ra-2F. A. LangeHeinrich CohnAlbert SchäffleGustav Cassel    
 
LUJO BRENTANO
Die klassische
Nationalökonomie

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"Für die klassische Bildhauerei gilt es allgemein als charakteristisch, daß sie bei ihren Darstellungen die individuellen Besonderheiten zugunsten des allgemein Menschlichen übersieht. Aus der Wirklichkeit sind wenige Züge herausgenommen; andere Züge dagegen sind fortgelassen. So ist ein abstrakter Mensch geschaffen, ein Ideal, dem keine Wirklichkeit oder diese nur in seltenen Exemplaren entspricht. Daher fehlen bei den der klassischen Richtung zugehörigen Bildwerken jene Falten und Runzeln, in welchen so viel vom individuellen Geist der Einzelnen zum Ausdruck gelangt, daß wir sie im Leben ohne dieselben gar nicht erkennen würden. Ebenso nun wie die klassische Bildhauerei hat die klassische Nationalökonomie einen von allen Besonderheiten des Berufs, der Klasse, der Nationalität und Kulturstufe freien Menschen geschaffen."

Meine Herren!

Als ich mir die Frage vorlegte, welchen Gegenstand ich heute vor Ihnen behandeln solle, waren es hauptsächlich zwei Aufgaben, zwischen denen ich schwankte.

Es lag nahe, meine Lehrtätigkeit an der hiesigen Universität zu beginnen, indem ich die Verdienste des glänzenden Mannes schilderte, dessen Nachfolge als schwere Bürde mir zugefallen ist. Andererseits war naheliegend, Ihnen heute über mich selbst zu reden.

Die erstere Aufgabe hatte ungemein viel Verlockendes. Denn was an sich Anziehenderes kann es geben, als von der Fülle geistvoller Gedanken zu sprechen, welche der Vorgänger auf meinem Lehrstuhl da hat aufleuchten lassen, wo vor ihm nur öder Dogmatismus oder stumpfe Materialseligkeit herrschten! Aber bei weiterer Überlegung erschien mir die Behandlung dieser Aufgabe doch wenig ratsam. Denn von LORENZ von STEIN reden, hieße mit ihm selbst einen ungleichen Wettkampf aufnehmen. Strahlt er doch in jugendfrischer Schaffenslust in unserer Mitte. Und wer möchte es wagen, von seinem Lebenswerk zu sprechen, so lange er in jedem Jahr durch neue Taten seines Geistes in der beredtesten Weise von sich selbst zeugt!

Ich mußte mich also der zweiten Aufgabe zuwenden; und entbehrt dieselbe auch des bestechenden Glanzes der ersteren, so bietet sie den praktischen Vorteil, Ihnen zu sagen, was ich, der ich hier fortan wissenschaftlich tätig sein soll, wissenschaftlich will.

Es scheint mir dies umso mehr geboten, als ich nicht voraussetzen kann, daß hierüber richtige Vorstellungen herrschen.

Der beste Weg, um hiervon Kenntnis zu geben, ist aber wohl der, daß ich Ihnen erzähle, wie ich zu meiner wissenschaftlichen Auffassung gelangt bin. Bietet derselben den Nachteil, meine subjektiven Gedankengänge in den Vordergrund zu drängen, so schließt er andererseits vorweg den Vorwurf aus, als ob ich über solche, die anders denken, den Stab bräche. Denn selbstverständlich kann es mir nicht einfallen, in eigener Sache das Urteil sprechen zu wollen. Ich möchte nur auch meinen Standpunkt begreiflich machen.

Um dies zu erreichen, dürfte es am Besten sein, von dem auszugehen, von dem auch ich ausgegangen bin und zu dem ich mich jetzt im Gegensatz befinde: von der sogenannten klassischen Nationalökonomie.

Man versteht darunter die volkswirtschaftliche Theorie vom Ende des achtzehnten und von der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Sie wird so nicht bloß von jenen genannt, welche sie als nachzuahmendes Muster verehren. Auch ihre Gegner pflegen sie so zu bezeichnen. Der Grund der Benennung liegt nämlich in gewissen Eigentümlichkeiten, welche der klassischen Nationalökonomie mit den klassischen Richtungen auf anderen Gebieten menschlichen Schaffens gemein sind.

