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AUGUST MESSER
Die Apperzeption
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"Die Tatsache, daß die Seele alle Eindrücke nicht passiv hinnimmt, sondern ihrer eigenen individuellen Beschaffenheit entsprechend sich aneignet, nennen wir  Apperzeption.  Das Wort kommt von der lateinischen Präposition  ad  (zu, hinzu) und dem Zeitwort  percipere  (auffassen)."

"So ist der Gegenstand einfach fertig für uns da; er scheint uns als von außen nach seinem gesamten Bestand gegeben; wir wissen gar nicht, wieviel wir selbst dazu getan haben, vielmehr meinen wir uns nur aufnehmend und passiv bei der Wahrnehmung zu verhalten."

 "Auf Apperzeption beruth also aller Sinn der Rede;  alles was an Begriffen, d. h. an Wortbedeutungen, und an Gedanken, d. h. Satzbedeutungen, in unserem Bewußtsein ist."

"Wir selbst sind es, die durch Apperzeption den bloßen Wortbildern oder Wortklängen die Bedeutung und damit den geistigen Gehalt hinzufügen. Und da der geistige Besitz des Einzelnen ein sehr verschiedenartiger ist, so ist auch das, was sie aus Eigenem hinzufügen können, außerordentlich verschieden. Im Grunde begreifen wir nun den Geist, dem wir gleichen. Und die zahlreichen Fälle des Nichtverstehens und des Mißverstehens sind von einem psychologischen Standpunkt aus nur zu begreiflich."

"Die Apperzeption ist durchaus nicht ein rein intellektueller Vorgang, eine bloße Sache des  Verstandes.  Vielmehr ist dabei auch das  Gemüt  beteiligt als die Fähigkeit der Gefühle, Affekte und Wertschätzungen wie auch der  Wille.  Damit haben wir aber die wesentlichen Seiten des Seelenlebens genannt, und da dieses wieder in innigster Beziehung zum Leib steht, so darf man behaupten: bei jener geistigen Nahrungsaufnahme, die wir  Apperzeption  nennen, kommt der ganze Mensch in Betracht."


I. Theoretisch-psychologischer Teil

IV. Kapitel
Die Wirksamkeit der Apperzeption
im Seelenleben der Erwachsenen

Diese allgemeine Versicherung wird erst überzeugende Kraft gewinnen, wenn wir die  Wirksamkeit der Apperzeption auf den Hauptgebieten des menschlichen Seelenlebens  noch etwas näher betrachten. Dabei werden sowohl ihre Bedingungen, als auch ihre Leistungen zur Sprache kommen. Wir berücksichtigen dabei zunächst das Seelenleben des Erwachsenen. Bekanntlich vermögen wir ja einzig und allein unsere eigenen Bewußtseinsvorgänge unmittelbar wahrzunehmen und zu beobachten; die der Mitmenschen können wir nur durch (meist instinktive) Deutung ihrer Äußerungen (Worte, Mienen, Gesten und andere Bewegungen, Handlungen) erfassen. Freilich erlangen wir darin durch massenhafte Übung von frühester Kindheit an eine solche Gewandtheit und meist auch Sicherheit, daß wir das Seelenleben des anderen ebenfalls  un mittelbar zu erfassen meinen und zunächst gar nicht recht glauben können, daß es sich dabei nur um ein verstehendes Deuten von Äußerem, daß es sich um ein mittelbares Erkennen handle. Jene unmittelbare Selbsterkenntnis und diese mittelbare Erkenntnis der anderen ergänzen und bereichern sich gegenseitig.
    "Willst du dich selbst erkennen,
    so sieh', wie es die andern treiben;
    Willst du die ander verstehn,
    blick' in dein eigen Herz."
Dieses instinktive Verstehen ist freilich noch nicht wissenschaftlich-psychologische Erkenntnis, sondern nur ein Versuch dazu. Um darüber hinaus zu kommen, ist es zunächst nötig, daß wir uns mit den Begriffen der wissenschaftlichen Psychologie vertraut machen. Vielfach sind diese der Alltagssprache entlehnt, aber sie sind meist ihrem Inhalt und ihrem Anwendungsbereich nach schärfer bestimmt; auch sind manche unter ihnen, die der Umgangssprache fremd sind, wie z. B. gerade der Begriff der Apperzeption. In allen Fällen werden wir aber nur dann diese Begriffe im Sinn der Wissenschaft wirklich fassen, wenn wir im eigenen Seelenleben die Inhalte, Vorgänge und Zustände vorfinden, die unter jene Begriffe fallen. So müssen wir also die Handhabung der wissenschaftlich-psychologischen Begriffe an der Beobachtung des eigenen Seelenlebens lernen, ehe wir sie auf die anderen anwenden, und wir müssen mit der - uns näher liegenden - Psychologie des Erwachsenen vertraut sein, ehe wir das uns ferner liegende kindliche Seelenleben wissenschaftlich erfassen können.

1. Der Vorgang, bei dem sich die Wirksamkeit der Apperzeption wohl am leichtesten nachweisen läßt, ist die  äußere  oder  sinnliche Wahrnehmung.  Man ist freilich geneigt, sich diese viel einfacher zu denken als sie ist. Man denk sich etwa: Gewisse Reize (z. B. Ätherwellen oder Luftschwinungen) treffen Sinnesorgane; deren Erregung pflanzt sich nach der Hirnrinde fort; dadurch werden Empfindungen verursacht, und in einem Komplex von Empfindungen besteht eben die Wahrnehmung. Aber wie mancherlei gerade an apperzipierenden Momenten hinzukommt bei unseren gewöhnlichen Wahrnehmungen, das zeigt sich, wenn wir sie mit Wahrnehmungen unter erschwerenden oder ungewohnten Umständen vergleichen. Bei den uns geläufigen Wahrnehmungen ist uns unmittelbar ein bestimmter, uns bekannter Gegenstand gegeben; er ist sozusagen leibhaftig für uns da. Solche Wahrnehmungsobjekt sind etwa in diesem Moment für micht, das Blatt, auf dem ich schreibe, die Feder, die auf ihm hinläuft, Tintenfaß und Schreibtisch usw., nicht minder der Wagen, dessen Rollen ich eben von der Straße her vernehme.

Wie anders, wenn ich z. B. in der Dämmerung spazieren gehe! Ich sehe da vielleicht in einiger Entfernung etwas Dunkles; ich weiß aber nicht: ist es ein Strauch, oder eine gebückt stehende Person, oder ein Erdhaufen oder sonst was? Oder ich höre von fern ein Geräusch, weiß es mir aber gar nicht zu deuten, ja vielleicht nicht einmal die Richtung festzustellen, woher es kommt. Auch in diesen Fällen werden zweifellos Empfindungen von uns erlebt, es kommt aber nicht (wenigstens zunächst nicht) zur Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes. Vielleicht tritt diese ein, wenn wir z. B. näher an das bewußte Objekt herangehen, oder wenn uns eine überzeugende Deutung einfällt. Wir sagen dann: wir haben den Gegenstand "erkannt". Dieses Erlebnis der "Erkenntnis", das sich in derartigen Fällen von der anfänglichen, uns noch rätselhaften Wahrnehmung abhebt, ist aber doch offenbar mehr als ein bloßer Empfindungskomplex. Denn Empfindungen waren ja bei den erwähnten Erlebnissen schon gleich von Anfang an gegeben. Damit das "Erkennen" eintritt, muß mindestens irgendein Begriff (gewöhnlich in Gestalt eines sinnvollen Wortes) in unserem Bewußtsein (aus dem Unbewußten) auftauchen, der geeignet ist zur Deutung des Empfundenen. Dieser Begriff muß auf das Empfundene bezogen werden. Aber das genügt noch nicht zum "Erkennen". Denn auch, wenn sich mir die Frage aufdrängt: ist das, was ich da sehe, ein Strauch oder ein Mensch -, so wird zwar der Begriff (Strauch, Mensch) auf das Empfundene bezogen, aber ich habe dieses noch nicht "erkannt". Das ist der erste Fall, wenn ich diese Beziehung als gültig anerkenne. Ein derartiges Erlebnis aber: die Bejahung (oder Verneinung) einer Beziehung heißt in der Psychologie "Urteil" (4). Mithin tritt beim Erkennen zum Empfinden noch ein Urteilsakt hinzu. Dieser kann mit sehr verschiedenen Graden der Sicherheit vollzogen werden: der unterste Grad ist die zweifelnde Vermutung, der oberster die feste Überzeugung, die sogenannte "Evidenz". Sie wird dann von uns erlebt, wenn uns das Objekt, das im Begriff (im Urteilsprädikat) gemeint ist, unmittelbar und zweifellos in der Wahrnehmung gegeben ist.

Für eine solche Wahrnehmung nennen wir auch die "Anschauung". Wahrnehmung ist also der weitere Begriff; denn wir können auch von unsicheren und verschwommenen Wahrnehmungen reden. Den Namen  "Anschauung"  wird man zweckmäßigerweise nur solchen Wahrnehmungengeben, in denen der Gegenstand sicher, klar und deutlich aufgefaßt ist. (5) Das heißt: es darf uns nicht mehr zweifelhaft sein, mit was für einem Gegenstand wir es zu tun haben, er muß sich bestimmt von anderen Objekten abheben und unterscheiden, und er muß sich endlich in seinen Teilen und Eigenschaften mit Sicherheit auffassen lassen. Wenn auch der Name "Anschauung" vom Gebiet der Gesichtswahrnehmung stammt, so ist es in der Psychologie und Pädagogik doch längst üblich geworden, ihn auch auf die sicheren, klaren und deutlichen Wahrnehmungen anderer Sinne zu übertragen.

So hat uns unsere Betrachtung mit den wichtigen Begriffen der "Empfindung", der "Erkenntnis", des "Urteils" und der "Anschauung" bekannt gemacht; sie hat uns zugleich - worauf es uns hier vor allem ankommt - gezeigt, daß in den Fällen erschwerter Wahrnehmung, wo sich das Erkennen des Gegenstands als ein besonderes Erlebnis vom ersten unbestimmten Eindruck abhebt, nicht nur Empfindungen vorhanden sind, sondern daß noch Begriffe reproduziert werden, durch die jene Empfindungen aufgefaßt, gedeutet, d. h. eben apperzipiert werden. Ja, man darf behaupten, schon in den unsicheren Anfangsstadien einer solchen Wahrnehmung sind nicht  bloß  Empfindungen in unserem Bewußtsein, denn wenn ich auch ein Wahrgenommenes lediglich als etwas Schwarzes oder Kleines, Nahes oder Fernes auffasse, so sind eben schon diese - allerdings sehr allgemeinen - Begriffe irgendwie im Bewußtsein. Und wenn wir auch von einer  bestimmten  Auffassung (d. h. eben einem Erkennen) noch weit entfernt sind: eine "Auffassung" (und damit die Beziehung auf einen Begriff) liegt schon vor; bezeichnet doch sogar das Wörtchen "Etwas" einen Begriff; frelich den allgemeinsten und darum unbestimmtesten.

