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Ad Majorem Dei Gloriam
Der Schein trügt
JAMES JOYCE

Nichts ist so irreführend und trotz alledem so verlockend wie eine schöne Oberfläche. Das Meer im warmen Sonnenglanz eines Sommertags; der Himmel, blau im zarten bernsteinfarbenen Schimmer der Herbstsonne, gefallen dem Auge gar wohl: doch wie anders bietet sich das Schauspiel dar, wenn der wilde Zorn der Elemente die Zwietracht des Aufruhrs von neuem wachgerufen hat; wie anders der Ozean, kochend vor Brodeln und Brausen, als das stille, friedliche Meer, das in der Sonne glänzend sich heiter kräuselte. Doch das beste Beispiel für die Unbeständigkeit der Erscheinung sind: der Mensch und das Glück. Ein kriecherischer, unterwürfiger Blick, eine hochmütige und überhebliche Miene verbergen gleichermaßen die Wertlosigkeit des Charakters. Das Glück - dieser glitzernde Tand, dessen Schimmer arm und reich betört und mit ihnen sein Spiel treibt - ist so wechselhaft wie der Wind. Dennoch - es gibt ein "Etwas", das uns den Charakter eines Menschen verrät. Das Auge ist es. Der einzige Verräter, den selbst der eiserne Wille eines verruchten Bösewichts nicht beherrschen kann. Das Auge ist es, das dem Menschen Schuld oder Unschuld entdeckt, die Laster oder die Tugenden der Seele. Hier haben wir die einzige Ausnahme, für die das Sprichwort "Der Schein trügt" nicht gilt. In allen anderen Fällen muß nach dem wahren Wert erst gesucht werden. Das Gewand des Königtums oder der Demokratie sind nur die Schatten, die ein "Mann" hinter sich wirft. "O traurig Los des Armen, der an Königs Gunst gebunden!" Die launische Flut des stets sich wandelnden Glücks bringt beides mit sich - Gutes und Böses. Wie schön erscheint es uns nicht als Sendbote des Guten und wie grausam als Künder des Verhängnisses! Wer die Launen eines Königs hofiert, ist wie eine Nußschale auf diesem weiten Meer. So erkennen wir den Trug des äußeren Scheins. Der Heuchler ist die schlimmste Spielart des Schurken, denn unter dem Schein der Tugendhaftigkeit verbirgt er das schlimmste aller Laster. Der Freund, ein wahrer Wetterhahn des Glücks, scharwenzelt und kriecht zu Füßen des Reichtums. Doch ein Mensch, der keinen Ehrgeiz, keinen Reichtum, keinen Luxus außer dem der Zufriedenheit, kann die Freude des Glücks nicht verbergen, das aus einem reinen Gewissen und einem freien Sinn fließt.

Laus Deo Semper
James A. Joyce


LITERATUR, Richard Ellmann, James Joyce, Ffm 1994