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ERNST TROELTSCH
(1865-1923)
Über Maßstäbe zur
Beurteilung historischer Dinge


"Der gesetzeswissenschaftlichen Logik, der jeder Einzelfall nur als Anwendung eines allgemeinen Naturgesetzes in Betracht kommt, und welche jedes Einzelne nach streng berechenbaren Kausalgleichungen aus diesen allgemeinen Verhaltensweisen erklärt, steht die individualwissenschaftliche Logik gegenüber, welche das Einzelne in seiner konkreten Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Eigenheit erfaßt."

"Welcher Gegenstand von einem Forscher ergriffen wird, das hängt von seiner Wahl des ihn interessierenden Themas ab, womit er aus der unendlich flutenden Möglichkeit historischer Gegenstände einen herausnimmt, hier den Fluß sozusagen zum Stehen bringt und die diesen Gegenstand bedingenden Vorgänge genetisch untersucht."

"Emil Hammacher hat die moderne Geschichte zu einer Tragödie erklärt, weil unsere Kultur der Bewußtheit alle eben gefundenen rationalen Maßstäbe wieder relativistisch zerdenken muß und den Massen nur die plattesten Allgemeinheiten zugänglich sind, so daß nur der einsame Mystiker in einer den Massen unverständlichen philosophischen Mystik des absoluten Begriffs das Leben zugleich gewinnt und vereint."

"Die Wissenschaft fordert eine absolute rationale Einheit. Alles andere ist ein romantischer Traum und unwissenschaftlicher Unsinn. Die dogmatische Intolleranz eines solchen Rationalismus kommt seiner Ferne vom wirklichen Geschehen gleich und nicht geringer als irgendeine kirchlich-dogmatische."


Hochansehnliche Versammlung!
Verehrte Kollegen!
Liebe Kommilitonen!

Zum zweiten Mal feiern wir den Geburtstag unseres kaiserlichen und königlichen Herrn im Krieg, inmitten der ungeheuren Sorgen und Hoffnungen, die das lange gefürchtete und heute jede Befürchtung übertreffende Schicksalsringen der Weltvölker über und alle europäische Kultur heraufgeführt hat. Von den weitgespannten Fronten, wo unsere Söhne, Brüder, Väter und Freunde mit ihren Leibern den Feind zurückdrängen und soeben den einschließenden Ring glorreich im Osten gesprengt haben, aus allen Städten und Dörfern der Heimat, wo ein angespannter Arbeitsfleiß und Opfersinn sich unserer Soldaten würdig zu machen strebt und ihnen zur Seite tritt in der Rettung des Vaterlandes, von überall her erheben wir heute ehrfurchtsvolle Grüße und Wünsche zu dem Mann, der im Mittelpunkt all dieser Geschehnisse steht, der eine fast übermenschliche Verantwortung täglich auf sich liegen hat und dessen Entschluß- und Willenskraft in letzter Linie überall die Einheitlichkeit und Energie unseres Handelns verbürgt. Um ihn und uns weht Zukunftsluft, nicht mit dem leise verwandelnden Hauch, der stets jede Gegenwart unsichtbar und nur einem feineren Sinn fühlbar umspült und durchdringt, sondern mit der Sturmesgewalt welthistorischer Krisen, in denen Altes sichtbar zerbricht und Neues erschütternd sich ankündigt. Unser kaiserlicher und königlicher Herr trägt seine Verantwortung, wie wir alle wissen und aus jeder seiner Kundgebungen neu erfahren, vor Gottes Angesicht mit der ganzen Seele und mit dem tiefsten Gewissensernst, und darum wissen wir, daß heute seine wie unsere Gedanken der Zukunft zugewendet sind und der Verantwortung, die das gegenwärtige Geschlecht für sie trägt.

Wenn wir heute in diesem engeren Kreis der wissenschaftlichen Arbeit, soweit Jugend oder Alter die Arbeiter bei der gewohnten und gerade in ihrer ungebrochenen Sachlichkeit dem Vaterlang dienenden Tätigkeit zurückgehalten haben, auch unsererseits in tiefem Ernst und froher Dankbarkeit dem Kaiser und König unsere Huldigung darbringen, so führt dabei billig die Wissenschaft das Wort, die mit den Mitteln des Begriffs und des Zielgedankens die geschichtliche Welt zu durchdringen sucht, die am Grenzrain zwischen analysierender und darstellender Geschichtsforschung und konstruierender und idealbildender Philosophie ihren Ort hat, die man Geschichtsphilosophie, Kulturphilosophie oder Ethik nennen mag und die, seit PLATON in seiner Politeia die Grundzüge seiner Staats,- Gesellschafts- und Kulturlehre entworfen hat, ein wesenhafter Bestandteil aller Philosophie geworden ist.

Ihr Problem liegt zunächst einfach genug. Sie deutet nicht die Zukunft aus dem Herkommen autochthoner [eingeborener - wp] Völker, die sich in glücklicher Naivität oder in gewollter Beschränkung stolzen Herrensinnes alles Fremde, Allgemeine und Begriffliche vom Leib halten können und sich nur aus dem Instinkt ihrer historischen Struktur oder einem unbeirrbaren Herrscherwillen heraus ihren Weg bahnen. Das ist die alte Römerweise. Sie deutet sie auch nicht aus einer Mischung primitiver Wahrsagerei, nationaler Selbstgewißheit und damit eng verbundener national-religiöser Inbrunst und ethischer Kritik, wie die Propheten Israels es getan haben. Das ist orientalisch. Sie konstruiert auch nicht aus einer halb philosophischen und halb geoffenbarten Metaphysik den Lauf, den die Dinge nehmen müssen, zusammen mit dem unabänderlichen Ideal, an dem sie gemessen werden müssen, wie die Theologie und Kirchenphilosophie der eigentlich christlichen Periode Europas getan haben. Das ist katholisch und ist aus der katholischen Tradition heraus auch in der modernen Metaphysik vielfach nachwirkend geblieben. Sie arbeitet vielmehr lediglich mit den Mitteln der Wissenschaft und muß darum, wo sie sich nicht in rationalistischen Täuschungen über die Leistungskraft der Wissenschaft verblendet, gerade den Sprung von der wissenschaftlichen Arbeit zur Erfassung und Gestaltung des augenblicklichen Lebens als ihr schwierigstes und vornehmstes Problem betrachten. Ihre Grundlagen und Anfänge liegen aber in der Tat in der reinen Wissenschaft, die bei den modernen Völkern den naiven Trieb des Lebens gedämpft und gebrochen, ihnen dafür aber die Orientierung in einer weiten Umwelt und die Kräftigung ihres Lebens aus dem Schwung der Idee gegeben hat. Eine solche Wissenschaft geht von zwei weit auseinanderliegenden Ausgangspunkten aus. Das ist einerseits die moderne empirisch-historische Forschung, wie sie seit der Renaissance und Aufklärung eingesetzt und im 19. Jahrhundert die gesamte Welt des Historischen, soweit wir Quellen und Überlieferungen besitzen, umfassen gelernt hat. Auf der anderen Seite ist es die moderne Philosophie, die sich von den Täuschungen einer apriorischen Metaphysik losgesagt hat und vielmehr die begrifflichen Mittel erwägt, mit Hilfe deren aus der geschichtlichen Erfahrung heraus der Entwicklungstrieb des großen historischen Lebensganzen erfaßt und zu einem Inbegriff verpflichtender Ziele und Normen ausgedeutet werden kann. Erst von dieser doppelten Grundlage aus kann jeweils die Frage nach den Zwecken und Zielen der Zukunft aufgeworfen werden. Auf ihrer Grundlage haben die Begründer der freien profanen Wissenschaft des Abendlandes, PLATON und ARISTOTELES, in einer Zeit schwerster Krisis des hellenischen Lebens sowohl die empirisch-geschichtliche Wirklichkeit der gegebenen Polis erfaßt als sie vom begrifflich begründeten Ideal der vernunftgemäßen Gesellschaft aus zu gestalten oder zu begrenzen gesucht. Von beiden Ausgangspunkten aaus hat in der welthistorischen Krisis des napoleonischen Zeitalters die deutsche Geschichtsphilosophie und Ethik das Wesen der Vergangenheit und die Aufgaben der Zukunft konstruiert und damit die Idee der nationalen europäischen Staaten auf der Grundlage einer humanitär-liberalen Weltkultur signalisiert, die das Ergebnis des 18. und die Leistung des 19. Jahrhunderts gewesen ist. Heute befinden wir uns in einer ähnlichen Krisis, die ein Jahrhundert von Ideen und Kräften beendet und eine neue uns noch unbekannte Welt für das Abendland und vielleicht auf für den erst heute zusammengeschlossenen Planeten bedeutet. Noch mitten im Sturm der Ereignisse suchen wir uns wie damals ihre Bedeutung zu enträtseln und buchstabieren wir an einem Schicksal, das heraufsteigt. Dazu aber bedürfen wir, daß wir uns der beiden Ausgangspunkte in dem Sinne versichern, den sie im Gesamtzusammenhang der heutigen Wissenschaft haben und von dem aus wir erst den Sprung machen können zur Tat.

Die beiden Ausgangspunkte müssen allerdings neu festgelegt werden. Darauf drängt nicht bloß die Katastrophe der Gegenwart hin, von der wir fühlen, daß sie der liberal-humanitär-rationalistischen Geschichtsphilosophie des Jahrhunderts in vieler Hinsicht ein Ende macht, sondern auch die Entwicklung des abendländischen Denkens selbst, das wie in einer Art geheimnisvoller sympathetischer Ahnung großer historischer Ereignisse den abstrakten und seiner ewigen und allgemeinen Wahrheiten gewissen Rationalismus zurückgedämmt hat.

