p-4ra-1B. ErdmannA. RapoportG. LindnerF. MauthnerW. Wundt    
 
HELGA ENG
Abstrakte Begriffe im
Sprechen und Denken des Kindes

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"Ein vierzehnjähriges Mädchen, dessen Wortvorrat ich untersuchte, hatte selbst ziemlich gewöhnliche abstrakte Worte nicht verstanden. Über  Nachdenklichkeit äußerte sie: Ich kann nicht begreifen, warum dieses  keit da sein soll, das mit  keit verstehe ich nicht."

"Abstraktion als der Vorgang, wodurch Allgemeinbegriffe gebildet werden, hat die Aufgabe, das Gleiche oder Ähnliche in verschiedenen Bewußtseinsinhalten hervorzuheben und sie zu neuen Bewußtseinsinhalten zu vereinigen."

"Das einzige logische Merkmal eines Allgemeinbegriffs ist, daß wir seine Allgemeinheit denken. Damit aber das Bewußtsein eine Richtung gegen die Einheit der Dinge soll haben können, müssen die Dinge vereinigt sein. Und die Richtung des Gedankens gegen eine zufällige Einheit von Dingen ist kein Allgemeinbegriff. Die Einheit, die als ein Allgemeinbegriff gedacht werden soll, muß eine bestimmte abgegrenzte Gruppe von Dingen sein, die infolge gewisser gemeinsamer Merkmale vereinigt sind."

"Das Auge gibt uns nur Gesichtsempfindungen z. B. von einem Apfel, und es wird von anderen Sinnesqualitäten wie Geruch, Geschmack, abstrahiert. Empfinden ist schon eine elementare Abstraktion."


II. Abstrakte Begriffe
im Alter von 10 - 14 Jahren


1. Eigene Untersuchungen über den Vorrat
abstrakter Begriffe bei Schulkindern

Den ersten Anstoß zu diesen Untersuchungen über abstrakte Begriffe bei Kindern im schulpflichtigen Alter haben einige Beobachtungen gegeben, die ich zufällig vor fünf Jahren machte. Ein vierzehnjähriges Mädchen, dessen Wortvorrat ich untersuchte, hatte selbst ziemlich gewöhnliche abstrakte Worte nicht verstanden, wie z. B. "Wachstum", "Tüchtigkeit". Sie meinte: "Ich weiß nicht, was das bedeutet, ich habe das Wort nie gehört." Sie konnte "zerstreuen" nicht von "Zerstreuung" unterscheiden: "Ich habe nie darüber nachgedacht, ich glaubte, zwischen den beiden Worten gäbe es keinen Unterschied." Über "Nachdenklichkeit" äußerte sie: "Ich kann nicht begreifen, warum dieses "keit" da sein soll, das mit "keit" verstehe ich nicht." Sie begriff nicht die Zusammensetzung mit "mäßig" (1), z. B.  standesmäßig.  Einen Ausdruck wie "das Duften der Blumen" faßte sie auf als "eine Blume ist duften" (2). Auch die Komposita mit "be" waren ihr unverständlich, wie z. B. "belehren", sie meinte hierzu: "Ich verstehe nicht, warum dieses "be" davorstehen soll." Sie verwechselte "bewundern" und "verwundern", "anrichten" und "hinrichten", "Beifall" und "Einfall".

Dieses Mädchen war eine gute Schülerin und zeigte viel Intelligenz, wenn es sich darum handelte, die Bedeutung der Worte zu erraten. Hieraus schloß ich, daß es vielleicht etwas ganz allgemeines ist, daß Kinder bis in das Alter von 14 Jahren solche unklaren Auffassungen der gewöhnlichen abstrakten Begriffe zeigten, und nahm mir vor, dies genauer zu untersuchen.

Im Jahr 1911 führte ich nun an einer Volksschule Kristianas Untersuchungen über den Vorrat der Kinder an Abstrakta aus, und zwar beanspruchte dies eine zwei- bis vierstündige tägliche Arbeit während der Monate Februar, März, April und Mai. Einer Prüfung unterworfen wurden 100 Kinder im Alter von 9½ - 15 Jahren, je 10 Knaben und 10 Mädchen aus den fünf obersten Klassen der Volksschule; mit Hilfe der Klassenvorsteher wurden sie so ausgewählt, daß sie verschiedene Stufen der Begabung repräsentierten.

Es wurde eine Reihe von 60 gewöhnlichen abstrakten Worten zusammengestellt. Jedes Wort wurde dem Kind einzeln vorgesprochen und ihm darauf Zeit gelassen, darüber nachzudenken und zu erklären, wie es den Begriff auffaßt. Um zu einem möglichst zuverlässigen Ergebnis zu gelangen, wurde jedes Kind allein vorgenommen und seine Antwort durch weitere Fragen gesichtet, bis die Auffassung des Kindes ganz klar zutage trat; hierbei suchte ich sorgfältig jede Suggestion zu vermeiden. Die Antworten des Kindes wurden wörtlich niedergeschrieben. Die Kinder selbst zeigten viel Interesse für die Sache und strengten sich eifrig an um gute Antworten zu geben; die Anzahl der Antworten belief sich auf 6000. Außerdem habe ich eine ähnliche Anzahl schriftlicher Antworten aus verschiedenen Klassen der Volksschulen Kristianas und Bergens, sowie einer Volksschule und einer Fortbildungsschule auf dem Land gesammelt. Obwohl sie die mündlichen Antworten bestätigen, sind sie doch nicht mit in die nachfolgende Berechnung und Darstellung aufgenommen, da dieses Verfahren ein wenig zuverlässiges ist.


2. Abstrakte Zeitwörter und Eigenschaftswörter,
verglichen mit abstrakten Hauptwörtern.

Jedes Kind wurde stets wegen des Unterschieds zwischen Worten, wie z. B. "klug" und "Klugheit", "warnen" und "Warnung" befragt, und hierbei zeigte es sich, daß kein einziges der 100 Kinder imstande war, konsequent abstrakte Zeitwörter oder abstrakte Eigenschaftswörter zu unterscheiden. Drei der begabtesten Kinder konnten hinsichtlich einzelner abstrakter Hauptwörter eine richtige Auffassung geltend machen, ohne daß sie jedoch vermochten, diese Auffassung konsequent durchzuführen.

Ein Knabe von 14 Jahren, us der 7. Klasse (3) äußerte sich folgendermaßen:
    "Klug sein wird Klugheit genannt. Bewunderung wird es genannt, wenn wir bewundern. Wenn man warnt, wird dies Warnung genannt, warnen ist ein Zeitwort und Warnung ein Hauptwort."
Aber bei anderen Worten findet er wieder keinen Unterschied; z. B. meint er von "wachsen" und "Wachstum":
    "Wachsen, dann wächst man die ganze Zeit und wird immer größer. Wachstum, dann ist man gewachsen. Nein, man wächst auch, wenn es Wachstum ist. Kann da keinen Unterschied finden."
Ein Mädchen (6. Klasse) gibt nur ein einziges Mal eine richtige Antwort: "Tüchtigkeit sagen wir, wenn wir das tüchtig sein benennen wollen." Ein Mädchen (4. Klasse) sagt: "Tüchtig sagt uns von jemand, der tüchtig ist, Tüchtigkeit sagt uns, was das für etwas ist."

Mehrere Kinder auf verschiedenen Alterstufen geben Antworten, die bezeugen, daß sie das Hauptwort für abstrakter und allgemeiner halten.

Ein sehr begabter Knabe (4. Klasse), sagt z. B.: "Wenn ein Mann einen Gegenstand betrachtet und sieht, daß er schön ist, dann sagen wir, er bewundert ihn. Wenn alle ihn schön finden, dann sagen wir, das ist Bewunderung." Ein Knabe (5. Klasse) meint: "Ein Mann kann  einmal  gut sein, und ein Mann kann  stets  Güte haben." Ein Knabe (7. Klasse): "Freude, dann sind mehrere gemeint, froh, dann ist einer gemeint." Ein Mädchen (7. Klasse): "Tüchtig, das ist von einem bestimmten gemeint, Tüchtigkeit ist nur das Wort, das es sagt."