2. Aber auch in anderer Beziehung müssen wir unsere Beschreibung des Erkenntnisvorganges noch ergänzen. Denn vielfach ist es dabei nicht so, daß lediglich ein Begriff im Bewußtsein auftritt, durch den sich die Auffassung vollzieht: vielfach wird noch in größerem oder geringerem Maße mancherlei "Wissen" (d. h. früher vollzogene oder aufgenommene Urteile) aus dem Gedächtnis reproduziert werden und sich bei der Auffassung und Beurteilung des wahrgenommenen Objekts geltend machen. Erinnert sei endlich an die Fälle, wo die Erkenntnis eines Objekts erst nach wiederholten sorgfältigen Beobachtungen und Untersuchungen und nach lange fortgesetzter, angespannter Denkarbeit gelingt. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt, daß es oft jahrhunderte langer Forschung bedarf, bis die Erkenntnis mancher Objekte erreicht wurde; und selbst dann weiß man nie, ob nicht neue Erfahrungen und Forschungen die endlich errungene Erkenntnis vertiefen und umgestalten. Man kann so jene große Aufgabe der Menschheit: die  wissenschaftliche Erkenntnis der Welt,  und alles, was sie bisher in der Verwirklichung dieser Aufgabe geleistet hat, unter den Gesichtspunkt der Apperzeption rücken. Gewiß hat sich auch die Wirklichkeit während der Jahrtausende menschlicher Kulturentwicklung gewandelt, aber noch viel durchgreifender hat sich die menschliche Weltauffassung gewandelt, auch gegenüber den Gebieten der Wirklichkeit, die sich während dieser Jahrtausende gleichgeblieben sind.
    "Wo jetzt nur, wie unsere Weisen sagen,
    Seelenlos ein Feuerball sich dreht,
    Lenkte damals seinen goldnen Wagen
    Helios in stiller Majestät.
    Diese Höhen füllten Oreaden,
    Eine Dryas lebt' in jenem Baum,
    Aus den Urnen lieblicher Najaden
    Sprang der Ströme Silberschaum."
Wohl mag der Dichter sehnend ausrufen: "Schöne Welt, wo bist du? kehre wieder." Die Erfüllung dieses Wunsches ist unmöglich. Die Schönheit mußte der Wahrheit weichen. Und ist es wirklich nur Schönheit und Poesie, die mit der Überwindung jener alles beseelenden und vermenschlichenden Auffassung der Welt gewichen ist? Füllte die instinktiv dichtende menschliche Phantasie die Welt nicht vielfach auch mit grausenerregenden Gespenstern und quälenden Spukgestalten? Und war die schwer errungene wissenschaftliche Erkenntnis nicht gar oft für die Menschheit Befreiung und Erlösung von drückendem Wahn und Aberglauben, der schwerer auf ihr lastete als Krankheit und Not? Am härtesten haben bisher noch die Menschen mit selbstgeschaffenen Feinden gerungen.

Der gestaltende Faktor aber in diesem menschlichen Weltbewußtsein und seinen Wandlungen ist die Apperzeption. Nicht die Empfindungen, die durch die Wirklichkeit mit ihren Dingen und Vorgängen in den Seelen erregt wurden, haben sich im Laufe der Geschichte so wesentlich geändert, wohl aber die Begriffe, wodurch diese Empfindungen aufgefaßt, als wirkliche Objekte ausgedeutet, d. h. "erkannt" wurden. Es gewährt einen tiefen Einblick in die ganze geistige Entwicklung der Menschheit, festzustellen, welche obersten Begriffe bei diesen Wandlungen der Weltauffassung apperzipierend wirkten, und wie und warum sie sich allmählich änderten. Ähnliche Untersuchungen aber lassen sich in Bezug auf den kindlichen Geist anstellen. Auch ihm ist ja, wie wir noch sehen werden, die Welt (genauer: die Weltauffassung) der Erwachsenen nicht fertig gegeben, er muß erst in sie hineinwachsen, sie sich erobern; und auch diese Eroberung vollzieht sich nach Maßgabe apperzipierender Begriffe, die freilich selbst an der Anschauung gewonnen werden müssen. -

Das Gedächtnis ermöglicht jegliche Entwicklung und jeglichen Fortschritt dadurch, daß es das Frühere bewahrt und uns zur Verwendung bereit hält; es bedingt zugleich allen Zusammenhang im Geistesleben dadurch, daß es das Vergangene zum gegenwärtigen Erleben in Beziehung setzt und es in die Gegenwart hineinarbeitet. Die eigentlichen "Erinnerungen", die uns Vergangenes als solches wieder bewußt machen, sind nur  eine  Leistung des Gedächtnisses und nicht die wichtigste. Bedeutsamer ist unser zeitloses Gedächtnis, das sich in allem Wissen und Können darstellt. Aber auch unser Fühlen und Wollen wird durch die stetige Gedächtnisarbeit unmerklich bereichert und umgestaltet.

Vom "Erkennen" pflegt man das  "Wiedererkennen"  zu unterscheiden. So sage ich z. B. in Bezug auf einen Bekannten, mit dem ich täglich verkehre: ich "erkenne" ihn, wenn ich ihn aus der Ferne kommen sehe, dagegen "erkenne" ich einen Menschen "wieder", mit dem ich vielleicht erst einmal zusammengetroffen bin oder den ich sehr lange nicht mehr gesehen habe. Für die psychologische Betrachtung besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem "Erkennen" und "Wiedererkennen" nicht. Beidemal müssen zu den Sinneseindrücken Reproduktionsvorgänge und mittels ihrer - Apperzeption hinzukommen. "Wiedererkennen" pflegen wir den Vorgang dann zu nennen, wenn die besonderen Umstände des erstmaligen Kennenlernens mehr oder minder bestimmt wieder ins Bewußtsein treten, oder wenn das Erkennen erfolgt, obwohl die betreffende Person (oder das Ding) sich inzwischen verändert hat. Übrigens scheidet der Sprachgebrauch nicht sehr scharf; in manchen Fällen kann man beide Ausdrücke anwenden.

Es ist ein vielfach vorkommender Irrtum, anzunehmen, das Erkennen und besonders das Wiedererkennen erfolge in der Weise, daß eine Erinnerungsvorstellung des früher Wahrgenommenen als ein  besonderer  Bewußtseinsinhalt auftauche, und daß sie mit dem nunmehr gegebenen Wahrnehmungsobjekt verglichen werde. Dieser Irrtum ist zugleich charakteristisch für einen häufigen Fehlgriff in der Psychologie: man legt sich einen Sachverhalt nach Gutdünken zurecht, man konstruiert ihn vermutungsweise, anstatt ihn beim Erleben schlicht und unvoreingenommen zu beobachten. Die vorurteilslose Selbstbeobachtung zeigt von dieser angeblichen Zweiheit der Vorstellungen beim Erkennen und Wiedererkennen in der Regel nichts. Gewiß werden dabei Gedächtniselemente reproduziert, aber diese schließen sich meist nicht zu einer besonderen Vorstellung zusammen, sondern sie verschmelzen unmittelbar mit den neu aufgenommenen Eindrücken (dem "Perzipierten"). Eben in dieser Verschmelzung des Neuen und Alten, der Empfindungen und des Reproduzierten besteht die Apperzeption. Nicht die "Perzeptions-" und die "Apperzeptionsmasse" kommen dabei als etwas Gesondertes zu Bewußtsein, sondern nur ihr Produkt. Der Einfluß der Apperzeption verrät sich eben darin, daß der wahrgenommene Gegenstand den Eindruck des Bekannten oder des bei einer früheren Gelegenheit schon wahrgenommenen erhält. Ferner ist zu beachten, daß es nicht nur Begriffe oder mannigfaches Wissen ist, was beim Erkennen (und Wiedererkennen) apperzipierend wirkt; auch anschauliche Elemente, d. h. reproduzierte Empfindungen kommen dabei in Betracht, auch sie verschmelzen mit den jeweils neu erregten Empfindungen, verstärken und ergänzen sie und gestalten sie auch gelegentlich um. So erklärt es sich, daß wir gelegentlich an Dingen Eigenschaften als unmittelbar gegeben wahrzunehmen meinen, die eigentlich aus dem Gedächtnis hinzugefügt sein. So meinen wir es z. B. einem eisernen Gewicht unmittelbar "anzusehen", daß es schwer, einer dampfenden Suppe, daß sie heiß, einer Glasplatte, daß sie glatt ist. Dabei sind in diesen Fällen nur Gesichtsempfindungen durch die Reize ausgelöst. Wenn sich zu solchen Wahrnehmungen noch Empfindungen der Schwere, der Temperatur, der Glätte (d. h. Gelenkt- und zwei Arten von Hautempfindungen) gesellen, so können das nur reproduzierte sein, die bei der Apperzeption mit jenen primär erregten verschmelzen. Auch kann je nach der begriffliche Auffassung eines Objekts sich dessen Aussehen ändern; vermutlich dadurch, daß anschauliche Vorstellungen, die dem Begriff entsprechen, reproduziert werden und mit den gerade erregten Empfindungen verschmelzen. Als weiterer Beleg für diese Beteiligung von reproduzierten Empfindungen bei der Apperzeption seien ein paar Beispiele aus früher von mir angestellten psychologischen Versuchen (6) angeführt. Einzelne, nicht ganz leicht erkennbare Gegenstände wurden den Beobachtern dargeboten mit der Aufgabe, eine Aussage darüber zu machen und dann die bei der Wahrnehmung gehabten Erlebnisse zu Protokoll zu geben. Hier ein paar Angaben aus diesen Protokollen. Objekt: ein Stück zusammengepreßtes Stanniol. Aussage (nach 3 Sekunden): "Das ist ... (Pause von einer halben Sekunde) ein Stück zusammengewickeltes Stanniol." Erlebnisse: "Zuerst mehr als Fläche gesehen; dann mehr als unregelmäßige Rundung und der Gedanke, daß Schokolade darin wäre. Dabei vielleicht rudimentäres Wortbild (Schokolade), besonders aber ändert sich vorübergehend die Erscheinung derart, daß ich fast etwas Braunes durchschimmern zu sehen meinte. Dann Pause; darauf Aussprache automatisch: "das ist ...". Bis dahin war der Name "Stanniol" und der Gedanke daran noch gar nicht da. Ganz automatisch kam mit einmal das Folgende. Bei Stanniol an die Bedeutung gar nicht gedacht."