Verhältnismäßig einfach ist dabei der erste Ausgangspunkt festzulegen, obwohl schon bei ihm diese Tendenz des heutigen Denkens stark zu betonen ist. Die moderne Philosophie hat zwei große neue Anstöße erhalten, die ihren Charakter bedingen. Den einen klaren, starken und eindeutigen erhielt sie von der mathematischen Physik eines GALILEI und NEWTON, die sie mit einem neuen, Erfahrung und logische Konstruktion eng verbindenden Naturbegriff arbeiten ließ und von diesen logischen Begriffen her die gesamte Wirklichkeits- und Begriffswelt neu zu ordnen und zu deuten anleitete. Es ist der Typus der mechanistischen Philosophie, der, zunächst an der räumlichen Erfahrungswelt ausgebildet, zum Inbegriff des logischen und der Vernunft überhaupt wurde und als solcher sich auch die gesamte übrige Erfahrungswelt zu unterwerfen strebte. Den anderen, mehr zersplitterten, langsam wirkenden und vieldeutigen Anstoß erhielt sie von der kritischen Auflösung des kirchlichen Kultur- und Lebenssystems her, wo alles, Staat und Gesellschaft, Religion und Ethik, Wirtschaftslehre und Kunsttheorie sich neu begründen oder überhaupt erst selbständig und bewußt erfassen mußte. Indem diese Neubegründungen überall das kirchliche System durch eine historische Kritik und den Aufweis seiner bloß natürliche Entstehung entwurzeln und zugleich sich selber aus der Antike oder aus ganz modernen Bewegungen andersartig begründen mußten, führten sie zum geschichtlichen Denken im weitesten Umfang, zu jener alles Leben der Menschheit in einen ungeheuren gleichartigen Gesamtvorgang vereinigenden Denkweise, die alles Aufeinanderfolgende und Gleichzeitige nach den ihr eigentümlichen Kausalitätsbegriffen der Einfühlung in Willensvorgänge und geistige Wechselwirkungen begreift. Damit ist innerhalb der modernen Philosophie eine grundlegende Spannung gesetzt, die zu fortwährenden Ausgleichsversuchen führte. Diese Ausgleiche haben dann bald entweder die Geschichte mechanisiert und naturalisiert, bald die Natur historisiert und spiritualisiert oder auch durch komplizierte, dem grundsätzlichen Mechanismus mühsam abgerungenen Freiheitsbegriff die Gebiete zu scheiden versucht. Alle solche Ausgleichsversuche bewegen sich auf dem Boden der Metaphysik und müssen im Grunde, wenn irgendetwas aus der Sache werden soll, hier entgegengesetzte Tendenzen des Wirklichen wie des aus seiner Entwicklung sich herausbildenden menschlichen Denens feststellen. Sie gelangen an die Grenze einer Zerreißung der Wirklichkeit wie der Vernunft, wenn sie auch den Gedanken einer letzten Lebens- und Welteinheit des Alls dabei nicht preisgeben können. In dieser Richtung bewegen sich heute bedeutende Theorien französischer Denker, die in der außerdeutschen Welt großen Anhang gefunden haben und jedenfalls beweisen, daß auch dort der mechanistische Monismus in der Auflösung begriffen ist. Bei uns in Deutschland hat man in der Hauptsache die Lösung lieber von der großen deutschen Nationalphilosophie KANTs aus gesucht, die den Gegensatz und seine Bedeutung nicht aus metaphysischen Welttendenzen erleuchtet, sondern mindestens zuerst und zunächst aus der Selbstbesinnung der Vernunft auf die Ordnungsprinzipien, in denen sie die Erfahrung vereinheitlicht und zum Wissenschaftlich-Begriffenen umbildet. Die Gegensätze gehören dann rein der logisch-methodischen Einstellung auf die in dieser oder jener Richtung zu ordnende, an sich chaotisch-lebendig-einheitliche Erfahrung an und können bei der völligen Unerkennbarkeit des letzten Weltgrundes ansich unaufgelöst bleiben oder besser ihre Auflösung in diesem Unbekannten postuliert werden. Allerdings hatte hier KANT selber nur die Grundsätze der Erzeugung naturwissenschaftlichen Erfahrungswissens und zwar im Sinne der mechanistischen Theorie, ausführlich entwickelt, während er die geistig-geschichtliche Erfahrungswelt wegen ihrer Unräumlichkeit überhaupt einer eigentlich wissenschaftlichen Bearbeitung nicht für fähig hielt. Darin liegt eine eigentümliche Unentschiedenheit, das Grundurteil, daß nur die mechanistische Logik wissenschaftliche Vernunft ist, und die doch tatsächliche Entziehung der geistig-geschichtlichen Welt aus dem Herrschaftsbereich dieser Methode. Damit ist nun aber eben doch ein Unterschied angedeutet, den es möglich sein muß auch positiv zu erfassen. Das ist dann auch in der Tat durch die Arbeit neuerer deutscher Logiker geschehen. Nachdem schon FICHTE und SCHLEIERMACHER im Individuellen das Eigentümliche der historischen Welt und ihren Gegensatz gegen die allgemeinen rationalen Gesetze erkannt hatten, ist dieser Gedanke von DILTHEY, WINDELBAND, RICKERT, HEINRICH MAIER, EDUARD SPRANGER, GEORG SIMMEL und anderen grundsätzlich ausgebaut worden; auch die Lehre WUNDTs kann man wenigstens insofern herbeiziehen, als sie eine besondere Art der Kausalität auf historischem Gebiet beinhaltet und diese besondere Art schließlich doch in der Hervorbringung des Neuen und Individuellen durch eine heterogene [ungleiche - wp] Zeugung besteht. Man wird hinzufügen dürfen, daß unsere großen Historiker mit wenig Ausnahmen bereits selbst instinktiv unter dem Zwang ihres Objektes auf den gleichen Bahnen wandelten, und daß die bezeichnete Theorie der Geschichtslogik geradezu von ihrer Arbeitsweise abstrahiert ist.

Die Theorie ist aus vielen Verhandlungen bekannt und kann hier nur in den Hauptzügen angedeutet werden. Der gesetzeswissenschaftlichen Logik, der jeder Einzelfall nur als Anwendung eines allgemeinen Naturgesetzes in Betracht kommt, und welche jedes Einzelne nach streng berechenbaren Kausalgleichungen aus diesen allgemeinen Verhaltensweisen erklärt, steht die individualwissenschaftliche Logik gegenüber, welche das Einzelne in seiner konkreten Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Eigenheit erfaßt und es nach dem Prinzip der Individualkausalität, d. h. der spezifischen, nur nachfühlbaren Verursachung des Lebendigen durch seine Bedingungen und Voraussetzungen, genetisch verständlich macht. Also: Erklären und Begreifen hier wie dort, aber total verschieden verstandene Erklärungsobjekte und verschieden verfahrende Erklärungsweisen. Den Pol der einen Logik bildet die Physik, den der anderen die im engeren Sinn sogenannte menschliche Geschichte. Die dazwischen liegenden Übergänge und Mischformen können hier außer Betracht bleiben, ebenso die sehr schwierige Frage, ob beide Methoden auf dieselben Objekte bei bloß verschiedener Fixierungsweise des Objektes angewandt werden können, oder ob ihnen nicht auch eine Besonderheit des Objektes mit gegenseitiger Einschränkung und Durchbrechung der beiden Objektreihen durcheinander entspricht. Jedenfalls aber erhellt sich so der Charakter des empirisch-historischen Denkens selbst sehr deutlich. "Individuell" bedeutet hier nicht den Gegensatz gegen Gesellschaft oder Typus oder Masse oder Gesamtzusammenhang, sondern den Gegensatz gegen die Abstraktheit des allgemeinen Gesetzes, also die Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Besonderheit der historischen Gegenstände, mögen sie nun eine Epoche, eine Kulturtendenz, einen Staat, ein Volk, Massenzustände, Klassenrichtungen oder eine einzelne Person betreffen. Eben damit ist dann auch gesagt, daß diese individuellen Gegenstände durchaus nicht des begrifflichen Charakters entbehren; nur ist der Allgemeinbegriff hierbei nicht der des Gesetzes im Verhältnis zum Einzelfall, sondern der der Lebenseinheit zu ihren Elementen, keine abstrakte Fassung immer gleicher Vorgänge, sondern die immer noch anschauliche Repräsentation unzähliger Einzelvorgänge in einem sie zusammenfassenden Ganzen. So sind Begriffe wie Deutschtum, Antike, Renaissance, Katholizismus zu verstehen; aber auch alle Wirkungszusammenhänge wie der 70er Krieg oder das Fridericanische Preußen, ja schließlich die ihren Helden als möglichste Einheit begreifende und erklärende Biographie fallen derart unter das begriffliche Denken. Welcher Gegenstand von einem Forscher ergriffen wird, das hängt von seiner Wahl des ihn interessierenden Themas ab, womit er aus der unendlich flutenden Möglichkeit historischer Gegenstände einen herausnimmt, hier den Fluß sozusagen zum Stehen bringt und die diesen Gegenstand bedingenden Vorgänge genetisch untersucht. Wie ein Scheinwerfer leuchtet er den Strom der Überlieferung ab und erleuchtet dabei mit weiter oder enger gespanntem Lichtkegel die von ihm erfaßte Stelle. Er wird freilich in der Regel solche Gegenstände herausgreifen, die von einer großen, tatsächlichen, weite Gebiete beeinflussenden Wirkung sind, und den hierbei erwachsenden Wirkungszusammenhang mit jenem Kausaldenken erleuchten, das rückwärts jeden Moment von seinen Bedingungen her, soweit die Quellen ausreichen, verständlich macht, aber nicht nach vorwärts aus ihnen das Ergebnis sicher konstruieren kann. So kann er der Reihe nach größte und kleinste Gegenstände herausgreifen und auch sie wieder in der Zusammenschau zu vereinigen suchen, wobei freilich, je weiter die Zusammenschau ausgreift, umso mehr ein Gefüge von Abstraktionen entsteht, das anstelle der Unendlichkeit der realen Vorgänge tritt. Aber auch alle Abstraktionen, und wäre es die Abstraktion eines Begriffs und einer Geschichte der Menschheit, würden Individualbegriffe bleiben. Durch nichts wird diese Sachlage einfacher beleuchtet als durch die berühmten Worte RANKEs, daß es jedesmal nur darauf ankommt, zu verstehen, wie "es" gewesen ist, und daß jede Epoche unmittelbar zu Gott ist, kein Mittel und Durchgang zu etwas anderem, sondern etwas individuell in sich selbst Lebendiges. Ähnlich hat ja auch JAKOB BURKHARDT die rein theoretisch-kontemplative, alles in seiner Individualität begreifende Tätigkeit des Historikers verstanden, wenn er auch nicht wie RANKE den Staat als Objekt bevorzugte. Politische und Kulturgeschichte machen für die Methode keinen Unterschied und rücken überdies bei wirklich genetischer Forschung, bei der Ausbreitung über das ganze Geflecht der Zusammenhänge und Wechselwirkungen, immer näher zusammen. Die Geschichtsschreibung ist heute in der Tat zur Kulturgeschichte geworden, aber bei der Unmöglichkeit, den ganzen Zusammenhang der Kultur einer Epoche gleichzeitig zur Darstellung zu bringen, muß hier dann doch wieder der Forscher die einzelnen Stränge des Geflechts sondern und jeden für sich zur Darstellung bringen, freilich auf dem Untergrund eines allgemeinen Begriffs vom Gesamtwesen der Epoche. Gerade dieser allgemeine Begriff selbst ist aber ein individualwissenschaftlicher, historischer Begriff, die höchste und schwierigste Leistung der historischen Abstraktion.