Einzelne meinen, daß das Hauptwort einen höheren Grad oder etwas Vollendeteres ausdrückt.

Ein Knabe (6. Klasse): "Bewundern ist, daß uns etwas gefällt, Bewunderung ist, über etwas zu jubeln." Ein Knabe (6. Klasse): "Entwickeln, dann sind sie im Begriff damit, und Entwicklung, dann sind sie schon fertig."

Mehrere der verständigeren Kinder erklären den Unterschied, indem sie Beispiele des richtigen Gebrauchs der Worte in Sätzen anführen, ohne doch den Unterschied zwischen den Begriffen selbst zu erfassen.

So sagt z. B. ein Mädchen (6. Klasse): "Wir sagen, ein Kuchen ist gut, aber wir können nicht sagen, ein Kuchen ist Güte."

Einzelne bleiben am Wortlaut selbst haften.

Ein kluger Knabe (5. Klasse), antwortet auf die Frage, ob es einen Unterschied zwischen "Sehnsucht" und "sich sehnen" gäbe: "Nein, nur in der Bedeutung des Wortes, aber nicht in gewöhnlicher, ordentlicher Bedeutung. Die Bedeutung des Wortes ist, daß mehr Buchstaben da sind und es lautet anders." Ein Knabe (3. Klasse): "Güte ist länger als gut."

Einige meinen, es bestände ein zeitlicher Unterschied, wie ein Knabe (7. Klasse) antwortete: "Warnen", das tut man jetzt, aber "Warnung", das hat man früher getan", und ein anderer Knabe (7. Klasse): "Es sind verschiedene Zeiten. Ich sehne mich - Gegenwart, Sehnsucht - das ist Zukunft."

Eine überwiegende Mehrzahl meint, es gäbe hier keine Unterschiede.

Ein Knabe, (6. Klasse) äußert sich über "klug" und "Klugheit": "Es ist genau dasselbe", über "tüchtig" und "Tüchtigkeit": "Sie sind gleich." Einzelne erkennen klar, daß sie nur das Eigenschaftswort oder das Zeitwort, aber nicht das abstrakte Hauptwort verstehen. Ein Knabe (5. Klasse) bemerkt: "Ich verstehe nicht, was Tüchtigkeit ist, nur tüchtig."

Es kommt auch vor, daß die Form des Hauptworts als Zeit- oder Eigenschaftswort Anwendung findet:

Ein Mädchen (5. Klasse), sagt in einer schriftlichen Antwort: "Er war so Klugheit." "Er bewunderungte sie sehr"; und ein Knabe (5. Klasse): "Wenn man jemanden warnungt, daß man etwas nicht tun soll." Umgekehrt: "Er bekam Unannehmlich (keiten) dafür."

Einzelne der jüngeren Kinder verbinden keine Bedeutung mit dem Substantiv, während sie das entsprechende Verb oder Adjektiv verstehen. In der 3. Klasse, 10-jährige Kinder, finden sich mehrere, die "Sehnsucht" nicht erfassen, während sie wissen, was "sich sehnen" bedeutet; einige verstehen "hoffen", aber nicht "Hoffnung", "gebildet sein", aber nicht "Bildung", "wahr", aber nicht "Wahrheit". Auf einer höheren Altersstufe kommt das ganz selten und nur bei wenig begabten Kindern vor. Beim Wort "Gegensatz" habe ich bis hinauf in die obersten Klassen einzelne Kinder gefunden, die nur "entgegengesetzt" (norwegisch: "motsat") aber nicht "Gegensatz" (norwegisch: "motsaetning") verstanden.

Das abstrakte Hauptwort ist abstrakter als sein entsprechendes Eigenschafts- oder Zeitwort, und ist auch geschichtlich eine spätere Sprachbildung. Kinder unter 14 Jahren sind noch nicht so weit wie bis zur "sekundären Begriffsbildung" (4) gelangt, welche die abstrakten Gegenstandsbegriffe hervorbringt.


3. Fehlerhafte Auffassung der Abstrakta

Viele Kinder geben gute Erklärungen und Beispiele. Ein Knabe (5. Klasse), sagt z. B. "Wirkung ist, wenn man ein Experiment angestellt hat und es sich dann zeigt, was daraus wird, das ist Wirkung."

Aber gerade die Fehler, die die Kinder beim Definieren der abstrakten Begriffe begehen, belehren uns besonders über die Eigenart ihrer Auffassung der Abstrakta.

Das Kind geht  auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes zurück. 

Das Kind erfaßt nicht die differenzierte, abstrakte Bedeutung, die die Worte durch Ableitung, durch die Zufügung von Prädikaten und Suffixen bekommen haben, es geht vielmehr auf die konkrete, ursprüngliche Bedeutung zurück, und oft deckt sich die Bedeutung, die das Kind mit einem Wort verbindet, mit einer solchen, die sprachgeschichtlich die ältere, ursprüngliche ist. Das norwegische Wort für Bildung  "dannelse"  wird on 17% der Kinder als "danne noget" (= etwas machen, bilden) aufgefaßt - Häuser machen, Buchstaben machen, einen Verein, eine Kolonie bilden -  "Dannelse"  führt man auf Mittelniederdeutsch  dôn = machen, tun  zurück. Das norwegische Wort  dygtighet  (= Tüchtigkeit) wird von 17% als "stark und kräftig", "kräftig sein und zu vielem taugen" aufgefaßt.  "Dygtigheit"  hängt etymologisch mit Worten zusammen, die "stark, kräftig" bedeuten. Das norwegische Wort  "ansvar"  (= Verantwortung) fassen 10% als  "svar"  (= Antwort) auf, 12% als  "forsvar"  (= Verteidigung). Altnorwegisch bedeutet  "andsvar" "svar"  (= Antwort)  "forsvar"  (= Verteidigung in Rechtssachen).

Solche und ähnliche Beobachtungen deuten darauf hin, daß sich interessante Parallelen zwischen der Kindersprache und Völkersprachen ziehen lassen; dies weiter zu verfolgen muß jedoch den Sprachforschern überlassen werden. Von einem rein sprachlichen Zusammenhang kann selbstverständlich nicht die Rede sein; der Grund ist vielmehr ein psychologischer - das Kind als der nur wenig kultivierte Mensch zeigt wenig Neigung zur Abstraktion und hängt am Anschaulichen.

Auffallend ist die Eigenheit in der Rede norwegischer Kinder, daß sie oft ohne weiteres  die Präfixe der Verben wegwerfen und die Worte in der ursprünglichen Bedeutung auffassen.  Als Beispiel hierfür kann folgendes dienen: Das norwegische Wort  "beslutte"  (= beschließen) wird von 31% als  "slutte"  (= schließen) aufgefaßt. Ein Satz: "der Mann beschloß am nächsten Tag zu reisen", wird demnach oft wiedergegeben: "Er schloß seine Reise." "Er wollte nicht reisen",  be-  ist seit dem 15. Jahrhundert vom Deutschen entliehen,  beslutte  aus dem Niederdeutschen  besluten.  Das norwegische Wort  erkjende"  (= erkennen) fassen 15% als  "kjende"  (= kennen) auf. Das Präfix  er-  ist dem Deutschen entliehen und wurde in der Reformationszeit ins Dänische aufgenommen. Das norwegische Wort  "forkaste"  (= verwerfen) wird von 20% als  "kaste"  (= werfen),  "kastevaek"  (= wegwerfen) aufgefaßt.  "Forkaste"  ist nach dem mittelniederdeutschen vorwerfen gebildet, gotisch  frawairpan,  eigentlich  wegwerfen.  Das norwegische Wort "sammenligne" (= vergleichen) fassen 54% als  ligne  (= gleichen) auf, und sie meinen ganz folgerichtig, wir können nicht Norwegen und Dänemark vergleichen, "denn sie sind nich gleich", "Dänemark ist kleiner als Norwegen", "es gibt so viele Berge in Norwegen, aber Dänemark ist flach."