Objekt: ein kleines, mit weißem Seidenpapier umwickeltes Päckchen, das zwei Stahlfedern enthielt. Aussage: "Stecknadel". Eines unter den dabei gehabten Erlebnissen wird so geschildert: "Dann Erinnerung, ich glaube, an meine Mutter und an einen Nähtisch und ähnliches (sehr undeutlich) und die lebhafte Vorstellung, daß Stecknadeln in diesen Paketchen wären; es war förmlich, als sähe ich sie ... der Längsstrich hob sich deutlicher heraus."

In diesem Zusammenhang sei einer interessanten Unterscheidung gedacht, auf die man erst neuerdings in der experimentellen Psychologie gekommen ist, nämlich der Unterscheidung von zwei  "Erscheinungsweisen"  der Farben, welche man als "Flächenfarben" und als "Oberflächenfarben" bezeichnet hat. (7) Den Eindruck von "Flächenfarben" erleben wir, wenn wir z. B. auf dem Rücken liegend in den blauen Himmel hineinsehen, oder wenn wir Spektralfarben durch das Okular eines Spektralapparates betrachten, oder endlich, wenn wir Dinge durch das (zirka 1 - 2 cm weite) Loch eines großen Papiers oder Pappdeckelstücks betrachten, das wir derart halten müssen, daß es uns die Umrisse des betreffenden Dings, seine Oberflächenstruktur und eine etwaige nicht frontal-parallele Lage verdeckt. "Oberflächenfarben" sind uns gegeben, wenn wir Dinge mit natürlicher oder künstlicher Färbung unter den gewöhnlichen Verhältnissen des praktischen Lebens betrachten. Und wie unterscheiden sich nun beide Erscheinungsweise? Die Flächenfarben sind für und nicht an einer bestimmt angebbaren Stelle, sie haben ein "lockeres Gefüge" (d. h. man hat den Eindruck, mit dem Blick gewissermaßen in sie eindringen zu können), sie scheinen stets mit der Vorderseite unseres Körpers parallel zu liegen, sie sind zarter und wohlgefälliger. Insbesondere aber erwecken sie nicht den Eindruck, als ob sie Eigenschaften von Dingen seien; sie sind sozusagen ein unbestimmtes farbiges Etwas. Die "Oberflächenfarben" dagegen gehören für unsere Auffassung zu den Dingen, sie haben an und auf diesen ihre bestimmte Stelle im Raum, sie zeigen einen strafferen Zusammenhalt und eine kräftigere, energischere Art. Die Erscheinungen der "Spiegelung" und des "Glanzes" treten nur an Oberflächenfarben auf.

Dieser Unterschied verrät, daß schon im Aussehen des dem Auge unmittelbar Gegebenen die Apperzeption ihren geheimen Anteil hat; denn der Unterschied hängt ja davon ab, ob die Farben als Farben von Dingen erscheinen, d. h. ob sie als Dingeigenschaften "apperzipiert" werden oder nicht.

Erinnert sei hier auch an die sogenannten  Vexierbilder,  bei denen es gilt, durch Herausfinden einer Figur so geistreiche Fragen wie: "Wo ist die Katze?" oder ähnliche zu beantworten. Haben wir die Figur aus dem Gewirr der Striche einmal herausgehoben - vielleicht mit vieler Mühe -, so ist sie für uns bei wiederholter Betrachtung leicht zu entdecken, und wir können dann oft kaum begreifen, daß wir sie anfangs so lange nicht finden konnten. Auch hier wirken dann bei der zweiten Betrachtung "Spuren" der ersten apperzipierend mit und verstärken und ergänzen die Gesichtsempfindungen.

3. Es ist leicht verständlich, daß solche reproduzierte Empfindungen, besonders wenn sie sich mit falschen begrifflichen Deutungen des Gegenstand verbinden, unter Umständen die Wahrnehmung trüben und fälschen können. Ja, bei geistigen Erkrankungen können durch zentrale Erregungen im Gehirn Empfindungen mit solcher Frische, Deutlichkeit und "Leibhaftigkeit" reproduziert werden, daß der Kranke fest überzeugt ist, wirkliche Dinge zu sehen oder gar zu tasten (oder wirkliche Stimmen zu hören usw.) (8) Wenn auch solche Erlebnisse, die sogenannten "Halluzinationen", bei geistig Gesunden nicht oder nur in seltenen Ausnahmefällen vorkommen, so finden sich doch auch bei Normalen häufig die oben erwähnten Trugwahrnehmungen oder  "Jllusionen",  bei denen durch fehlerhafte Apperzeption - und zwar oft mit voller subjektiver Sicherheit - etwas anderes wahrgenommen wird, als in Wirklichkeit vorhanden ist. Begünstigt, ja überhaupt ermöglicht wird diese Täuschung durch die schon betonte Tatsache, daß die apperzipierenden Elemente sich für unser Bewußtsein gewöhnlich nicht von den perzipierten unterscheiden, sondern vielmehr mit ihnen zu unserer Objektwahrnehmung zusammenfließen. So ist der Gegenstand einfach fertig für uns da; er scheint uns als von außen nach seinem gesamten Bestand gegeben; wir wissen gar nicht, wieviel wir selbst dazu getan haben, vielmehr meinen wir uns nur aufnehmend und passiv bei der Wahrnehmung zu verhalten. Gefördert werden noch solche Jllusionen durch starke Gefühle und Begehrungen. Angst und Hoffnung lassen uns das Gefürchtete oder Ersehnte unter geeigneten Umständen leibhaftig erscheinen. Und auch sonst beeinträchtigen starke Gemütsbewegungen leicht in hohem Maße die Wahrnehmungen.

Beachtenswert ist diese Tatsache vielfach für die richtige Würdigung von Zeugenaussagen. Durchaus nicht jeder, der unter Eid objektiv Falsches aussagt, macht sich dadurch eines Meineids oder eines fahrlässigen Falscheids schuldig. Das hat der berühmte Strafrechtslehrer FRANZ von LISZT seinen Studenten einmal in eindringlicher Weise beigebracht. Er führte im kriminalistischen Seminar zu Berlin einen sogenannten Wirklichkeitsversuch durch.
    "Nachdem einige Worte in Ruhe gewechselt waren, entstand ein heftiger Streit zwischen zwei Seminarmitgliedern, von denen der eine schließlich einen Revolver zog und abdrückte. Nach diesem ganz genau vorbereiteten Versuch wurden die Seminarmitglieder als Zeugen vernommen. Die Aussagen ergaben im Durchschnitt 58 Prozent Fehler. Die Aussagen über die aufregenderen Teile der Szene ergaben jedoch 74 Prozent Fehler. Hieraus folgt, daß es nicht unbedenklich ist, einen Angeklagten aufgrund eines oder weniger beim Tatbestand aufgeregter Zeugen zu verurteilen, eine Angelegenheit, die praktisch werden kann, wenn es sich z. B. um die Überschreitung der Notwehr oder um Körperverletzung handelt." (9)
So erklärt es sich auch psychologisch leicht, daß und warum die Berichte von mehreren Augenzeugen, die denselben - insbesondere aufregenden - Vorgängen beigewohnt haben, oft so sehr voneinander abweichen, ja sich widersprechen. Das sollte uns auch vorsichtig machen in unserem Glauben an geschichtliche Überlieferungen, selbst wenn diese auf Erzählungen von Augenzeugen zurückgehen. Hier ist ebenfalls eine falsche Aussage nicht immer eine Lüge.

4. Unsere Erörterung war ausgegangen von der psychologischen Zergliederung einfacher Wahrnehmungsvorgänge, soweit sie - unter erschwerenden Bedingungen erfolgend - den Charakter von Erkennungsvorgängen annehmen. Wir sahen dabei, wie die psychologische Betrachtung derartige ganz schlichte, ja alltägliche Erlebnisse in eine zusammenhängende Stufenreihe mit den höchsten menschlichen Erkenntnisleistungen, aber auch mit betrübenden Fällen menschlichen Wahns und Irrtums zu rücken vermag, und wie sich dabei allenthalben die Apperzeption als der bedeutsamste Faktor geltend macht.

Wir gehen nun wieder auf unseren Ausgangspunkt zurück: die Wahrnehmung. Wir haben zunächst die Fälle berücksichtigt, wo sie unter ungünstigen Umständen stattfindet. Wir taten das deshalb, weil sich hier ihre Bestandteile, besonders die "perzipierten" und die "apperzipierenden" Elemente gewöhnlich leichter sondern lassen. Wenn diese Sonderung bei den normalen Wahrnehmungen, wie wir sie unter günstigen Bedingungen während des Tages tausendfach erleben, meist gar nicht möglich ist, so brauchen wir doch nicht daran zu zweifeln, daß jene beiden Gruppen von Elementen auch hier vorhanden sind, nur verschmelzen sie ohne weiteres miteinander, so daß es gar nicht zum Erleben von Zweifel, Urteil, Erkennen kommt. Es ist leicht ersichtlich, daß bei allen diesen gewöhnlichen Wahrnehmungen "perzipierte Elemente" in unserem Bewußtsein sind, nämlich Empfindungen und die mit und an diesen gegebenen räumlichen und zeitlichen Eigenschaften und Beziehungen (z. B. Form, Dauer usw.), ferner noch weitere Beziehungen wie solche der Größe, Stärke, Gleichheit, Ähnlichkit, Verschiedenheit usw. (10). Daß auch auch apperzipierende Elemente mitwirken, das ergibt sich schon aus dem Eindruck des Bekannten, Vertrauten, Unauffälligen, den die uns gewohnten Wahrnehmungsobjekte machen. Diesen Eindruck bringen wir uns freilich in der Regel nur dann zu Bewußtsein, wenn irgendetwas Neues und Unbekanntes uns so ganz anders, so fremdartig anmutet, oder wenn uns das Fehlen eines Objekts oder eine Veränderungen in unserer gewohnten Umgebung auffällt. Im Eindruck des Fremden, im Stutzen und in der Verwunderung verrät sich, daß wir innerlich auf das Gewohnte "eingstellt" waren, d. h. daß gewisse apperzipierende Elemente in Bereitschaft waren, mit den perzipierten zusammenzufließen, daß die Vereinigung aber diesmal Hemmungen erfuhr.