Die verbleibenden Schwierigkeiten einer solchen Geschichtslogik können hier nicht weiter erörtert werden; genug allerdings, daß diese Theorie den entscheidenden Grundzug des historischen Denkens überhaupt trifft. Wohl aber muß der starke und grundsätzliche Gegensatz eines solchen Denkens gegenüber dem mathematisch-mechanischen nachdrücklich hervorgehoben werden. Sieht man in diesem das Wesen des rationalen Denkens überhaupt, dann müßte jene Geschichtslogik in der Tat als antirationalistisch oder irrationalistisch bezeichnet werden, wie auch ihr Zusammenhang mit der anti-rationalistischen Romantik historisch und sachlich unverkennbar ist; ja man kann sagen, daß die Geschichtslogik DILTHEYs und RICKERTs manche Ähnlichkeit mit BERGSONs anti-rationalem Erkenntnisprinzip der "Intuition" hat; die deutschen Denker suchen nur demgegenüber mit Recht den logischen, abstraktiven und begriffsmäßigen Charakter auch dieses Denkens herauszuarbeiten. Wie sehr dies nun aber auch der Fall sein mag, die Hervorhebung des theoretisch-abstraktiven Charakters auch des Geschichtsdenkens ändert nichts daran, daß gerade ein solches Denken uns vor eine endlose Flut eigentümlicher, überall genetisch zu erklärender, überall nur von der Abstraktion aus dem Fluß herausgegriffener Relativitäten stellt. Wie kann daraus überhaupt eine ideale und allgemeine Zielrichtung des Ganzen oder eines einzelnen historischen Momentes herausgearbeitet werden; oder, wenn eine solche sich von woanders her selbständig ergeben sollte, wie kann diese auf- und niederwogende Fülle des Relativen überhaupt an etwas derartigem gemessen und solchen Zielen zugeleitet werden? Es ist die zweite große Hauptfrage, die sich hier einstellt, die Frage nach den begrifflichen Mitteln, mit Hilfe deren das konkret verstandene geschichtliche Leben an Maßstäben seines Sinnes und Wertes gemessen und eine momentane Lage diesen Idealen nach Möglichkeit entgegengeführt werden kann. Der wesensnotwendige Relativismus des genetisch-historischen Denkens scheint in einem hoffnungslosen und wurzelhaften Gegensatz gegen jeden Gedanken eines allgemeingültigen, absoluten Zieles der Geschichte zu stehen und scheint es völlig unmöglich zu machen, eine historische Krisis in der Richtung auf solche Ziele hin zu lösen. Es ist bekannt, daß RENAN aus diesem Sachverhalt eine grenzenlose Skepsis gerade als Folge des historischen Denkens gefolgert hat, und daß gerade die Historiker von jener Kunst, mit billigen Mitteln zu Geistesreichtum und Tiefe zu gelangen, reichlich Gebrauch gemacht haben. Für einen JAKOB BURKHARDT wurde die Historie ein ästhetisch-kontemplativ-theoretisches Verhalten des Denkens zu den Dingen, das philosophisch seinen Abschluß in einem sehr begreiflichen Pessimismus fand. Ein RANKE entzog sich der gleichen Konsequenz nur durch Anklammerung an freilich ziemlich undeutliche Reste des christlichen Offenbarungs- und Erlösungsglaubens. Am verbreitetsten ist ein gewisser spielerischer Pantheismus, der die historischen Individualbildungen als Ausformungen des in allem gegenwärtigen Allgeistes betrachtet, obwohl ein solcher anti-rationaler Individualismus und Pluralismus allem begrifflichen Sinn des Pantheismus widerspricht; es ist ein Rest des HEGELschen Weltgefühls ohne die strengen Gedanken HEGELs, eine sentimentale Gedankenlosigkeit. Stärkere Willensmenschen greifen angesichts des dramatisch-willensmäßigen Charakters der Historie zu rein gefühlsmäßig begründeten Maßstäben, wie Größe und Macht des nationalen Staates, oder zu den Werten einer ganz persönlichen Innenkultur des Geistes; aber sie entwickeln das nicht aus irgendeiner Notwendigkeit; oder, wenn sie es tun, so vergewaltigen sie damit die unendliche Weite und Fülle des Historisch- Wirklichen von einem sehr partikularen Standpunkt aus. Und schließlich am hilflosesten bleibt hinter dieser individuellen Lebensfülle die Lehre zurück, die nur an das Allgemeinverständlichste appelliert, das überhaupt unterhalb der Sphäre der Vernunft liegt, an den wohlverstandenen Egoismus und an das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl, wobei sie den Menschen vorschreibt, ihr Glück wesentlich in einer rationalen Gesellschaftsverfassung und der Erhaltung und Steigerung des Gattungslebens an und für sich zu sehen.

Wie steht es nun in Wahrheit an diesem Punkt? Eines ist klar und muß aufs nachdrücklichste hervorgehoben werden: wir befinden uns damit in einer neuen Region des Gedankens, die dem empirischen Erforschen und Erklären als eine ganz andersartige gegenübersteht, sowohl dem naturwissenschaftlichen als auch dem historischen Denken, die beide zusammen Ordnung und ein Begreifen der Erfahrungswelt sind. Wir befinden uns mit der neuen Frage in der Region der normativen Ideen, der Idealbildung, die aus dem selbständigen Gefühl einer Verpflichtung unseres Daseins zur Verwirklichung ansich gültiger Werte hervorgeht und deren Anerkennung daher lediglich aus einer Anerkennung dieser Verpflichtung selbst begründet werden kann. Über diese Verpflichtung selbst zu streiten, hat keinen Sinn, sie kann nur anerkannt oder verworfen werden. Auch darüber hat KANT, der Meister des deutschen Denkens, schon alles Nötige gesagt. Wohl aber entsteht die Frage, wie solche Idealbegriffe gewonnen werden können, wie sie sich zum empirisch geschichtlichen Leben verhalten und wie insbesondere ihre Allgemeingültigkeit zu der von der bisher geschilderten Geschichtslogik vertretenen Individualität jedes historischen Momentes in Übereinstimmung gesetzt werden kann.

Das Problem ist natürlich von den früher genannten deutschen Denkern sehr wohl gesehen worden. Aber es hat sich in dem Maß theoretisch zugespitzt und verschärft, als die moderne Geschichtslogik den Gegensatz der Individualität aller historischen Bildungen gegen die rationale Allgemeingültigkeit solcher Beurteilungsmaßstäbe herausgearbeitet hat. Ein SCHLEIERMACHER konnte noch die Individualität des Historischen und die Totalität der Vernunft ohne Bedenken nebeneinander setzen und die einheitliche Vernunft nur jedesmal unter dem Überwiegen eines anderen Teilmoments sich individualisieren lassen. Das ist nach einem Jahrhundert vertiefter historischer Forschung so nicht mehr möglich, ganz abgesehen davon, daß eine Zukunftsgestaltung hier bestenfalls nur durch eine Erkenntnis des jeweils in den Vordergrund sich drängenden Exponenten möglich wäre. Auch FICHTE hat zwischen seinem ethisch-rationalen Menschheitsideal und der von ihm klar erkannten Individualität des Historischen nur die Vermittlung gefunden, daß er das deutsche als das metaphysische Volk der Vernunft bezeichnete und nun wenigstens dieses Volk in ein rational-ethisches Ideal zu verwandeln strebte. Die Rede von der Fülle individueller Nationalgeister als dem Spiegel der Gottheit steht unvermittelt daneben. Die neuere Geschichtslogik und Geschichtsphilosophie mußte einen viel breiteren Grund zur Lösung dieses Problems schaffen. In dieser Lage hat allerdings ein Mann wie DILTHEY vor der Individualität des Historischen kapituliert und in einer bemerkenswerten Ansprache bei seinem siebzigsten Geburtstag die "Anarchie der Werte" als das unmittelbare Ergebnis der großen deutschen Historie und schließlich auch als das seiner eigenen Denkerarbeit bezeichnet. Ein ähnlicher Pessimismus findet sich bei Philosophen, die mehr von der Historie als von den Naturwissenschaften herkommen, nicht selten. Mit dem merkwürdigen Vergnügen, das der moderne literarische Mensch an sich und an der Welt als an tragischen Gegenständen empfindet, hat ein junger Philosoph, EMIL HAMMACHER, die moderne Geschichte zu einer Tragödie erklärt, weil unsere Kultur der Bewußtheit alle eben gefundenen rationalen Maßstäbe wieder relativistisch zerdenken muß und den Massen nur die plattesten Allgemeinheiten zugänglich sind, so daß nur der einsame Mystiker in einer den Massen unverständlichen philosophischen Mystik des absoluten Begriffs das Leben zugleich gewinnt und vereint. Auch so ein scharfsinniger Denker wie GEORG SIMMEL spricht vom tragischen Charakter aller Kultur, weil sie die von der Vernunft erzeugten objektiven Werte derart versachlicht, kompliziert und häuft, daß die subjektive Einzelvernunft keinen Weg mehr zu diesen Werten und ihrem Vernunftgehalt findet. Doch das sind Nebenwege des Gedankens. Auf dem Hauptweg wird die Verbindung der konkreten Geschichte mit objektiven Ziel- und Beurteilungsidealen naturgemäß immer von Neuem erstrebt. Aber eben damit treten dann auch die Schwierigkeiten erst recht zutage.

Vorangegangen auf diesem Weg ist auch hier KANT. Hat er der empirischen Geschichtsforschung keinen eigentlich wissenschaftlichen Charakter zuerkannt, so hat er dafür umso stärker denjenigen des Beurteilungsmaßstabes betont. Er erwuchs ihm aus der einzigen von ihm anerkannten Region der Idealbildung, aus der sittlichen Vernunft, und bedeutete die vollendete Menschheitsgemeinschaft auf Grundlage der sittlichen Freiheit und Selbstbestimmung, für welchen rein geistig-gesinnungsmäßigen Kern er das Gehäuse einer die Freiheit der Einzelnen miteinander kompatibel [passend - wp] machenden Rechtsordnung, in letzter Linie einen rechtlichen Weltbund freier Völker, verlangte. Je nach dem Grad der Annäherung an dieses Ideal sind die historischen Bildungen zu bemessen, und diesem Ideal hat der handelnde Wille die Geschichte nach Möglichkeit entgegenzuführen. Allein hier ist nun klar, wie rein rationalistisch - rationalistisch nur nicht im Sinne der mathematisch-mechanischen Erfahrungsforschung, sondern im Sinne der Bildung allgemeingültiger, unveränderlicher, zeitloser Ideale - diese Begriffsbildung ist. Sie stammt nicht aus der Geschichte, sondern aus der Vernunft und tritt als Vernunftforderung dem unreinen Gemisch von sinnlichen und idealen Antrieben gegenüber, das die wirkliche Geschichte darstellt. Es bedarf keines Wortes, daß ein derart abstraktes Ideal auf eine im Sinn des individualwissenschaftlichen Denkens verstandene Geschichte überhaupt nicht anwendbar ist, wie auch der wirkliche Verlauf der Geschichte in den letzten hundert Jahren von diesem Ideal sich eher entfernt als sich ihm genähert hat. Zudem ist aber auch vom eigenen Standpunkt der idealbildenden Vernunft aus diese moralistisch-rechtliche Ideal viel zu eng; es ist auch von der großen deutschen Poesie und der nachkantischen Philosophie sofort auf Religion und Kunst, seitdem auf immer Mehreres erweitert worden. Die Totalität der Vernunft als Inbegriff der Ideen ist von SCHLEIERMACHER, WILHELM von HUMBOLDT und HEGEL in diesem weiteren Sinn unvergeßlich bestimmt worden. Auch fehlt in der kantischen Lehre ein innerer Zusammenhang zwischen dem empirischen Geschichtsverlauf und seinem behaupteten begriffsgemäßen Ziel; weder das moralische Postulat eines Sieges der sittlichen Freiheit über die Natur, das er ja selbst in das Jenseits und die Unsterblichkeit erstreckt, noch die Andeutungen der teleologischen Urteilskraft über einen Zusammenklang von Natur und Freiheit in der geschichtlichen Entwickung stellen hier einen näheren Zusammenhang mit der wirklichen Geschichte fest. Eine solche Kritik gilt auch von allen Fortsetzungen der spezifisch kantischen Denkweise, damit auch von den geschichtsphilosophischen Theorien der Marburger Kantschule, die jedenfalls an diesem Punkt von allen modernen Theorien KANT am meisten treu geblieben ist. Ihr ist der vernunftgemäße Sinn der Geschichte, die Herstellung der Willenseinheit der Menschheit in einem moralisch-rechtlichen System der Willensverbindung, wie es die Aufgabe der Naturwissenschaft ist, die synthetische Einheit des mathematischen Naturbegriffs hervorzubringen. Gegenüber dem wirklichen Lauf der Geschichte kommt es darauf an, die in den Einzelwissenschaften der Volkswirtschaft, des Rechts, der Pädagogik und der Religionswissenschaft bereits vorliegenden Vorformungen dieses Ergebnisses in dieser Richtung auf das Ziel zu verstehen und weiterzuentwickeln. Danach sieht es aus, als vollzöge sich das Leben der Geschichte in den Wissenschaften von ihren Teilfaktoren und in deren schließlicher Vereinheitlichung, als wäre ihr Sinn, eine wissenschaftliche Systemeinheit der Willen zu schaffen, die der Gesetzeseinheit der Natur parallel geht und das Entzücken abstrakter Rationalisten bilden kann. Das aber ist ein KANT noch weit überbietender Rationalismus. Man braucht nur das scharf geprägte Buch von GÖRLAND, "Ethik als Kritik der Weltgeschichte" zu lesen, um mit Entsetzen diese Weltenferne der abstrakten Zielsetzung gegenüber der wirklichen Geschichte wahrzunehmen und in der Polemik gegen die unbelehrbaren romantischen Toren, gegen die Verehrer der nur angeblich irrationalen, in Wahrheit durch die Unendlichkeitsrechnung leicht zu rationalisierenden Individualität den Geist eines mathematischen Rationalismus als die Quelle einer solchen Stellungnahme zu erkennen. Hier ist die Region des mathematisch-naturwissenschaftlichen Rationalismus mit der Region der rationalen Idealbildung derart zusammengeflossen, daß als Ziel des Geschichtsprozesses geradezu die bloße Erringung einer wissenschaftlichen Einheitsidee von der Geschichte erscheint. Beide ansich verschiedenartigen Rationalismen verstärken sich hier gegenseitig. So will es angeblich die Wissenschaft, die die absolute rationale Einheit fordert. Alles andere ist ein romantischer Traum und unwissenschaftlicher Unsinn. Die dogmatische Intolleranz eines solchen Rationalismus kommt seiner Ferne vom wirklichen Geschehen gleich und nicht geringer als irgendeine kirchlich-dogmatische.