Als Ursache dieser eigenartigen Auffassung der abstrakten zusammengesetzten Zeitwörter ließe sich Verschiedenes annehmen. Erstens  ist beim Kind die Fähigkeit zur Abstraktion wenig entwickelt,  und Zeitwörter, deren Bedeutung durch die Vorsilbe eine Änderung erfährt, werden dadurch abstrakter, die Vorsilben haben die Aufgabe, diese Zeitwörter von den konkreten, aus denen sie entstanden sind, zu unterscheiden. Norwegische, echt zusammengesetzte Zeitwörter haben meist eine abstrakte Bedeutung, während die unecht zusammengesetzten konkret sind.

Zweitens  fehlt es dem Kind an Aufmerksamkeit und an Gedächtnis für die Lautform des Wortes.  Kinder merken sich nur schlecht die unbetonte Vorsilbe und leicht entschlüpft sie ihrem Gedächtnis.

Endlich sind die meisten Verbalpräfixe und viele zusammengesetzte Verben dem Deutschen entliehen oder nach deutschem Muster gebildet, erst im 15., 16. und 17. Jahrhundert wurden sie ins Dänische aufgenommen. Das Altnorwegische und die norwegische Volkssprache haben sehr wenige Verben mit einer echten Zusammensetzung (5). Man könnte sich nun denken, daß diese Kinder aus einem besonderen norwegischen Sprachinstinkt heraus auf die nicht zusammengesetzten Zeitwörter zurückgehen und sich die zusammengesetzten nur schwer aneignen. Es fehlt nich an einzelnen Beobachtungen, die darauf hindeuten, daß die Kinder eine ererbte Disposition für ihre Muttersprache haben. So berichtet AXEL KOCK von einem merkwürdigen Fall:
    "Es ist jedem, der Sachsen besucht hat, bekannt, daß man in dieser Gegend Deutschlands die Laute  t  und  d, k  und  g, p  und  b  hat zusammenfallen lassen, so daß z. B. die Worte "Tag" und "Dach" mit demselben Anfangsbuchstaben ausgesprochen werden. Eine Folge hiervon ist unter anderem, daß das Buchstabieren dieser Worte den kleinen Sachsen die größten Schwierigkeiten verursacht, immer stehen in ihren Rechtschreibeheften Fehler in eben diesen Worten angestrichen. Nun siedelte von einem Mannesalter oder etwas mehr ein Sachse nach Schweden über. Seine in unserem Land geborenen Kinder eigneten sich auf normale Weise unsere Sprache an; als aber ein Enkel des eingewanderten Sachsen zu sprechen anfing, beobachteten die Eltern mit Erstaunen, daß der Kleine die Laute  t - d, k - g, p - b  nicht unterscheiden konnte; Wörter wie die schwedischen  tag  und  dag  wurden von ihm in derselben Weise ausgesprochen, und während der ersten Schulzeit machte er ebenso wie seine sächsischen Verwandten Fehler beim Buchstabieren solcher Worte. Da der Knabe nur äußerst selten mit seinem Großvater, der an einem anderen Ort wohnte, zusammentraf, kann man keinen Verdacht einer unmittelbaren Beeinflußung von dessen Sprache haben. Man kann also mit vollem Recht den Schluß ziehen, daß der Kleine durch seinen Vater und Großvater eine Tendenz zu der eigenartigen sächsischen Aussprache geerbt hate, eine Tendenz, die jedoch beim Vater nicht zum Vorschein gekommen war. Wir haben mit anderen Worten ein Beispiel nicht nur für eine Prädisposition [Anlage - wp] für eine bestimmte Sprache, sondern auch dafür, was man einen sprachlichen Atavismus [kultureller Rückfall in einen primitiven Zustand - wp] nennen könnte." (6)
Indessen ist sehr unsicher, ob Kinder eine ererbte Disposition für ihre Muttersprache haben. Dagegen können wir mit Sicherheit annehmen, daß die norwegische Umgangssprache, die das Kind täglich um sich hört, durch ihre Armut an abstrakten zusammengesetzen Zeitwörtern stark bei der falschen Auffassung solcher Verben mitwirkt.

Ich habe auch nie an norwegischen Kindern beobachtet, was ausländische Verfasser berichten: daß Kinder selbständig originale Verbalzusammensetzungen mit einer richtigen Auffassung der Bedeutung der Präfixe bilden.

Ein solches Verständnis der Bedeutung der Präfixe zeigt sich bei norwegischen Kindern nicht, dagegen haben sie eine starke Neigung, sie wegzuwerfen, zu verwechseln, oder sie überflüssig oder falsch zu gebrauchen.

KEBER gibt einige wenige Beispiele ähnlicher Fehler bei deutschen Kindern: "Ich bin abschreckend (schrecklich) müde." "Wenn in Naumburg eine Realschule angerichtet wird." (7) Solche Beobachtungen sind zwar selten, wenn deutsche Kinder in Betracht kommen, aber sie zeigen doch, daß die falsche Auffassung der abstrakten Zeitwörter von Seiten der norwegischen Kinder nicht ausschließlich ihren Grund in einem norwegischen Sprachinstinkt und im norwegischen Sprachgebraucht haben kann. Deutsche Kinder zeigen eine Neigung zu demselben Fehler, doch wird ihr vom deutschen Sprachgebrauch entgegengewirkt.

Auch bei Eigenschaftswörtern und Hauptwörtern werfen die Kinder oft Präfixe und Suffixe oder das eine Glied einer Zusammensetzung weg und bilden ihre Auffassung nach den Bedeutung des Stammwortes. Ich führe einige Beispiele an: Das norwegische Wort  "taenksom"  (= nachdenkend, klug) wird von 16% als das Zeitwort  "taenke"  (= denken) aufgefaßt; Ableitungen mit  -som  mit dem Verbalstamm im ersten Glied sind dem Deutschen entnommen; das norwegische Wort  "brukbar"  (= brauchbar) wird von 11% als  "bruke"  (= gebrauchen) aufgefaßt und von 13% als  "ikke bruke"  (= nicht gebrauchen), "kann es nicht gebrauchen"; das Adjektivsuffix  -bar  ist dem Deutschen entliehen. Das Wort  "hinsigtsmaessig"  (= zweckmäßig) wird nur von 12% richtig aufgefaßt, während 20% an "hensigt" (= Zweck, Absicht) hängen bleiben;  -maessig  ist dem Neuhochdeutschen entnommen. Ein begabter Knabe (4. Klasse), sagt z. B.: "Ein Dieb kann die Absicht (= hensigt) haben, einen Gegenstand zu nehmen, dann ist er zweckmäßig" (= hinsigtsmaessig). Das Wort  "utrolig"  (= unglaublich) wird von 17% in der Bedeutung  "utro"  (= untreu) angewandt;  -lig  entspricht dem deutschen  -lich.  Hier sagt ein Mädchen von elf Jahren (4. Klasse): "Wenn ein Junge einen Auftrag ausführen soll und Geld holen, und er nimmt etwas davon und sagt vielleicht er habe es verloren, dann ist er unglaublich" (= utrolig). Das Wort  eiendommelig"  (= eigentümlich); 43% erfassen davon nur  eie  (= besitzen) oder  "eiendom"  (= Eigentum). Ein Mädchen (3. Klasse): "Man besitzt etwas." Einen Satz: "Er hat ein eigentümliches Aussehen" gibt sie so wieder: "Er sieht wohlhabend aus; er ist hübsch angezogen." Ein sehr begabtes Mädchen (6. Klasse): "Wenn z. B. jemand ein Gut auf dem Land hat, dann hat er eine eigentümliche Arbeit, dort den Acker zu pflügen."

