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Laurent Verycken
F o r m e n   d e r  
W i r k l i c h k e i t


Moral
- I I -

1. Raum-Zeit
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10. Anarchie
11. Religion
"Grundverhältnis des Selbstseins ist sich frei entschließen. Entscheiden und frei sein sind Synonyme. Wir können nicht entscheiden, wenn wir nicht frei sind und wir sind nicht frei, wenn wir uns nicht entscheiden."

Wirkliche Gründe sind letzte  Gründe und nicht verallgemeinerbar. Letzte Werte sind inkommensurabel und eine Entscheidung ist jeweils nur aufgrund eines Vorziehens möglich. Wir müssen immer wählen zwischen der  Freiheit  und den mit ihr konkurrierenden Wertvorstellungen wie etwa  Gesundheit, Glück  oder  Sicherheit.  Alle diese Interessen können miteinander konkurrieren, ohne daß sich objektive Gründe dafür angeben lassen. Das Gerechte ist wie das Wahre und das Gute, bzw. das Schöne, ein aus keinem anderen ableitbarer Wert. Jeder  unbedingt  bejahte Wert ist keiner weiteren Steigerung mehr fähig und gerät damit notwendig an einen anderen. Zu fast allen Werten gibt es solche, die mit ihnen kollidieren. Es besteht ein andauernder bis ewiger Konflikt zwischen den verschiedenen Wertvorstellungen.
"Die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, wirken sich für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen aus, die anderen genauso heilig sind, wie uns die unseren." 13)
In jedem echten Normenkonflikt kommt es zu Unverträglichkeiten. Jeder Wert, der von absolut gesetzt wird, provoziert einen Kampf der Werte. Moralische Konflikte sind logisch nicht lösbar. Zwischen  Gott  und  Teufel  gibt es keine Relativierungen und Kompromisse. Letzte Überzeugungen sind im Grunde keiner Kritik mehr zugänglich. Letzte Normen und höchste Prinzipien können gar nicht objektiv gerechtfertigt werden, weil es eben  letzte  sind.
"Es herrscht ein unüberbrückbarer tödlicher Kampf zwischen den verschiedenen Werten, unter welchen der Mensch zu wählen hat. Was für den einen von Gott ist, ist für den andern mit dem gleichen Recht des Teufels." 14)
Es gibt keine Bewertungskriterien oder Maßsysteme, mit denen das Unmeßbare im wirklichen Leben kommensurabel gemacht werden könnte.

Jeder Konflikt impliziert stets ein Maß an Uneinigkeit über Werte. Der Konflikt ist im Prinzip schon im Wollen mitgesetzt. Interessenkonflikte und Konflikte durch unterschiedliche Bedürfnisse wird es immer geben. Konflikte können zwar vorübergehend unterdrückt, reguliert, kanalisiert und kontrolliert werden, ein für alle mal beseitigt werden können sie nicht.

"Denn nicht auszuscheiden ist aus allem Kulturleben der  Kampf.  Man kann seine Mittel, seinen Gegenstand, sogar seine Grundrichtung und seine Träger ändern, aber nicht ihn selbst beseitigen. Er kann statt äußeren Ringens von feindlichen Menschen um innere Güter und damit statt äußeren Zwangs eine innere Vergewaltigung (gerade in Form erotischer und karitativer Hingabe) sein oder endlich ein inneres Ringen innerhalb der Seele des Einzelnen mit sich selbst bedeuten, - stets ist der da, und oft um so folgenreicher, je weniger er bemerkt wird, je mehr sein Verlauf die Form stumpfen oder bequemen Gewährenlassens oder illusionistischen Selbstbetrugs annimmt oder sich in der Form der  Auslese  vollzieht.  Friede  bedeutet Verschiebung der Kampfformen oder der Kampfgegner oder der Kampfgegenstände oder endlich der Auslesechancen und nichts anderes." 15)
Moralische Probleme entstehen immer, wenn wir etwas wollen.  Wille  ist eine Beziehung für die Kraft der Bevorzugung, bzw. der Wahl oder des Urteils. Sämtliche Güter sind auf einen Willen bezogen, der irgendetwas will, aber auch jeder Schaden. Immer verfolgen wir unsere Interessen. Immer stehen wir in einer konkreten Situation vor Alternativen des Wollens und des Handelns. Verschiedene Werte stehen in Konkurrenz zur Verwirklichung. Von Gegensätzen sprechen wir bei widerstreitenden Interessen. Das Begehren kennt letztlich keine andere Möglichkeit als den Kampf. Ethisch entscheidend ist jedoch, wie dieser Kampf ausgetragen wird. "Nicht das  Was,  sondern das  Wie  ist das entscheidende Merkmal ethischer Willensrichtung." 16) Den Streit selber  endgültig  aufzuheben vermag kein Denken und keine Moral. Wir streben im Grunde auch nicht nach Frieden, sondern nach Befriedigung. Konfliktlosigkeit hieße, daß zwischen Bedürfnis und Bedürnisbefriedigung kein Unterschied mehr besteht. Frieden ist deshalb bestenfalls ein Gleichgewicht widerstreitender Bedürfnisse.