Da ist z. B. die klassische Bildhauerei. Für dieselbe gilt es allgemein als charakteristisch, daß sie bei ihren Darstellungen die individuellen Besonderheiten zugunsten des allgemein Menschlichen übersieht. Aus der Wirklichkeit sind wenige Züge herausgenommen; andere Züge dagegen sind fortgelassen. So ist ein abstrakter Mensch geschaffen, ein Ideal, dem keine Wirklichkeit oder diese nur in seltenen Exemplaren entspricht. Daher fehlen bei den der klassischen Richtung zugehörigen Bildwerken jene Falten und Runzeln, in welchen so viel vom individuellen Geist der Einzelnen zum Ausdruck gelangt, daß wir sie im Leben ohne dieselben gar nicht erkennen würden. Bei manchen Büsten und Statuen läßt sich überhaupt nur aus gewissen konventionellen Beigaben oder Stellungen erraten, was damit gemeint sei. Und hat nicht die moderne vervielfältigende Industrie vielfach durch Ersetzung dieser Zutaten durch andere mittels derselben Figuren die beliebigsten Gedanken plastisch darzustellen gesucht? Anstelle des wirklichen Menschen ist ein abstrakter Mensch getreten und gibt man der Figur mit der Schaufel statt dieser einen Geldbeutel in die Hand, so ist diese Abstraktion plötzlich ein Kaufmann, wie sie vordem ein Bauer gewesen ist.

Ebenso nun wie die klassische Bildhauerei hat die klassische Nationalökonomie einen von allen Besonderheiten des Berufs, der Klasse, der Nationalität und Kulturstufe freien Menschen geschaffen. Auch sie unterscheidet nicht den Bauern vom Kaufmann, nicht die Instinkte des ungebildeten Proletariats von denen des verfeinerten Kulturmenschen, geschweige denn die großen Verschiedenheiten innerhalb der arbeitenden Klasse selbst. Sie kennt keine Verschiedenheit der Rasse, der Religion, des Zeitalters. Die normalen Glieder der Antike vertreten bei ihr gewisse normale Triebfedern, welche das Handeln der Menschen beherrschen und zwar gibt es in ihrer Psychologie nur zwei Triebfedern menschlichen Handelns. Die eine davon ist das Streben nach dem größtmöglichen Gewinn. Das ist das Prinzip, das nach ihr alle menschlichen Beziehungen, bei denen nicht der Geschlechtstrieb in Frage kommt, allgewaltig beherrscht. Der Geschlechtstriebe allerdings gilt ihr als noch gewaltiger. Wo beide Triebfedern in Konflikt kommen, unterliegt ihm die andere. Aber überall sonst herrscht der Erwerbstrieb. Dabei ziehen die französischen Physiokraten, ADAM SMITH, RICARDO und die übrigen Häupter der klassischen Nationalökonomie, die volle Konsequenz dieser Auffassung. Nicht etwa, daß sie zugäben, daß die individuelle Dummheit, welche die Erkenntnis des Vorteils verhindere, eine Verschiedenheit zwischen ihren Lehrsätzen und dem wirklichen Handeln der Menschen zur Folge haben könne. Diese Konzession an die Wirklichkeit ist erst von ihren Schülern gemacht worden, welche ihre Methode zu verteidigen suchten. Jenen Häuptern der Schule dagegen sind alle Menschen, der Philosoph wie der Lastträger, von Geburt gleich begabt; ein jeder ist ihnen ferner in gleichem Maße vom Trieb nach Reichtum beherrscht; da alle gleich sind, erkennt auch ein jeder selbst am Besten, was ihm Vorteile bringt. Und daher ja jenes Verlangen, alle Bevormundung zu beseitigen, da sie nichts anderes als die unverschämteste Anmaßung sei!