Früher wurde berichtet, wie die Kinder die abstrakte Bedeutung, die in Hauptwörtern wie  "godhet"  (= Güte),  "klokskap"  (= Klugheit),  "beundring"  (= Bewunderung) durch die Suffixe  -het, -skap, -ing  ausgedrückt wird, nicht erfaßt, sondern sie in demselben Sinn wie die entsprechenden Eigenschaftswörter oder Zeitwörter auffaßten.

Abstrakte Worte, die ihrem Lautinhalt gemäß etwas Gemeinsames haben, fallen in ihrer Bedeutung zusammen - hier einige Beispiele: Das Wort  "beundring"  (= Bewunderung) wird von 33% mit  "forundring"  (= Verwunderung) verwechselt, und umgekehrt  "forundring"  von 36% mit  "beundring".  Das Wort  "angaa"  (= angehen) fassen 7% als  "avgaa"  (= aufgehen) auf; ein Mädchen (7. Klasse), sagt in diesem Fall: "Daß der Zug zu der Zeit angehen soll". Mehrere führen dasselbe Beispiel an. Ein Knabe (5. Klasse): "Der Zug kam an - ging an." Der Begriff "ankommen" wirkt also bei dieser Verschlingung von "angehen" mit. 5% fassen  "angaa"  als  "undgaa"  (= entgehen auf. Ein Knabe (6. Klasse): "Er anging eine Verfolgung." Je nur einmal kommen folgende Verwechslungen vor:  "vedgaa  (= gestehen)  "gaa imöte"  (= entgegengehen),  "gaa feil"  (= fehl gehen),  "forlise"  (untergehen),  "anta"  (= annehmen),  "gaa sammen"  (= zusammengehen),  "gaa for"  (= für etwas gelten),  "angaa en forbrydelse"  (ein Verbrechen "angehen"),  "angaa et forlik"  (einen Vertrag "angehen").

Das norwegische Wort  "undgaa"  (= entgehen) wird als  "undvaere"  (= entbehren) aufgefaßt von 3%. Ein Knabe (5. Klasse): "Ich kann Ihnen das Geld beinahe nicht  entgehen,  ich will es aber doch tun." Als  "forgaa"  (= untergehen) fassen es 2% auf. Je einmal:  "angaar"  (= angehen),  "gaa sammen med"  (= zusammengehen,  "tilstaa" = "vedgaa"  (= gestehen). Das Wort  "tillid"  (= Vertrauen) wird von 10% als  "medlidenhet"  (= Mitleid) aufgefaßt,  "tvil"  (= Zweifel) von 11% als  "fortvilet"  (= verzweifelt), das Wort  "begivenhet"  (= Begebenheit) von 9% als  "give"  (= geben), das Wort  "erfaring"  (= Erfahrung) von 4% als  "erindring"  (= Erinnerung).

Zuweilen kann auch ein Zusammenfallen abstrakter Begriffe ohne lautliche Berührung beobachtet werden. Ein Knabe (6. Klasse), ein guter Schüler, sagte: "Es hatte die Ursache, daß er auf der Stelle starb." Ich bitte ihn, noch ein Beispiel zu geben, und nun kommt: "Die Ursache war, daß das Fenster entzwei ging." Ich bitte ihn, sich doch zu besinnen, und schließlich lautet die Antwort: "Die Ursache war, daß der Stein kam und das Fenster traf." Er meinte, früher hätte er "keinen Unterschied gewußt". Die Begriffe "Ursache" und "Wirkung" fallen hier zusammen, weil sie demselben Vorgang angehören und auf diese Weise assoziiert werden. Ebenso äußert sich ein wenig begabtes Mädchen (8. Klasse), Schülerin der Fortbildungsschule in ihrer schriftlichen Antwort: "Ursache ist die Folge von etwas, entweder von Gutem oder Schlimmem, z. B. wenn jemand ins Wasser fällt, dann wir die Ursache dazu, daß man naß wird und in manchen Fällen krank." - Ein sehr begabter Knabe (4. Klasse) gibt als Beispiel eines Gegensatzes an: "So wie die Schachtel da und dieses (ein Löschdrücker) genau entgegengesetzt sind." Die Begriffe "Unterschied" und "Gegensatz" fallen zusammen, weil sie einen Berührungspunkt in ihrer Bedeutung haben; Gegensatz ist der höchste Grad des Unterschieds. Ein Mädchen (7. Klasse) nennt als Beispiel eines Gegensatzes: "Ein Buch und ein Schlüsselbund"; andere sagen: "Stiefel und Kleider", "schwarz und braun". Auf Befragen, was Erfahrung ist, meint ein Knabe von 11 Jahren: "Das ist stark." "Warum glaubst du denn das?" "Hat im Lesebuch gestanden: erfahrene Männer", "Männer" ist mit "stark" fest assoziiert, und hat hier ein Zusammenfallen von "erfahren" und "stark" bewirkt.

Bedeutungsänderung aufgrund lautlicher Berührung kommen oft in den Völkersprachen vor. So gibt NYROP in "Ordenes Liv" eine Reihe Beispiele an von "der Macht des Sprachlauts über das Denken".

Wenn Kinder ein abstraktes Wort nicht verstehen, suchen sie oft, ihm einen Inhalt durch Ableitung von einem bekannten Wort zu geben. Als Belege dieser Kinderetymologie seien folgende angeführt: Ein Mädchen (4. Klasse), meint lobenswert (norwegisch "rosvaerdig") heißt  gut  und  gehorsam sein,  weil "eine Rose nie etwas Böses oder so was tun könne". Ein Knabe (3. Klasse) definiert  Sehnsucht  (norwegisch = laengsel) als warten, auf den Zug oder das Schiff warten, lange (norwegisch = laenge) warten.

Die Bedeutungsänderungen in der Sprache des Kindes, so wie in den Völkersprachen, folgen den allgemeinen Gesetzen der Assoziation durch Berührung, Substitution und Verdrängung unvereinbarer Elemente (8). Dieser Verdrängung am meisten ausgesetzt ist das schwächste Glied einer Zusammensetzung, Ableitungssendungen, unbetonte Vor- und Endsilben. Worte, deren Bedeutung unsicher erfaßt ist, fallen leicht mit gut eingeübten Worten zusammen; eine einzige Silbe, ein paar Laute, die den Worten gemeinsam sind, genügen dazu, daß sie im Bewußtsein des Kindes assoziiert werden und zu einem Begriff zusammenfallen. Auch eine Gleichheit der Lautqualität und des Rhythmus kann zur Verschlingung der Begriffe mitwirken, z. B.  "medligenheit"  (Mitleid) und  "talmodigheit"  (= Geduld). Andere, oben schon dargelegte Ursachen, die zur Bedeutungsänderung mitwirken, sind der Konkretismus des Kindes, sein Mangel an Aufmerksamkeit und Erinnerung für die Lautform des Wortes, sowie der norwegische Sprachgebrauch, vielleicht auch ein besonderer norwegischer Sprachinstinkt.