Daß es Gegensätze gibt und geben muß ist nicht nur logisch, sondern auch  vernünftig.  Auf der Ebene der  Vernunft  werden die objektiven Gegensätze aufgehoben und die subjektiven Gegensätze als im Prinzip gleichberechtigt anerkannt. Vernunft bedeutet Toleranz. Im Prinzip der Toleranz wird anerkannt, daß Gegensätze sein  müssen.  Toleranz bedeutet aber auch, daß Geltung sich nicht mehr durch Gewalt, sondern nur durch Einsicht und Gründe ergeben darf. Der ethische Wert des Verstehens besteht vorwiegend aus der moralischen Pflicht, um  Verstehen  zu ringen. Die Toleranz steht gegen die autoritäre und dogmatische Durchsetzung von Gültigkeitsansprüchen. Tolerant bin ich, weil ich weiß, daß jeder Absolutismus eine Dummheit oder aber eine Form von Herrschaft ist.

Der Relativismus ist das Prinzip der Subjektivität. Alle Wahrheiten und Prinzipien sind relativ, ebenso wie alle Gewissensinhalte und moralischen Wertschätzungen. Jedes Ideal erhält seinen Wert erst aus der spezifischen Bezogenheit auf ein Individuum. Was für einen Menschen gut ist, kann für den anderen schlecht sein.  Irrtum  und  Wahrheit  gibt es nur in Bezug auf einen menschlichen Zweck, der verfehlt oder getroffen wird. Es gibt keine absolute Moral.  Moral  ist eine Beziehung, ein Verhältnis. Zu einer Beziehung gehören immer zwei beteiligte Komponenten und wenn sich  ein  Faktor des Verhältnisses ändert, dann ändert sich der andere mit. Es ist unsinnig von  Aggressivität, Freiheit  oder  Gleichheit  ansich zu sprechen. Diese Begriffe haben ihre Wurzel in dem, was  zwischen  den Menschen vorgeht.

Subjektiv heißt relativ. In der relativistischen Sicht gilt die Richtigkeit eines Werturteils nur in Bezug auf einen höchsten Wert, den jemand  für sich  anerkennt. Der ethische Relativismus behauptet, daß einander  objektiv  widersprechende moralische Urteile subjektiv durchaus gleichermaßen gültig sein können. Der Relativismus relativiert Rationalität, Objektivität und Wahrheit, insofern diese den Anspruch erheben  ansich  zu gelten. Ansich hat Wasser den selben Wert wie ein Stein. Es hat keinen Sinn darüber zu streiten, ob eine Rose ansich mehr Wert hat, als ein Kreuz, oder ein Sonnenstrahl. Auf die Verwendung und den speziellen Gebrauch in einer ganz spezifischen Situation kommt es an. Es gibt kein Gut oder Ungut ansich, sondern nur das mehr oder weniger Angemessene. Es gibt keine objektive Methode zur Beurteilung von Kulturen. Die grundlegenden Werthaltungen sind unaufhebbar vielfältig. Es sind immer mehrere geschlossene und logisch gleichwertige, aber sich widersprechende normative Ordnungen möglich. Die Gleichberechtigung verschiedener Normen nennt WILHELM DILTHEY die "Anarchie der Wertsysteme".