Es muß sofort zugestanden werden, daß die aus den genannten Triebfedern abgeleitete Volkswirtschaftslehre einen eigentümlichen Zauber auf jugendliche Gemüter auszuüben pflegt. Nachdem der Geist der jungen Leute lange Jahre hindurch auf den Gymnasien mit allen dem Leben fernstehenden Kenntnissen überfüttert worden ist, kommen sie nach Wirklichkeit dürstend zur Universität. Da treten in der klassischen Nationalökonomie, wenn auch nicht das wirkliche Leben, so doch die Fragen, die das Leben bewegen, zum ersten Mal an sie heran, und, da die Theorie nichts weniger als idealistisch ist, gilt sie als realistisch. Dabei hat die lediglich formale Ausbildung, die ihr Geist bisher genossen hat, ein lebhaftes Bedürfnis nach übersichtlicher Erfassung und einheitlicher Klärung in ihnen entwickelt. Und kein Zweifel, daß die klassische Nationalökonomie diesem Bedürfnis entgegenkommt. Ist doch nach ihr alles so einfach! Wenige allgemeine Sätze und die ganze Welt liegt da, wie ein offenes Buch. Auch erscheint es, um urteilen zu können, nicht nötig, sich mühsam positive Kenntnisse zu erwerben. Sie ermöglicht ein fertiges Urteil über alle jene öffentliche Fragen, welche die Jugend so locken. Ja selbst zur wissenschaftlichen Tätigkeit bedarf es keines positiven Studiums der einzelnen Vorgänge des Lebens und keines gelehrten Apparates. Ist doch das Bedauern bekannt, welches ein englischer Nationalökonom einem Chemiker zuteil werden ließ, weil dieser der Beobachtungen und eines dazu nötigen Laboratoriums bedürfe, während er lustwandelnd durch Deduktion aus wenigen allgemeinen Sätzen ewige Gesetze zu entdecken imstande sei!

In der HERMANNschen Schule aufgewachsen habe auch ich einst den Zauber dieser Lehre empfunden. Allerdings währte sein Bann für mich nur kurz. Allzu gewaltsam rückten die damaligen Zeitumstände selbst dem Anfänger den Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Lehre vor Augen. Es war die Zeit FERDINAND LASSALLEs und die Unfähigkeit der Doktrin, die von der Agitation aufgeworfenen Fragen zu beantworten, trat erschreckend hervor. Was nütze uns, wenn wir unsere Universitätsprüfungen noch so glänzend bestanden haben, nicht aber das Examen, welches das Leben nun mit uns abhielt! Auf allen Gebieten der Volkswirtschaft wurden wir vom Zweifel gegenüber dem Erlernten ergriffen, und die Stimmung, die uns beherrschte, fand ihren bezeichnenden Ausdruck in der Antwort eines mir gleichaltrigen Genossen, als er am Tage nach seinem musterhaft bestandenen Examen von seinem Professor über die Ursache seines Mißmuts befragt wurde: Ach Herr, erwiderte er, ich möchte so gern etwas lernen!

Schon als Student hatte es mich stutzig gemacht, daß die klassische Nationalökonomie selbst auf dem Wirtschaftsgebiet, auf dem ihre Voraussetzungen am meisten mit der Wirklichkeit übereinstimmen, auf dem Gebiet des Geld- und Bankwesens, in der Theorie Irrtümer wie die Quantitäts- und die Währungstheorie und in der Praxis verkehrte Maßregeln wie die PEELsche Bankakte zutage gefördert habe, daß es dagegen TOOKE gewesen war, der durch das unmittelbare Studium der historischen Vorgänge zur Erkenntnis jener Irrtümer geführt hatte. Umso mehr erwartete ich nur von einem derartigen Studium das Heil auf jenen Gebieten, auf denen die klassische Nationalökonomie selbst zu ahnen schien, daß vom erleuchteten Streben nach dem größtmöglichen Vorteil in der Weise, wie sie es bei ihren Deduktionen voraussetze, in der Wirklichkeit nichts zu finden sei und dem entsprechend gelegentlich an die Stelle des behaupteten Seins ein Seinsollen einzuschmuggeln bemüht war.

Ich will hier nicht bei der Auffassung verweilen, wonach der Wert jedes Gutes bedingt sein soll durch die Menge Arbeit, die auf seine Herstellung verwendet wurde. Allerdings ist auch sie nur eine Folge jenes Axioms vom erleuchteten, alles beherrschenden Streben nach dem größtmöglichen Vorteil. Denn ist dieses richtig, so ergibt sich auch von selbst, daß ein jeder nur das herstellt, was jeweilig am meisten begehrt wird; die Voraussetzung, welche KARL MARX als selbstverständlich vorhanden annimmt, daß das mit der Arbeit Hergestellte Gebrauchswert habe, ist dann wirklich gegeben, und mit Notwendigkeit ergeben sich daraus seine weiteren Folgerungen. Allein gerade hier hat am frühesten eine Rückkehr zur unmittelbaren Beobachtung der Vorgänge des Lebens stattgefunden, in Deutschland durch HERMANN und SCHÄFFLE, in England durch JEVONS und angesichts der Verdienste, welche neuerdings insbesondere die Schule KARL MENGERs sich um die Klarstellung dieser Irrtümer erworben hat, genügt es hier, ihrer nur zu erwähnen.