Entfernt sich eine derartige Lehre von der konkreten Geschichte bis zum Nichtwiederfindenkönnen, so wird die rationalistische Grundtendenz fortgesetzt von der HEGELschen Schule, aber in eine engere Verbindung mit jener gebracht. Aus dem Wesen des Denkens selbst wird die Fülle des konkreten, auf Recht und Staat, Kunst, Religion und Philosophie hindrängenden Begriffs entwickelt und dieser Begriff selber als die treibende, sich selbst realisierende Kraft des gesamten Weltprozesses und seiner Gipfelung in der menschlichen Kultur konstruiert. Auch das ist ein rein rationalistisch, ewig, allgemeingültig begründete Ideal, das aber als welterzeugende und entwickelnde Kraft beweglich gemacht ist und den Rhythmus seiner Bewegung wiederum nur der logischen Dialektik des sich selber explizierenden Gedankens verdankt. Es soll hier nicht auf die allgemeinen philosophischen Unmöglichkeiten einer solchen Theorie hingewiesen werden, sondern nur auf die auch hier vorliegende Spannung zwischen dem Konkret-Historischen und dem Rational-Begrifflichen. Nimmt man das letztere streng in seinem begrifflichen Sinn und seiner nur logisch bedingten Explikation, dann entsteht eine ungeheuerliche Vergewaltigung der wirklichen Geschichte, trotz der tiefen Blicke in das Wesen der konkret-individuellen historischen Gebilde, die HEGEL getan hat. Entnimmt man aber daraus nur die Methode, historischen Gebilden ihren einheitlichen begrifflichen Sinn abzugewinnen, so werden diese Begriffe sofort zu Individualbegriffen und zerstören jeden Zusammenhang mit einer a priori konstruierbaren, einheitlichen Normalidee der geschichtlichen Werte. So ist es RANKE gegangen, dessen historische Ideen zu Individualbegriffen wurden, und der darum jede Epoche unmittelbar zu Gott sein ließ, was die Leugnung jeder Vermittlung durch die in allgemeinen Durchgangsstufen sich auseinanderziehende Idee HEGELs ist. Der Widerspruch zwischen der rationalen Idee und der individuell-konkreten Geschichte bleibt daher auch bei HEGEL trotz der denkbar innigsten Ineinanderziehung bestehen. Gibt man sich hin an die wirkliche Geschichte, so verschwindet die Idee; konstruiert man aus der letzteren, so verschwindet die reale Geschichte. Es ist sicherlich einer der großartigsten Versuche, die Geschichte philosophisch zu begreifen und das Problem des Verhältnisses von realem Geschehen und idealem Maßstab zu lösen, aber seine tiefen historischen Einsichten stammten nicht aus dem System, sondern aus dem historischen Tiefsinn HEGELs selbst. Das System aber zerbricht an der Inkongruenz seiner Bestandteile, des individuell-konkreten Geschehens und des rationellen, allgemeingültigen Maßstabes. Je mehr in der Folge bei einem solchen Auseinanderfallen die schon berührte Skepsis oder ein rein zufälliges und willkürliches oder auch lediglich konventionelles Ideal und Ausleseprinzip sich zum bewußten oder unbewußten philosophischen Herrn der Geschichtsforschung aufwart, umso mehr strebte man freilich wieder zum tiefsinnigen Meister historischer Gedankenbauten zurück. Wir haben heute eine Erneuerung des HEGELschen Gedankens unter uns, freilich bis jetzt ohne ihren eigentlichen Nerv, die Dialektik oder apriorische Konstruktion des Geschichtsverlaufes aus der Idee, die sein Grund, Ziel und Beurteilungsmaßstab zugleich ist. Aber jedenfalls neigen heute wieder viele zum Gedanken einer Totalität von Kulturwerten oder eines Systems des Geisteslebens, das Beurteilungsmaßstab und irgendwie auch aus einem tieferen Grund emporstrebender, den Mechanismus des bloßen Seelenlebens durchbrechender und überhöhender Entwicklungstrieb ist. Namentlich RUDOLF EUCKEN hat diese Gedanken eindrucksvoll vertreten. Aber welches auch immer ihr sonstiges Verdienst sein mag, gerade an dem hier in Frage stehenden Punkt leiden auch sie an einer bedenklichen Unbestimmtheit oder, wenn es keine solche ist, an einem peinlichen Widerspruch. Das "Geistesleben" ist entweder in Wahrheit aus unserem abendländischen Kulturstand abstrahiert und dann kein rational notwendiger Maßstab, wie es doch bei seiner Verwachsenheit mit der Vernunft und dem All beansprucht, oder es ist wirklich rational aus dem Wesen des Geistes hergeleitet, und dann ist es gegenüber der weltweiten Menschheitsgeschichte mit ihren ungeheuren Gegensätzen ebenso hilflos wie die HEGELsche Idee, deren Kind im Grunde ja das EUCKENsche Geistesleben ist. Dieses letztere, die freischwebende Herleitung des Geisteslebens und der zeitlosen Vernunft, hat nun EUCKEN allerdings grundsätzlich geleugnet und ausdrücklich die Eroberung des Wahrheits- und Idealgehaltes einer Epoche aus ihrem geschichtlich erreichten Bestand heraus als Tat und Wagnis gefordert. Die Philosophie empfängt hier ihre Aufgabe vom Leben, das seinerseits nirgends still hält. Es gilt ihm, überall erst vom Arbeitsergebnis der Geschichte vorzudringen zum Idealgehalt, der hierin beschlossen ist und der das Mehr-als-menschliche ewigen Gehaltes in sich birgt. Er proklamiert ausdrücklich den Satz, daß wir unsere historische Bedingtheit eingestehen dürfen, ohne darum auf Wahrheit und Ewigkeit Verzicht leisten zu müssen, ein Satz, der dem RANKEschen Wort von der Unmittelbarkeit jeder Epoche entspricht, Aber dieses "Mehr-als-menschliche" wird ihm dann doch sofort zum All-Leben, zu einer Erschließung des Alls, ohne daß die innere Bewegtheit in das All selbst, d. h. in den Gottesbegriff, hineingetragen wäre. Hier klafft nun aber dann erst recht der Gegensatz zwischen dem All und dem Individuell-Besonderen der jeweiligen Wahrheit. Das All und das Verhältnis des Geisteslebens zu ihm erinnert an HEGEL, die Hervorbringung des Ideals jeder Epoche aus ihr selber durch eine schöpferische, spontane und freie Kritik und Durchdringung ihrer selbst ist ein neuer Gedanke, der nicht völlig seine letzten Folgerungen gezogen hat.

Sehr eigentümlich liegt nun schließlich das Problem beim bedeutendsten Geschichtsphilosophen der Gegenwart, bei HEINRICH RICKERT, der ja gerade die größten Verdienste um die Erweisung des individualwissenschaftlichen Charakters der empirischen Geschichtsforschung hat. Auch er will der Gefahr der Skepsis oder der ästhetisierenden Kontemplation entgehen, auch er erkennt die Region der Ideal- und Normbegriffe an aufgrund ihrer ethischen Gefordertheit. Aber auch er konstruiert diese Begriffe als ein rationales, von der autonomen Vernunft aus sich hervorgebrachtes System der Werte, was nichts viel anderes ist als die HEGELsche "Idee" oder das EUCKENsche "Geistesleben". Aber neu und eigentümlich ist bei ihm die Verbindung dieses rationalen Systems mit der konkreten Geschichte. Er tut es, indem er die Gesichtspunkte, nach denen der Forscher die Tatsachengruppen aus dem Fluß des Geschehens zum Zweck einer individualbegrifflichen Fixierung und Erklärung aussondert, mit den objektiven Werten des Systems der Werte verbindet. Sie sollen das Auslese-Prinzip bilden, und dadurch bekommt die ansich ganz subjektiv-beliebige Auswahl das feste Gerippe einer objektiven Nötigung. So soll die Ordnung der Tatsachen den Halt an einer vernunftnotwendigen Systematik der Werte empfangen. Darin - und nicht, wie man zunächst glauben muß, in der möglichst objektiven Durchführung der Erklärungsprinzipien - liegt der wissenschaftliche und objektive Charakter der Geschichte. Das Ausleseprinzip wird dann von selbst zum Beurteilungsmaßstab. Allein so blendend diese überaschende Wendung des Gedankens ist, sie entgeht doch auch ihrerseits nicht den bisher überall aufgewiesenen Unmöglichkeiten der Vereinigung von individualwissenschaftlicher empirischer Forschung und rational-notwendiger, schlechthin allgemeingültiger Beurteilsmaßstäbe. Denn erstens ist das System der Werte tatsächlich in den Arbeiten der Historiker gar nicht das Ausleseprinzip. Das ist in Wahrheit überhaupt nicht streng zu bestimmen und wird in der Praxis wesentlich beim historisch Wirksamen liegen, einerlei ob dieses Wirksame einem apriorischen Kulturwert entspricht oder nicht. Aber wären die Kulturwerte noch in einem viel strengeren Maß das Ausleseprinzip, als sie es tatsächlich sind, so wäre doch ein Ausleseprinzip noch kein Beurteilungsprinzip. Die Auslese würde beim komplizierten Charakter des Systems der Werte von dem einen oder anderen geleitet in der Themastellung, aber man dürfte den so herausgegriffenen Komplex nicht an einem vollen und reichen System der Werte messen. Das dürfte man nur dann, wenn dem ganzen Verfahren nicht diese formal-logische, methodologische Begründung, sondern eine inhaltliche metaphysische Theorie in der Weise HEGELs zugrunde gelegt wäre. Wollte man aber die trotz aller Verwerfung der Metaphysik im Grunde doch sehr metaphysisch empfundene Lehre RICKERTs in diesem Sinn interpretieren, so würde man als auf den letzten unauflöslichen Gegensatz, auf den zwischen dem von ihm so stark betonten individuellen Charakter der historischen Bildungen und dem autonom-apriorisch-rationalen Charakter eines allgemeingültigen und objektiven Systems der Werte stoßen. Der Zusammenstoß wird in diesem Fall umso heftiger, als das System der Werte ja hier nicht wie bei KANT aus dem formalen Wesen der sittlichen Freiheit, noch wie bei HEGEL aus einer Analyse des Denkens gewonnen ist, sondern in Wahrheit als ein inhaltlich erfülltes System aus dem wirklichen Geschichtsverlauf heraus abstrahiert ist, im wesentlichen der abendländischen Kultur entspricht und nun doch wieder, in die Sphäre der autonomen Allgemeingültigkeit und Apriorität versetzt, diesen am objektiven Ideal zu messen uns befähigen soll.