5. Ein ganz geläufiger Wahrnehmungsvorgang, bei dem sich der Anteil der Apperzeption besonders deutlich zeigen läßt, ist das  Lesen.  Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß wir Druckfehler leicht übersehen, auch dann, wenn wir eine besondere Aufmerksamkeit darauf richten, sie zu finden, wie beim Korrekturlesen.

Das Lesen erfolgt nicht, wie man vermuten könnte, in der Weise, daß das Auge sich  gleichmäßig  den Zeilen entlang bewegt und Buchstabe für Buchstabe perzipiert. Vielmehr haben genauere Beobachtungen gezeigt, daß die Augenbewegung  ruckweise  erfolgt, daß z. B. bei Zeilen von durchschnittlich 63 Buchstaben im allgemeinen 7 Bewegungen stattfinden. Diese Bewegungen selbst sind zu rasch, als daß während ihrer irgendwelche Eindrücke wahrgenommen werden könnten. Dies geschieht vielmehr nur in den kurzen Ruhepausen. Man hat nun besondere experimentelle Untersuchungen darüber angestellt, wieviele Buchstaben bei ganz kurzer Darbietung erfaßt werden können. (11) Dabei ergab sich das - zunächst verwunderliche - Resultat, daß z. B. bei einer einmaligen Exposition von 100 σ (d. i. eine Zehntelsekunde) von einzelnen (sinnlosen) Buchstaben nur 4 - 8, dagegen Worte oder kurze Sätze von 15 - 30 Buchstaben erfaßt werden konnten. Dieses Untersuchungsergebnis findet aber seine Erklärung durch die Berücksichtigung der beim Lesen stattfindenden Apperzeption. Die Wortbilder als Ganzes sind uns ja von den massenhaften früheren Eindrücken her sehr geläufig, d. h. sie haben kräftige und leicht reproduzierbare Spuren im Unbewußten hinterlassen. Deshalb erfordert es auch nicht mehr Zeit, ein (nicht allzulanges) Wort als Ganzes zu erfassen als einen einzelnen Buchstaben. Ebenso versteht man aus der Verschmelzung der perzipierten und der apperzipierenden Elemente, daß wir fehlende Buchstaben (uns selbst unbewußt) ergänzen oder falsche durch richtige ersetzen (d. h. also Druckfehler  nicht  bemerken).

Da diese Apperzeptionsprozesse auch während der Augenbewegungen weitergehen, so erklärt es sich auch, daß wir nicht den Eindruck eines ruckweisen, sondern eines kontinuierlichen Lesens haben.

Aber nicht nur die "Spuren" der visuellen oder optischen (d. h. dem Gesichtssinn angehörigen) Wortbilder wirken bei der Apperzeption mit; die meisten Personen lesen nämlich nicht rein visuell, sondern sie hören auch die Worte innerlich und viele machen noch unwillkürlich Sprachbewegungen (die also nicht nur beim lauten, sondern auch beim stillen Lesen vorkommen). Die akustischen und die motorischen (d. h. die vom Hören und vom Sprechen der Wörter herrührenden) "Spuren" sind nämlich mit den visuellen eng verknüpft ("assoziiert") und so pflanzt sich die "Erregung" jener meist auch auf diese fort.

Die akustischen Spuren sind ferner beim Hören und Verstehen der gesprochenen Rede von besonderer Wichtigkeit.

Warum werden z. B. Eigennamen (außer ganz bekannten und gebräuchlichen) beim Hören meist nicht verstanden oder mißverstanden? Weil für sie keine "Spuren" früherer Eindrücke in dem Maße vorhanden sind, wie für die anderen uns geläufigen Worte, weil somit das Perzipierte nicht in dem Maße durch apperzipierende Elemente verstärkt und ergänzt wird wie sonst. Es ist darum - wie beiläufig bemerkt sei - dringend zu empfehlen, daß im Unterricht neu vorkommende Eigennamen nicht nur besonders deutlich ausgesprochen, sondern auch stets an die Tafel geschrieben werden. Das sollte von der Volksschule an bis hinauf zur Universität die Regel sein.

Ferner wird jeder, der mit einem Ausländer in dessen Sprache redet (falls er selbst diese nicht völlig beherrscht), das Bedürfnis haben, daß jener langsame und besonders deutlich rede. Das bedarf nun nach dem Gesagten keiner besonderen Erklärung mehr.

Indessen sind mit dem Hinweis auf die erregten optischen, akustischen und motorischen "Spuren" der Wortwahrnehmungen die apperzipierenden Elemente, die beim Lesen und Hören von Sprachlichem in Betracht kommen, noch lange nicht erschöpft, ja die wichtigsten fehlen noch. Die Hauptsache ist uns ja doch in der Regel das Erfassen des  Sinnes,  d. h. der Wort- und Satzbedeutungen. Wir können Worte ganz deutlich mit den Augen oder Ohren wahrnehmen, und doch kann uns ihr Sinn noch ganz verborgen sein. (Wenn man das akustische Aufnehmen von bloßen Worten vielfach auch "Verstehen" nennt, so bildet dieses doch nur die Vorstufe des  eigentlichen,  auf den Sinn gerichteten "Verstehens.)

Unsere Aufmerksamkeit kann zwar auf die Worte selbst gerichtet sein, wie im Orthographie-Unterricht und häufig bei dem in der Grammatik, aber gewöhnlich ist beim Lesen, Hören und Sprechen die natürliche Einstellung unserer Aufmerksamkeit eine ganz andere. Die Worte als solche sind usn dann meist nur nebenbei bewußt, dagegen sind wir ganz konzentriert auf ihren Sinn, d. h. auf die Gegenstände (12), auf die sich die Worte und Sätze beziehen.

Die Gegenstände können wir uns in  anschaulicher  Weise beim Sprechen, Hören, Lesen oder stillen Nachdenken vorstellen, sei es, daß wir sie selbst oder in Nachbildungen vor Augen haben, sei es, daß wir uns im Geistes anschauliche Bilder von ihnen reproduzieren oder konstruieren. Es ist aber auch möglich, daß wir ohne solche anschauliche Vorstellungen doch ganz genau um die Gegenstände wissen, auf die es uns gerade ankommt. In unserem Bewußtsein sind dann  "Begriffe"  oder  "Gedanken"  (13) (d. h. einzelne Urteile oder zusammengehörige Gruppen von Urteilen). Diese können natürlich auch gleichzeitig mit anschaulichen Vorstellungen erlebt werden. All das nun, was - abgesehen von gleichzeitigen Wahrnehmungen - an anschaulichen oder unanschaulichen Vorstellungen zu den Worten hinzukommt, das müssen wir selbst hinzutun; d. h. es gehört zu den apperzipierenden Elementen.  Auf Apperzeption beruth also aller Sinn der Rede;  alles was an Begriffen, d. h. an Wortbedeutungen, und an Gedanken, d. h. Satzbedeutungen, in unserem Bewußtsein ist.

Es genügt dabei zur Erfassung des Sinns größerer Zusammenhänge (ganzer Vorträge, Abhandlungen, Bücher) nicht, daß wir lediglich die einzelnen Worte oder selbst Sätze für sich nacheinander apperzipieren; der Sinn alles Vorangehenden muß bei der Aufnahme der Folgenden noch apperzipierend mitwirken. Ist das nicht mehr der Fall, dann haben wir den Eindruck, "den Faden verloren zu haben". Wir können dann wohl noch die einzelnen Worte und die einzelnen Sätze für sich in gewissem Maße verstehen, aber die Beziehung zum Ganzen und die Bedeutung für das Ganze ist uns nicht mehr bewußt; wir fassen nicht mehr, worauf das Einzelne eigentlich hinaus soll. Bei schwierigeren Büchern ist es darum so förderlich, nach Beendigung der Lektüre eine zweite oder sogar dritte Lesung vorzunehmen. Das dient nicht nur der besseren Einprägung des Inhalts, sondern auch einem tieferen Verständnis und ermöglicht eine mehr oder minder selbständige Beurteilung. Diese letztere besteht, psychologisch betrachtet, darin, daß die Gedanken des Buches ihrerseits wieder durch weitere Gedankenmassen apperzipiert werden. An NIETZSCHEs Wort sei hier erinnert: "Langsam ist das Erleben aller tiefen Brunnen: lange müssen sie warten, bis sie wissen,  was  in ihre Tiefe fiel."

Wenn jemand mit einem Buch oder sonst einem Objekt "rasch fertig" ist, so kann das darauf beruhen, daß es ihm nicht genug zu bieten vermag. Es kann aber auch darin seinen Grund haben, daß er selbst nicht genug zu bieten vermag an apperzipierenden Gedanken. Rasches Absprechen über Bücher, aber auch über Menschen, Kunstwerke, Einrichtungen u. a. verrät oft Oberflächlichkeit und geistige Armut, d. h. einen Mangel an Wissens- und Gedankenbesitz, der apperzipierend wirken könnte. Ein geistreicher Mann hat darum mit Recht einmal gesagt: "Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenschlagen und es klingt hohl: muß es dann immer das Buch sein?"

Da wir, wie schon bemerkt, Geistiges, genauer: Bewußtseinsinhalt, nur in uns selbst wahrzunehmen vermögen, so sind wir, um die Gedanken unserer Mitmenschen zu erfassen, im wesentlichen auf die Wahrnehmung von Worten angewiesen. Dieses "Erfassen" ist aber, wie wir jetzt sehen, ein sehr mittelbares: wir selbst sind es, die durch Apperzeption den bloßen Wortbildern oder Wortklängen die Bedeutung und damit den geistigen Gehalt hinzufügen. Und da der geistige Besitz des Einzelnen ein sehr verschiedenartiger ist, so ist auch das, was sie aus Eigenem hinzufügen können, außerordentlich verschieden. Im Grunde begreifen wir nun den Geist, dem wir gleichen. Und die zahlreichen Fälle des Nichtverstehens und des Mißverstehens sind von einem psychologischen Standpunkt aus nur zu begreiflich. Ein so wunderbares Mittel des Gedankenausdrucks im allgemeinen auch die Sprache ist, nicht selten versagt sie doch - nicht bloß wegen des Mangels an treffenden Ausdrücken und der Vieleutigkeit mancher Worte, sondern vor allem deshalb, weil die Worte selbst nicht den "Sinn" von Mensch zu Mensch tragen, sondern weil sie nur auslösend auf die Apperzeption wirken und diese dann alle die Verschiedenheiten zeigt, wie sie unter Menschen in so reichem Maß existieren. Man versteht so das Wort NIETZSCHEs: "Was sind Worte anders als Scheinbrücken und Regenbögen zwischen ewig Geschiedenen?!"