Die abstrakten Begriffe des Kindes sind oft an bestimmte einzelne Vorstellungsinhalte gebunden.  Mehrere Kinder geben als Beispiel einer Wirkung an: "Die Medizin hat Wirkung". Aber sie können keine anderen Beispiele anführen, und die Bedeutung des Wortes in einem Satz verstehen sie nicht. Ein Mädchen (5. Klasse), eine sehr gute Schülerin, äußert sich über Stimmung: "Das heißt  still sein;  sie sitzen alle still da und sagen nichts. Jeder denkt sich etwas. Ich dachte an: die Stimmung war drückend. Habe mal in einer Zeitung gelesen. Die Stimmung war ruhig." Sie kann keine anderen Beispiele geben. Ich nenne nun eine freudige Stimmung, eine traurige Stimmung, Frühlingsstimmung. Langes Schweigen, endlich sagt sie: "Welcher Laune wir sind. Ich habe lange dran gedacht - jetzt." Während sie "gedacht" hat, hat sie den Begriff, von den Beispielen, die jetzt zu ihrer Verfügung stehen, abstrahiert, und nun hat sie einen selbständigen und allgemeinen brauchbaren Begriff "Stimmung".

Die abstrakten Begriffe des Kindes sind oft unsicher;  sie tauchen dann und wann auf um wieder zu verschwinden. Einzelne Kinder können ab und zu eine richtige Definition eines abstrakten Substantivs geben, während sie unmittelbar nachher außerstande sind, zwischen dem abstrakten Hauptwort und dem entsprechenden Zeit- oder Eigenschaftswort zu unterscheiden. Ebenso kommt es oft vor, daß ein Kind zuerst einen falschen Begriff nennt, aber dann, nachdem es sich lange besonnen hat, doch eine richtige Erklärung gibt. Ihre Abstrakta sind noch nicht so sicher eingeübt, daß sie bei einem etwaigen Gebrauch sofort zur Verfügung stehen.

Die abstrakten Begriffe des Kindes sind oft Urbegriffe,  Worte mit einer undifferenzierten Bedeutung. Ihnen können alle die Eigenheiten anhaften, die wir in der Zeit, da die Kinder sprechen lernen, an ihren Begriffen finden: sie sind unklar und undeutlich abgegrenzt, arm an Inhalt, haben einen zu weiten Umfang, sind gebunden und unsicher. Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren haben es nicht weiter gebracht, als daß sie sich die Bedeutung der abstrakten Begriffe eben erst aneignen. Doch macht sich ein auffälliger Unterschied bemerkbar: während Kinder die eben erst sprechen lernen, stets mehr Vorstellungen als Worte haben, verfügen die größeren Kinder über mehr abstrakte Worte als abstrakte Wortbedeutungen - die Kleinen knüpfen mehrere Vorstellungen an ein einzelnes Wort, die großen Kinder aber suchen mehrere abstrakte Worte mit ein und derselben Bedeutung zu verbinden, z. B. die norwegischen Worte  "tillid"  (= Vertrauen) und  "medlidenheit"  (= Mitleid) mit der Bedeutung "Mitleid mit einem Empfinden", ebenso "angehen" und "vergehen" mit "entgehen", "gut" und "Güte" mit der nämlichen Bedeutung "gut". [...]


III. Zur Abstraktionstheorie

Abstraktion als der Vorgang, wodurch Allgemeinbegriffe gebildet werden (9), hat die Aufgabe, das Gleiche oder Ähnliche in verschiedenen Bewußtseinsinhalten hervorzuheben und sie zu neuen Bewußtseinsinhalten zu vereinigen.

Über die Bildung von Allgemeinbegriffen gibt es viele verschiedene Theorien. Die allgemeine Auffassung vom Abstraktionsvorgang zeugt davon, daß BERKELEYs Kritik des allgemeinen Begriffs bis auf unsere Zeit seine Wirkung ausgeübt hat. BERKELEY behauptete bekanntlich, daß wir keine Allgemeinvorstellungen haben können und wollte dies durch sein berühmtes Beispiel beweisen: Man kann sich nicht ein Dreieck vorstellen, das weder schiefwinklig noch rechtwinklig, weder gleichseitig noch ungleichseitig ist (10). Der allgemeine Begriff muß daher im Bewußtsein von einer Einzelvorstellung repräsentiert werden Dies ist seit BERKELEYs Zeit beinahe ein Dogma gewesen. Auch BÜHLER meint noch, daß "Allgemeinvorstellung" einer der unglücklichsten Begriffe ist, der jemals geprägt wurde (11). Während der in jüngster Zeit angestellten Untersuchungen über das Denken bei gleichzeitiger Anwendung von Experiment und Introspektion hat man jedoch so häufig Allgemeinvorstellungen angetroffen, daß es wohl als bewiesen angesehen werden kann, daß wir allgemene Vorstellungen haben können. Gegen BERKELEY hat sich auch der Einwand erhoben, "daß es sehr wohl möglich ist, das Wort Dreieck zu verstehen, also ein Bedeutungsbewußtsein, eine Intention des Gegenstandes zu haben, ohne sich ein Dreieck mit einer bestimmten Winkelbeschaffenheit vorzustellen. (12)

Die Auffassungen derer, welche die Abstraktionstheorie nicht anerkennen, teilt BÜHLER in Verdichtungstheorien und Möglichkeitstheorien. Die ersteren suchen die Begriffsbildung durch die Tatsache zu erklären, daß alle psychischen Vorgänge durch Übung verkürzt und vereinfacht werden. Begriffe sind demzufolge nichts anderes als verkürzte und in einem Akt zusammengefaßte Vorstellungsreihen, die durch diese Zusammenfassung ihr Aussehen etwas verändert haben. Die Möglichkeitstheorien dagegen suchen eine Erklärung im Unbewußten. Das, was außer den sinnlichen Elementen im Begriff bewußt ist, soll nichts anderes sein als ein Ausdruck dafür, daß im Unbewußten schon etwas angeregt ist, was im nächsten Augenblick ins Bewußtsein treten kann (13). BÜHLER wender hier ein, wenn diese Möglichkeit im Bewußtsein als Tatsache gegeben ist, dann ist sie nicht länger Möglichkeit, sondern Wirklichkeit. Man hat daher auch nicht behauptet, daß die Möglichkeit bewußt ist, sondern hat gemeint, die Möglichkeit werfe gewissermaßen einen Reflex ins Bewußtsein, und dies soll der Gedanke sein. Man hat wohl auch das Unbewußte als etwas Dunkles oder Halbbewußtes aufgefaßt, so daß die geweckten Dispositionen ihren Vorstellungen gegenüber nicht als ideelle, sondern als schon halb realisierte Vorstellungen aufgefaßt werden. Aber der Gedanke ist, wendet Bühler ein, nicht etwas Dunkles oder Halbbewußtes, sonder klar und keine Summe, sondern eine Einheit. Eine andere Auffassung hat die Möglichkeit in Bewußtsein aufgenommen, so daß der Inhalt des Allgemeinbegriffs als ein Bewußtsein einer Vorstellungsmöglichkeit aufgefaßt wird. BÜHLER gibt zu, daß ein solches Bewußtsein der Möglichkeit, sich etwas vorstellen zu können, eine Tatsache im Bewußtsein ist, behauptet aber, daß dies nicht als eine Universalformel des Gedankens gelten kann. (14)

Es scheint wohl etwas Richtiges sowohl in der Verdichtungs- wie in der Möglichkeitstheorie zu sein. Nur haben sie den Fehler, daß ein Ergebnis oder ein Teilvorgang des Abstraktionsprozesses als der ganze Vorgang aufgefaßt wird. Daß Teilvorstellungen, die durch Abstraktion von verschiedenen Vorstellungen abgehoben werden, eine gesteigerte Intensität bekommen, wurde bei KÜLPEs Abstraktionsversuchen direkt beobachtet. Eine Verdichtung von Vorstellungen geht also vor sich. Es gibt auch Beobachtungen, die darauf hindeuten, daß der Allgemeinbegriff als Gedanke eine Reihe von Vorstellungen als Einheit umfaßt, und daß er auch die Möglichkeit in sich schließt, diese Vorstellungen ins Bewußtsein zu rufen.

