ra-2Franz CuhelHegelA. DöringO. Kraus    
 
LUJO BRENTANO
(1844-1931)
Versuch einer
Theorie der Bedürfnisse

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"Inbesondere unsere Beziehungen zu anderen Menschen, Freundschaft und Feindschaft, Liebe und Haß, Ehre und Mißachtung verursachen fortwährend Freud und Leid und werden ebenso wie patriotische, religiöse, politische, Klassenempfindungen ein nicht geringerer Antrieb zu wirtschaftlicher Tätigkeit als die körperlichen Bedürfnisse."

Es gibt ältere Nationalökonomen, die so geredet haben, als bildeten die Güter den Mittelpunkt der volkswirtschaftlichen Betrachtung und als sei der Mensch für diese nur als Mittel zur Vermehrung der Güter von Wichtigkeit. Demgegenüber war es verdienstlich, wenn SCHÄFFLE 1861 betont hat (1): Ausgangs- und Zielpunkt der Volkswirtschaft ist der Mensch.

Stattdessen läßt sich auch sagen: Ausgang aller Wirtschaft ist das Bedürfnis. Der Mensch empfindet Bedürfnisse. Diese rufen seine wirtschaftliche Tätigkeit hervor. Ihr Ziel ist die Befriedigung der Bedürfnisse. Mit Recht ist daher zu sagen: die Theorie der Bedürfnisse ist die wissenschaftliche Grundlage der Wirtschaftslehre (2).

Die Bedürfnisse sind aber nicht bei verschiedenen Menschen, Klassen, Völkern dieselben, noch sind sie gleichbleibende. Sie sind verschieden in den verschiedenen Zeiten nach Art und Menge. Es gilt für den realistischen Forscher daher, nicht bloß die Bedürfnisse ansich zu untersuchen, sondern sie in ihrer historischen Erscheinung und in den Wirkungen, welche Art und Menge derselben auf das Wirtschaftsleben ausüben, ins Auge zu fassen.

Was verstehen wir unter einem Bedürfnis? (3)

Vom ersten Eintritt ins Leben an empfinden wir Schmerz und Lust. Wir fliehen in das Eine und suchen das Andere. Teils wurzelt der Schmerz in Störungen, welche eine Unlustempfindung verursachen, teils ist es das Entbehren von Glück, was eine Unlustempfindung hervorruft, immer aber wurzelt die Unlustempfindung in einem Mangel, im Mangel dessen, was die Störung aufhebt oder das ersehnte Glück schafft (4).

Mit jedem Unlustgefühl entsteht das Verlangen, es zu beseitigen, und zwar stärker oder schwächer, je nach der Stärke des Unlustgefühls, das es hervorruft (5). Es richtet sich auf die Behebung des Mangels, in dem das Unlustgefühl seine Ursache hat.

Jede Unlustempfindung verbunden mit dem Streben, sie durch eine Behebung des Mangels, den sie hervorruft, zu beseitigen, heißt ein Bedürfnis, die Behebung des Mangels Befriedigung des Bedürfnisses, Genießen, Genuß.

In dem Maße, in dem der Mangel behoben wird, tritt eine Lustempfindung an die Stelle von Schmerz. Eine Unlustempfindung mindern heißt also, wie STANLEY JEVONS (6) bemerkt, so viel wie das Lustgefühl steigern und umgekehrt, und Unlust- und Lustempfindungen verhalten sich wie negative und positive Größen. Das Verhältnis einer gegebenen Anzahl von Unlust- und Lustempfindungen ergibt sich durch das Abziehen der kleineren Summe der einen von der größeren der anderen. Durch die Erzielung des größtmöglichen Überschusses der Lust- über die Unlustempfindungen wird also das Wohlgefühl auf sein Höchstes gesteigert. Dies zu erreichen, erstreben die Menschen.

Damit entsteht die Frage, wodurch die Größe dieses Überschusses bedingt wird, mit anderen Worten, was bedingt die Größe des Wohlgefühls, das die Bedürfnisbefriedigung schafft?

Um die Frage zu beantworten, müssen wir vorerst die verschiedenen Arten der Bedürfnisse und ihre Bedeutung für die Verwirklichung des größten Wohlgefühls kennen lernen.


II.

