begriffsarbeit vermittelte Erfassen des Göttlichen im Glauben, im Gemüth, im Gefühl: - also ein rein Innerliches, das nur seinem Ausdruck nach in Kulthandlungen, in der gemeinschaftlichen Betätigung in das Äußerliche tritt. Die Religion ist Selbstzweck: sie ist durchaus nicht bloß Mittel zum Zweck der Moral, wie nicht nur der "Josephinismus" eines österreichischen Ministers des vorigen Jahrhunderts, SONNENFELS, wie noch vor ein paar Jahren ein preußischer Minister erklärt hat, der wörtlich sagte: "Wäre es nicht um der Moral willen, so brauchten wir überhaupt keine Religion." Das muß doch auf das äußerste befremden. Denn wahrlich eine viel höhere, würdigere Stellung weisen wir der Religioni zu und zwar ist sie uns heiliger Selbstzweck. Sie ist dem Menschen so durchaus notwendig, wie Sprache, Kunst, Moral, Recht und Wissen und auch die Philosophie kann und soll die Religion durchaus nicht ersetzen. Der so viel verlästerte Philosoph SPINOZA hatte ein so tiefes und starkes Religionsbedürfnis wie wenige Menschen; sehr mit Unrecht hat man ihm Atheismus, Gottesleugnung vorgeworfen, viel eher kann man bei ihm von Atomismus sprechen, von Weltleugnung. Das beseligende Gefühl, seinen Gott im Glauben, im Ahnen zu erfassen, kann durch die philosophierende Reflexion nicht ersetzt werden: - so wenig etwa die Wissenschaft den Kunsttrieb zu befriedigen vermag, so wenig das "menschliche Experiment" ZOLAs eine Dichtung ist. So hat also die Religion als das rein innerliche Verhältnis des Menschen zu seinem Gott gar nichts zu schaffen mit dem Recht, der Ordnung äußerer Beziehungen der Menschen zu Menschen und zu den Sachen, wie das ebenso erst jüngst ein so tief frommer und glühend gläubiger Mann wie Professor RUDOLF SOLM in Leipzig unter ausdrücklicher Verwerfung des Begriffs des "christlichen Staates" hervorgehoben hat.


XI.

Und die Moral? Worin unterscheidet sie sich von, worin berührt sie sich mit dem Recht? Sie berühren sich darin, daß auch die Moral eine vernunftgeforderte Friedensordnung ist, aber eben nicht der äußeren Beziehungen, sondern der inneren Beziehungen unter den Menschen, d. h. der Gesinnungen, der Beweggründe, der Maximen (nach KANT). Daraus folgt, daß es das Recht überwiegend mit den Handlungen, die Moral überwiegend mit den Gesinnungen und Triebfedern zu tun hat.

Überwiegend  sagen wir, wohlverstanden!

Denn weder ist die Gesinnug für das Recht noch die Handlung für die Sittlichkeit gleichgültig. Auch das Recht frägt nach der Gesinnung, wie wir sahen und zwar das bürgerliche wie das Strafrecht: wir strafen den Mörder schwerer als den Totschläger, wir unterscheiden Arglist - den "rechtswidrigen Vorsatz" - und die verschiedenen Stufen der Fahrlässigkeit, wird unterscheiden um der Gesinnung willen entehrende Verbrechen, wie Diebstahl, vom Duell, wir berücksichtigen Jugend, Notwehr, Reizung, berechtigte Interessen. Andererseits verlangt die Sittlichkeit eine entsprechende Betätigung durch die Handlung: ein Sohn, der seine hungernden Eltern bemitleidet, aber es aus Faulheit unterläßt, für sie zu arbeiten, ist und handelt unsittlich, trotz seines nicht geheuchelten Mitleids. Aber das Überwiegende ist eben doch für die Sittlichkeit das Innerliche, die Gesinnung, für das Recht das Äußerliche, die Tat. Mißhandlung der Eltern ist dem Recht nach ein Enterbungsgrund. Nehmen wir an: ein Sohn ist so verroht, daß er vor Zeugen erklärt, nur jene Erwägung halte ihn ab, die Eltern zu prügeln: sittlich schlecht, aber die unterlassene Mißhandlung wird durch die bloße schlechte Gesinnung nicht ersetzt. Andererseits strafen wir den Verbrecher auch bei vollendetem nächsten Versuch gelinder als bei vollendetem Verbrechen.  A  hat  B  ermorden wollen: er lauert ihm auf, lädt das Gewehr, legt an, zielt, drückt ab und - schießt vorbei. Hier hat er von sich aus - der Absicht nach - alles getan, was zur Vollendung des Mordes erforderlich war. Dennoch strafen wir ihn nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Mordversuch; darüber schütteln freilich die Laien oft die Köpfe und mich würde es wenig wundern, setzten sich soeben auch unter meinen Hörerinnen etliche holde Häupter in solche Bewegung - allein es mußt trotzdem dabei bleiben: denn das Recht ist eine  äußere  Friedensordnung und der bloße Versuch läßt Leben und Gesundheit des Bedrohten - dieses Äußerliche - unverletzt.