Dagegen muß ich etwas nachdrücklicher an die ganz abstrakte Betrachtungsweise der klassischen Nationalökonomie erinnern, wo sie das Verhältnis der Arbeiter zueinander und zum Arbeitgeber behandelt. RICARDO, JAMES MILL, McCULLOCH kennen eigentlich gar keine Arbeiterklasse, noch weniger die verschiedenartigen Klassen von Arbeitern, die Verhältnisse, in denen sie leben, die Beweggründe, welche ihr Handeln bestimmen. Sie kennen eigentlich auch keine Arbeitgeber. Nach der klassischen Nationalökonomie ist der Lohn bestimmt durch das Verhältnis der Bevölkerung zum Kapital. Unter der Bevölkerung versteht sie hierbei eine Menge vereinzelter Personen, als deren einziges charakteristisches Merkmal zu verzeichnen ist, daß sie kein Kapital haben. Sie spekulieren mit ihrer Arbeit gleich Kaufleuten mit ihren Waren und machen sich gleich diesen Konkurrenz. Wie ein Kaufmann, der bei sinkenen Zucker- und steigenden Kaffeepreisen sein Kapital aus der einen Anlage zurückzieht, um es in der vorteilhafteren anzulegen, wählt der Arbeiter seine Beschäftigung je nach dem Stand der Konjunktur. Diese Erwägungen bestimmen sowohl seine erste Berufswahl als auch seinen späteren Berufswechsel. Als ob es ihm technisch und ökonomisch möglich wäre, jederzeit von der niedriger zur höher gelohnten Beschäftigung überzugehen, ist er heute Landarbeiter, morgen Hutmacher, übermorgen Baumwollspinner, dann wieder Maschinenbauer, Tischler, Uhrmacher usw. Daher auch die Lehre, daß ebenso wie die Kapitalgewinnste der verschiedenen Anlagen sich ausgleichen, in keinem Gewerbe der Lohnsatz auf die Dauer höher sein könne, als in den übrigen, - außer wenn besondere mit einem Gewerbe verbundene Unannehmlichkeiten von ihm abschrecken.

Genauso wie auf dem Weltmarkt der Warenpreis sich nach den Schwankungen von Angebot und Nachfrage richtet, schwankt dieser Lohnsatz je nach dem Stand von Angebot und Nachfrage nach Arbeit; aber ebenso wie der Warenpreis nach den Produktionskosten gravitiert er stets nach dem, was der Arbeiter landesüblich zum Leben braucht. Steigt er darüber, so macht es sich fühlbar, daß der Geschlechtstrieb noch gewaltiger ist als der Erwerbstrieb, bis der Lohn wieder auf das Minimum sinkt. Sinkt er darunter, so führt das zur Steigerung der Sterblichkeit und diese wiederum zur Lohnerhöhung. Und was bedeutet es, wenn sich dann regelmäßig einige Sätze eingeschoben finden, in denen anerkannt wird, daß dieses Minimum je nach Land und Zeit ein verschiedenes ist! Bleibt doch dieses Anerkenntnis für alle weiteren Erörterungen ohne Belang, indem diese trotz desselben jenes Minimum als durch die Kornpreise bedingt voraussetzen. Die Kornpreise erscheinen somit als der Haupt-Lohnregulator. Daher das eherne Lohngesetz FERDINAND LASSALLEs. Und gerade darauf beruth es, wenn weiter gelehrt wird, daß alle Fortschritte in der Produktivität der Arbeit nicht dem Arbeiter, sondern lediglich dem Kapitalisten zufallen, wie ja nicht erst RODBERTUS und MARX behauptet haben, sondern schon RICARDO darlegt. (1)

Allein noch aus einem anderen Grund erscheint es der klassischen Nationalökonomie unmöglich, daß der Anteil des Arbeiters am Ertrag ein größerer werde. Denn wie sie statt der Arbeiter die Bevölkerung setzt, so kennt sie statt der Arbeitgeber nur das Kapital. Sie argumentiert, als ob das, was in jedem gegebenen Augenblick als Lohn unter die Bevölkerung verteilt wird, identisch wäre mit der Summe des jeweilig vorhandenen Kapitals. Somit erscheint der jeweilige Lohnsatz als infolge eines unabänderlichen Naturgesetzes bestimmt. Er ist der Quotient, der sich durch die Teilung des vorhandenen Kapitals durch die gegebene Bevölkerungsziffer ergibt. Und wenn eine Klasse von Arbeitern auch nur vorübergehend eine Lohnsteigerung für sich durchsetzen sollte, wäre dies folglich nur möglich auf Kosten einer anderen, deren Lohn entsprechend niedriger sein müßte.

