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Zeitvergeudung
SÖREN KIERKEGAARD

Es gibt sehr wenig Menschen, die nur einigermaßen als Geist leben; ja es gibt nicht einmal viele, die ein solches Leben einmal versuchen; und von denen, die das tun, springen die meisten bald wieder ab. Sie haben das Fürchten und Sollen nicht gelernt: wie sollten sie dann die furchtbare innere Spannung ertragen, worin das Leben des Geistes verläuft? Und wie sollen sie gar den Widerspruch mit einer Welt ertragen, der die Sorge für die Seele und das Trachten nach geistigem Leben eine Zeitvergeudung, eine unverantwortliche Zeitvergeudung ist, die womöglich von den bürgerlichen Gesetzen bestraft werden müßte? eine Art Verrat gegen die Menschen, eine trotzige Verrücktheit, die nur Spott und Verachtung verdient? So gibt es wohl einen Augenblick in ihrem Leben (dies ist ihre beste Zeit), wo sie doch die Richtung nach innen einschlagen. Sie kommen dann ungefähr bis zu den ersten Schwierigkeiten; dann aber biegen sie ab. Es ist ihnen, als führte dieser Weg in eine trostlose Wüste / "und ringsumher liegt schöne grüne Weide". Da wenden sie sich dieser zu und vergessen bald jene ihre beste Zeit; auch, und vergessen sie als wäre sie eine Kinderei gewesen. Zugleich sind sie Christen / von den Pfarrern über ihre Seligkeit beruhigt.

LITERATUR, Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Jena 1906