Diese Schwierigkeiten sind auch bei RICKERTs Schülern nirgends gemildert worden, so treffliche Arbeiten wir ihnen verdanken. Ja, das neue Lehrbuch der Geschichtsphilosophie von MEHLIS läßt sie ganz besonders stark hervortreten, je deutlicher es die Annäherung des RICKERTschen Gedankens an den HEGELs kennbar macht. Hier tritt der rationalistische Charakter auch dieses Systems der Werte, das zwischen einer apriorischen Deduktion aus der autonomen Vernunft und einer Abstraktion aus dem realen Verlauf in der Schwebe bleibt, insbesondere deutlich zutage durch den Satz, daß den festesten und klarsten Kern des Systems die Autonomie des pflichtmäßig zu bejahenden wissenschaftlichen Wahrheitswillens bildet und daß die anderen Kulturwerte erst nach dem Maß ihrer Analogie mit dem wissenschaftlichen Wahrheitswert als solche zu erkennen und zu konstruieren sind. Völlig autonom a priori konstruiert ist also nur der "wissenschaftliche Wert", die anderen schwanen zwischen einem wissenschaftsartigen Vernunftgehalt und empirischen Beschreibungen, die von bevorzugten Punkten der abendländischen Kulturgeschichte hergenommen sind. Neukantischer Transzendentalismus, klassisch-antike Kunst, moderner Rechtsstaat und neuplatonische Mystik bilden bei diesem Geschichtsphilosophen faktisch das System der Werte und das objektiv-notwendige Ausleseprinzip für den darstellenden Historiker. Das aber ist in Wahrheit eine Zusammenstellung sehr persönlicher Urteile und hat weder mit der objektiven Vernunft, noch mit der realen Geschichte einen zwingenden Zusammenhang. Am allerdeutlichsten wird das dadurch, daß bei einer derart geleiteten Auslese und Beurteilung zwischen "absolut-historischen" und nur "relativ-historischen" Tatsachen unterschieden werden muß. Die ersteren sind die bei einer Messung an jenem System der absoluten Werte ins Auge fallenden, die letzteren die, von ihm aus geurteilt, gleichgültigen oder gar wertfeindlichen. Die gleichgültigen verdanken ihren Ort in der Historie nur dem Erklärungsbedürfnis, indem sie in den Wertzusammenhang des Absolut-Historischen als Mittel und Voraussetzungen aufgenommen werden, die wertfeindlichen als negative Jllustrationen der positiven Werte. "Ihr Dasein in der Geschichte hat also den Sinn der Erklärung und des Verständlichmachens." Eine solche Methoe aber ist die Behandlung der Geschichte als Jllustrationsmaterial für ein rationales System der Werte, das selber nicht fest und sicher konstruiert ist, sondern größtenteils erst durch die Auslese des Jllustrationsmaterials, die Geschmack und Sinn des Verfassers vornimmt, Farbe und Bestimmtheit erhält.

Was ist nun unter diesen Umständen zu tun? Muß angesichts des Charakters der empirisch-historischen Forschung nicht doch der ganze Gedanke geschichtsphilosophischer und ethischer Maßstäbe aufgegeben werden? Darauf wird ein energischer Lebenswille, der sich nicht zerdenken läßt und um seiner selbst willen auf Sinn und Ziel des Werdens nicht verzichten kann, in einem engen Bund mit der ethischen Überzeugung, daß es eine mit dem moralischen Bewußtsein selbst gesetzte Pflicht ist, an einen Sinn und ein Ziel zu glauben und ihren Inhalt stets von Neuem zu suchen, ein nachdrückliches Nein antworten. Dieses Nein kann sich überdies wissenschaftlich darauf stützen, daß alle Versuche einer fingerfertigen Entwicklungsdialektik, die in der Geschichte spontan und kraft innerer Selbstgewißheit auftauchenden Ideale in bloß psychologisch herleitbarre Jllusionen, Produkte oder Reflexe aufzulösen, bei jedem wirklichen konkreten Erklären und Ableiten versagen. Die Erzeugung immer neuer, aus einer selbständigen und autonomen Vernunftregion stammender Normen und Ideale, die zwar überall von einem Gegebenen ausgehen, aber es zugleich aus einer geheimen Produktionskraft des Geistes heraus verwandeln und berichtigen, ist eine zweifellose Grundtatsache des Geistes. Nur wo Wille und Glaube erlahmt, da erlahmt auch diese Kraft und gibt sich einfach dem Fluß des Vorhandenen preis; dann entlarvt das Denken alle Maßstäbe des Sollens als Reflexe des Tatsächlichen, rühmt seine eigene Gegenwart als illusionsfreie, alles erklärende Erkenntnis und konstruiert die Vergangenheit als das romantische Zeitalter der Jllusionen. Der Fehler liegt dann aber in Wahrheit in einer solchen Gegenwart, in der Verkennung der ganzen Vernunftregion spontaner, autonomer und niemals ruhender Erzeugung von Maßstäben des Gesollten. Also auf die Maßstäbe selbst kann und darf nicht verzichtet werden. Wohl aber muß dann auf jenen Charakter der Maßstäbe verzichtet werden, der mit dem individuellen Charakter aller wirklichen Geschichtsbildungen unvereinbar ist, auf die Allgemeingültigkeit, Zeitlosigkeit, Absolutheit und Abstraktheit dieser Maßstäbe, auf ihre einfache Einerleiheit mit der Vernunft ansich oder mit dem göttlichen Weltwesen. Spontaneität, Apriorität, Selbstgewißheit ohne Zeitlosigkeit, Allgemeingültigkeit und Absolutheit: das ist die allein mögliche Formel. Sie bedeutet zugleich, daß solche Maßstäbe aus jeder großen Gesamtsituation heraus neu gebildet und gefunden werden müssen.

Der Gedanke bedarf einer näheren Verdeutlichung, obwohl wir in Wirklichkeit stets praktisch nach ihm verfahren, sei es, daß wir die in unserer Lage entstandenen Maßstäbe naiv und selbstverständlich für unbedingt halten, sei es, daß wir ihre Unbedingtheit und Zeitlosigkeit nachträglich aus logischen, metaphysischen und entwicklungsgeschichtlichen Theorien beweisen. Im ersten Fall gleichen wir jenem Handwerksburschen, der meinte, er sei nun weit in der Welt herumgekommen und habe die verschiedensten Namen für das Wasser kennengelernt, aber Wasser sei es eben doch schließlich; im anderen Fall gleichen wir jenen Theologen, die den erkalteten Niederschlag einer großen seelischen Eruption als Dogma durch dick und dünn verteidigen und mit denen die Philosophen oft mehr Ähnlichkeit haben als sie glauben, nur daß die hinter ihnen liegenden Eruptionen meistens weniger vulkanisch sind. Unsere Maßstäbe entstehen in Wahrheit durch eine kritische Auslese aus dem Kulturbesitz eines ganzen großen Wirkungszusammenhangs, wie etwa in unserem Fall des Ganzen der abendländischen Kultur, unter Berücksichtigung aller in ihm lebendigen, wenn auch vielleicht augenblicklich gerade zurückgedrängen Kräfte. Eine allgemeine Erschütterung des Kultursystes durch innere Krisen oder durch Berührungen mit fremden Welten wie etwa der des Ostens, oder eine von innen her notwendig gewordene Selbstbesinnung rütteln den gesamten Gehalt auf, reinigen und vereinheitlichen ihn. Sie akzentuieren seine einzelnen Bestandteile neu oder anders als bisher, betonen und organisieren ihn gegenüber fremden Einbrüchen oder inneren Zersetzungsverfahren, nehmen etwas hereindringendes Neues und Fremdes, wenn es sich als Fortführung und Vertiefung des eigenen Lebens erweist, auf, wie etwa die Spätantike das Christentum. In all dem aber schaffen sie nicht nur eine neue Synthese des Vorhandenen, sondern in der neuen Synthese selber steckt zugleich etwas bisher überhaupt nicht Vorhandengewesenes, das aus dem Alten hervorgeht und doch eine neue Lebenstiefe bedeutet. Es ist ein apriorisches und spontanes Schaffen, insofern das Neue wirklich aus inneren Tiefen hervorbricht und sich nur durch seine innere Selbstgewißheit und seine den Willen bestimmende Macht beglaubigt. Aber es ist kein Schaffen aus dem Nichts und keine Konstruktion aus der Vernunft, sondern ein Umbilden und Fortführen aus der Vernunft, sondern ein Umbilden und Fortführen, das zugleich die Einhauchung einer neuen Seele und eines neuen Geistes ist. Das letzte Geheimnis dieser Vorgänge ist der Glaube an die darin offenbare und zwingende momentane Vernunft und die Kraft des Willens, einen solchen Glauben zu bejahen. SO ist das bekannte Wort GOETHEs von den Epochen des Glaubens zu verstehen, die immer die großen gewesen sind. Von einem bloßen Subjektivismus [mfk] der Einfälle und der Gewaltsamkeiten sind solche Maßstabbildungen getrennt durch ihre tiefe und lebendige Einfühlung in das historische Ganze, aus dem sie erwachsen, und durch die Gewißheit, darin einen inneren Zug der Entwicklung, eine innere Lebensbewegung des Alls oder der Gottheit zu ergreifen. Individualität ist nicht gleichbedeutend mit Subjektivität [resl]. Daher die so häufige religiöse Begründung solcher Schöpfungen. Es ist das ja auch das ganze Geheimnis dessen, was die Theologen Offenbarung nennen. Es ist eine intuitive Einstellung in den Gang der göttlichen inneren Wesensbewegung, die niemand a priori konstruieren oder auch nur a posteriori rationalisieren kann, die vielmehr am gegebenen Punkt lediglich mit einem Gefühl zwingender Notwendigkeit und Klarheit hervorbricht. Derart erwachsen im Propheten, im politischen Genie, im künstlerischen Stil, in der Intuition des großen Historikers, in der Systematik des echten Philosophen die Deutungen der Zeit und der Zukunft, wobei man nicht immer gleich an ungeheure Menschen im Sinne des Heroenkults zu denken braucht, sondern auch das Sinnen, Grübeln, Sehnen und Kritisieren der Massen in diesem Sinne verstehen kann.

