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Schleichende Panik
Hermann Broch

Es entspricht dem Wesen unserer Epoche, daß die Angstbedrohung, die den modernen Menschen umgibt, eine vornehmlich ökonomische ist, und zwar die einer ökonomischen Unerfaßlichkeit. Der Durchschnittsmensch dieser Zeit, insbesondere der Großstadtmensch, ist unsichtbar
unerfaßlichen ökonomischen Gewalten unterworfen, sie heißen Konjunktur, Inflation, Arbeitslosigkeit, Unrentabilität, und sie können noch hundert andere Namen annehmen, immer aber sind sie in beinahe mythischer Weise übermächtig und so unentrinnbar, daß er sich als willenloser Spielball ihnen überantwortet fühlt. Nicht nur die unmittelbar Betroffenen stehen unter diesem Eindruck, nein, es sind die von der Gefahr noch nicht Betroffenen, jedoch von ihr Bedrohten noch weitaus intensiver der Angst ausgeliefert, und solange Arbeitslosigkeit überhaupt besteht, ist es für die seelische Lage des Volkes beinahe gleichgültig, ob die Arbeitslosenziffer ausnehmend groß oder ausnehmend klein ist, denn die Seele rechnet nicht mit Ziffern, sondern mit Bedrohungsfakten, und das Feuer der Angstbedrohung läuft von jedem noch so kleinen Brandherd weiter; heute steht nahezu die gesamte Großstadtmasse unter dem Angstfluch der Arbeitslosigkeit. Dieser Zustand seelischer Labilität, ein Zustand tiefsten Unbehagens, ist wohl am richtigsten mit dem Worte "Vor-Panik" zu benennen.

Der Zustand der "Vor-Panik" und der des Rationalverlustes sind eng miteinander verbunden; beinahe ließe sich behaupten, daß sie einander definieren. Ihre gemeinsame Konkretisierung im Seelenleben der Großstadtbevölkerung vollzieht sich unabänderlich an den wohlbekannten Symptomen der Intellektualverachtung, des Ratiohasses, des Hanges zur billigen Ekstase, kurzum der Massenwahnbereitschaft: wo das Rationale nicht unabweislich einwandfrei feststeht, also einwandfrei meßbar ist, wird es kurzerhand abgelehnt; nur dem reinen Tatsachenmaterial als solchem wird noch Vertrauen entgegengebracht, nur dieses allein vermag noch Halt zu geben, und deswegen wird es unter strikter Vernachlässigung des Wortes nur noch im Bildhaften, als Zeitungsillustration und auf der Kinoleinwand, oder aber im zahlenmäßigen Ausdruck als meßbarer Rekord oder als meßbarer Gelderfolg akzeptiert und zur Kenntnis genommen, gleichsam als einzig gültige Angstbefreiung, die demgemäß auch zum Quell der billigen Kollektivekstasen im Kino, auf den Sportplätzen und in einer - vom 19. Jahrhundert weitgehend bereits vorbereiteten - materialen Erfolgsanbetung gemacht wird. Allerdings ist dies nur die äußerste Oberfläche: dahinter verbirgt sich die Furcht vor dem allenthalben drohenden Todessymbol der Unerfaßlichkeit und Undurchdringlichkeit, dahinter verbirgt sich die Furcht vor der hoffnungslosen Panik, dahinter verbirgt sich die Sehnsucht nach einem noch größeren Symbol, das mit noch stärkerer Bildhaftigkeit aus all den Realbildern aufsteigen soll, um als gewaltigster Wegweiser haltgebend die Ausfluchtstelle in der bereits begonnenen Panik anzugeben. Es geht um das Symbol der bei aller Hoffnungslosigkeit noch immer ersehnten Ekstase. Die Bildsehnsucht des panikbedrohten Menschen ist Symbolsehnsucht.


LITERATUR, Hermann Broch, Massenwahntheorie, Ffm 1979