Dazu kommt noch, daß die Worte ja nicht nur intellektuellen Inhalt, d. h. Gedanken, mitteilen, sondern daß sie Gefühle, Gemütsbewegungen ausdrücken sollen. Auch diese muß also der Hörende oder Lesende in sich nacherzeugen, um dadurch die Worte zu apperzipieren und ihren Gefühlsgehalt in sich nachzuerleben. Gefühle gehören aber gerade zum Individuellsten und Intimsten und Unübertragbarsten. Eine instinktive Scheu hält darum auch zartere Naturen davon ab, ihre Gefühle auszusprechen. Sie fürchten, sie dadurch gewissermaßen zu entweihen und zudem auf Mißverständnis und mangelnde Gefühlsresonanz bei anderen zu stoßen. Und doch streben gerade Gefühle, je mächtiger sie uns ergreifen, umso mehr nach Ausdruck. In diesem Zwiespalt mag wohl der Dichter klagen: "Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?  Spricht  die Seele, so spricht, ach! schon die  Seele  nicht mehr."

Die Verschiedenartigkeit der Apperzeption und des geistigen Gehalts, mit denen sie die Worte ausstattet, kommt aber nicht nur bei der Aufnahme der fremden Rede durch Hören oder Lesen in Betracht, sondern auch bei eigenen Sprechen. Derselbe Satz kann so im Mund des einen Menschen eine gedankenreiche Bemerkung sein, im Mund des anderen eine "Phrase", d. h. eine halbverstandene oder eine unverstandene Rede. "Ein jegliches Wort gehört auch nicht in jegliches Maul" - wie NIETZSCHE einmal treffend sagt.

6. Wir haben bisher bei Gesichts- und Gehörswahrnehmungen die Wirksamkeit der Apperzeption dargetan - und dassind allerdings auch beim Normalen die für das Geistesleben wichtigsten Sinne. In aller Kürze sei aber darauf hingewiesen, daß bei den Wahrnehmungen mittels anderer Sinne die Apperzeption nicht minder in Betracht kommt. Wenn wir z. B. riechend oder schmeckend bei einer Speise feststellen, daß sie verdorben ist, so müssen doch die Gedächtnisspuren des normalen Geruchs oder Geschmacks apperzipierend mitwirken. Und wie reich müssen die apperzipierenden Erfahrungen eines Weinkenners sein, der nach Duft und Geschmack des Weines genau angeben kann, woher er stammt! Oder - ein Beispiel aus dem Gebiet des Tastsinns! Ich will mich vergewissern, ob ich meine Uhr, mein Portemonnaie, meinen Hausschlüssel bei mir habe: eine leichte Berührung an der Außenseite der betreffenden Tasche genügt mir dazu. Die dürftigen Tastempfindungen, die ich dabei erlebe, werden eben durch Apperzeption ergänzt, und diese setzt uns damit auch instand, daß wir uns den gewohnten Dingen und Umständen entsprechend verhalten, und sie ist so die beständige Voraussetzung eines sachgemäßen Handelns.

Was aber für alle Gebiete der äußeren (oder sinnlichen) Wahrnehmung gilt, das findet entsprechend Anwendung auf die  innere  oder  Selbstwahrnehmung.  Wie in unserer äußeren Umgebung Dinge da sein oder sich Vorgänge abspielen können, ohne daß wir sie wahrnehmen, so kann auch in unserer Seele manches vorgehen, ohne daß wir es bemerken. Und wie an äußeren Gegenständen der Fachmann mehr wahrnimmt und richtig erkennt als der Laie, so wird uns auch psychologisches Wissen, das apperzipierend wirkt, bei der Wahrnehmung der eigenen Erlebnisse unterstützen.

7. Nun pflegt bei der Wahrnehmung noch ein Moment vorhanden zu sein, das wir nicht unerwähnt lassen dürfen: die  Aufmerksamkeit.  Gewiß nehmen wir fortwährend vielerlei sozusagen nebenbei wahr, ohne unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten, aber derartige unbeachtete und flüchtige Eindrücke bleiben meist ohne Bedeutung für unser Seelenleben: sie prägen sich kaum ein, sie bestimmten auch nicht unser Wollen und Handeln. Erscheint uns aber ein unaufmerksam Wahrgenommenes irgendwie wichtig, so wird sich ihm sofort unwillkürlich unsere Aufmerksamkeit zuwenden.

Aber schon die Tatsache, daß uns etwas "wichtig erscheint", setzt voraus, daß zum Eindruck als solchem (dem "Perzipierten") apperzipierenden Vorgänge hinzutreten (auf die wir an späterer Stelle noch zurückkommen werden). In noch höherem Maße wird man mit solchen Vorgängen zu rechnen haben, wenn wir nicht unwillkürlich, sondern willkürlich und absichtlich unsere Aufmerksamkeit auf etwas wenden; denn abgesehen vom Willensakt, der dann vorliegt, denken wir dann schon mehr oder minder bestimmt an das, was wir feststellen wollen; wir machen uns vielleicht schon im voraus eine anschauliche Vorstellung davon. Dieses vorausnehmende Denken und Vorstellen entstammt aber unserem geistigen Besitz und ist als "apperzipierende Masse" anzusehen. Ihre Wirksamkeit verrät sich auch darin, daß sich uns der aufmerksam wahrgenommene Gegenstand klarer und deutlicher darstell (was eben auf Verstärkung und Ergänzung der perzipierten Elemente durch apperzipierende beruth).

Bei diesem engen Zusammenhang von Aufmerksamkeit und Apperzeption ist es wohl zu begreifen, daß manche Psychologen sie völlig gleichgesetzt haben. So erklärt z. B. WILHELM WUNDT (14), die Bewußtseinsinhalte hätten verschiedene Grade der Bewußtheit. "Diese Eigenschaft läßt sich durch die Vergleichung mit dem Blickfeld des Auges veranschaulichen, indem man von jener bildlichen Ausdrucksweise Gebrauch macht, die das Bewußtsein selbst ein inneres Sehen nennt. Sagen wir demnach von den in einem gegebenen Moment gegenwärtigen Inhalten, sie befänden sich im  Blickfeld des Bewußtseins,  so kann man denjenigen Teil des letzteren, dem die Aufmerksamkeit zugekehrt ist, als den  inneren Blickpunkt  bezeichnen. Wo es darauf ankommt, hervorzuheben, daß die Aufmerksamkeit zugekehrt ist, als den  inneren Blickpunkt  zu bezeichnen. Wo es darauf ankommt, hervorzuheben, daß die Aufmerksamkeit sich in einem gegebenen Fall nicht auf einen einzigen Inhalt beschränkt, sondern nur innerhalb des ganzen Bewußtseinsumfangs ein relativ beschränktes Gebiet einnimmt, da können wir dieses als das "Aufmerksamkeitsfeld die  Apperzeption  nennen. Ist die Apperzeption von Anfang an von dem subjektiven Gefühl der Tätigkeit begleitet, so bezeichnen wir sie als eine  aktive;  geht dieses Gefühl erst aus einem ursprünglich vorhandenen entgegengesetzten Gefühl des Erleidens hervor, so nennen wir sie eine "passive".

Vergleichen wir WUNDTs Apperzeptionsbegriff mit dem unseren, im freien Anschluß an HERBART gebildeten, so ergibt sich, daß die beiden sich nicht vollständig decken. Zwar wird überall, wo WUNDT "Apperzeption" (d. h. Eintritt eines Inhalts in den "Blickpunkt" oder das "Aufmerksamkeitsfeld") annimmt, auch Apperzeption in unserem Sinne vorliegen, d. h. es wird eine gewisse Aneignung von Eindrücken durch die Seele erfolgen, aber eine solche kann doch - zumal bei gewohnten Eindrücken - auch dann erfolgen, wenn sich die Aufmerksamkeit nicht gerade darauf konzentriert. Überhaupt ist zu beachten, daß die Grenzen zwischen "Blickpunkt" und "Blickfeld" des Bewußtseins völlig fließende sind. Aber auch noch ein anderer Umstand sei hervorgehoben. Es ist möglich, daß wir einem Gegenstand unsere volle Aufmerksamkeit zuwenden, aber daß wir ihn doch nicht erkennen oder verstehen. Natürlich finden auch hier wie bei aller Aufmerksamkeit Apperzeptionsprozesse statt. Sie bekunden sich z. B. dadurch, daß uns mancherlei Vermutungen auftauchen, was es für ein Objekt sein könne, oder wie es zu erklären sei. Nehmen wir nun aber Apperzeption in einem engeren, "prägnanten" Sinn, daß damit eine wirklich geistige "Aneignung" vorliege, die uns befriedigt, so wird man sagen dürfen, daß mit der bloßen Aufmerksamkeit der Apperzeptionsprozeß in solchen Fällen noch nicht zu einem wünschenswerten Abschluß gelangt ist.

Ein solcher wird erst erreicht, wenn der Apperzeptionsvorgang uns zu der gewissen Überzeugung führt, daß wir den Gegenstand erfaßt haben. Eine solche Überzeugung besteht in einem mit "Evidenz" (d. h. mit voller Einsicht) gefällten Urteil des Inhalts: so und so verhält sich die Sache. Nur wenn wir vertrauen, daß solche mit Evidenz gefällten Urteile wirklich "wahr" sind, d. h. dem Gegenstand entsprechen, hat es Sinn für uns nach Erkenntnis der Wahrheit zu streben. Es ist freilich nicht ausgeschlosen, daß ein mit Evidenz gefälltes Urteil infolge unvorhergesehener Einwände oder die Entdeckung neuer Tatsachen geändert werden muß. Aber auch dann werden wir wiederum zu einem evidenten Urteil zu gelangen suchen, das jenen Momenten Rechnung trägt. Indessen die Frage näher zu erörtern, unter welchen Bedingungen unsere Urteile wahr sind, ist Sache der Logik und Erkenntnistheorie (wobei jene die formalen, diese die materialen Bedingungen erörtert). (15)

Aber es ist jedenfalls zweckmäßig, wenn die einzelnen Wissenschaften in der Fassung ihrer Begriffe aufeinander Rücksicht nehmen. Dies tun wir hier, indem wir den Begriff der Apperzeption so bestimmen, daß wir im Erlebnis der Erkenntnis, d. h. des evidenten Urteils den naturgemäß erstrebten Abschluß des Apperzeptionsvorgangs sehen. Diesen Begriff der Erkenntnis können dann jene anderen Wissenschaften übernehmen und unter  ihren  Gesichtspunkten untersuchen. -

Wenn nun aber bei aller Aufmerksamkeit Apperzeption (im einem weiteren Sinn) stattfindet und wenn in der Apperzeption die Seele sich ihrer Eigenart und ihrem geistigen Besitz gemäß betätigt, so wird von diesen letzteren Momenten auch abhängen, was überhaupt unsere Aufmerksamkeit erregt oder gar fesselt. Es ist freilich unverkennbar, daß auch äußere, objektive Umstände für die Erregung der Aufmerksamkeit bedeutsam sind. Das auffallend Große und Starke, das von seiner Umgebung sich Abhebende, das Neue, Seltene, Unerwartete ist besonders geeignet, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber noch wichtiger sind für sie die inneren Bedingungen, und das sind eben die apperzipierenden Elemente. man hat mit Recht gesagt: wenn etwa ein Landwirt, ein Maler, ein Geologe und ein Offizier dieselbe Landschaft betrachten, so werden sie auf ganz verschiedene Momente ihre Aufmerksamkeit richten und infolgedessen ganz Verschiedenes daran bemerken und erkennen, denn sie werden von ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten und von verschiedenen Interessen geleitet sein. Beides aber sind apperzipierende Faktoren. Denn die sogenannten "Gesichtspunkte" sind (anschauliche) Vorstellungen oder Begriffe (Gedanken), die, aus unserem geistigen Besitz reproduziert, unserer Aufmerksamkeit eine bestimmtere Richtung geben, weil wir darin mehr oder minder bestimmt schon vorausnehmen, was wir finden oder feststellen wollen.