Es ist unglaublich, welche Verwüstungen diese Theorie angerichtet hat! Die Sozialdemokraten haben vollständig Recht, wenn sie die Lehren und Forderungen von RODBERTUS und MARX als ihre allein folgerichtige Ausbildung hinstellen und es ist in dieser Beziehung bemerkenswert, daß in den kürzlich veröffentlichten Briefen RICARDOs an MALTHUS sich Vorahnungen diser Forderungen finden. (2) Aber auch nach der entgegengesetzten Richtung wurden diese Lehren nutzbar gemacht. Noch in den sechziger, ja bis in die siebziger Jahre wurde in England und Deutschland in Aufsätzen und Zeitungsartikeln unter Berufung auf die ewigen Gesetze der Volkswirtschaft den Arbeiterkoalitionen die Unmöglichkeit von Lohnsteigerungen außer auf Kosten einer anderen Klasse von Arbeitern dargelegt und in beiden Ländern haben die daran geknüpften Mahnungen, die Arbeiter möchten im Namen der von ihnen proklamierten Brüderlichkeit von Lohnsteigerungen absehen, nicht wenig zur Mehrung der Erbitterung beigetragen.

Und wie verhält es sich in der Wirklichkeit?

Vor allem fand ich den Arbeiter weit verschieden vom Warenspekulanten, als welchen die klassische Nationalökonomie ihn voraussetzt. Nirgends gaben Erwägungen über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage in diesem oder jenem Gewerbe bei der ersten Berufswahl den Ausschlag; vielmehr wirkten dabei das Herkommen oder irgendwelche nächste Gelegenheit, Arbeit zu finden, schon seltener irgendwelche Berufsneigung bestimmend; ja oft konnte nach Lage der Verhältnisse nur das Entgegengesetzte von jenen Erwägungen das Maßgebende sein. Oft fand sich bei sinkender Nachfrage ein steigendes Angebot und umgekehrt bei Besserung der Konjunktur eine Minderung der Arbeitskräfte, die sich einem Gewerbe zuwandten. So fand ich z. B. den armen Handweber seine Kinder umso frühzeitiger zu seinem eigenen Gewerbe anlernen, je mehr sein Gewerbe zurückging, während die bessere Konjunktur ihm ermöglichte, sie ein besseres Gewerbe erlernen zu lassen. Der kleine Knabe, der seit dem zartesten Alter in der Seidenweberei beschäftigt war, wird aber als Mann nicht etwa Landarbeiter, wenn der Ackerbau aufblüht und die Seidenweberei zurückgeht. Seine dem ererbten Beruf angepaßten Glieder machen ihn ja untauglich zu fast allem anderen. Auch mindert er bei abnehmender Nachfrage nicht etwa sein Angebot; im Gegenteil; er verlängert die eigenen Arbeitsstunden, da er bei den gesunkenen Preisen nur so die äußerste Lebensnotdurft verdienen kann.