Das Prinzip einer relativistischen Wertlehre ist das Prinzip der Toleranz. Toleranz bedeutet jedoch nicht Gleichgültigkeit oder Unverbindlichkeit. Bestimmte Werte können  für mich  unbedingte Geltung haben. Der ethische Relativismus bedeutet lediglich Verzicht auf die  objektive  Begründung  letzter  Stellungnahmen, jedoch nicht der Verzicht auf die Stellungnahme selbst. Die Welt wird zwar als perspektivisch gesehen, aber jedem Standpunkt entspricht nur eine einzige Perspektive. Eine, wenn auch subjektive Wahrheit für den einzelnen Menschen kann es also nicht trotz, sondern muß es gerade wegen der perspektivischen Relativität geben. Autonomie bedeutet Freiheit und Gebundenheit zugleich: Freiheit von Selbstbestimmung, aber auch eine Verbindlichkeit dem eigenen Gesetz gegenüber.

Grundverhältnis des Selbstseins ist sich frei entschließen. Entscheiden und  frei sein  sind Synonyme. Wir können nicht entscheiden, wenn wir nicht frei sind und wir sind nicht frei, wenn wir uns nicht entscheiden. Von einem  Willen  kann nur sinnvoll gesprochen werden, wenn dieser Wille  frei  ist, d.h. nicht objektiv festgelegt ist. In der Freiheit zum subjektiven Werturteil liegt die Kraft des Wollens. Dabei spielt keine Rolle, wie dieses Werturteil ausfällt. Entscheidend ist, daß wir gewissenhaft urteilen, ohne daß uns dabei aber selbst zu belügen. Der moralische Akt ist die ungezwungene Anerkennung des subjektiv als richtig, bzw. falsch Beurteilten, mit anderen Worten: die Gewissensentscheidung. Wer unkritisch hergebrachte Vorstellungen übernimmt, handelt nicht moralisch. Daß ich dieses oder jenes tun soll, hat überhaupt keinen Sinn, wenn ich alles, was ich tue, unter einem Zwang von mir unabhängiger Umstände tue.

Nur die Handlungen eines Wesens, das eigentlich auch anders hätte handeln können, unterliegen der moralischen Bewertung. Ohne die Freiheit der Wahl, d.h. der Gewissensfreiheit, gibt es weder Laster noch Tugend, noch Verdienst. Wenn wir keine Willensfreiheit haben, sind Recht und Unrecht, sowie alle sitllichen Verpflichtungen sinnlos. Ohne einen freien Willen hätten weder moralische, noch religiöse, noch juristische Vorschriften einen Sinn. Moralurteile lassen sich nicht objektiv begründen. Das gleiche gilt auch für Rechtsurteile. Jedes Recht ist zustimmungsbedürftig. Ohne einen freien Willen als Norm gibt es überhaupt kein Recht. Wir müssen einfach annehmen, daß Menschen einen freien Willen haben, das  Gute  oder das  Böse  zu tun.

Weder das Volk, noch irgendeine Majorität, noch eine politische oder richterliche Instanz stehen höher, als unser Gewissen. Freisein heißt, den guten  oder  bösen Willen betätigen zu können. Zur wirklichen Freiheit muß auch immer die der Narren und Heiligen gehören. Freiheit ist  Freiheit  und nicht  das Gute, 
"Wenn sie sich des Bösen entledigen, entledigen sie sich der Möglichkeit der Wahl. Sie müssen Dinge oder Werte haben, zwischen denen sie wählen können." 17)
Das objektiv  Böse  kann deshalb genauso moralisch sein, wie das  Gute,  solange es einer freien Entscheidung entspringt. Es kann aber nichts gut oder böse sein, wenn es keine freie Entscheidung gibt. Das Böse hat seine Bedeutung als Böses nur, weil es ein Werk der Freiheit ist. Jeder Mensch muß deshalb ein Recht haben, sich auch  unfreie  Zwecke zu setzen.
"In diesem Elemente des Willens liegt, daß ich mich von allem losmachen, alle Zwecke aufgeben kann. Der Mensch allein kann alles fallen lassen, auch sein Leben." 18)
 Autonomie  bedeutet mir die Selbstbestimmung meines eigenen Willens. "Das Recht, nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe, ist das höchste Recht des Subjekts." 19) Es ist die  Freiheit der Wahl,  die uns zu moralischen Menschen macht und die Wahl ist es auch, für die jemand Verantwortung trägt. "Die Schuld trifft den, der wählt; der Himmel ist schuldlos." 20) Alle mögliche Schuld gründet sich im Wahlakt.