Es sei bei dieser Gelegenheit bemerkt, daß die Lenkung der Aufmerksamkeit und damit auch der Apperzeption durch solche "Gesichtspunkte" nicht nur bei der Betrachtung äußerer Objekte bedeutsam ist, sondern auch bei aller geistigen Arbeit. So untersuchen wir z. B. hier in unserer Schrift die seelischen Vorgänge unter dem Gesichtspunkt der Apperzeption. Ja, man darf sagen: die grundlegenden Begriffe und Probleme von ganzen Wissenschaften lassen sich psychologisch als soche "Gesichtspunkte" bezeichnen. Sie lenken die Aufmerksamkeit und die Aneigung des Stoffes bei der Forschung: sie setzen uns instand, zu erkennen, was zur Sache gehört, was wesentlich für sie ist, und was nicht.

Während man aber irgendeinen Gegenstand unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet oder erforscht, sind die geistigen Inhalte, die jeweils den herrschenden Gesichtspunkt ausmachen im Bewußtsein oder doch besonders leicht reproduzierbar, und ähnliches gilt für die mit diesen eng verbundenen ("assoziierten") Spuren von Vorstellungen und Gedanken. Alle diese apperzipierenden Elemente sind dann in einem besonders hohen Grad von "Bereitschaft". Unser geistiger Besitz ist nämlich nicht in jedem Moment unseres Daseins gleichmäßig für uns verfügbar. Wenn wir z. B. mit irgendeiner Sache intensiv beschäftigt sind, und es wird plötzlich eine Frage aus einem ganz anderen Gebiet an uns gerichtet, so fühlen wir uns oft "gleichsam vor den Kopf gestoßen", wir stutzen, wir wissen mit der Frage zunächst gar nichts anzufangen, weil eben die dazu gehörigen Apperzeptionsmassen in diesem Augenblick nicht "in Bereitschaft", d. h. nicht leicht reproduzierbar sind. So müssen wir uns auch gelegentlich auf etwas lange "besinnen", von dem wir wissen, daß wir es in einer anderen Situation leicht reproduzieren können. Wie oft erlebt ein Kandidat in der Prüfung an sich selbst das Treffende des GOETHEschen Satzes:
    "Was man nicht weiß, das eben brauchte man,
    Und was man weiß, kann man nicht brauchen."
Die Fähigkeit, sich auf Neues rasch "einzustellen", d. h. auch Unerwartetes zu apperzipieren und sich ihm entsprechend zu verhalten, ist bei den einzelnen Individuen (wohl infolge angeborener Anlage) sehr verschieden. Wo sie in hohem Grad vorhanden ist, da sprechen wir von Geistesgegenwart oder "Schlagfertigkeit".

Natürlich hängt die Raschheit der Apperzeption auch davon ab, ob die Vorstellungen und Gedanken, die wir dazu gerade brauchen, uns sehr geläufig sind, d. h. ob wir sie fest eingeprägt und schon häufig reproduziert haben. So werden wir uns auf Gebieten, in denen wir "zuhause sind", weniger leicht aus der Fassung bringen lassen als auf uns weniger vertrauten, weil dort die Apperzeptionsprozesse leichter und rascher ablaufen.

Durch den Reichtum oder die Dürftigkeit der apperzipierenden Vorstellungs- und Gedankenmassen wird es bedingt sein, ob sich jemand in seinen Urteilen (und weiterhin auch in seinem Handeln) als umsichtig und weitblickend erweist oder die entgegengesetzten Eigenschaften bekundet.

Ob und auf welchen Gebieten sich aber der Einzelne Einsichten und Kenntnisse erwirbt, das hängt in erster Linie von seinen  Interessen  ab, d. h. seinen Neigungen, Strebungen, Wertschätzungen und Willensrichtungen. Diese bilden also weiter zurückliegende, aber umso tiefer und nachhaltiger wirkende Faktoren bei der Apperzeption. Daß sie auch unmittelbar bei ihr insofern beteiligt sind, als sie vielfach dafür ausschlaggebend sind, was unsere Aufmerksamkeit erregt und fesselt, wurde bereits gesagt.

Da die Interessen (in der soeben dargelegten Bedeutung des Wortes) (16) im Innersten der Persönlichkeit wurzeln und ihre Eigenart und die Richtung ihrer Aktivität bekunden, so kann man - mit einer kleinen Abänderung eines bekannten Sprichwortes - behaupten: "Sage mir, was deine Aufmerksamkeit auf sich zieht, und ich will dir sagen, wer du bist."

8. In diesem Zusammenhang tritt klar zutage, daß die Apperzeption durchaus nicht ein rein intellektueller Vorgang, eine bloße Sache des "Verstandes" ist (wenn wir das Vermögen des Vorstellens und Denkens mit diesem populären Namen bezeichnen wollen). Vielmehr ist dabei auch das  Gemüt  beteiligt als die Fähigkeit der Gefühle, Affekte und Wertschätzungen wie auch der  Wille  (in einem weiten Sinn, der sowohl das instinktiv triebhafte wie das klar bewußte Streben und Stellungnehmen umfaßt). Damit haben wir aber die wesentlichen Seiten des Seelenlebens genannt, und da dieses wieder in innigster Beziehung zum Leib steht, so darf man behaupten: bei jener geistigen Nahrungsaufnahme, die wir "Apperzeption" nennen, kommt der ganze Mensch in Betracht.

Dieser Anteil der willens- und gefühlsmäßigen Faktoren an der Apperzeption soll hier noch in Kürze erläutert werden.

Triebhaftes Streben oder besonnenes Wollen lenkt unsere Aufmerksamkeit und damit den Verlauf unseres Vorstellens und Denkens, es mach das zufällige Wahrnehmen zur absichtlichen und planmäßigen Beobachtung, es setzt unserem Lernen und Forschen Ziele und bedingt so die Entwicklung und Bereicherung unseres Wissens und unserer Erkenntnis, womit sich auch die Fähigkeit der Apperzeption immer mehr übt und ausgestaltet.

Aber nicht in allen Fällen ist es der reine Drang zur Wahrheit, der so unsere intellektuellen Vorgänge in Tätigkeit setzt und regiert. Oft kann auch Neigung oder Abneigung, Furcht oder Hoffnung, Rechthaberei oder Eitelkeit, Gewinnsucht oder Herrschsucht trübend und irreführend auf unser Urteilen einwirken, und auch in solchen Fällen ist die Falschmünzerei der Apperzeption meist ebenso schwer zu ertappen wie bei den Trugwahrnehmungen.

Endlich müssen wir als eines besonders wichtigen apperzipierenden Faktors im Bereich des Gemütslebens der Wertschätzungen (17) gedenken. Diese können in der wärmeren Form des Wertgefühls wie in der kälteren des Werturteils auftreten. Sie erwachsen aber aus unserem Fühlen und Streben. Was in uns Lust erregt hat, worauf sich unser Streben instinktiv richtet, das wird wertgeschätzt; was uns Schmerz und Unlust verursacht, was unser Streben hemmt oder unser Widerstreben erweckt, das gilt uns als Unwert. Auch übernimmt der Mensch von der Umgebung, in der aufwächst und die ihn instinktiv und absichtlich (z. B. durch Erziehung) in der mannigfachsten Weise beeinflußt, vielfach Wertschätzungen.

Diese lassen sich nun in einige Hauptklassen zerlegen. Anders ist unser Werterlebnis z. B., wenn wir etwas wegen seiner Schönheit, anders, wenn wir es wegen seiner Nützlichkeit schätzen; und der Wert, den wir einem Menschen wegen seiner moralischen Tüchtigkeit beilegen, trägt sozusagen eine andere Färbung und zugleich eine höhere Würde als der Wert seiner Klugheit oder Gelehrsamkeit. Eigenwert schreiben wir dem zu, das wir um seiner selbst willen schätzen. Die Eigenwerte lassen sich ihrem Rang nach (vom niederen zum höheren ansteigend) wohl so anordnen: das Angenehme, das Schöne, das Wahre, das Gute, das Heilige. Was wir nur um eines anderen willen schätzen, heißt ein abgeleiteter Wert. Dieser Begriff deckt sich mit dem weiten Bereich des "Nützlichen".