Als die wichtigste Unterscheidung der Bedürfnisse erscheint mir die in körperliche und geistige. Denn wenn vorhin gesagt wurde, wir fliehen den Schmerz und suchen die Lust, so sind unter den Schmerz- und Lustgefühlen, welche ein Bedürfnis hervorrufen, nicht etwa bloß körperliche verstanden (7). Weit heftiger als physische sind oft die Schmerz- und Lustgefühle der Seele. Inbesondere unsere Beziehungen zu anderen Menschen, Freundschaft und Feindschaft, Liebe und Haß, Ehre und Mißachtung verursachen fortwährend Freud und Leid und werden ebenso wie patriotische, religiöse, politische, Klassenempfindungen ein nicht geringerer Antrieb zu wirtschaftlicher Tätigkeit als die körperlichen Bedürfnisse.

Die Unterscheidung der Bedürfnisse in körperliche und geistige geht auf ARISTOTELES zurück. In seiner  Politik  (VII,1) stellt er den äußeren die geistigen Güter gegenüber, und sein Kommentator THOMAS von AQUIN (8) hat daran die Unterscheidung zwischen Bedürfnissen, die auf äußere Güter gerichtet sind, und geistigen Bedürfnissen geknüpft. Darauf finden wir bis zum Ausgang des achtzehnten (9) und Beginn des neunzehnten Jahrhunderts (10) die Unterscheidung der Bedürfnisse in physische und psychische oder körperliche und geistige. Seitdem ist sie zu Gunsten einer anderen in den Hintergrund getreten. Statt von physischen und psychischen sprachen Neuere von natürlichen und willkürlichen Bedürfnissen, - andere Benennungen, die noch selbst von demselben Unterscheidungsmerkmal ausgingen. Aber sie sollten den Übergang bilden zu einer anderen Einteilung. Man unterschied zwischen Bedürfnissen, die gestillt werden müssen, wenn nicht die Existenz eines Menschen vernichtet werden soll, und von solchen, deren Nichtbefriedigung keine derartige verhängnisvolle Wirkung nach sich zieht, und sprach von Grund- und Nebenbedürfnissen (11), notwendigen, unabweislichen oder absoluten und überflüssigen oder relativen Bedürfnissen (12). Damit wurde die Dringlichkeit, mit der die einzelnen Bedürfnisse empfunden werden, die Beschwerde, welche ihre Nichtbefriedigung nach sich ziehen würde, zum entscheidenden Merkmal gemacht. Da auch geistige Bedürfnisse, wie z. B. die Wahrung der Ehre, zu den unabweislichen und umgekehrt körperliche Bedürfnisse zu den überflüssigen Bedürfnissen gehören, ist klar, daß diese neue Einteilung mit der alten nicht zusammenfällt. Allein auch sie hat ihre praktische Bedeutung, wenn auch keine so tiefgreifende wie die, welche der alten Unterscheidung der Bedürfnisse in körperliche und geistige zukommt.

Die große Bedeutung des Unterschieds zwischen leiblichen und geistigen Bedürfnissen haben schon ARISTOTELES, THOMAS von AQUIN und die Neueren, welche ihnen gefolgt sind, betont: "Das Bedürfnis nach äußeren Gütern", sagt THOMAS (13), "hat eine Grenze, die geistigen Bedürfnisse dagegen sind grenzenlos." So wie das wörtlich lautet, ist es freilich nicht richtig. Wo das Begehren nach äußeren Gütern von psychischen Bedürfnissen getragen ist, ist es auch grenzenlos; hat doch ARISTOTELES selbst das Streben nach Geldbesitz als etwas ins Unendliche Gehendes bezeichnet (14); wohl aber kann man von den leiblichen Bedürfnissen sagen, daß sie beschränkt sind. Desgleichen läßt sich auch von den Gütern, welche unserem geistigen Bedürfen dienen, nicht sagen, daß wir sie in unbegrenzter Menge verlangen. Jedes auf einen bestimmten einzelnen Genuß und die Güter, die ihm dienen, gerichtete Bedürfnis ist begrenzt, auch wenn der Genuß ein geistiger ist. Allein wenn auch jedes einzelne Bedürfnis begrenzt ist, so ist doch - und hierin liegt der Gegensatz zum Begehren zur Befriedigung physischer Bedürfnisse - das seelische Begehren ansich unbegrenzt, und als Folge ruft jede Bereitung eines einzelnen, ihm dienenden Genusses sofort ein neues, höheres, qualitativ intensiveres Bedürfnis hervor.

Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Bedürfnissen zeigt sich im verschiedenen Maß der Elastizität der einen und anderen. Die absoluten sind, eben weil sie unabweislich sind, wenig elastisch, d. h. sie sind weder einer großen Einschränkung noch auch einer großen Ausdehnung fähig; denn da sie unter allen Umständen befriedigt werden müssen, führt ein Überfluß der zu ihrer Befriedigung verfügbaren Mittel, wie z. B. bei den Getreide verzehrenden Völkern ein Überfluß an Brot, sehr bald zur Sättigung, Übersättigung und Überdruß. Dagegen sind die relativen oder überflüssigen Bedürfnisse von großer Elastizität. Sie gelangen erst zur Befriedigung, nachdem die unabweislichen Bedürfnisse Befriedigung gefunden haben, je nachdem sich Mittel bieten in größerem oder geringerem Maße.

Drittens unterscheiden sich die Bedürfnisse nach dem Maß, in dem ihre Befriedigung bei passivem Verhalten oder aktiver Betätigung der menschlichen Fähigkeiten stattfindet: ohne irgendeine aktive Betätigung der letzteren läßt sich wohl kaum ein Bedürfnis befriedigen; selbst die Stillung des Hungers bedarf zur Verdauung und Assimilierung der Nahrung der Mitwirkung menschlicher Organe. Aber es besteht zwischen Bedürfnissen, bei deren Befriedigung die menschlichen Fähigkeiten mehr oder weniger automatisch mitwirken, und denen, deren Befriedigung nur durch eine zielbewußte Betätigung derselben erfolgen kann, wie z. B. beim Schaffensbedürfnis, doch ein gewaltiger Unterschied, der nicht nur für die Summe des Wohlgefühls, das ihre Befriedigung hervorruft, sondern auch wirtschaftlich und sozial, wie sich noch zeigen wird, von größter Bedeutung ist.

Es werden viertens die Bedürfnisse in unmittelbare und mittelbare unterscheiden, je nachdem sie sich auf ein Gut richten, das unmittelbar zu ihrer Befriedigung dient, oder das nur deshalb begehrt wird, weil es instand setzt, die zu unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung dienenden Güter zu schaffen, z. B. das Bedürfnis nach Brot im Gegensatz zum Bedürfnis nach einem Backofen.

Dagegen ist eine Unterscheidung der Bedürfnisse in gegenwärtige und zukünftige nicht angebracht. Nicht als on Unlust- und Lustempfindungen nur durch Gegenwärtiges hervorgerufen werden könnten; auch das Zukünftige kann die einen wie die anderen verursachen, wie z. B. eine drohende Gefahr, eine mögliche Erkrankung, der dereinst sichere Tod, und umgekehrt schafft die Vorfreude oft eine größere Wonne als das wirkliche Eintreten des Ereignisses, das sie voraussieht. Allein alle diese Ereignisse der Zukunft veranlassen ein bestimmtes Begehren und ein dementsprechendes Handeln doch nur, insofern sie Unlust- und Lustempfindungen in der Gegenwart auslösen; auch zukünftiges Freud und Leid ist die Veranlassung von gegenwärtigen Bedürfnissen. Furcht vor einem zukünftigen Ungemach ruft sogar oft in der Gegenwart Unlustempfindungen hervor, die größer sind als die, welche der Verzicht auf einen augenblicklich möglichen Genuß mit sich bringt; und die Aussicht auf einen Genuß in der Zukunft kann in der Gegenwart eine größere Befriedigung geben als ein Genuß in der Gegenwart. Dies führt dann zum Verzicht auf den Genuß in der Gegenwart zugunsten eines Genusses in der Zukunft. Wer immer ein Gut aufhebt, statt es in der Gegenwart zu genießen, zeigt damit, daß ihm die Antizipation eines in der Zukunft zu erwartenden Genusses oder die Abwehr eines zukünftigen Nachteils gegenwärtig größere Lust bereitet, als wenn er das Gut in der Gegenwart genießen würde. Darauf beruhen die Ansammlung des Kapitals, das Versicherungswesen, die guten Werke und Stiftungen zur Sicherung des Wohlergehens nach dem Tod.