XII.

Vielleicht erhebt man nun aber hiergegen den Einwand: "Wie können Religion, Moral und Recht, alle drei, gleichmäßig Ausdruck der Volksseele und das Ergebnis der Volksgeschichte, gleichmäßig Gestaltungen des Menschengeistes sein, wenn sie doch in Widerstreit miteinander geraten? Oder hat es einen solchen Widerstreit nie gegeben? Wenn er aber vorkommt, wie ist er möglich? Und welches Gebot geht in einem solchen Fall vor?" Selbstverständlich ist ein solcher Widerstreit gar oft entbrannt - er ist echt tragisch. Eine der ältesten und edelsten Tragödien schildert, wie, dem formalen Rechtsverbot zum Trotz, eine herrliche Jungfrau, die religiöse und sittliche Pflicht erfüllend, den Bruder bestattet und dafür die Todesstrafe auf sich nimmt. Aber nicht nur in Sage und Dichtung, auch in der Geschichte hat der Staat gar oft gröblich die Freiheit des Innenlebens, die religiöse, sittliche und wissenschaftliche Überzeugung angetastet; hat sich doch ein preußisches Ministerium sogar an IMMANUEL KANT vergriffen.

Ferner darin kann die Möglichkeit eines solchen Widerstreits dieser Gebiete liegen, daß die religiöse, die sittliche Entwicklung eines Volkes, einer Zeit rascher fortschreitet, als das langsam bildende Recht, zumal das Gewohnheitsrecht, zu folgen vermag. Auch wenn die aus der gleichen Volksseele und Volksgeschichte hervorgegangenen Erzeugnisse des gleichen Volksgeistes sind, können deswegen doch Religion und Sittlichkeit, Sittlichkeit und Recht, Recht und Religion miteinander in Widerstreit geraten. Oder die religiös-sittlichen Anschauungen der herrschenden und der niederen, der gebildeten und der ungebildeten Schichten des Volkes sind so verschieden, wie auch ihre Rechtsanschauungen verschieden sind. Ein lehrreiches Beispie gewährt die germanische Blutrache. Diese war ursprünglich von Religion, Sittlichkeit und Recht übereinstimmend geboten; später verbot sie das Christentum, also die Religion und die christliche Moral, ja auch der Staat (schon THEODERICH der Große, dann KARL der Große) verbot sie durch Rechtsgesetz: aber die volkstümliche Moral nicht nur der Heiden, auch der in anderen Stücken überzeugten Christen hielt sie als sittliche Pflicht aufrecht, ähnlich noch heute den Zweikampf.


XIII.