ERNST DÜRR betrachtet die Assoziationstheorie und die Unterscheidungstheorie als die wichtigsten Typen der verschiedenen Theorien, die, um die Bildung von Allgemeinbegriffen zu erklären, neben der Abstraktionstheorie aufgestellt sind. Der Unterscheidungstheorie zufolge werden Begriffe durch ein Vergleichen und Unterscheiden gebildet. So kann ein Einzelklang gleichzeitig der Gruppe tiefer Töne, schwacher Töne und weicher Töne angehören, und an diesem Einzelklang kann man alsdann seine Tiefe, Schwäche und Weichheit unterscheiden. Die Vorstellung eines tiefen Tons soll deshalb die Funktion des Begriffs der Tontiefe gewinnen, weil sie eine Anzahl anderer Vorstellungen tiefer Töne mit sich führt. Aber das würde nicht genügen, die Tontiefe von der Tonweichheit unterscheiden zu lassen, wenn nicht das Bewußtsein einer anderen Vorstellungsreihe, der weichen Töne, hinzukäme. Ein tiefer, schwacher und weicher Ton muß demnach als Glied verschiedener Vorstellungsreihen erkannt sein, um sprachlich als tief, schwach und weich charakterisiert werden zu können. Umgekehrt kann das Verständnis des Wortes  Tontiefe  oder  Tonweichheit  nur durch die Unterscheidung einer Gruppe weicher und einer Gruppe tiefer Töne gewonnen werden.

Dieser Auffassung liegt, wie DÜRR auseinandersetzt, der richtige Gedanke zugrunde, daß man an einem einzelnen Gegenstand das nur in der Abstraktion Auseinanderzuhaltende nicht unterscheiden kann. Aber wenn eine Reihe von Tönen, die nicht übereinstimmen, hinsichtlich der Stärke und des Charakters der Weichheit, sondern nur in Bezug auf die Tiefe einander gleich sind, kein Bewußtsein der Tiefe, also keine besondere Komponente der Tonvorstellung hervortreten lassen, wenn sie nur das Bewußtsein der Ähnlichkeit überhaupt geben, dann müßte diese Ähnlichkeit mit demselben Namen bezeichnet werden wie die einer anderen Reihe von Tönen, die etwa nur hinsichtlich der Intensität übereinstimmen. Die Ähnlichkeit einer zweiten Gruppe ist noch nicht eine andere Ähnlichkeit, solange das, was im einen und im andern Fall die Ähnlichkeit bedingt, nicht in seiner Verschiedenheit hervortritt. Die Gruppenunterscheidung und die Merkmalsunterscheidung hat zur Voraussetzung das Heraustreten der die Merkmale erfassenden Partialfunktionen aus dem Gesamtbewußtseinsinhalt, d. h. die Abstraktion (15).

Nach der Assoziationstheorie soll z. B. der Begriff eines Baumes dadurch entstehen, daß die Vorstellungen aller möglichen Bäume sich miteinander verbinden, so daß die Anregung irgendeiner derselben den ganzen Komplex herbeiführt (16).

ERNST DÜRR wendet gegen diese Theorie ein, daß, statt des hier vorausgesetzten Vorstellungsreichtums, sich in allen Fällen, wo man das Wesen des begrifflichen Denkens durch direkte Beobachtungen zu erkennen versucht hat, eine außerordentliche Inhaltsarmut der allgemeinen Begriffe hat konstatieren lassen. Die Theorie ist auch, mein DÜRR, bei rein logischer Betrachtung ungenügend. Der Unterschied zwischen einem Vorstellungskomplex und einer Vorstellung ansich kann kaum in etwas anderem bestehen, als daß im ersteren Fall mehr Gegenstände vorgestellt werden als im letzteren. Das gerade Gegenteil behauptet aber die Assoziationstheorie der Begriffe in ihrer Erklärung des Erfassens von Abstraktionsprodukten. Die Vorstellung z. B. eines roten Dings würde ihr zufolge das Ding mit seiner Farbe und seinen sonstigen Eigenschaften zum Gegenstand haben. Viele Vorstellungen von roten Dingen dagegen würden nicht etwa mehr als ein Ding mit seinen sämtlichen Eigenschaften, sondern weniger, nämlich nur die Farbigkeit umfassen. Schließlich meint DÜRR, daß die Assoziationstheorie eine unhaltbare Annahme einer Ähnlichkeitsassoziation voraussetzt. Die Vorstellung eines Baumes, den ich jetzt sehe, müßte sich mit der Vorstellung eines anderen Baumes, den ich vor einiger Zeit gesehen habe, assoziieren, ohne daß die beiden Vorstellungen gleichzeitig im Bewußtsein sind. Man könnte auch annehmen, die Assoziationsbildung könnte infolge einer Ähnlichkeitsreproduktion aufgrund einer Reproduktionstendenz vor sich gehen, die von einem Vorstellungsbestandteil ausgeht, der in beiden Vorstellungen enthalten ist. Aber damit diese Reproduktionstendenz sich entwickeln kann, muß der Vorstellungsbestandteil eine gewisse Verselbständigung, eine gewisse Lockerung innerhalb seines Verbandes erfahren haben; insofern ist die Abstraktion Bedingung der Ähnlichkeitsreproduktion (17).

Eine Assoziationstheorie, die behaupten würde, daß Allgemeinbegriffe durch Assoziation allein gebildet werden, ist gewiß unhaltbar. Aber es ist schwer zu verstehen, wie sich Allgemeinbegriffe sollten bilden können, ohne daß Assoziation eine wichtige Rolle bei diesem Vorgang spielt. Abstraktion heißt ja, daß einzelne Vorstellungsbestandteile hervorgehoben werden, während andere zurücktreten. Aber wenn die so bearbeiteten Vorstellungen isoliert im Bewußtsein stehen bleiben, ohne durch Assoziation vereinigt zu werden, können keine Allgemeinbegriffe entstehen. Die Begriffsbildung erfordert sowohl Assoziation wie Dissoziation, ja, es ist wahrscheinlich, daß Assoziation durch Kontiguität die Grundlage aller Begriffsbildung ist. Daß Vorstellungen, die gemeinsame Bestandteile haben, sich miteinander assoziieren, nimmt man ja allgemein an, ohne, wie DÜRR vorauszusetzen, daß die gemeinsamen Bestandteile zuerst durch Abstraktion hervorgehoben werden müssen. Man kann bei Kindern direkt beobachten, wie sich durch Abstraktion Komplexe von verwandten Vorstellungen sammeln, die später zu Allgemeinbegriffen werden. Daß der allgemeine Begriff arm an Inhalt ist, erklärt sich daraus, daß sein Vorstellungsinhalt ins Unterbewußtsein sinkt, wo er fortdauernd wirksam ist. Es ist dies eine notwendige Annahme; unerklärlich wäre es sonst, warum ein Allgemeinbegriff, der aus vielen Einzelvorstellungen gewonnen ist, im Denken wirksamer und wertvoller wird als einer, der sich auf wenige Einzelerlebnisse gründet, obgleich jeder von ihnen im Bewußtsein nur durch das Wort repräsentiert wird. Die Erkenntnis davon, daß Assoziation ein wichtiger Faktor in diesem Vorgang ist, durch den Allgemeinbegriffe gebildet werden, ist wohl was RIBOT dazu geführt hat, in diesem Vorgang zwischen Abstraktion und Generalisation zu unterscheiden, indem er unter Abstraktion Dissoziation, Analyse versteht, unter Generalisation Assoziation, Synthese (18). Wendet man das Wort  Abstraktion  auf den ganzen Vorgang an, darf man nicht vergessen oder gar verneinen, daß er zu einem wesentlichen Teil ein Assoziationsvorgang ist.