Kapital ansammeln ist ein mittelbares, aber kein zukünftiges Bedürfnis. Kapital anzusammeln wird in der Gegenwart als Bedürfnis empfunden um eines Vorteils willen, der allerdings erst in der Zukunft zur Reife gelangt, dessen Sicherung für die Zukunft aber in der Gegenwart bereits Lust bereitet (15).
LITERATUR Lujo Brentano, Versuch einer Theorie der Bedürfnisse, Sitzungsberichte der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften Philosophisch-philologische und historische Klasse, Jahrgang 1908, München 1909
    Anmerkungen
    1) ALBERT SCHÄFFLE, Mensch und Gut in der Volkswirtschaft, Deutsche Vierteljahrsschrift 1861, Seite 232f.
    2) Nach BANFIELDs richtigen Ausführungen (BANFIELD, Four lectures on the organization of industry, London 1845, Seite 11) ist die wissenschaftliche Grundlage der Volkswirtschaftslehre eine Theorie der Konsumtion.
    3) Vgl. OSKAR KRAUS, Das Bedürfnis, ein Beitrag zur beschreibenden Psychologie, Leipzig 1894. - Über FRANZ CUHEL, Zur Lehre von den Bedürfnissen, theoretische Untersuchungen über das Grenzgebeit der Ökonomik und der Psychologie, Innsbruch 1907, vgl. die Kritik von OSKAR KRAUS, im 17. Band der Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Seite 499f.
    4) Vgl. GENOVESI, Lezioni di economia civile, Teil 1, Kap. 2, § 1 - 5.
    5) CHRISTIAN von EHRENFELS, System der Werttheorie, Leipzig 1897, Bd. 1, Seite 16, bestreitet, daß die Festigkeit des Willens, das Unlustgefühl zu beseitigen, von der Intensität des letzteren bedingt wird. Zum Beleg führt er Fälle auf, in denen das Unlustgefühl nicht vorhanden ist und dementsprechend auch kein Wille, es zu beseitigen, ausgelöst wird. Sie bestätigen, was er bestreiten will. Im übrigen ist die ganze Grenznutzenlehre, der EHRENFELS ja zustimmt, eine Widerlegung seiner Aufstellungen.
    6) STANLEY JEVONS, The theory of political economy, dritte Ausgabe, London 1888, Seite 32. Vgl. hierzu übrigens MAFFEO PANTALEONI, Principii di economia pura, Florenz 1889, Seite 35
    7) Dagegen protestiert schon MERCIER de la RIVIÉRE in "L'ordre naturel et essentiel des sociétés politiques", London 1767, Bd. 1, Seite 8
    8) Vgl. Thomae Aquinatis etc. in octo lib. polit. Aristotelis expositio, im 4. Band der Antwerpener Ausgabe der Werke von 1612, Seite 114
    9) Vgl. zum Beispiel MERCIER de la RIVIERE, a. a. O., Seite 77f; BRIGANTI, Esame economico del sistema civile (1780), Ausgabe der Economisti Italiani von CUSTODI, parte moderna, t. XXVIII, Mailand 1804.
    10) Vgl. HENRI STORCH, Cours d'économie politique, Bd. 1, St. Petersburg 1815, Seite 49f
    11) GOTTLIEB HUFELAND, Neue Grundlegung der Staatswirtschaftskunst, Bd. 1, Gießen und Wetzlar 1807, Seite 24
    12) F. B. W. von HERMANN, Staatswirtschaftliche Untersuchungen, zweite Ausgabe, München 1870, Seite 82
    13) THOMAS von AQUIN, a. a. O.: "Appetitus bonorum exteriorum terminum habent. Appetitus autem eorum quae circa animam non habent." [Der Wunsch nach materiellen Dingen hat eine Grenze, was man vom Wunsch auf Dinge, die sich auf die Seele beziehen, nicht sagen kann. - wp]
    14) ARISTOTELES, Politik I, Seite 9
    15) EUGEN von BÖHM-BAWERK will bekanntlich den Kapitalzins daraus erklären, daß der Kapitalist, indem er gegen das Versprechen einer künftigen Rückzahlung Kapital ausleiht, mehr hingibt, als er dafür empfängt; denn 100 Mark in der Gegenwart seien mehr als 100 Mark in der Zukunft; die Zinsleistung habe die Aufgabe, die Differenz zwischen dem gegenwärtigen und dem zukünftigen Wert auszugleichen. (Vgl. sein Werk "Kapital und Kapitalzins", 2 Bände, Innsbruck 1884 und 1889) Kapitalisieren heißt aber nichts anderes, als auf einen Genuß in der Gegenwart zugunsten eines Genusses in der Zukunft zu verzichten. Wären 100 Mark für den, der sie ausleiht, in