ra-4Willy Moog
Was sind und was sollen die Zahlen?
RICHARD DEDEKIND

Was beweisbar ist, soll in der Wissenschaft nicht ohne Beweis geglaubt werden. So einleuchtend diese Forderung erscheint, so ist sie doch, wie ich glaube, selbst bei der Begründung der einfachsten Wissenschaft, nämlich desjenigen Teils der Logik, welcher die Lehre von den Zahlen behandelt, auch nach den neuesten Darlegungen noch keineswegs als erfüllt anzusehen. Indem ich die Arithmetik (Algebra, Analysis) nur einen Teil der Logik nenne, spreche ich schon aus, daß ich den Zahlbegriff für gänzlich unabhängig von den Vorstellungen oder Anschauungen des Raumes und der Zeit, daß ich ihn vielmehr für einen unmittelbaren Ausfluß der reinen Denkgesetze halte. Meine Hauptantwort auf die im Titel dieser Schrift gestellte Frage lautet: die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, sie dienen als ein Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen. Durch den rein logischen Aufbau der Zahlenwissenschaft und durch das in ihr gewonnene stetige Zahlenreich sind wir erst in den Stand gesetzt, unsere Vorstellungen von Raum und Zeit genau zu untersuchen, indem wir dieselben auf dieses in unserem Geist geschaffene Zahlenreich beziehen. Verfolgt man genau, was wir beim Zählen der Menge oder einer Anzahl von Dingen tun, so wird man auf die Betrachtung der Fähigkeit des Geistes geführt, Dinge auf Dinge zu beziehen, einem Ding ein Ding entsprechen zu lassen, oder ein Ding durch ein Ding abzubilden, ohne welche Fähigkeit überhaupt kein Denken möglich ist. Auf dieser einzigen, auch sonst ganz unentbehrlichen Grundlage muß nach meiner Ansicht, wie ich auch schon bei einer Ankündigung der vorliegenden Schrift ausgesprochen habe, die gesamte Wissenschaft der Zahlen errichtet werden.

Diese Schrift kann jeder verstehen, welcher  das  besitzt, was man einen gesunden Menschenverstand nennt; philosophische oder mathematische Schulkenntnisse sind dazu nicht im Geringsten erforderlich. Aber ich weiß sehr wohl, daß gar Mancher in den schattenhaften Gestalten, die ich ihm vorführe, seine Zahlen, die ihn als treue und vertraute Freunde durch das ganze Leben begleitet haben, kaum wiedererkennen mag; er wird durch die lange, der Beschaffenheit unseres Treppenverstandes entsprechende Reihe von einfachen Schlüssen, durch die nüchterne Zergliederung der Gedankenreihen, auf denen die Gesetze der Zahlen beruhen, abgeschreckt und ungeduldig darüber werden, Beweise für Wahrheiten verfolgen zu sollen, die ihm nach seiner vermeintlichen inneren Anschauung von vornherein einleuchtend und gewiß erscheinen. Ich erblicke dagegen gerade in der Möglichkeit, solche Wahrheiten auf andere, einfachere zurückzuführen, mag die Reihe der Schlüsse noch so lang und scheinbar künstlich sein, einen überzeugenden Beweis dafür, daß ihr Besitz oder der Glaube an sie niemals unmittelbar durch innere Anschauung gegeben, sondern immer nur durch eine mehr oder weniger vollständige Wiederholung der einzelnen Schlüsse erworben ist. Ich möchte diese, der Schnelligkeit ihrer Ausführung wegen schwer zu verfolgende Denktätigkeit mit derjenigen vergleichen, welche in vollkommen geübter Leser beim Lesen verrichtet; auch dieses Lesen bleibt immer eine mehr oder weniger vollständige Wiederholung der einzelnen Schritte, welche der Anfänger beim mühseligen Buchstabieren auszuführen hat; ein sehr kleiner Teil derselben, und deshalb eine sehr kleine Arbeit oder Anstrengung des Geistes reicht aber für den geübten Leser schon aus, um das richtige, wahre Wort zu erkennen, freilich nur mit sehr großer Wahrhscheinlichkeit; denn bekanntlich begegnet es auch dem geübtesten Korrektor von Zeit zu Zeit, einen Druckfehler stehen zu lassen, d. h. falsch zu lesen, was unmöglich wäre, wenn die zum Buchstabieren gehörige Gedankenkette vollständig wiederholt würde. So sind wir auch schon von unserer Geburt an beständig und in immer steigendem Maß veranlaßt, Dinge auf Dinge zu beziehen und damit diejenige Fähigkeit des Geistes zu üben, auf welcher auch die Schöpfung der Zahlen beruth; durch diese schon in unsere ersten Lebensjahre fallende unablässige, wenn auch absichtslose Übung und die damit verbundene Bildung von Urteilen und Schlußreihen erwerben wir uns auch einen Schatz von eigentlich arithmetischen Wahrheiten, auf welche später unsere ersten Lehrer sich wie auf etwas Einfaches, Selbstverständliches, in der inneren Anschauung Gegebenes berufen, und so kommt es, daß manche, eigentlich sehr zusammengesetzte Begriffe (wie z. B. der der Anzahl von Dingen) fälschlicherweise für einfach gelten. In diesem Sinne, den ich durch die, einem bekannten Spruch nachgebildeten Worte  aei ho anthropos arithmetizei [Der Mensch treibt immer Arithmetik - wp] bezeichne, mögen die folgenden Blätter als ein Versuch, die Wissenschaft der Zahlen auf einer einheitlichen Grundlage zu errichten, eine wohlwollende Aufnahme finden, und mögen sie andere Mathematiker dazu anregen, die langen Reihen von Schlüssen auf ein bescheideneres, angenehmeres Maß zurückzuführen.


LITERATUR, Richard Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen?, Braunschweig 1893 [aus dem Vorwort der ersten Auflage]