Für historisch so hell bewußte Zeitalter, von denen das GOETHE-Wort gilt, daß, wer nicht von dreitausend Jahren sich vermag Rechenschaft zu geben, im Dunkeln und der Unerfahrenheit von Tag zu Tag leben mag, in ihnen ist bei all dem die historische Selbstbesinnung des ganzen Kulturkreises ein wesentliches Hilfsmittel einer solchen Ideenbildung. Sie tritt anstelle der nur instinktiven Intuition und sichert die innere objektive Notwendigkeit. Das ist dann eben der kulturphilosophische Ort der wissenschaftlichen Historie. Sie braucht nicht notwendig nach diesem Ort hin zu streben, aber sie wird teils von einem Bedürfnis kulturphilosophischer Besinnung herangeholt, teils zieht es sie in einer Zeit kritischer Umbildung ganzer Kulturgehalte von selbst an diesen Ort, wo ihr eine entscheidende Anteilnahme an der Gestaltung des Lebens möglich wird. Darin ist es begründet, wenn die Historiker wesentlich doch immer an der Erleuchtung unseres eigenen Kulturkreises und seiner Grundlagen arbeiten, da trotz alles vorurteilsosen Sinnes für fremdeste Individualitäten der Aufbau unserer Welt aus Orient und Mittelmeerkulturen doch schließlich für Interesse und Verständnis am nächsten liegt, wenn sie trotz aller objektiven Versenkung in das beliebigste Gewesene doch immer wieder von einem Problem und dem Lebensstand ihrer eigenen Gegenwart aus die Dinge anfassen und beleuchten, wie RANKE, der sein Leben auslöschen wollte, wenn er dafür wissen könnte, wie es gewesen ist, im Grunde doch immer nur das germanisch-romanische Völkersystem zu erleuchten suchte. Darin hat es auch seinen vollberechtigten Grund, wenn sie in der lebendigen Darstellung des Ganges der Dinge diesen nicht bloß genetisch begreifen, sondern in das Begreifen, das laute und leise Pathos ihres niemals von der Gegenwart ganz unabhängigen Urteils einmischen. Von ihnen gilt dann nur das Wort, das Jesus von einem Mann gesagt haben soll, den er am Sabbat arbeiten sah:: Selig sind die, wenn sie wissen, was sie tun.

Von Beurteilungsmaßstäben kann in diesem Sinne zunächst überhaupt nur für den Geschichtszusammenhang der Gegenwart die Rede sein, also für die letzten zwei oder allenfalls fünf Jahrhunderte der abendländischen Geschichte. Nur in ihrer Bewegung stehen wir innerlich genug, um sie wirklich aus ihr herausarbeiten zu können, und nur sie bedarf solcher Maßstäbe, um ihre eigene Bewegung durch sie zu leiten. Darin liegt die bekannte Schwierigkeit aller Gegenwartsgeschichte, darin aber auch ihr zentrales Interesse, das sie schließlich immer zum Blickpunkt des Historikers macht. Das bedeutet nun aber nicht, daß wir gegenüber vergangenen und fremden Zusammenhängen auf alle Maßstäbe zu verzichten haben, sondern nur daß auf diese die Maßstäbe, mit denen wir unseren eigenen Zusammenhang beurteilen, nicht unmittelbar übertragen werden dürfen. Wollen wir solche fremden Totalitäten geschichtlichen Geschehens beurteilen, so kann und darf das nur eine sogenannte immanente Kritik sein, die sie an ihrem eigenen Wesen und Ideal ihrer selbst mißt. Zu diesem Zweck bedarf es eben jener Konstruktion der allgemeinsten historischen Begriffe, in denen wir das Wesen einer Epoche aussprechen, die bei ihrer Entfernung vom reinen Tatsachenmaterial so schwer zu bilden sind und so solten bei den verschiedenen Darstellern übereinstimmen, die aber doch unentbehrlich sind zum Verständni. Denn eine Epoche verstehen, heißt sie an ihrem eigenen, wenn auch noch so komplizierten Wesen und Ideal messen. Ist dies nun aber den fremden Totalitäten gegenüber das in erster Linie geforderte Verhalten, so bleibt es natürlich in zweiter Linie die Aufgabe, diesen fremden Geist mit dem des eigenen Zusammenhangs zu vergleichen und so auch an ihm zu messen. Fassen wir ihn ja doch zumeist überhaupt nur durch die Wahrnehmung von Gegensatz und Ähnlichkeit gegenüber unserem eigenen Leben erst in seiner Eigentümlichkeit auf. Wir werden nicht darauf verzichten dürfen, diese verschiedenen eigentümlichen Totalitäten aufeinander zu beziehen und entweder in Übereinstimmung oder Gegensatz zu charakterisieren. Dann aber beurteilen wir in Wahrheit die fremde Welt nicht nur an ihrem eigenen, sondern auch an unserem Maßstab. Es ist eine Beurteilung ersten und eine solche zweiten Grades. Diese Beurteilung zweiten Grades hat nun aber wichtige weitere Folgen. Vermöge ihrer entdecken wir einen inneren Zusammenhang der sich kontinuierlich aneinander reihenden Totalitäten, wie wir einen solchen von den vorderasiatischen Reichen bis zum modernen Abendland deutlich vor uns haben, und auf der anderen Seite Gegensätze, die doch ein irgendwie Gemeinsames nur anders gestalten und verstehen und nun ihrerseits eine eigene Welt historischen Zusammenhangs bilden, wie es die ostasiatische Welt heute allmählich vor unseren Augen enthüllt. Dabei ist der Maßstab, nach dem wir diese Reihen und Gegensätze anlegen, ein in der Vergleichung selbst spontan sich erzeugender. Er verfügt über keine andere Sachlichkeit, als die bei jeder Vergleichung nötige, möglichst objektive Versenkung in das Fremde und die damit eintretende Relativierung des eigenen Standpunktes sie mit sich bringen, über keine andere Notwendigkeit als die der persönlichen Entscheidung und Stellungnahme gegenüber einem derartig ausgeweiteten Zusammenhang. Der Maßstab und die ihm entsprechende Konstruktion der Reihen und Gegensätze werden daher auch bei verschiedenen Denkern stets verschieden sein. In seiner Bildung liegt die Genialität der großen umfassenden Geschichtsdenker, die nicht so zahlreich sind, daß wir mit einer Überfülle möglicher Maßstäbe zu rechnen haben. Jede endgültige Entscheidung zwischen ihnen bleibt aber auch dann eine sehr persönliche Einstellung in den Sinn des Werdens, den der Urteilende eben damit zu ergreifen glaubt. Darüber hinaus gibt es in Wahrheit keine höhere, außersubjektive Instanz. Indem wir dann aber die so gebildeten Reihen als einen inneren Werdezusammenhang und ihre Gegensätze als Verschiedenheiten innerhalb einer doch gemeinsamen seelischen Welt erkennen, bilden wir den historischen Entwicklungsbegriff. Er bedeutet nichts anderes als eine solche Anordnung von Reihen und von Gegensätzen innerhalb der paar uns zugänglichen Jahrtausende. Indem wir solche Reihen und Gegensätze schließlich metaphysisch auf einen in ihnen sich durchsetzenden inneren Drang und Trieb der Vernunft auf den letzten göttlichen Grund, auf die innere bewegung des göttlichen Geistes im Endlichen, zurückführen, bilden wir einen an der Grenze aller Wissenschaft liegenden Gedanken, der je nach der Anordnung jener Reihen sehr verschieden gebildet wird und dessen Recht keine strenge Wissenschaft mehr beweisen kann, der aber doch - ausgesprochen oder nicht ausgesprochen - erst den Abschluß und letzten Hintergrund aller Historie bildet. Er bürgt uns allein dafür, daß die Bewegung historisch-individueller Wirklichkeiten doch in einer letzten Einheit ruht, die nur bei ihrer eigenen Bewegtheit sich jedem Begriff entzieht und die daher mit den Worten "Einheit" und "All" nur sehr unzureichend bezeichnet wird.

Damit ist der innere Gegensatz zwischen historisch-empirischer Forschung und kulturphilosophischer Idealbildung überwunden. Beide bleiben völlig selbständig nebeneinander, aber sie heben sich nicht gegenseitig auf. Freilich wird manchen der dafür bezahlte Preis, der Verzicht auf die Objektivität zeitloser, unbedingter, absoluter Allgemeingeltung zu hoch erscheinen, wird ihnen der hierbei zugrunde gelegte Begriff des Apriorischen bedenklich dünken und werden sie für den Zusammenhang der Maßstäbe mit, oder, wie man heute lieber sagt: der Weltvernunft, verhängnisvolle Konsequenzen fürchten. Darauf muß noch mit einigen Sätzen eingegangen werden, die vielleicht gerade durch ihre Kürze den Gedanken am besten verdeutlichen.

Zunächst der hierbei vorausgesetzte Sinn der Apriorität! Sie bedeutet nichts anderes als die letztlich nur durch ihre Sinnbedeutung überführende Autonomie solcher Maßstabildungen und ihre Unerklärbarkeit als bloßen Voraussetzungen und Antezedentien [Vorgeschichte - wp], mit denen sie wohl in Kontinuität stehen, denen gegenüber sie aber doch etwas Neues sind. Das bedeutet eine nicht weiter ableitbare spontane Kraft des Geistes und eine Überführung durch den inhaltlichen Sinn, der für seine Begründung nicht wieder einen Sinn usw. braucht. Eine solche Apriorität ist eine einfache Tatsache des Lebens, sie anzuerkennen ist ein Entschluß des Willens. Ohne eine solche Willensanerkennung gibt es überhaupt keine gültige Apriorität. Bekanntlich ist der Nachweis der Apriorität oder autonomen, nicht bloß zufällig psychologisch entstandenen, sondern in sich selber zwingenden Gültigkeit irgendeines Gedankens eine der schwierigsten philosophischen Aufgaben. Eine tatsächlich allgemeine Anerkennung ist nicht vorhanden, weshalb man der quastio facti die quaesto iuris mit Recht entgegensetzt. Die quaestio iuris aber läßt sich ihrerseits nur mit der rationalen Notwendigkeit oder der Herkunft aus dem Wesen der Vernunft beweisen. Diese Notwendigkeit selber aber ist nur ein Ergebnis der Selbstbesinnung, der Aufweis einer unableitbaren Letztheit in jeder Gedankenregion und kann als solche in Wahrheit nur durch den stellungnehmenden, unter eine intuitiv empfundene Notwendigkeit sich beugenden Willen anerkannt werden, wie umgekehrt das Recht dieser Anerkennung nur durch die Fruchtbarkeit des Gedankens nachträglich bestätigt werden kann. Das gilt von den Vernunftnotwendigkeiten aller Regionen und wird heute auch in den Naturwissenschaften zunehmend anerkannt. Die formale Logik und die Mathematik bleiben dabei eine Sache für sich, da sie es mit der Erfahrungswirklichkeit nur mittelbar zu tun haben. Dadurch werden die Aprioritäten nicht zu subjektiven Einfällen oder nützlichen Hypothesen. Sie gehen ja nach ihrem eigenen Grundgefühl aus dem Wesen der Vernunft hervor; diese aber ist vom menschlichen Denken nur durch immer neue Versuche der Einstellung in ihren inneren Gang und Trieb zu ergreifen. Das Evidenzgefühl ist nichts anderes als das Gefühl, das eine solche gelungene Einstellung begleitete, muß aber sein wirkliches Recht erst durch die Leistung des gefundenen Gedankens zum Verständnis des Wirklichen bestätigen. In jedem anerkannten Apriopri bleibt ein Stück Wagnis und Tat, ein Ergreifen des sich als notwendige Vernunft darbietenden Gedankens durch einen Willen, der es daraufhin wagt, die Erfahrung nach diesem Gedanken zu ordnen und zu beurteilen. Sein endgültiges Recht entscheidet erst die Leistung, die so zustande kommt.