Alle diese Bezeichnungen für Werte sind Namen für Gattungsbegriffe, so gut wie Mensch oder Baum. Sie fassen, wie diese, verschiedene Arten utner sich: das Angenehme z. B. kann in geistiger oder sinnlicher Lust bestehen, das Schöne kann uns als Natur- oder Kunstschönes und beides wieder in mannigfacher Gestalt entgegentreten usw.; auch entsprechen ja all den positiven Werten negative (Unwerte). Wie es ferner einen Menschen "überhaupt" oder einen "allgemeinen" Baum in Wirklichkeit nicht gibt, so existiert auch das Angenehme, Schöne, Gute usw. nicht ansich als etwas Wirkliches. Andererseits aber verlieren diese Begriffe (oder "Ideen") nicht ihre Geltung, wenn sie auch vielfach nicht verwirklicht werden, wo wir es erwarten oder fordern. Von den Werten kann man also noch ihre Verwirklichungen in "Wertträgern" und in "Gütern" unterscheiden. (18) So finden z. B. die sittlichen (oder moralischen, ethischen) Werte ihre Verwirklichung niemals in leblosen Dingen, Pflanzen oder Tieren, sondern nur in Menschen, ihrem Charakter, ihren Gesinnungen und Handlungen. Dagegen können sich in jenen drei Klassen von Wesen Nützlichkeitswerte verwirklichen; auch Menschen können uns nützlich sein, jedoch widerstrebt es unserer sittlichen Wertschätzung, im Menschen lediglich etwas Nützliches zu sehen (19). Lediglich Nützlichkeit dagegen, und zwar den vielseitigsten, aber keinen Eigenwert, schreibt man dem Geld zu. Wird es für jemandem zum Eigenwert, womöglich gar zum höchsten, so beurteilen wir ihn als habsüchtig oder als geizig, d. h. wir bewerten seine Schätzungsweise unter dem Gesichtspunkt des sittlichen Wertes negativ. Dies zeigt - beiläufig bemerkt -, daß wir Wertschätzungen selbst wieder bewerten können.

Ich bin auf diese allgemeinen Wertbegriffe und Werttatsachen etwas näher eingegangen, weil man sie bisher in der Psychologie nicht entfernt in dem Maße berücksichtigt hat, als sie es verdienen. Nun reichen die Wertfragen freilich weit über das Gebiet der Psychologie hinaus; sie hat nämlich die Wertschätzungen lediglich nach ihrer tatsächlichen Beschaffenheit und Gesetzmäßigkeit zu untersuchen, sie hat aber über ihre Richtigkeit, ihre Gültigkeit nichts auszumachen. das überläßt sie der allgemeinen Wertphilosophie oder spezielleren Wertwissenschaften wie  Ethik Ästhetik usw.

So liegt auch außerhalb der Zuständigkeit der Psychologie die Entscheidung der Frage, ob und in welchem Sinn es objektive oder gar absolute Werte gibt, d. h. solche, die bestehen oder gelten, ganz unabhängig von der Schätzung des einzelnen Individuums oder sogar der Menschen überhaupt.  Das  aber muß von einem psychologischen Standpunkt aus betont werden: für den Menschen, für menschliches Bewußtsein gäbe es keine Werte, wenn in der Menschenseele nicht die Fähigkeit des Wertschätzens läge. Da diese wieder auf das Fühlen und Wollen zurückgeht, so darf man behaupten: wären die Menschen nur theoretische, d. h. nur vorstellende und denkende Wesen, so gäbe es  für sie  keine Werte, keine Güter (20); auch der Begriff "Wert" und alle davon abgeleiteten würden ihm fehlen. Wie der Mensch das Vermögen haben muß, Wirkliches vorzustellen und zu denken, damit eine wirkliche Welt  für ihn  da sei -  ansich  könnte sie sehr wohl auch ohne das existieren -, so muß er imstande sein, wertzuschätzen, damit die Welt der Werte ihm zugänglich wird. Erst durch unsere Sinne gewinnen die Dinge Farbe und Glanz, Klang und Duft. Geschmack und Temperatur (21); erst durch unser Fühlen und Wollen gewinnt alles den Charakter des Wertvollen oder Wertlosen, des Guten oder Bösen, Schönen oder Häßlichen usw. Und Abnormitäten gibt es dort wie hier. Für den Blinden sind keine Farben da, für den Tauben keine Töne; für den gänzlich Unmusikalischen hat die Musik keinen Schönheitswert, sie ist für ihn nur ein Gewirre von Tönen und Geräuschen. Man kann auch von einer Wertblindheit verschiedenster Form sprechen; und wenn man bei manchen Individuen "moral insanity" (wörtlich: moralisch Verblödung) glaubt feststellen zu können, so konstatier man damit eine Unfähigkeit, die sittlichen Wertschätzungen zu erleben und dadurch im Wollen und Handeln bestimmt zu werden.

Aber, wird man fragen: Was hat das alles mit der Apperzeption zu tun? Die Antwort ist einfach: Wie die Auffassung des Wirklichen Leistung der Apperzeption ist: so auch die Erfassung der Werte und Wertträger. Sie ist also die in uns fließende Quelle allen Wertes; nur daß hier nicht lediglich intellektuelle Elemente apperzipierend wirken, sondern daß Fühlen, Streben, Wollen, Wertschätzen gleichzeitig, ja sich vorwiegend regen und apperzipierend wirken. Man darf sogar behaupten: selten verhalten wir uns rein theoretisch (d. h. apperzipieren wir lediglich intellektuell), gewöhnlich nur dann, wenn wir mit einer rein wissenschaftlichen Untersuchung beschäftigt sind (22): im praktischen Leben regt sich fast fortwährend - lebhafter oder sachter - unser Wertschätzen. Die Personen und Dinge, mit denen wir es zu tun haben, sind darum auch für uns nicht etwas lediglich "Seiendes", sondern sie haben für uns ohne weiteres Wert oder Unwert, sie muten uns so oder so an: gefallen oder mißfallen uns; flößen uns Zu- oder Abneigung, Hochschätzung oder Verachtung, Bewunderung oder Abscheu ein. Die Apperzeption aber, als bewertende, ist die Zauberin, die so die Gegenstände mit ihrem Wert begabt; und wie beim intellektuellen Erfassen, so treibt sie hier gleichfalls ihre Tätigkeit im Verborgenen; auch hier wissen wir zunächst nicht, was wir selbst alles unbewußt und aus den unbewußten Tiefen unserer Seele hinzutun: nur das Ergebnis jenes geheimnisvollen seelischen Waltens und Wirkens steht fertig vor uns: dort die wirkliche Welt, hier ihr Wert und Unwert, und zwar beides nicht gesondert, sondern miteinander auf innigste verschmolzen.

Die Ahnung von diesem Sachverhalt hat sich schon längst tiefer blickenden Geistern aufgedrängt. Bereits aus dem Altertum ist das Wort des Philosophen PROTAGORAS (im 5. Jahrhundert v. Chr.) überliefert: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge." SHAKESPEARE legt seinem HAMLET den Gedanken in den Mund: "Ansich ist nichts gut oder böse; das Denken der Menschen erst macht es dazu". Und SCHILLER schließt sein Gedicht "Die Worte des Wahns" mit der Mahnung:
    "Drum, edle Seele, entreiß dich dem Wahn,
    Und den himmlischen Glauben bewahre!
    Und was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn,
    Es ist dennoch das Schöne, das Wahre!
    Es ist  nicht draußen,  da sucht es der Tor;
    Es ist in dir, du bringst es ewig hervor." 
NIETZSCHE endlich läßt seinen ZARATHUSTRA verkünden: "Werte legte erst der Mensch in die Dinge ... durch das Schätzen erst gibt es Wert: und ohne das Schätzen wäre die Nuß des Daseins hohl.".

Nun darf man freilich - wozu solche Worte verleiten können - dieses wertschaffende Werben der Apperzeption nicht einseitig subjektivistisch auffassen; man darf nicht meinen, sie walte ganz nach ihrem Belieben und frei schöpferisch, sie spinne allen Wert lediglich aus sich heraus. Wie wir an der Überzeugung festhalten, daß eine reale Welt "*nsich" existiert (23), die - durch die theoretische Apperzeption erfaßt - zur Welt  "für uns"  wird, so dürfen wir auch voraussetzen, daß es in der Beschaffenheit der Wirklichkeit - ebenso freilich auch in der  unsrigen  - begründet ist, warum wir dieses oder jenes begehren oder verabscheuen und so oder anders bewerten.

Mit dieser Behauptung überschreiten wir nicht den Rahmen der Psychologie, um zu jener wertphilosophischen Frage nach der objektiven Gültigkeit von Wertschätzungen und Werten Stellung zu nehmen; denn jene objektiven Momente, die wir bei allem Wertschätzen annehmen, sind ja noch nicht selbst "Werte" oder Wertträger ("Güter"), sondern nur Teilbedingungen dazu. So sind auch die periodischen Luftschwingungen, die in der Physik meist kurzerhand "Töne" genannt werden, in Wirklichkeit keine Töne, sondern nur Teilbedingungen zu deren Zustandekommen; die andere ebenso unentbehrliche, Teilbedingung ist die Fähigkeit des Hörens. So muß auch zu jenen objektiven Teilbedingungen beim Bewerten das subjektive Vermögen des Schätzens hinzukommen. Ohne das gäbe es - für uns - keine Werte.

Ferner gilt diese Voraussetzung subjektiver wie objektiver Teilbedingungen für  alle  Wertschätzungen; sie gehört also zur psychologischen Erklärung dieser Erlebnisse: welche Schätzungen dagegen richtig oder objektiv gültig sind und welche nicht, ist damit noch gar nicht ausgemacht. Die Entscheidung  dieser  Frage liegt allerdings außerhalb der Psychologie.

Auch ist diese Frage nocht nicht damit beantwortet, daß der Psychologe auf die Tatsache hinweist, wie die Schätzungen der Menschen - infolge ihrer verschiedenen psychophysischen Beschaffenheit und ihrer historisch erwachsenen Kultur - große Verschiedenheiten zeigen. Solche begegnen uns nämlich auf allen Wertgebieten. Der alte Spruch: "de gustibus non est disputandum" (über den Geschmack lohne es sich nicht zu disputieren) gilt nicht nur für den Geschmack an Speise und Trank, sondern in weitem Umfang auch für den  ästhetischen. 

Wie verschieden ferner die Menschen tatsächlich die  Wissenschaft  bewerten, das hat SCHILLER witzig in den Versen gezeichnet:
    "Einem ist sie die hohe, die himmliche Göttin, dem Andern
    Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt."
Ob die Lust und Annehmlichkeit des Daseins größer seien oder der Schmerz und die Plage, darüber werden die einzelnen Menschen sehr verschieden urteilen, nicht nur aufgrund der Verschiedenheit ihrer äußeren Schicksale und Lebensumstände, sondern noch mehr infolge der Unterschiede ihres Temperaments, ihrer Empfindsamkit, ihrer Ansprüche an das Leben. Während der Pessimist denkt: "Nach Eimern zählt das Unglück, nach Tropfen nur das Glück", während er mit SCHOPENHAUER das Nichtsein dem Dasein vorzieht, wird der Optimist lieber mit HUTTEN jubeln: "Es ist eine Lust zu leben." Dagegen wird der ethisch gerichtete Mensch erklären, daß der Ertrag an Lust und Unlust, Glück und Unglück über den Wert des Lebens gar nicht in letzter Linie entscheide; sein Wert hänge vielmehr davon ab, ob man im Dienste sittlicher Ideale wirke. So wird er mit NIETZSCHE sagen dürfen: "Trachte ich denn nach Glück: ich trachte nach meinem Werk".