der Gegenwart mehr wert als 100 Mark in der Zukunft, so würde das Kapital gar nicht aufgehäuft werden. Die Tatsache, daß kapitalisiert wird, zeigt allein schon, daß in dem Fall in dem es geschieht, 100 Mark in der Zukunft für den Ausleiher mehr wert sind, als 100 Mark in der Gegenwart, und damit das Unhaltbare der BÖHM-BAWERKschen Kapitalzinslehre. Angenommen, jemand hat ein Einkommen von 3000 Mark; er empfindet das Bedürfnis nach Nahrung, Kleidung, Wohnung, Erholung, Erheiterung, außerdem wird er von der Sorge um seine Zukunft gequält. Er verwendet das Notwendigste auf die erstgenannten Bedürfnisse; er könnte noch mehr darauf verwenden, allein der Genuß, den die Mehrverwendung, nachdem für das Notwendigste gesorgt ist, bringen würde, gegen einen in der Zukunft ihm drohenden Mangel geschützt zu sein. Infolgedessen bricht er mit der Verwendung seines Einkommens auf die erstgenannten Bedürfnisse, sagen wir, bei 2900 Mark ab und verwendet seine letzten 100 Mark für die Sicherung gegen den Mangel in der Zukunft. Indem er sie kapitalisiert und ausleiht, geben sie ihm in der Gegenwart einen größeren Genuß, als wenn er sie auf die erstgenannten Bedürfnisse verwenden würde. Ebenso wie in diesem angenommenen Fall ist es allgemein. Je größer das Einkommen, in um so größerem Maße wird kapitalisiert und ausgeliehen, weil die Verfügung über ein Kapital in der Zukunft schon in der Gegenwart größeren Genuß verleiht als seine Verwendung auf unmittelbare Bedürfnisse. Was ist es denn, was unsere übersättigten Multimillionäre zu weiterer Anhäufung antreibt, als daß die Aussicht auf eine noch weitere Steigerung ihrer gesellschaftlichen Stellung und Macht in der Zukunft ihnen in der Gegenwart schon größeren Genuß bereitet, als wenn sie ihr überschüssiges Einkommen auf unmittelbare Bedürfnisse verwenden würden! Für den Schuldner allerdings ist das empfangene Kapital in der Gegenwart mehr wert als in der Zukunft. Es ist dies wegen der Nutzung, die ihm der empfangene Wert in der Zwischenzeit abwirft, und für die Überlassung dieses Werts zahlt er im Zins den Preis. Der von BÖHM-BAWERK dagegen erhobene Einwand, daß ja bei einem Darlehen, sagen wir, von 100 Mark die hundert Markstücke in das Eigentum des Schuldners übergingen, diesem daher, die Nutzung der 100 Mark ansich schon zusteht, und es daher unerfindlich ist, wie er dazu kommen soll, für diese Nutzung nochmals zu zahlen, ist nicht zutreffen. Wenn man ihn hört, sollte man meinen, das geliehene Kapital besteht in dem Gegenstand, in dem es jeweils verkörpert ist, und nicht vielmehr in dessen Wert. Allerdings gehen die hundert Markstücke in das Eigentum des Schuldners über, weil er ihren Wert sonst nicht nutzen kann, nicht aber ihr Wert; denn der Mehrung seines Habens durch den Empfang der hundert Markstücke steht die entsprechende Mehrung seines Solls gegenüber; und eben, weil der Kapitalgehalt der hundert Markstücke nicht in sein Vermögen übergegangen ist, muß er dafür, daß ihm die Nutzung dieses Kapitals überlassen wird, zahlen. Es bleibt also bei der alten Lehre, welche im Zins das Soll oder den Preis für die Überlassung einer Kapitalnutzung sieht. Andernfalls könnte, wie mir ein Student im ersten Semester treffend bemerkte, der Schuldner dem Gläubiger sagen, daß wenn 100 Mark in der Zukunft weniger wert sind als 100 Mark in der Gegenwart, 100 Mark in der Vergangenheit erst recht weniger wert sind als 100 Mark in der Gegenwart; indem er ihm für in der Vergangenheit empfangene 100 Mark in der Gegenwart 100 Mark zurückgibt, gibt er also mehr zurück als er empfangen hat, und hat daher auch keinen Ausgleich der Differenz zwischen dem Wert dessen, was er empfangen hat und was er zurückerstattet, zu zahlen; vielmehr ist es der Gläubiger, der ihm einen solchen Ausgleich schuldet.