Blicken wir auf die verschiedenen Hypothesen zurück, können wir mit BINET sagen: "Sie haben alle recht. Es ist ein Körnchen Wahrheit in den widersprechendsten Hypothesen." (19) Jede von ihnen hat einen Teil des Abstraktionsvorgangs für den ganzen erklärt. BINET verfällt in denselben Fehler, indem er seine eigene Hypothese aufstellt, die er als Intentionismus bezeichnet. "Der allgemeine Begriff", sagt BINET, "ist die Richtung des Gedankens gegen die Einheit der Dinge (l'ensemble des choses)." Es ist eine Intention des Geistes. Keine Vorstellung ist an und für sich allgemein; eine Vorstellung wird allgemein, wenn unser Geist ihr diese Funktion erteilt, und die Vorstellung nimmt sie an wie ein Geheiß [Anordnung - wp]. (20) Auch BINET hat recht. Das einzige logische Merkmal eines Allgemeinbegriffs ist, daß wir seine Allgemeinheit denken. Damit aber das Bewußtsein eine Richtung gegen die Einheit der Dinge soll haben können, müssen die Dinge vereinigt sein. Und die Richtung des Gedankens gegen eine zufällige Einheit von Dingen ist kein Allgemeinbegriff. Die Einheit, die als ein Allgemeinbegriff gedacht werden soll, muß eine bestimmte abgegrenzte Gruppe von Dingen sein, die infolge gewisser gemeinsamer Merkmale vereinigt sind. Eine solche Gruppe wird nicht durch die Intention des Geistes gebildet; sie entsteht durch abstrahierende Assoziation.

Unter Logikern ist es eine allgemeine Ansicht, daß Allgemeinbegriffe durch logisches Denken gebildet werden. WUNDT hat hervorgehoben,
    "daß bei der Gewinnung der gleichen oder ähnlichen Merkmale zusammengehöriger Vorstellungen nicht etwa, wie man gewöhnlich glaubt, Gleichheitsurteile primär in Betracht kommen, sondern Urteile, welche vewandte komplexe Vorstellungsinhalte  A1, A2, A3  in ihre Bestandteile zerlegen, also Urteile der Art:  A1  hat die Merkmale  M1, M2, M3, M4; A2  hat die Merkmale  M1, M2, M3, M5; A3  hat die Merkmale  M1, M2, M3, M6  usw. Dann würden erst sekundäre Gleichheits- oder Ähnlichkeitsurteile in Frage kommen, welche die  M1, M2, M3  in  A1  mit den  M1, M2, M3  in  A2  usw. gleich oder ähnlich setzen. Hat das urteilende Denken verwandte Vorstellungskomplexe nun so bearbeitet, daß die gleichen oder ähnlichen Vorstellungsinhalte und die gleichen Beziehungen herausgehoben, bzw. hineingedacht sind, so wird ein Vorstellungskomplex  A1 zur Funktion eines Allgemeinbegriffs auf diese Weise gelangen können, daß die im Hintergrund des Bewußtseins stehenden Vorstellungen  A1, A2, A3  usw. die gleichen oder ähnlichen Vorstellungsinhalten in  A1  und die gleichen in sie hineingedachten Beziehungsgedanken in  A1  hervorheben, so daß infolge dieser assoziativen Beziehung zu den wie  A1  durch das Denken bearbeiteten Vorstellungskomplexen  A2, A3, A4  die Vorstellung  A1  als Allgemeinbegriff im Denken wirken kann." (21)
Allgemeinbegriffe können selbstverständlich durch logisches Denken gebildet werden. Wenn LINNÉ seine Pflanzen untersucht und nach bestimmten Merkmalen zu einer bestimmten Klasse, Gattung, Art hinführt, dann sind diese Begriffe durch logisches Denken entstanden. Aber im täglichen Leben und bei den meisten Menschen bilden sich die Allgemeinbegriffe nicht auf diese Weise, sondern durch assoziative Abstraktion.

Voraussetzungen der Abstraktion sind in den Vorgängen gegeben, die unser Vorstellungsleben aufbauen: Empfinden, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Apperzeption, Assoziation. Das Auge gibt uns nur Gesichtsempfindungen z. B. von einem Apfel, und es wird von anderen Sinnesqualitäten wie Geruch, Geschmack, abstrahiert. Empfinden ist schon eine elementare Abstraktion. Durch die Apperzeption werden die Vorstellungen, die bekannt sind oder Interesse haben, hervorgehoben, während die übrigen zurücktreten oder gar nicht bemerkt werden. Weitere Voraussetzungen der Abstraktion liegen in der Enge des Bewußtseins und der Eigenheit der Aufmerksamkeit, gleichzeitig nur wenige Dinge umfassen zu können; diese werden dann herausgehoben, während andere sich ebenfalls der Auffassung darbietende Gegenstände zurücktreten und nur undeutlich aufgefaßt werden. Die Vorstellungen, die so hervorgehoben sind, werden am treuesten im Gedächtnis aufbewahrt, während die zurücktretenden Vorstellungen leichter vergessen werden; auch das Gedächtnis unterstützt die Abstraktion. Durch Assoziation werden die Vorstellungen, die in dieser Weise eine Dissoziation, eine Analyse erfahren haben, zu neuen Vorstellungen vereinigt. Durch diese Synthese gewinnen die übereinstimmenden Bestandteile gesteigerte Intensität, während verschiedenartige Bestandteile geschwächt werden.

Eine objekte Voraussetzung der Abstraktion ist es, daß eine bestimmte Vorstellung uns als Bestandteil mehrerer verschiedener Vorstellungsgruppen gegeben ist.
    "Einen Totaleindruck, dessen Elemente uns nie in der Erfahrung gesondert gegeben wären, würde es uns unmöglich sein, zu analysieren. Wenn alle kalten Dinge feucht und alle feuchten Dinge kalt wären, wenn alle Flüssigkeiten durchsichtig und wenn nichts, das nicht Flüssigkeit war, durchsichtig wäre, dann würde es uns sehr schwer sein, durch Benennungen Kälte von Feuchtigkeit, Flüssigkeit von Durchsichtigkeit zu unterscheiden. Aber, was bald mit einem Ding, bald mit einem anderen assoziiert gewesen ist, hat die Tendenz, sich von beiden zu lösen und für das Bewußtsein Gegenstand abstrakter Erkenntnis zu werden. Es ist dies, was man ein Gesetz von Dissoziation aufgrund begleitender Variationen nennen könnte." (21)
Die elementare Abstraktion, die gleichzeitig mit einer Empfindung und Apperzeption stattfindet, hat KÜLPE durch Experimente untersucht. Seine Versuchspersonen sollten vor vier Silben, die mit verschiedenartiger Tinte in wechselnder Gruppierung geschrieben waren, bzw. Zahl, Farbe, Figur und Element heraus abstrahieren. Es zeigte sich, daß z. B. die Farbe der Buchstaben besser hervorgehoben werden konnte, wenn im Voraus eine entsprechende Aufgabe gegeben war. Wenn keine Aufgabe erteilt war, zeigte sich eine Tendenz dazu, je nach den Interessen der verschiedenen Versuchspersonen, in bestimmte Kategorien einzuschlagen. Eine Versuchsperson wurde z. B. vorzugsweise durch Farben gefesselt und konnte am besten die Farbe der Buchstaben bestimmen. Es war leichter von den Elementen und ihrer Zahl zu abstrahieren als von Farbe und Figur; umgekehrt konnte Farbe und Figur besser hervorgehoben werden. Den Unterschied, der sich zeigte, führt KÜLPE auf apperzeptive Faktoren zurück; dasjenige, von dem seine Versuchspersonen abstrahierten, wurde tatsächlich undeutlich gesehen oder gar nicht gesehen. (22)

Das, was dem Abstraktionsvorgang eigen sein sollte: die eigentümliche Verstärkung einzelner Bestandteile, während die übrigen zurücktreten, scheint also in der Apperzeption selbst unmittelbar gegeben zu sein.