Die Überzeugung macht den Täter. Die Untaten werden nicht nach dem Schaden, sondern nach der  Bosheit der Gesinnung  gemessen. Nur eine Pseudo-Moral rechnet mit den  Folgen  und nicht mit den  Motiven.  Immer kommt es auf die Haltung eines Menschen an, d.h. seinen Willen an der Sache. Wir müssen das Gute deshalb um des Guten willen tun, nicht um irgendeines Vorteils wegen. Die höchsten Werte sind dadurch gekennzeichnet, daß sie um ihrer selbst willen erstrebt werden müssen.  Mensch, Gutes, Freiheit, Wahrheit, Liebe -  alles Selbstzwecke, die um ihrer selbst willen getan werden müssen. Alle Aussicht auf Lohn und Strafe gefährdet das moralische Handeln. Überzeugungen lassen sich auch heucheln, wenn wir nur auf unseren persönlichen Vorteil bemüht sind.  Gut  sind viele Menschen nur, nachdem ihre sinnlichen Glücksbedürfnisse befriedigt wurden. Diese Scheingüte ist sozusagen ein Luxus glücklicher Verhältnisse, in denen ich mir das Gutsein leisten kann.

"Die Leute streben danach, ihre Wertkonflikte unter Kontrolle zu halten. Sie wünschen, sie aus ihrem Denken zu halten und haben Geschick darin, sie zu übersehen. Konventionen, Stereotype und bequeme Lücken im Wissen über die soziale Wirklichkeit tragen erfolgreich dazu bei, den Leuten eine relative Gewissensruhe zu bewahren." 21)
Leider gibt es nur allzuviele Menschen, die glauben, autonome Wesen zu sein. Sie sehen nicht die Macht, die ihre Gewohnheiten über sie haben. Viele Menschen geben vor, an eine Wahrheit zu glauben, ohne daß diese Wahrheit irgendwie ihr Verhalten beeinflußt. Sehr viele Menschen können sich nicht von dem drückenden Gefühl befreien, so sein zu müssen, wie sie eigentlich ohne fremdes Zutun geworden sind. Wenn aber jemand etwas tut, weil es so Sitte ist, oder weil es ihm befohlen wird, wählt er nicht und handelt deshalb nicht moralisch.

Gewöhnlich steht für die Rechtfertigung herrschender Gesellschaftsordnungen immer eine Ideologie von der  Natur des Menschen  oder eine ähnliche Verallgemeinerung bereit. Der  Mensch ansich  ist aber ein fiktives Vorstellungsgebilde, d.h. eine willkürliche Abstraktion. Vieles, was SIGMUND FREUD als charakteristisch für die  menschliche Natur  angesehen hat, war lediglich für gewissen Angehörige des europäischen Mittelstandes zutreffend. Der  Mensch-ansich  ist ein Phantom, eine bloß statistische Größe. "Niemals geht der Mensch in seiner Faktizität auf." 22) Der Blick auf eine allgemeine Natur des Menschen ist nicht der Blick auf den hier und jetzt lebenden, konkreten Menschen. In der Objektivation des Ichs, bzw. des Willens, liegt die Wurzel des Freiheitsproblems. Wo wir sinnvoll von  Menschen  reden wollen, müssen wir uns auf eine konkrete Individualität beziehen. Ein ethisches Individuum ist die  Person,  welche uns Menschen unterscheidet von allem, was  Sache  oder  Mittel  ist.