Die Objektivität solcher autonomer und insofern a prior gebildeter Maßstäbe liegt also in zwei Momenten begründet, einmal in einer aufmersamsten, vorurteilslosesten Versenkung in die Tatsachen, in den ganzen Wirkungszusammenhang, dem wir angehören, und sodann in einer Herausbildung von Idealen dieses Kulturkreises aus dem tatsächlichen Leben, die sich in der Einstellung auf einen darin aufsteigenden geistigen Gesamtzusammenhang des Lebens wei, die aber diesen Zusammenhang in allen Krisen neu ergreifen und neu hervorbringen muß. Jedes Ergreifen ist ein Hervorbringen, das sich als Gehorsam gegen den Genius der Geschichte weiß, wie man zu sagen pflegt und womit man den nur in einer solchen Intuition ergreifbaren, niemals begrifflich konstruierbaren inneren Zug des Weltwerdens meint. Gewiß wird man für die beschreibende und gliedernde Erfassung eines solchen jeweiligen Gesamtzusammenhangs des Geistes gewisse allgemeine Kategorien anwenden, den Begriff eines Systems der Kultur, der sich aus den Einzelwerten der Familie, des Staates, des Rechts, der Wissenschaft, der Kunst, der Religion, der Wirtschaft zusammensetzt. Allein ein solches System ist selbst erst aus der Erfahrung abstrahiert und bedeutet lediglich formale Kategorien, die in jeder konkreten Kultur mit eigentümlichem Inhalt erst erfüllt und überdies in eine ihr eigentümliche innere Synthese gebracht werden. Sie bilden kein Idealsystem, das aus der Vernunft ansich konstruiert werden könnte und in Annäherung an welches sich das wirkliche Geschehen befände, oder dessen Individualisation es wäre, sondern nur Kategorien, in welche sich das Geflecht des historischen Lebens zerlegen läßt und die jedesmal mit einem eigentümlichen und besonderen Inhalt ausgefüllt sind. Sie werden in einem solchen Geschehen erfüllt, aber nicht individualisiert. Hält man aber fest, daß eine solche Erfüllung für jede Gegenwart aus der lebendigen Versenkung in die Geschichte und der hingebenden Ergreifung ihres jeweils wirkenden Zuges in das Ideal hervorgeht, dann ist das alle Objektivität, die wir brauchen. Individualität ist ja nicht gleichbedeutend mit Subjektivität. Objektiver ist in Wahrheit nie ein Beurteilungsmaßstab gewesen, am wenigsten ein solcher, der zwar in der Theorie als ewig, zeitlos und absolut konstruiert wurde, bei der Anwendung aber garnicht angewendet werden kann, weil er hier erst "individualisiert" oder weil er der unüberwindlichen Geistesfeindschaft und Bosheit erst "angepaßt" werden muß und weil er erst im unendlichen Progreß, also gar nicht, angewendet werden kann. In der "Individualisation" oder "Anpassung" steckt ja doch die gleiche Subjektivität es Maßstabes, wie die hier grundsätzulich vertretene. Ihr fehlt nur das Eingeständnis ihrer selbst. Der unendliche Progreß aber ist der endgültige Verzicht.

Von der richtig verstandenen Objektivität ist also die Zeitlosigkeit, Ewigkeit, Allgemeingültigkeit und Absolutheit der Maßstäbe wohl zu unterscheiden. Die erstere ist möglich, die zweite nicht; und wo man die erste auf die zweite zu begründen für nötig hält, verwickelt man die erste in das Schicksal der zweiten. Denn jene zeitlose Unverändlichkeit als Merkmal wahren Seins und wahrer Geltung, wobei auf letztere ja heute viele das wahre Sein zurückzuführen streben, ist der Rest des eleatischen Denkens in der abendländischen Welt, wie ja auch die platonischen Ideen bekanntlich unter dem Eindruck dieses eleatischen Axioms gebildet worden sind. Die Zeitlosigkeit und Unveränderlichkeit des Geltens mag für die formale Logik und Mathematik gelten, aber für die Erkenntnis der Erfahrungswissenschaften auf dem Gebiet der Natur wie der Geschichte sowie für die Bildung der kulturphilosophischen Maßstäbe besteht sie nicht und kann sie nicht bestehen. Denn diese Begriffe verändern sich mit der extensiiiven und intensiven Ausdehnung unserer Erfahrung, auch wenn ihr Gegenstand ansich unveränderlich bliebe. Sie verändern sich aber vor allem deshalb, weil ihr Gegenstand selbst im Fluß begriffen ist und eine diesem Fluß entsprechende fortwährende Neugestaltung des Denkens verlangt. Dies gilt von der Geschichte gewiß, vermutlich auch von der Natur und der Materie, deren Unveränderlichkeit und lediglich eindeutige Auffassungsmöglichkeit zu den Vorurteilen einer immer noch eleatisch und demokritisch gebundenen Naturwissenschaft gehören mag. Darüber steht nur dem Naturforscher ein Urteil zu, hier sei nur auf diese Möglichkeit hingewiesen, um die innere Bewegtheit und Veränderlichkeit des Gegenstandes auf dem Gebiet der Geschichte als weniger ungeheuerlich erscheinen zu lassen. Unter solchen Umständen wird aber dann begreiflich, daß es echte und wahre Gültigkeit geben kann, die nicht zeitlos und unveränderlich-ewige Gültigkeit, sondern die dem jeweiligen Bestand entsprechende und darum nur, soweit wie dieser reicht und dauert, auch allgemeine Gültigkeit ist. Dem Gesamt-Fluß des Lebens selbst aber kann man mit keiner Wissenschaft beikommen. Er kann nicht ohne Einheit, Zusammenhang und Sinn sein, sonst würde unser Denken nicht seine einzelnen Konstellationen empirisch-wissenschaftlich und normwissenschaftlich erfassen und fixieren können. Aber Einheit und Sinn des Ganzen läßt sich nur ahnen und fühlen, aber nicht wissenschaftlich ausdrücken und konstruieren. Nicht aus dem All können wir den einzelnen Moment befestigen, sondern aus den Festigkeiten des einzelnen Momentes können wir das All in seinem Gesamtsinn als ein immer lebendiges und tätiges ahnen.

Damit stehen wir dann allerdings beim Letzten, bei Gottesgedanken, der als irgendwie vorausgesetzte Grundvorstellung der Dinge hinter allem Denken liegt. Jedenfalls gibt es ohne ihn oder irgendein Analogon zu ihm keine Maßstabbildung. Kennt man für ihn nur die zeitlose Unveränderlichkeit des Immer-sich-selbst-Gleichen, dann werden die Maßstäbe im Ideal ewig und unwandelbar sein wie die Gottheit selbst, einerlei ob man an die absolute Substanz glaubt oder, wie heute viele vorziehen, an das absolute Gesetz, so oder so ist es rationalistischer Monismus, von dem es keinen Weg zur Vielheit der Wirklichkeit und ihrer Bewegung gibt und von dem aus auch alle Kulturmaßstäbe zu ewigen Vernunftgesetzen werden, die erst individualisiert oder deren Realisation in die Unendlichkeit des Prozesses verlegt werden muß. Das heißt aber, sie müssen wieder aufgehoben werden, wenn man etwas mit ihnen anfangen will. Geht man aber mit HERAKLIT und mit der prophetisch-christlichen Ideenwelt von der nie begrifflich erschöpfbaren, schaffenden Lebendigkeit des göttlichen Willens aus - wobei andere Elemente dieser Gedanken hier außer Betracht bleiben können -, dann entschwindet freilich jede Möglichkeit einer Konstruktion des Gesamtgeschehens der Welt und unserer demgegenüber winzigen planetarischen Geschichte, aber wir gewinnen die Lebenstiefe, aus der heraus mit der inneren Beweglichkeit und Wandlung Gottes selber auch die Wandlung und Beweglichkeit der Wahrheit und des Ideals verständlich wird zusammen mit einer trotzdem verbleibenden Einstellung auf eine letzte Wahrheit und Einheit, die aber nur Gott selber weiß, wenn man sein Wissen Wissen nennen darf. Dann verschwindet auch all der Drang, irgendeine menschliche Wahrheit oder Idealbildung als absolut zu bezeichnen; aber wir behalten die Möglichkeit, in der relativen Wahrheit und dem relativen Ideal göttliches Leben zu erfassen. Wir sind in beständiger Bewegung auf das Absolute, das selber nur in der Einheit seiner Lebensfülle für sich selber existiert und nicht begriffen werden kann, weil es überhaupt kein Begriff ist. Das eigentliche Wagnis alles nicht bloß formalen Denkens besteht darin, daß wir einen aufblitzenden Vernunftgedanen als Ausfluß der göttlichen Lebendigkeit zu betrachten, zu erfassen und durchzuführen wagen. Täuschung ist hier nirgends von vornherein auszuschließen. Wer falsch gegriffen hat, hat sich damit aus dem göttlichen Lebensprozeß herausgestellt, und wer ein richtiges Ergreifen gegen die Masse nicht durchsetzen kann, ist der Märtyrer der Idee. Ohne Wagnis, ohne Fehlgrif, ohne Martyrium gibt es kein Ergreifen von Wahrheiten und Werten. Das war immer so, und davon hat kein Fortschritt der Wissenschaft und des Denkens die Menschen befreien können, auch nicht der Fortschritt der objektivsten Wissenschaften, d. h. der Naturwissenschaften, deren Methoden man darum ebenso oft als ergebnislos die Methode der Historie und gar auch die der Idealbildung hat angleichen wollen.

So besteht der Preis, den wir für die Beseitigung der Spannung zwischen empirischer Historie und kulturphilosophischer Maßstabbildung bezahlen, nicht in der Preisgebung von etwas, das wir überhaupt besessen hätten. Vielmehr werden wir umgekehrt frei von allerhand Begriffsgespenstern, die uns bei der Bildung unserer Maßstäbe irrezuführen pflegen.