Was nun die Frage über die Entscheidung eines solchen Widerstreits anlangt, so lautet die Antwort: es liegt in Wahrheit gar kein Widerstreit vor, nur der Schein eines solchen, denn selbstverständlich geht die Pflicht der sittlichen, wissenschaftlichen, religiösen Überzeugung dem Rechtsgebot des Staates vor. Ich lasse mich nicht zwingen, meine wissenschaftliche Überzeugung von der Wahrheit der Lehre DARWINs zu verleugnen oder eine vom Staat befohlene, meiner politischen Überzeugung widerstreitene Handlung vorzunehmen, z. B. zugunsten der oben gerade beliebten Partei zu wählen. Jedoch wohlverstanden: nicht gewaltsamer Widerstand, nicht Aufruhr gegenüber einem gültig zustande gekommenen Gesetz ist damit gerechtfertigt, nur das Martyrium, d. h. die Übernahme der für den Ungehorsam gedrohten Strafe, ist sittlich Recht, weil Pflicht.

Die ersten Christen haben sichbei den scheußlichen Christenverfolgungen jener Jahrhunderte nicht gegen NERO, DECIUS, DIOKLETIAN mit Waffen erhoben, sie haben auch nicht - wie in späteren Kämpfen zwischen Staat und Kirche geschehen ist - die gültig erlassenen Gesetze des Kaisers für null und nichtig erklärt, sondern sie als gültig anerkannt; sie sagten nicht: "Irritas esse illas leges", sondern sie sagten: "dura lex, impia lex, sed lex" und zogen dem Gehorsam gegen diese Gesetze, die ihnen geboten, dem Genius des Imperators zu opfern, die Löwen und Tiger der Arena vor. Ruhmwürdige Taten! Bei den scheußlichen Heidenverfolgugnen des heiligen OLAF im Nordland - er zwang die Heiden, lebende Giftschlangen zu verschlingen oder stellte ihnen Becken mit glühenden Kohlen auf den nackten Leib - sind gar manche wackere Männer lieber diesen Qualen erlegen, als daß sie ODIN und THOR abgeschworen hätten. Ruhmwürdigste Taten! Nur weniger bekannt.

Oder auch etwa der wirtschaftliche Fortschritt überholt den religiösen und rechtlichen: das kanonische Zinsverbot wird als unbegründet, schädlich und undurchführbar erkannt: das wirtschaftliche Ideal ist fortgeschritten, das religiöse und juristische stehen geblieben und veraltet.


XIV.

Viele Rechtsphilosophen - wie HUGO GROTIUS, PUFENDORF, THOMASIUS, auch wieder JEHRING - finden den grundsätzlichen Unterschied von Recht und Sittlichkeit in der Erzwingbarkeit der Rechtspflichten, der Unerzwingbarkeit der sittlichen Pflichten. Ich hoffe nun aber, es wird gelingen, sogar Laien zu überzeugen, daß diese Unterscheidung erstens, so weit sie richtig ist, nur eine Folgeerscheinung des wahren grundsätzlichen Unterschiedes ist, die bloß eine recht oberflächliche Betrachtung als das Wesentliche ansehen kann und daß zweitens in vielen Fällen die Unterscheidung gar nicht zutrifft.

Richtig ist an jener Lehre bloß die Unerzwingbarkeit der sittlichen Pflichten. Aber warum sind diese unerzwingbar? Nur aus dem von uns oben aufgestellten Grund: weil das Wesen des Sittlichen als eines Innerlichen die Gesinnung und diese unerzwingbar ist. Jener Sohn in unserem Beispiel kann nur gezwungen werden, seine Eltern nicht zu mißhandeln - sonst erfolgt Strafe und Enterbung: das ist das äußerliche Gebiet des Rechts. Er kann aber nicht gezwungen werden, die Mißhandlung aus Kindesliebe zu unterlassen: diese seine sittliche Pflicht der Gesinnung entzieht sich dem Zwang; nur etwa die Erziehung mag pädagogisch - aber nicht bloß durch Prügel! - auf seinen Willen wirken. Dagegen ist es ganz falsch, daß Rechtspflichten aufhören, Rechtspflichten zu sein, weil sie im vorliegenden Fall aus besonderen Gründen nicht erzwungen werden können. In geordneten Staatsverhältnissen wird die Erfüllung von Rechtspflichten regelmäßig durch die Staatsgewalt erzwingbar sein, weil die äußere Handlung, in der sie bestehen: zahlen, arbeiten, Wehrdienst leisten, eben erzwingbar ist. Aber der Wehrpflichtige, der sich durch Fahnenflucht dem Wehrdienst erfolgreich entzieht, streift dadurch seine Rechtspflicht nicht ab, der zum Tod Verurteilte entkleidet das Urteil seiner Rechtskraft nicht dadurch, daß er entspringt, der Schuldner, der nichts hat, bleibt mit der Rechtspflicht der Bezahlung behaftet, obwohl der Zwang der Erfüllung ausgeschlossen ist; und nicht der Kaiser (d. h. der Staat) und der Gläubiger haben das Recht da verloren, wo nichts ist - im Gegenteil, das "Recht" ist - leider! - das Einzige, was ihnen in diesem Fall verbleibt! - nur die  Möglichkeit  der Erzwingung. Und endlich ergibt sich dasselbe auf dem Gebiet des Völkerrechts: wenigstens für uns, die wir noch nicht so aufgeklärt sind, das ganze Völkerrecht als  Recht  zu leugnen, nur eine - höchst unfruchtbare! - moralische Verpflichtung aus Staatsverträgen entstehen zu lassen.