Der Abstraktionsvorgang, wodurch Allgemeinbegriffe gebildet werden, ist wesentlich ein Zusammenwirken von Assoziation und Apperzeption. Vorstellungen, die gemeinsame Bestandteile haben, assoziieren sich leicht und bilden Gruppen. Bei der Auffassung jeder neuen Vorstellung, die in die Gruppe aufgenommen wird, macht die Apperzeption ihre abstrahierende Wirkung geltend; die abweichenden Vorstellungsbestandteile treten im Bewußtsein zurück, die gleichen oder ähnlichen Teilvorstellungen werden herausgehoben und vereinigen sich zu einer neuen Vorstellungsgruppe, die die ganze Gruppe als Allgemeinvorstellung repräsentieren kann.

Abstraktion ist kein mystisches "Vermögen, einzelne Vorstellungsinhalte hervorzuheben, während die übrigen zurücktreten". Abstraktion ist ein zusammengesetzter psychischer Vorgang, der als Teilvorgänge Empfindung, Apperzeption, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Assoziation enthält, von denen Apperzeption und Assoziation die wichtigsten sind. Auf den niedrigeren Stufen ist die Abstraktion mehr eine assoziative Synthese, passiv, unbewußt; auf den höheren Stufen mehr eine apperzeptive Analyse, aktiv, bewußt, bis sie in logisches Denken übergeht.

Bei der Begriffsbildung spielt das Wort eine wichtige Rolle. Die Vorstellungen wechseln, aber das Wort bleibt immer dasselbe und bindet sie zusammen. Wenn die Vorstellungsgruppe und auch die herausgehobenen Teilgruppen ins Unterbewußtsein herabsinken, bleibt das Wort als das einzige bewußte Zeichen des Begriffs stehen. Der nun unbewußte Vorstellungsinhalt verliert seine Bedeutung nicht, sondern gibt dem Wort den Inhalt, den reellen Wert, der es zu etwas mehr als einem leeren Schall macht. Obgleich der allgemeine Begriff, wenn er gut eingeübt ist, meist von einem Wort allein repräsentiert wird, kann auch die herausgehobene Teilgruppe zugleich mit dem Wort oder auch allein ins Bewußtsein steigen, oder auch eine von den Einzelvorstellungen der Gruppe kann als Repräsentant des Begriffs reproduziert werden, wie auch die ganze Gruppe sich als ein Bewußtsein von der Bedeutung des Wortes gelten machen kann. Beobachtungen haben erwiesen, daß der Allgemeinbegriff in allen diesen Gestalten ins Bewußtsein treten kann und daß es wahrscheinlich auch noch Übergangsformen in allen Schattierungen gibt. (23)

Der seelische Akt, wodurch wir an etwas denken, ohne anschaulich innere Vorstellungen damit zu verbinden, ist in der neueren Psychologie als "Bewußtheit", "Gedanke" bezeichnet. Angestellten Beobachtungen zufolge hat der Gedanke wie auch das Wort eine Richtung gegen Vorstellungen, die Macht sie hervorzurufen, man kann sagen, der Gedanke enthält die Möglichkeit der Vorstellungen. KOFFKA spricht von einer Repräsentationstendenz (24). Es kommt auch vor, daß mehrere Repräsentanten des Begriffs emportauchen, einer nach dem andern (25). Gedanke und Vorstellung haben auch eine Tendenz, sich durch das Wort repräsentieren zu lassen, was KOFFKA als Benennungstendenz bezeichnet (26). Die Verbindung Wort - Gedanke - Vorstellung und Vorstellung - Gedanke - Wort ist so gut eingeübt, daß Repräsentations- und Benennungsvorgang als solche nicht deutlich zu Bewußtsein kommen. "Die Repräsentation ist für das Verständnis und damit für alles Intellektuelle überhaupt von großer Wichtigkeit, wenn auch nicht das Verständnis darin besteht." (27) "Wenn der Gedanke durch Worte oder Vorstellungen repräsentiert ist, wird er klarer und bestimmter, das Verständnis vollständiger." (28)

Eine Allgemeinvorstellung zeigt oft die Tendenz dazu, individuelle Züge anzunehmen und sich räumlich und zeitlich zu lokalisieren, von KOFFKA als Individualisationstendenz bezeichnet (29).

Eine Zusammenfassung hiervor läßt die Richtung des Bewußtseins in folgender Weise hervortreten: 1. Wort, 2. Gedanke, 3. repräsentierende Allgmeinvorstellung, 4. repräsentierende Individualvorstellung, 5. Individualvorstellung, lokalisiert in Raum und Zeit. Auf dem einmal gebahnten Weg kann man hin und zurückgehen. Wie der allgemeine und unanschauliche Gedanke sich durch Abstraktion aus Individualvorstellungen entwickelt hat, so kann der Gedanke wieder in konkrete Vorstellungen übergehen.
LITERATUR - Helga Eng, Abstrakte Begriffe im Sprechen und Denken des Kindes, Leipzig 1914
    Anmerkungen
    1) Dieses Begriffssuffix hat sich aus dem Deutschen auch im Dänisch-Norwegischen eingebürgert. Überhaupt ist die Mehrzahl der hier angeführten Wortbildungen in beiden Sprachen dieselbe, nur ist gewöhnlich eine direke Lautverwandlung eingetreten.
    2) Durch die norwegische Wortstellung (bzw. "blomsternes duften" und "blomsten er duften") wird die Fehlauffassung etwas verständlicher.
    3) Die norwegischen Schulen haben eine derartige Klassenfolge, daß die unterste als die 1. bezeichnet wird, die nächste als die 2. usw.
    4) FALK og TORP: Dansknorskens Syntax, Seite 332.
    5) AXEL KOCK, Om Barnspraak, Nordisk Tidsskrift för Vetenskap, Kunst och Industri, 1901, Seite 375.
    6) AGATHON KEBER, Zur Philosophie der Kindersprache, Leipzig 1890, Seite 10
    7) WILHELM WUNDT, Logik II, a. a. O., Seite 609.
    8) Von HUSSERL als generalisierende Abstraktion bezeichnet. (Logische Untersuchungen II, Halle a. d. Saale 1900, Seite 265.
    9) GEORGE BERKELEY, The Principles of Human Knowledge, Chicago 1903, Seite 15f.
    10) KARL BÜHLER, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge, I. Über Gedanken, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 9, 1907, Seite 363
    11) HERMANN EBBINGHAUS, Grundzüge der Psychologie (fortgeführt von ERNST DÜRR) Bd. II, Leipzig 1911, Seite 265
    12) BÜHLER, a. a. O., Seite 325f.
    13) BÜHLER, a. a. O., Seite 325f.
    14) EBBINGHAUS, Grundzüge a. a. O., Seite 268f.
    15) EBBINGHAUS, Grundzüge a. a. O., Seite 266.
    16) EBBINGHAUS, Grundzüge a. a. O., Seite 266f.
    17) RIBOT, a. a. O., Seite 13
    18) RIBOT, a. a. O., Seite 154
    19) RIBOT, a. a. O., Seite 154
    20) Angeführt von GUSTAV STÖRRING, Zur Lehre von den Allgemeinbegriffen, Philosophische Studien, 1902, II. Teil, Seite 329.
    21) WILLIAM JAMES, Psychology I, Seite 502f.
    22) OSWALD KÜLPE, Versuche über Abstraktion, Bericht über den ersten Kongreß für experimentelle Psychologie in Gießen vom 18. bis 21. April 1904.
    23) Beispiele in BINET: L'étude expérimentale de l'intelligence, und in den Abhandlungen von KOFFKA, WATT und MESSER.
    24) KOFFKA, a. a. O., Seite 304f
    25) KOFFKA, a. a. O., Seite 307
    26) KOFFKA, a. a. O., Seite 308
    27) KOFFKA, a. a. O., Seite 306
    28) BINET, a. a. O., Seite 108
    29) BINET, a. a. O., Seite 309.