Die Subjektivität eines Menschen macht seine persönliche Würde oder Unwürde aus. Die Würde eines Menschen besteht in seiner Autonomie. Die  Idee vom Menschen  ist ohne die Idee der Freiheit undenkbar. Es kann nichts Menschliches geben ohne Freiheit und auch keine Moral. Die Begriffe von  Mensch  und  Moral  müssen im Grunde das selbe meinen.  Mensch  ist eine moralische Kategorie. Die Definition von Menschlichkeit ist keine sachliche, sondern wertbedingt. Es gibt keine objektiven Menschen. Der Wert von Personen ist ihre Würde. Die Würde ist eins mit der Person selbst. Würde ruht in sich selbst und ist sich selbst genug. Das ihr innewohnende Vermögen beruht auf dem Umstand, daß wir als Subjekt unser eigener Bezugspunkt sind. Es kann deshalb kein allgemeingültiges System des Menschentums geben. Aus der Frage nach der  Natur des Menschen  kann keine allgemeingültige Moral abgeleitet werden.

Alle unsere Ideen und Ideale sind relativ aufeinander bezogen und definieren sich gegenseitig.  Freiheit  hat keinen Wert, wenn sie nicht der  Wahrheit  entspricht, oder etwa der  Vernunft  widerspricht. Die Definition  der Freiheit, des Menschen, der Moral  und  der Gleichheit  bedingen sich gegenseitig. Keiner dieser Begriffe hat  ansich  einen Wert. Ohne ein subjektives Werturteil ist jeder dieser Begriffe sinnlos. Was wir als Willen  setzen,  ist ebenso gesetzt, wie Moral, Freiheit, Gleichheit, etc. gesetzt sind. Sie  sollen  sein, aus mehr oder weniger guten Gründen, zu denen wir uns entscheiden. Es gibt keinen freien Willen, keine Güte, keine Gleichheit  ansich.  Keiner dieser Werte ist objektiv beweisbar oder begründbar, noch widerlegbar.  Freiheit  als Abstraktum ist wertlos und leer, wenn sie nicht mit subjektiver Bedeutung gefüllt wird. Die abstrakte Scheinfreiheit ist die Freiheit  ansich.  Freiheit ansich ist eine Fiktion und Illusion, eine leere Worthülse. Abstrakte Freiheit ist nur nominell. Konkrete Freiheit ist im Bewußtsein verankert und fördert die Selbstverwirklichung.

Das ethische Prinzip ist keine Sache des Gehorsams. Das Gute soll nicht getan werden, weil es befohlen wird, sondern weil es begriffen und deshalb freiwillig getan wird. Dogmatik und Moral widersprechen sich schon im Ansatz. Jede Dogmatik geht von einer absoluten Sicherheit des Gewußten aus, die es aber nicht geben kann. Keine Autorität und kein Wissen kann uns die Entscheidung abnehmen. Niemand darf glauben, es wird ihm die Schuld genommen, wenn er einem Befehl gehorcht. Freiwillige Anerkennung von sachbezogener Autorität für einen streng umgrenzten Bereich dagegen schließt Freiheit nicht aus. Sich aus fehlender Kenntnis oder anderen  vernünftigen  Gründen vorübergehend auf eine Autorität zu stützen, ist oft unerläßlich, was jedoch nicht bedeutet, daß man sich dieser Autorität bedingungslos unterwerfen muß.

Moralisch kann nur sein, was aus der Freiheit geschieht und nicht erzwungen ist. Freiheit ist ein ethisch viel höherwertiges Gut als Gehorsam. Moral kann sich nur in Freiheit verwirklichen, nicht durch Zwang oder Sanktionen oder bloße Autorität. Moral ist die freiwillige Anerkennung eines Gesetzes, das wir uns selbst übergeordnet haben und ein Prinzip, das zwar anderen gegenüber verantwortet werden muß, das wir aber am Ende immer vor uns selbst rechtfertigen müssen. Auf das Recht, sich selbst ein Gesetz zu geben, sich allein für die Handhabung desselben Rechenschaft schuldig zu sein, kann kein Mensch verzichten, denn mit dieser Veräußerung hört er auf, ein Mensch zu sein. Dieses Recht müssen wir aber auch allen anderen Menschen zugestehen.

