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Nahrungsmittel für das Volk
JAKOB MOLESCHOTT

Die Nahrung hat die wilde Katze zur Hauskatze gemacht. Aus einem fleischfressenden Tier mit kurzem Darm ist durch die allmähliche Gewöhnung ein ganz anderes Wesen geworden, durch einen langen Darm zur Verdauung von Pflanzenkost befähigt, die es im Naturzustand nicht frißt.

Also die Kost macht aus dem raubgierigsten, falschesten Tier der Erde einen Hausgenossen des Menschen, der sich mit Kindern verträgt, der nur selten oder nur dem genauen Beobachter den alten Zug der Arglist verrät? Und wir sollten uns wundern, daß feurige und ruhige, kräftige und schwache, mutige und feige, denkende und denkfaule Völker durch die Nahrungsmittel entstehen, die sie genießen?

Wenn die Nahrung zu Blut und das Blut zu Fleisch und Nerven, zu Knochen und Hirn wird, muß da nicht die Glut des Herzens, die Kraft des Muskels, die Festigkeit der Knochen, die Regsamkeit des Hirns bedingt sein durch die Stoffe der Nahrung?

Wer kennt sie nicht die Schwäche des Hungernden, die Unruhe, welche starker Kaffee, die Anregung, die ein guter Tee hervorbringt? Wer weiß es nicht, wie viele edle Dichtergaben einem Trunk feurigen Weins ihren Ursprung verdanken?

Die Zeiten sind vorbei, in welchen man den Geist unabhängig wähnte vom Stoff. Aber auch die Zeiten verlieren sich, in denen man das Geistige erniedrigt glaubte, weil es sich nur am Stoff äußert.

Tut die Wärme weniger wohl, weil sie vom Brennstoff erzeugt wird? Ist das Licht weniger leuchtend, weil sich die Flamme greifen und wägen läßt? Oder verliert die chemische Verwandtschaft den ergreifenden Eindruck ihrer Wirkungen, weil sie an die unerläßliche Bedingung stofflicher Verschiedenheit geknüpft ist?

Und die Kunstwerke unserer Hand, der Wohllaut unserer Stimme, die Herrlichkeit der Farbe, die Macht des Gedankens sollte es herabsetzen, daß Hand und Zunge, Hirn und Auge ihre Entstehung bedingen?

Aber alle diese Werkzeuge sehen wir niemals entstehen ohne Speise und Trank.

Sollen wir die Nahrung deshalb verachten, daß sie Edles schafft, und uns empören gegen den Gedanken, daß  der  Stoff uns bildet, in den uns der Tod verwandelt?

Oder sollen wir als selbstbewußte Menschen uns klar werden über die notwendige Verkettung, die aus Speise und Trank hier Knochen, dort Muskeln und anderswo Hirnstoff bildet?

Das ist das adelnde Vorrecht unseres Hirnstoffs, daß wir dieses Werden begreifen können. Das ist die mächtige Tragweite des menschlichen Verstandes, daß er es zu einem Punkt der Deutlichkeit bringen kann, auf welchem man den Stoff verehrt, der die Werkzeuge bildet, und keine gemeine Abhängigkeit erblickt in der Notwendigkeit des Essens, um zu leben.

Kann uns ein Wechselverhältnis empören, das unsere Leichen in die Pracht der Felder, und die Blume des Feldes in das Werkzeug des Denkens verwandelt?

Wer sie begreift, diese Abhängigkeit, der hat sie verschmerzt. Ihm wird die Verwandtschaft mit dem, was gemein schien, zu einem heiligen Gefühl notwendigen Bedingtseins, das jeder Form von göttlicher und menschlicher Verehrung seinen wahren Inhalt gibt.

Aber begriffen muß sie werden, diese notwendige Verkettung zwischen Mensch und Tier, zwischen Tier und Pflanze, zwischen der Pflanze und dem Acker, auf welchem sie blüht. Und der unbestimmte Ausdruck, daß die Luft uns erfrischt, darf den nicht beruhigen, dessen stoffliche Mischung ihn zum Ehrenmann eines selbstbewußten Menschen berechtigt.

Dieses Begreifen wollte ich in den folgenden Blättern dem Volk nahe legen. Ich habe danach getrachtet, für das Werden unseres Körpers, für die Art und die Kraft unserer edelsten und unscheinbarsten Verrichtungen das Auge zu öffnen.

Ich mußte den Blick lenken auf den Stoff, der uns durch tausend Fäden mit der Natur verbindet. Vielleicht gelang es mir, Begeisterung für das Stoffliche zu erwecken, dessen Verehrung sonst eine Anklage hervorrief.

Dazu aber ist das Begreifen unerläßlich. Darum genügte es nicht, mit wenigen kühnen Pinselstrichen eine flüchtige Skizze zu entwerfen. Durch die Einzelheiten allein läßt sich das Allgemeine dartun. Und eben weil sich der Geist am Stoff äußert, mußte ich dem Stoff folgen von der ersten Aufnahme an bis in das Werkzeug des Denkens und weiter. Denn von diesem Gipfel führen alle Wege abwärts; abwärts zu den Auswurfsstoffen, welche täglich den Körper verlassen, um neuen Wesen Nahrung zu bieten.

Nur auf diesem Weg erlangt sich das ganze Verständnis und die ganze Achtung, die der einzelne Charakter der Menschen verdient. Denn die Mischung des Blutes und Hirns muß die Eigentümlichkeit des Charakters bedingen, und die Frau von STAEL hat es richtig gesagt: "Alles verstehen, hieße alles verzeihen." Insofern ist es vielleicht keine verwegene Hoffnung, daß diese Blätter den sittlichen Nutzen stiften helfen, daß man die Art und Weise des Anderen duldet, weil man die Art und Weise des Anderen versteht.

Diese Hoffnung hat mich geleitet in der Aufsuchung der Fragen, welche am tiefsten in das Treiben des täglichen Lebens eingreifen. Ich suchte für Alle zu schreiben, weil ich Allen das echt Menschliche zutraue, und weil es menschlich ist, die Einsicht mit der Mühe des Gedankens zu erkämpfen.


LITERATUR - Jakob Moleschott, Lehre der Nahrungsmittel für das Volk, Erlangen 1853