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Logik ansich
BERNARD BOLZANO

Die Geschichte der Wissenschaften ist voll von Beispielen, daß man sich im Verlauf der Bearbeitung einer Wissenschaft veranlaßt gesehen, ihr Gebiet zu erweitern und somit anerkannt habe, daß es vorhin zu eng gefaßt worden sei. Hatte man unter der Geometrie Anfangs wohl mehr, als eine Lehre von der Ausmessung der Länder verstanden; und ist man nicht durch die allmähliche Erweiterung dieses Begriffs am Ende bis zu dem so viel umfassenderen einer Lehre vom Raum überhaupt gelangt? Wie also, wenn die Logik nicht bloß die Gesetze aufzustellen hätte, die für gedachte Wahrheiten (wahre Gedanken, wie man sie auch nennt), sondern für Wahrheiten überhaupt gelten? wenn nicht bloß gedachte Sätze (Gedanken), sondern auch Sätze ansich, gleichviel ob sie von irgendjemand gedacht oder nicht gedacht werden, ein Gegenstand wäre, auf den sich die Gültigkeit der logischen Regeln erstrecken muß? Dann würde man ihr Gebiet zu eng begrenzt haben, wenn man es nur auf Gedanken und nicht auf Sätze überhaupt ausgedehnt hätte. Ich hoffe das später wirklich erweisen zu können, und es wird sich zeigen, daß die Quelle der meisten bisherigen Irrungen in der Logik nur eben darin liege, daß man, dies nicht beachtend, gedachte Wahrheiten von Wahrheiten ansich, gedachte Sätze und Begriffe von Sätzen und Begriffen überhaupt nicht scharf genug unterschieden habe. Wär dies aber auch nicht; so ist man doch darüber einig, daß die Logik nur die Regeln anzugeben habe, die bei der Bearbeitung einer Wissenschaft überhaupt zu beobachten sind; daß es ihr keineswegs obliege, die Behandlung, die dieser oder jener einzelnen Wahrheit, z. B. der geometrischen von den drei Dimensionen des Raumes in der Raumwissenschaft zuteil werden soll, anders als höchstens beispielsweise zu bestimmen; daß sie vielmehr nur die Verfahrensarten zu beschreiben habe, welche auf mehrere Wahrheiten zugleich, oder (was ebensoviel heißt) auf eine ganze Gattung von Wahrheiten gemeinschaftlich angewandt werden können. Aus diesem Grunde betrachtet die Logik - (in ihren Lehrsätzen wenigstens, in ihren Beispielen kann es ein anderes sein) - nie einen einzelnen völlig bestimmten Satz, d. h. einen solchen, darin Subjekt, Prädikat und Kopula schon festgesetzt wären, sondern gleich eine ganze Gattung von Sätzen, d. h. alle Sätze auf einmal, die, wenn auch einige ihrer Bestandteile festgesetzt sind, in ihren übrigen noch so oder anders lauten können. So kommt z. B. der einzelne Satz: Einige Menschen haben eine weiße Hautfarbe, höchstens als Beispiel, gewiß aber nicht als der ausschließliche Gegenstand eines eigenen Lehrsatzes in der Logik vor; wohl aber erscheint als ein solcher Gegenstand die ganze Gattung von Sätzen, zu denen jener gehört, nämlich die Gattung von Sätzen, welche den Ausdruck: Einige  A  sind  B,  umfaßt. Will man nun solche Gattungen von Sätzen allgemeine  Formen  von Sätzen nennen (obwohl eigentlich nur die Bezeichnung, d. h. der mündliche oder schriftliche  Ausdruck  derselben, z. B. der Ausdruck: Einige  A  sind  B,  eine solche Form heißen sollte): so kann man sagen, die Logik betrachte nur Formen von Sätzen, nicht aber einzelne Sätze.

LITERATUR, Bernard Bolzano, Wissenschaftslehre, Sulzbach 1857