Moralische Verantwortung ist immer eine persönliche, d.h. subjektive Angelegenheit. Unter Moral müssen wir ein System von Werten verstehen, welches aus der konkreten Existenz und der Subjektivität eines Menschen entsteht und auch nur in ihr Anwendung findet. Ohne Freiheit wären wir bloße Automaten. Nur was bewußt gewollt wird, ist darum moralisch von Bedeutung. Ethische Verantwortung ist nichts als Selbstverantwortung. Zwang und Leitung können nie Tugend hervorbringen. Es wäre deshalb ein Widerspruch insich, die Freiheit mit unfreiheitlichen Mitteln verwirklichen zu wollen.  Willensfreiheit, Moral  und  Mensch  sind im Grunde auswechselbare Begriffe. In ethischer Hinsicht gibt es darum keinen größeren Irrtum, als die  Moral  mit Autorität und Gewalt durchsetzen zu wollen.

"Die Freiheit kann und soll sich nur durch die Freiheit verteidigen, und es ist ein gefährlicher Widersinn, sie zu beeinträchtigen unter einem durch den Schein blendenden Vorwand, sie zu beschützen, und da die Moral keine andere Quelle, keinen anderen Ansporn, keine andere Ursache und kein anderes Ziel hat, als die Freiheit, und da sie selbst nichts ist, als die Freiheit, so wendeten sich alle die der Freiheit zum Schutz der Moral auferlegten Einschränkungen immer zum Schaden der Moral." 23)
Der Schaden, den zuviel Freiheit anrichtet, ist nie so groß, wie der, den irrationale Autorität und Zwang verursachen.

Das autoritäre Sittengesetz will  Gesetz  sein, also verpflichtende Norm von ausnahmsloser Allgemeingültigkeit. Ein Gesetz muß dementsprechend immer Machtmittel und Sanktionsmittel hinter sich haben, um seine Befolgung wirklich zu sichern. Erzwingbarkeit und Nichterzwingbarkeit trenne die Sphären von  Recht  und  Moral.  Das Recht wird erzwungen. Moral aber läßt sich nicht erzwingen, weil die moralische Tat begriffsnotwendig eine Tat der Freiheit sein muß. Es können zwar Straftaten verfolgt und Rechte durchgesetzt werden, aber nicht Rechtschaffenheit.

Unter gar keinen Umständen darf deshalb der Versuch gemacht werden,  moralische Macht  auszuüben. Niemand kann und darf gezwungen werden, frei zu handeln. Alle Wertungen gehen auf Wertgefühle zurück, Wertgefühle lassen sich nicht erzwingen, wie sich kein Gefühl erzwingen läßt. Wo die Prioritäten anbefohlen werden, tritt eine autoritäre Vorschrift an die Stelle des lebendigen Gefühls. Jede dogmatische Autorität ist aber bloß die fadenscheinige Begründung einer Interessenlage und im Grunde ohne Recht. Jedes Gesetz, zu dessen Befolgung ich gezwungen werde, mag legal sein, ohne meine freie Anerkennung ist es aber nicht legitim.

Ein Mensch kann nur dann wahrhaft moralisch sein, wenn er sein eigener Herr ist. Deshalb darf vom  Staat  auch nicht die Verwirklichung von Moral und Freiheit erwartet werden. Alle Herrschaft ist ein Übel und es wird auch nicht besser, wenn es eine Volksherrschaft oder Demokratie ist. Seine  Freiheit  aufzugeben bedeutet, das Prinzip der Menschlichkeit dem der Macht unterzuordnen. Es gibt aber kein  pactum subjectionis,  keinen Akt der Unterwerfung, durch den sich jemand selbst zum Sklaven machen kann. Durch einen solchen Akt würde er sein Menschsein verlieren. Eine freiwillige und totale Unterwerfung wäre nur eine andere Form des Selbstmordes. Der wahre Sündenfall eines Menschen ist deshalb seine Unterwerfung unter die Idee der Macht. Niemand kann sich schuldlos regieren lassen.

