ra-4Apperzeption
 Die Apperzeption beim Lesen
AUGUST MESSER

  Ein ganz geläufiger Wahrnehmungsvorgang, bei dem sich der Anteil der Apperzeption besonders deutlich zeigen läßt, ist das  Lesen.  Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß wir Druckfehler leicht übersehen, auch dann, wenn wir eine besondere Aufmerksamkeit darauf richten, sie zu finden, wie beim Korrekturlesen.

Das Lesen erfolgt nicht, wie man vermuten könnte, in der Weise, daß das Auge sich  gleichmäßig  den Zeilen entlang bewegt und Buchstabe für Buchstabe perzipiert. Vielmehr haben genauere Beobachtungen gezeigt, daß die Augenbewegung  ruckweise  erfolgt, daß z. B. bei Zeilen von durchschnittlich 63 Buchstaben im allgemeinen 7 Bewegungen stattfinden. Diese Bewegungen selbst sind zu rasch, als daß während ihrer irgendwelche Eindrücke wahrgenommen werden könnten. Dies geschieht vielmehr nur in den kurzen Ruhepausen. Man hat nun besondere experimentelle Untersuchungen darüber angestellt, wieviele Buchstaben bei ganz kurzer Darbietung erfaßt werden können. Dabei ergab sich das - zunächst verwunderliche - Resultat, daß z. B. bei einer einmaligen Exposition von 100 σ (d. i. eine Zehntelsekunde) von einzelnen (sinnlosen) Buchstaben nur 4 - 8, dagegen Worte oder kurze Sätze von 15 - 30 Buchstaben erfaßt werden konnten. Dieses Untersuchungsergebnis findet seine Erklärung durch die Berücksichtigung der beim Lesen stattfindenden  Apperzeption.  Die Wortbilder als Ganzes sind uns ja von den massenhaften früheren Eindrücken her sehr geläufig, d. h. sie haben kräftige und leicht reproduzierbare Spuren im Unbewußten hinterlassen. Deshalb erfordert es auch nicht mehr Zeit, ein (nicht allzulanges) Wort als Ganzes zu erfassen als einen einzelnen Buchstaben. Ebenso versteht man aus der Verschmelzung der perzipierten und der apperzipierenden Elemente, daß wir fehlende Buchstaben (uns selbst unbewußt) ergänzen oder falsche durch richtige ersetzen (d. h. also Druckfehler  nicht  bemerken).

Da diese Apperzeptionsprozesse auch während der Augenbewegungen weitergehen, so erklärt es sich auch, daß wir nicht den Eindruck eines ruckweisen, sondern eines kontinuierlichen Lesens haben.

Aber nicht nur die "Spuren" der visuellen oder optischen (d. h. dem Gesichtssinn angehörigen) Wortbilder wirken bei der Apperzeption mit; die meisten Personen lesen nämlich nicht rein visuell, sondern sie hören auch die Worte innerlich und viele machen noch unwillkürlich Sprachbewegungen (die also nicht nur beim lauten, sondern auch beim stillen Lesen vorkommen). Die akustischen und die motorischen (d. h. die vom Hören und vom Sprechen der Wörter herrührenden) "Spuren" sind nämlich mit den visuellen eng verknüpft ("assoziiert") und so pflanzt sich die "Erregung" jener meist auch auf diese fort.

Die akustischen Spuren sind ferner beim Hören und Verstehen der gesprochenen Rede von besonderer Wichtigkeit.

Warum werden z. B. Eigennamen (außer ganz bekannten und gebräuchlichen) beim Hören meist nicht verstanden oder mißverstanden? Weil für sie keine "Spuren" früherer Eindrücke in dem Maße vorhanden sind, wie für die anderen uns geläufigen Worte, weil somit das Perzipierte nicht in dem Maße durch apperzipierende Elemente verstärkt und ergänzt wird wie sonst. Es ist darum - wie beiläufig bemerkt sei - dringend zu empfehlen, daß im Unterricht neu vorkommende Eigennamen nicht nur besonders deutlich ausgesprochen, sondern auch stets an die Tafel geschrieben werden. Das sollte von der Volksschule an bis hinauf zur Universität die Regel sein.

Ferner wird jeder, der mit einem Ausländer in dessen Sprache redet (falls er selbst diese nicht völlig beherrscht), das Bedürfnis haben, daß jener langsame und besonders deutlich rede. Das bedarf nun nach dem Gesagten keiner besonderen Erklärung mehr.


LITERATUR, August Messer, Die Apperzeption als Grundbegriff der pädagogischen Psychologie, Berlin 1915