Aber auch auf dem Gebiet der  moralischen  Wertschätzungen und der aus ihnen erwachsenden sittlichen Ideale begegnet uns große Verschiedenheit. "Viele Länder sah Zarathustra und viele Völker, so entdeckte er vieler Völker Gutes und Böses ... Vieles, das diesem Volke gut hieß, hieß einem andern Hohn und Schmack; stets verwunderte sich seine Seele ob des Nachbarn Wahn und Bosheit".

Man darf nun freilich die Verschiedenheiten nicht einseitig betonen. Wie die Unterschiede der Menschenrassen, der Nationen und Individuen sich wohl damit vertragen, daß sie alle doch der  einen  menschlichen Gattung angehören: so werden sich gewisse übereinstimmende Forderungen des menschlichen Wesens in aller Verschiedenheit der moralischen Wertschätzungen zur Geltung bringen. Nicht zur Verzweiflung am Guten sollte uns diese führen, sondern zur Bewunderung für den Reichtum des menschlichen Geisteslebens, in dem die  eine  Idee des Guten in zahllosen Ausprägungen lebt und ihre Verwirklichung findet.

Der  religiöse  Mensch endlich wird die Idee des Guten und die allgemeinsten sittlichen Gesetze auf ein göttliches Wesen zurückführen, und er wird überzeugt sein, daß der sittliche Wert erst die höchste Vollendung erreiche durch seine Verschmelzung mit dem Wert des Heiligen, und daß der sittlich strebende Mensch erst seine volle Kraft finde im religiösen Glauben und durch göttliche Hilfe. "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit!"

Aber wie umfassend und mannigfaltig sich uns auch die Welt der Werte offenbaren, wie gewaltig sie unser Herz ergreifen mag, sie würe für uns nicht da und hätte keine Kraft, wenn sie sich nicht unsere Seele apperzipierend aneignete, ja in gewissem Sinne schüfe.

Aber wie das Getriebe des Seelenlebens Richtiges und Falsches, Gutes und Schlimmes nebeneinander hervorbringt, so vermag auch die Apperzeption nicht nur unsere theoretischen Urteil, sondern auch unsere Werturteile oft heillos zu trüben und in die Irre zu führen.

Es kann z. B. eine psychologische Betrachtung des  Parteiwesens  auf politischem, wirtschaftlichem, künstlerischem, religiösem Gebiet einen unerschöpflichen Reichtum von Beispielen für die Wirksamkeit der Apperzeption im menschlichen Verkehr liefern. Denn Liebe und Haß verbinden und trennen nicht nur die einzelnen, sondern auch die Gruppen der einzelnen. Wie es dem Menschen Bedürfnis ist, sich mit anderen in den mannigfachsten Gemeinschaften zusammenzuschließen, so scheint es ihm auch Bedürfnis zu sein, sich mit seiner Gruppe von anderen, irgendwie verschiedenen, schroff zu sondern. Mit der seinen verwächst er in erweitertem Egoismus, von den anderen fühlt er sich abgestoßen, da alles, was seinen Ansichten und Bestrebungen entgegensteht, naturgemäß in ihm Unlust und Abneigung erregt. Solche Gefühle wirken nun aber - mehr oder minder unbemerkt - apperzipierend bei der Auffassung und Beurteilung der Gegner und ihres Handelns. Ihr Bild vereinigt bald alle die schlimmen Charakterzüge, deren Wirksamkeit man im eigenen Leben an sich erfahren hat. Ihre Grundsätze - die man vielleicht als solche nicht tadeln oder widerlegen kann - erscheinen nur als Deckmantel für niedrige, egoistische Absichten. So kann sich mit aufrichtiger Begeisterung für ideale Ziele und mit reinem Streben danach eine Mißkennung, eine innere Ungerechtigkeit, eine Intoleranz gegen die Gegner verbinden, die abstoßend wirkt und auf den ersten Blick unvereinbar erscheint mit jenen schönen Zügen (24). Das Unzutreffende in der Beurteilung der Gegner ist umso stärker, je weniger weit der eigene geistige Horizont ist, je weniger die Fähigkeit existiert, sich in andere Standpunkte hineinzuversetzen. Kurz, je niedriger intellektuell ein Mensch steht, ein umso schrofferer und fanatischerer Parteigänger vermag es zu sein - nicht aus bösem Willen, sondern aus Beschränktheit.

Alles Vorstehende sollte zeigen, daß die Apperzeption - trotz ihres gelehrten Namens - ein durchaus gewöhnlicher, alltäglicher Vorgang ist; daß sie zugleich, bei aller Wichtigkeit für das geistige Wachstum, die natürliche Quelle vieler theoretischer und praktischer Irrungen ist. Was uns gegen solche schützt, und was wir lernen müssen, ist Vorsicht, Zweifel, besonnene Unterscheidung des objektiv Gültigen und des Ungültigen. Und nicht nur für den Menschen im jugendlichen Alter gilt das: je mehr bei zunehmendem Alter eine gewisse geistige Erstarrung eintritt, umso mehr ist es auch da nötig, sich durch eine nie ermüdende Selbstkritik geistig beweglich zu halten.
LITERATUR - August Messer, Die Apperzeption als Grundbegriff der pädagogischen Psychologie, Berlin 1915
    Anmerkungen
    4) Vgl. meine "Psychologie", Stuttgart 1914, Seite 206f
    5) So auch CLEMENS BAEUMKER, Anschauung und Denken, Paderborn 1913, Seite 22
    6) Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Denken. Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. VIII, Seite 129f. Eine genaue psychologische Analyse der Wahrnehmung ist auch enthalten in meinem Buch "Empfindung und Denken", Leipzig 1908, Seite 59f und in meiner Psychologie, Stuttgart 1914, Kap. X
    7) Vgl. meine "Psychologie" Seite 79f. Die Unterscheidung rührt von DAVID KATZ, "Die Erscheinungsweisen der Farben", Leipzig 1911. Die Benennung ist insofern nicht ganz einwandfrei, als ja auch die Oberflächen Flächen sind, jedoch eine bessere hat sich bis jetzt nicht gefunden; auch kommt durch den Namen "Oberfläche" wenigstens die Zugehörigkeit der betreffenden Fläche zu einem Körper zum Ausdruck, was hier das Wesentliche ist.
    8) Vgl. dazu KARL JASPERS, Zur Analyse der Trugwahrnehmungen, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. VI, 1911, Seite 40f
    9) Nach KARL MARBE, Grundzüge der forensischen Psychologie, München 1913, Seite 32f. - Reichen Stoff über diese Fragen bieten die von WILLIAM STERN herausgegebenen "Beiträge zur Psychologie der Aussage", Leipzig, 1. Folge 1903/04, 2. Folge 1905/06
    10) Über das anschauliche Gegebensein solcher Beziehungen siehe Näheres in meiner "Psychologie", Kap. XI bis XIII
    11) Man nennt solche Versuche "tachistokopische". Der Ausdruck "Tachistokop" ist aus griechischen Worten gebildet und bedeutet "Schnellseher", er bezeichnet Apparate, in denen man Objekte eine genau bestimmte, beliebig kurze Zeit darbieten ("exponieren", d. h. der Betrachtung "aussetzen") kann. Solche kurzen Zeiten werden in der experimentellen Psychologie gewöhnlich nach Tausendstelsekungen gemessen, für die man die Bezeichnung "Sigma" (geschrieben:  σ,  d. i. den griechischen Buchstaben für den S-Laut) verwendet. Genaueres über die Psychologie des Lesens bei BENNO ERDMANN und RAYMOND DOGDE, Psychologische Untersuchungen über das Lesen auf experimenteller Grundlage, Halle 1898. JULIUS ZEITLER, "Tachistoskopische Untersuchungen über das Lesen" in der Zeitschrift "Philosophische Studien", Bd. 16, 1900, Seite 380f
    12) "Gegenstand" (oder "Objekt") bezeichnet in diesem Zusammenhang nicht etwa nur körperliche Wesen (die ich "Dinge" nenne), sondern ist gleichbedeutend mit dem allerallgemeinsten Begriff "Etwas"; es bezeichnet also "alles", worauf unser Denken überhaupt gerichtet sein kann: Wirkliches und Unwirkliches (bloß Gedachtes oder Eingebildetes); selbständige Wesen und deren Eigenschaften oder Zustände, Vorgänge und Sachverhalte.
    13) Näheres darüber in meiner "Psychologie", Kap. XIV und XV.
    14) WILHELM WUNDT, Grundzüge der physiologischen Psychologie III, 6. Auflage, Leipzig 1911, Seite 307
    15) Vgl. meine "Einführung in die Erkenntnistheorie", Leipzig 1909, Seite 3f
    16) In einer etwas anderen Bedeutung bezeichnet das Wort nicht wie hier eine Bedingung der Aufmerksamkeit, sondern ein Lustgefühl, das die Aufmerksamkeit begleiten kann (z. B. "mit Interesse lesen").
    17) Näheres darüber in meiner "Psychologie", Stuttgart 1914, Kap. XIX
    18) Freilich bezeichnet der allgemeine Sprachgebrauch diese Wertverwirklichungen ebenfalls oft als "Werte".
    19) Das ist auch der Sinn von KANTs "kategorischem Imperativ", insbesondere von jener Formulierung, die lautet: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, II. Abschnitt).
    20) Irreführend wäre es freilich, wenn man diesen Gedanken so ausführen wollte: alles wäre dann für sie "gleichgültig" oder "wertlos", denn diese Worte bezeichnen tatsächlich schon Wertprädikate (und zwar negative).
    21) Vgl. über diese Lehre, die für die Entwicklung des philosophischen Denkens von großer Bedeutung war, meine "Geschichte der Philosophie", Bd. I - Seite 24, Bd. II - Seite 77, Bd. III - Seite 138
    22) Freilich selbst hier drängen sich leicht Erlebnisse des Bewertens und ähnliche ein.
    23) Philosophisch zu rechtfertigen versuche ich diese Überzeugung - die vielfach bestritten wird - in meiner "Einführung in die Erkenntnistheorie", Leipzig 1909
    24) Zum Beispiel bemerkt BISMARCK (Gedanken und Erinnerungen I, Seite 58): "Die Überzeugung, daß der Gegner in Allem, was er vornimmt, im besten Fall beschränkt wahrscheinlich aber böswillig und gewissenlos ist, beherrscht noch heute das Fraktionsleben."