Wir werden frei von der Zuschneidung aller kulturphilosophischen Maßstäbe auf den Begriff der Menschheit. Was wissen wir von der Menschheit? Wie lange ist sie schon anwesend auf diesem Planeten, wie lange wird er für sie bewohnbar bleiben oder die menschheitliche Lebenskraft dauern? Von Jahrhunderttausenden oder, wie andere wollen, von Jahrmillionen, die beim Kommen und Gehen der Eiszeiten der Mensch auf unserer Erde wohnt, kennen wir leidlich die letzten 6000 Jahre und innerhalb dieser im Wesentlichen nur unseren Kulturkreis und seine Voraussetzungen. Was nicht zu ihm gehört, verstehen wir schwer. Schon Rußland gegenüber, das doch mit uns die Überlieferung des Christentums und der spätantiken Erlösungsmystik teilt, versagen unsere kulturphilosophischen Maßstäbe. Von der Seele des Ostens vollends sagen alle, die sie verstanden zu haben glauben, sie hätten sie nicht verstanden. Dann aber kann die Geltung unserer Maßstäbe nicht abhängig sein von ihrer Geeignetheit, die Gesamtmenschheit zu umfassen und zu verbinden; sie kann nur abhängig sein von ihrer Entsprechung zu unerer eigenen Wirklichkeit und unseren eigenen Voraussetzungen. Sie können aus Berührungen mit fremden Welten eine Anregung und Bereicherung schöpfen, aber nicht die übergeordnete Vernunft- und Menschheitseinheit dadurch herbeiführen. Sollte eine solche jemals eintreten, dann wird es durch politisch-soziale Ereignisse zuerst geschehen und dann eine neue Idealbildung hervorrufen, die sicher anders sein wird als alles, was heute für uns Abendländer ausgemachte Wahrheit ist. Nicht ohne guten Grund ist die alte "Weltgeschichte" in Verruf gekommen und RANKE hat die Menschheit durch die germanisch-romanischen Völker ersetzt. Das ist die notwendige Folge wirklich geschichtlichen Denkens und steht der Idealbildung, die wir nötig haben, nicht im Weg. Die "Menschheit" war in diesen Fällen doch immer nur der Ersatz der ewigen, göttlichen, objektiven Vernunft oder auch Gottes. Lernen wir über diese letzteren Dinge anders denken, dann brauchen wir auch nicht jedesmal die ganze Menschheit für unsere Maßstabbildung in Bewegung zu setzen.

Weiter werden wir frei von den Täuschungen des üblichen Fortschritts- und Entwicklungsbegriffs. Dieser Begriff soll uns im Grunde nur trösten über die Nichtverwirklichung der Ideale in der uns unbekannten Geschichte, indem diese in der Unendlichkeit des Prozesses oder Fortschritts wenigstens am Ende oder mindestens in der sich kompensierenden Gesamtsumme menschlichen Daseins erreicht werden. Er soll ferner durch den Aufweis der angeblich notwendigen Entwicklungsstufen vom prähistorischen Wilden bis zum vollen Kulturmenschen uns einen festen Halt für die Konstruktion der Ideale aus dem gesetzlich-notwendigen Verlauf gewähren, so daß wir aus dem bisherigen Verlauf den weiteren konstruieren können. Aber all das sind offenkundige Täuschungen. Eine Gesamtentwicklung der Menschheit kennt in Wahrheit niemand auch nur von fern und somit auch kein Gesetz dieser Entwicklung. Jede Orientierung dieses Verlaufs an einer schließlichen Verwirklichung der absoluten Vernunft mediatisiert jede Gegenwart. Das goldene Zeitalter des verwirklichten und vollendeten Fortschritts kann den modernen Denker so wenig trösten wie das messianische Zeitalter die alten Juden. Und umgekehrt kann die Aussicht auf einen Wiederabstieg, die doch bei der Analogie mit dem organischen Leben nahe genug liegt, uns nicht entmutigen. Der letzte Mensch, der nach DUBOIS-REYMOND die letzte Kartoffel an der letzten Kohle rösten wird, kann uns nicht schrecken, wenn es diesen Menschen schon so unzählige Male vorher gegeben hat. Der Gedanke einer Entwicklung der Gesamtmenschheit, mag er in der Analogie des Organischen Aufstieg und Abstieg bedeuten oder in der Analogie des logischen Gedankens endlos fortschreitende Selbstverwirklichung des immanenten Erkenntnisdranges, hilft uns für die Maßstabbildung in Wahrheit gar nichts. Wir kennen nur Entwicklung, Werden und Welken in den großen Einzelzusammenhängen, und hier ist jeder einzelne in der Tat unmittelbar zu Gott, schöpft sein Ideal seiner selbst aus seiner Geschichte und aus seiner inneren Einstellung in die innerhalb seiner sich vollziehende göttliche Lebensbewegung. Wie oft sich solche großen Kulturzusammenhänge neu bilden mögen; wieviele nebeneinander und nacheinander bestehen können; ob sie schließlich vielleicht in eine einheitliche Menschheitskultur zusammengehen: all das wissen wir nicht. Genug, daß jeder große Zusammenhang sein eigenes Leben und seine eigenen Ideale hat. Leiden wir unter deren Hemmung in tausend Kleinheit und Gemeinheit, Verworrenheit und Sinngebundenheit, dann ist es immer noch vernünftiger, an eine Vollendung des Individuums, das dazu bestimmt und fähig ist, jenseits des Leibestodes zu denken, als sich mit einem Entwicklungsergebnis zu beruhigen, das die letzten Generationen genießen werden und das auch für sie nicht sehr wahrscheinlich ist. Will man aber den Entwicklungsbegriff nicht in dem rational-teleologischen Sinn verstehen, sondern als gesetzliche Abfolge von notwendig aufeinanderfolgenden Stufen, so wäre gerade damit die Idealbildung überhaupt zerbrochen. Weit entfernt davon, von der gesetzlichen Skala den Sinn und das Ziel unserer eigenen Lebensbewegung ablesen zu können, wären wir dazu verflucht, die Stufe zu ertragen, in die wir gerade eben zufällig hineingefallen sind. Es wäre nicht bloß überhaupt aus mit jeder lebendigen Individualität geschichtlicher Bildungen, sondern vor allem mit jeder Möglichkeit, frei aus der Lage heraus das ihr entsprechende Ideal zu formen, das doch niemals mit ihrer empirischen Wirklichkeit zusammenfällt. Es gäbe dann überhaupt keine Maßstäbe, sondern nur Schicksale, das Marxistische des Sozialismus oder das LAMPRECHTsche der Reizsamkeit. Bei der Unmöglichkeit, diese Schicksale wirklich streng zu beweisen, können wir dann zwischen den verschiedenen Schicksalskündern wählen und sind dann erst recht mitten im Subjektivismus, den erst der Wille zu eigener verantwortlicher Idealbildung überwindet.

Eben damit werden wir vor allem frei zur Antwort auf die drängenden Lebensfragen unseres abendländischen Kulturkreises selbst, die aus der Auflösung der christlich-kirchlichen Kultur seit dem 18. Jahrhundert für uns entsprungen sind und unter denen die religiöse Frage in letzter Linie entscheidend ist. Wir brauchen sie nicht aus einem rationalistischen System absoluter Wahrheiten beantworten, das nur die weltliche Umformung des kirchlich-dogmatischen Absolutismus ist; auch nicht aus einer Entwicklungsdialektik, die den gemeinsamen und immer gleichen Grund und Zielpunkt des historischen Werdens aus diesem selbst herausdestilliert; noch brauchen wir sie aus einer naturgesetzlichen Abfolge der Kulturperioden zu konstruieren. Das alles ist immer nur das gleiche Bedürfnis nach einer eleatischen Starrheit und Selbstgleichheit der Maßstäbe, das schließlich doch im kirchlichen Dogma am sichersten befriedigt wird. Wir müssen vielmehr aus unserem Kulturkreis selbst durch seine historische Analyse und kulturphilosophische Bearbeitung seinen eigenen Lebensdrang herausholen und ihn mit der souveränen Frische behaupten, die allein gegenüber fremden an uns herantretenden Welten eine Bereicherung ermöglicht statt dogmatischer Kämpfe oder relativistisch-müder Kapitulation. Ein Kulturkreis, der Antike, Christentum, Mittelalter und modernes Europa in sich schließt, braucht nicht so rasch zu kapitulieren, sondern bedarf nur des Glaubens an sich selbst, den er sich von skeptischen und rationalistischen Philosophen nicht ausreden und auch nicht verflachen lassen darf.

Aber im gegenwärtigen Moment der furchtbarsten Krisis der europäischen Kultur liegen uns ganz andere Fragen viel näher. Auf für sie und gerade für sie liegt in dieser Denkweise die Möglichkeit einer Antwort. Die gegenwärtige Krise hat eine tiefere, innere Wesensverschiedenheit der europäischen Völker offenbart, als wir bisher bei unseren allzu stark vereinheitlichenden Begriffen von der abendländischen Welt angenommen hatten. Das entspricht nur der ganzen grundsätzlich individualwissenschaftlichen Denkweise der Historie und darf gerade von ihr aus nichts Überraschendes für uns haben. Daraus folgt aber, daß die Neugestaltungen der Zukunft sehr stark unter diesem Sondercharakter stehen werden, so dringlich uns weltpolitisches Interesse wie religiöse und kulturelle Gemeinschaft auch immer an die Wiederverbdingung der Völkergemeinschaft mahnen muß. Die deutsche Zukunft werden wir daher noch vor allem als deutsche betrachten und gestalten müssen. Wir müssen uns noch tiefer als bisher versenken in unsere Geschichte und produktiver, zukunftsgläubiger als bisher den Weg bahnen, auf dem sich der neue deutsche Staat auch als eine lebendige und zukunftskräftige geistige Einheit gestaltet. Viele Tausende denken und grübeln heute über das Wesen des Deutschtums. Die Historie muß es uns kennen und verstehen lehren, aber sie allein kommt hier nie zu einer Einheit und nie zu einer Zukunft. Sie kann nur eine sehr bunte und widerspruchsvolle Wirklichkeit sehen, solange sie reine Historie bleibt. Alle Einheit ist lediglich Ideal und Arbeit, gestaltende Kraft und von ihr ergriffene Zielrichtung, d. h. die Maßstabidee, die aus der Versenkung in unsere geschichtliche Lebenfülle und unseren gegenwärtigen Stand heraus sich der idealbildenden Intuition ergibt und nur vom Willen bejaht werden kann. Gerade in diesem Gedanken des Deutschtums, der heute vor uns sich mächtiger aufrecht als jemals zuvor, treffen die beiden Grundrichtungen des kulturphiosophischen Denkens, die historisch-empirische Versenkung und die souveräne, aus der Gewißheit des Einklangs mit dem schaffenden Weltwillen stammende Idealbildung, zusammen.

Wir wissen, daß unser kaiserlicher und königlicher Herr solchen Aufgaben immerdar nachgesonnen hat und seit langem die Zeichen der Zeit zu deuten für unsere Pflicht hält. Heute strömen die Gedanken von vielen Tausenden in sein und seiner Ratgeber Denken hinein, wollen in ihm den Ausdruck und die Verkörperung ihres Zukunftswillens und ihrer Zukunftshoffnung finden. Möchte ihn und uns alle der Genius unserer Geschichte erleuchten. Aber über das bloße Denken hinaus ist es das Vorrecht der Herrscher, mehr als andere den Sprung vom Gedanken zur Tat zu tun. Der Kaiser wird in letzter Linie über wesentliche Grundlagen unserer innenpolitischen und außenpolitischen Existenz entscheidende Entschlüsse zu fassen haben. In dem Gefühl, daß wir solchen Stunden entgegengehen, scharen wir uns heute noch fester um ihn als sonst, und mitfühlend mit der großen Verantwortung, mitzürnend auf den heute noch trotz aller bisherigen Erfolgslosigkeit und aller Opfer fortdauernden Unterdrückungswillen unserer Gegner, mithoffend auf eine Zukunft neuen und edlen Friedens, mitvertrauen auf die göttliche Leitung unserer Geschicke, rufen wir ihm den Geburtagsgruß zu:


Gott segne und schütze Seine Majestät den Deutschen
Kaiser und König von Preußen, Wilhelm II.!



LITERATUR Ernst Troeltsch, Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge [Rede zur Feier des Geburtstages "Seiner Majestät des Kaisers und Königs", gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, am 27. Januar 1916], Berlin 1916