Armes Deutsches Reich! Wie übel springt man mit dir um und deinem Frankfurter Frieden! Die Franzosen nennen ihn unsittliche und deutsche Juristen nennen ihn nur sittlich, aber rechtsunwirksam! Wir aber sagen: ein völkerrechtlicher Vertrag begründet Rechtspflichten; verletzt ein übermächtiger Staat das Recht eines mindermächtigen aus einem solchen Vertrag und kann der Schwächere sein Recht nicht durch Krieg wahren, so ist sein Recht zwar unerzwingbar geworden, aber es hört wahrlich nicht auf, ein Recht zu sein. Die andere Ansicht stellt sich selbst außerhalb des Völkerrechts und muß daher friedlos gelegt werden. Also gibt es unerzwingbare Rechtspflichten, also ist die Erzwingbarkeit nicht wesentliches Merkmal des Rechts.


XV.

Wir haben im Bisherigen einige Rechtsfragen aufgeworfen, gestreift, nicht erschöpfend gelöst. Meine Absicht war, das Vorurteil zu widerlegen, das Recht sei trocken, die Rechtswissenschaft langweilig. Sie sind es wahrlich nicht! Freilich, die ausschließende dogmatische Behandlung des Stoffes  kann  unter Umständen in solcher Weise entarten und erstarren. Die geschichtliche und die philosophische Methode aber gleicht der Wünschelrute, von der unsere deutsche Sage so schön zu flüstern weiß: in kundiger Hand getragen, ahnt sie zuckend den Hort, der in der Volksseele ruhenden Rechtsgedanken. "Der Hort blüht", d. h. er hebt sich von selbst dem Suchenden entgegen und freudig mag dieser reichsten Schatz zutage fördern.


XVI.

Zum Schluß ein paar Worte an Sie, meine jugendlichen Herren Kommilitonen. Ich kann es kurz machen: denn Sie kennen, hoffe ich, nicht nur Ihre weitgehenden Freiheiten und Rechte, auch Ihre ernsten Pflichten. Nicht ich habe nötig, Sie zu mahnen zu einer tüchtigen Haltung und Führung; viel eindringlicher, als ich es könnte, mahnt Sie dazu die schwere Zit, in der wir leben, die noch viel schwerere, der wir, der Sie entgegensehen: die Zukunft wird feste Männer brauchen,  Charaktere,  in Deutschland. Eben deshalb müssen Sie auch fleißig arbeiten, die schöne Lernfreiheit darf nicht die Freiheit sein, nichts zu lernen. Arbeiten Sie, arbeiten Sie fleißig, es liegt ein hoher Segen in treuer Arbeit. Erfüllen Sie Ihre Pflicht gegenüber sich selbst, gegenüber der Familie, gegenüber dem deutschen, dem preußischen Staat, dem anzugehören Sie die Ehre haben.
LITERATUR Felix Dahn, Über den Begriff des Rechts, Rede gehalten bei Übernahme des Rektorats der Universität Breslau am 15. Oktober 1895, Leipzig 1895