Das Prinzip der Autonomie des Gewissens drückt die Einsicht aus, daß wir niemals das Gebot einer  Autorität, und sei sie noch so erhaben, als Grundlage unseres ethischen Verhaltens anerkennen dürfen. Nur wenn wir uns als Menschen nicht mehr nach einer äußeren Autorität entscheiden, werden wir wieder in den Besitz des moralischen Prinzips gelangen. Sittliche Aufgabe ist es, die moralische Idee vom Menschen und damit seine Persönlichkeit zu verwirklichen. Die Individualität eines Menschen ist das Maß aller Dinge. Wer ohne weiteres ersetzbar ist und überhaupt nichts Einzigartiges mehr an sich findet, ist kein Individuum mehr. Konkrete Menschen und nicht abstrakte Menschen-ansich, müssen das Ziel und Prinzip der gesellschaftlichen Organisation sein. Nur ein konkreter Mensch kann ein wirksamer Zielpunkt von Reformen sein.

"Als das eigentlich Wertvolle im menschlichen Getriebe empfinde ich nicht den Staat, sondern das schöpferische und fühlende Individuum, die Persönlichkeit: sie allein schafft das Edle und Sublime, während die Herde als solche stumpf im Denken und stumpf im Fühlen bleibt." 24)
Das  Individuelle  ist immer wichtiger, als das  Allgemeine  und das  Schöpferische  ist wichtiger, als das  Gesetzmäßige.  Das Austauschbare ist ohne bestimmte Individualiät ist bloßes Objekt und damit Material. Wann immer du aber einen Menschen zum Objekt machst, ist der Akt unmoralisch.  Menschen  können nur Selbstzwecke sein und nicht Mittel zum Zweck. Sklave ist der Mensch als Objekt. Autoritäre Vorschriften funktionieren nur, wo ein Mensch zum leblosen Objekt wird, mit dem wie mit Zahlen gerechnet werden kann. Ein System, in dem wir uns aber unserer Menschlichkeit entledigen müssen, damit es funktionieren kann, ist grausam und unmenschlich. Die Autorität der Objektivitäten zieht ihre Macht aus der Gleichschaltung der Menschen. Die objektive Gleichheit der Menschen der Menschen ist aber lediglich eine Gleichheit des bloßen Vegetierens. Die psychische und biologische Gleichheit ist nicht herstellbar und sollte vernünftigerweise auch nicht angestrebt werden.

 Mensch  ist nur als ein unverwechselbares Quantitativum sinnvoll. Gleichheit kann eigentlich nur unbedingte  moralische  Gleichheit bedeuten. Was wir unter Würde verstehen, ist ein Problem der Achtung der Persönlichkeit. Die moralische Erniedrigung ist die der dauernden Bedrohung der Existenz durch wirtschaftliche Not und politische Unterdrückung. Jedes Individuum muß darum einen durchsetzbaren Anspruch haben, die Autonomie und die Individualiät seiner Existenz angesichts überwältigender sozialer Kräfte zu bewahren. Aller Protest und Widerstand basiert auf dem Anspruch auf menschliche Würde. Eine Revolution wird von Menschen gemacht, um ihre Vermenschlichung durchzusetzen. Revolution ist immer Revolution gegen das Leben, das einem als  Mensch  bereitet ist.
LITERATUR - Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit - Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
    Anmerkungen
    13) MAX WEBER, Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, Seite 154
    14) LEO STRAUSS in HANS ALBERT / ERNST TOPITSCH, (Hrsg), Werturteilsstreit, Darmstadt 1979, Seite 79
    15) MAX WEBER, Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, Seite 517
    16) ROBERT REININGER, Wertphilosophie und Ethik, Wien/Leipzig 1939, Seite 144
    17) AUGUSTINUS in ANTHONY BURGESS, Das Uhrwerk Testament, München 1983, Seite 45
    18) G.W.F. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt 1986, Seite 51
    19) G.W.F. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt 1986, Seite 245
    20) PLATON, Sämtliche Werke IV, Reinbek 1980, Seite 199f
    21) GUNNAR MYRDAL, Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft, Bonn-Bad Godesberg 1975, Seite 108
    22) VIKTOR FRANKL, Ärztliche Seelsorge, München 1980, Seite 92
    23) MICHAIL BAKUNIN, Staatlichkeit und Anarchie, Frankfurt/Berlin/Wien 1972, Seite 6
    24) ALBERT EINSTEIN, Mein Weltbild, Frankfurt/Berlin/Wien 1980, Seite 9