Überhaupt fand ich nicht die von der klassischen Nationalökonomie vorausgesetzte einheitliche Arbeiterklasse. Jedes Gewerbe hat seine besondere; und statt der Berufswechsel finden sich je nach dem jeweiligen Stand der Löhne, im alten Europa wenigstens, solche nur innerhalb mäßiger Grenzen und zwar auch dann nur unter dem Druck schwerer gewerblicher Stockungen. Dem entsprechend in der Wirklichkeit auch keine Ausgleichung der Lohnsätze in der Art und Weise, wie die klassische Nationalökonomie sie voraussetzt. Und zwar sind sie nicht bloß aus den von dieser bereits zugestandenen Gründen, wie z. B. der Verschiedenheit der Lebensmittelpreise, verschieden, sondern je nach Vorhandensein von Beziehungen, von denen ihre abstrakte Betrachtungsweise gar nichts weiß, nämlich je nach der Verschiedenartigkeit des Verhältnisses der Arbeiter sowohl zum Arbeitgeber als auch zueinander. In erster Beziehung kommt es hauptsächlich darauf an, ob die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiter überwiegend auf einem Autoritätsverhältnis beruhen oder lediglich auf einem kurzlebigen Dienstvertrag. Nach der vom Kongress deutscher Landwirte 1875 veröffentlichten Erhebung über die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich hat sich der Lohn der Landarbeiter in Posen vom zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts bis zum großen Aufschwung nach dem deutsch-französischen Krieg nicht verändert, trotz aller dazwischen liegenden Änderungen in den wirtschaftlichen Verhältnissen. Es handelte sich hier eben nicht um ROBINSONs, die wie in der klassischen Nationalöknomie erwägen: Ist es vorteilhafter für mich, Beeren zu pflücken oder durch Anfertigung einer Steinaxt das erste Kapital herzustellen, sondern um Arbeiter, die eben von der Hörigkeit befreit, sich in ihren wirtschaftlichen Erwägungen nach wie vor durch das Herkommen leiten ließen. In anderen Gegenden, wie z. B. in den Fabrikdistrikten des Elsaß, wo von alten Hörigkeitsreminiszenzen keine Rede sein kann, hat die Fesselung der Arbeiter durch Kassen und andere sogenannte Wohlfahrtseinrichtungen vielfach eine ähnliche Stetigkeit der Lohnsätze erzielt. Wo aber der kurzlebige Dienstvertrag allein die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiter bestimmt, hat, wo nicht politische Hemmnisse im Wege standen, das Selbstinteresse die Arbeiter statt zu der von der klassischen Nationalökonomie vorausgesetzten Konkurrenz zu Koalitionen geführt, welche bei der Lohnbestimmung dann vielfach maßgebend geworden sind. Jene absolute Konkurrenz zusammenhangloser individueller Arbeiter fand ich dagegen nur bei ganz geschichtslosen Arbeiterklassen auf der Stufe ärgster wirtschaftlicher Verwahrlosung, wie z. B. bei jenen Unglücklichen, die sich um die Hafentore im Eastend von London drängen.

Dem entsprechend fand ich nur unter diesen und analogen Verhältnissen die Arbeiter auf jenes äußerste Minimum der Lebensnotdurft beschränkt, um welches nach der klassischen Nationalökonomie der Lohnsatz allzeit herumtanzt. Dagegen fand ich, daß dem von dieser zwar erwähnten aber so folgelos gelassenen Momente des "Landesüblichen und Zeitgemäßen" der Lebenshaltung die Bedeutung zukam, alles zu beseitigen, was im sogenannten ehernen Lohngesetz bisher als grausam erschien. Denn jenes "Landesübliche und Zeitgemäße" ist selbstverständlich nichts Absolutes, sondern etwas Historisches. Jede Lohnerhöhung und jede Verkürzung der Arbeitszeit, welche von den organisierten Arbeitern durchgesetzt wird und einige Dauer hat, führt zu seiner Erhöhung, d. h. also zu einer gesitteteren Lebenshaltung und zu einem steigenden Anteil der Arbeiter an der fortschreitenden Produktivität ihrer Arbeit. Es ist also völlig irrig, wenn LASALLE alle Versuche, auf Grundlage der bestehenden Ordnung die Lage der Arbeiter zu heben mit Rücksicht auf das eherne Lohngesetz als illusorisch verhöhnt, wenn er z. B. von den Konsumvereinen sagt, daß sie nur zu Lohnherabsetzungen entsprechend den gemachten Ersparnissen den Anlaß gäben. Vielmehr ermöglichten umgekehrt die Überschüsse über den bisherigen Bedarf, die sie dem Arbeiter lieferten, häufig erst den nachhaltigen Bestand jener Arbeiterorganisationen, mittels derer dauernd höhere Löhne und kürzere Arbeitsstunden und damit eine bleibende Steigerung der Lebenshaltung und damit ein größerer Anteil der Arbeiter an der fortschreitenden Gesittung erkämpft wurde. Die Möglichkeit solcher Lohnsteigerungen aber erklärt sich daraus, daß den andrängenden Arbeitern eben nicht das "Kapital" gegenüberstand, das, in seiner Größe durch ein unabänderliches Fatum festgestellt, unter die vorhandene Menge verteilt wurde, sondern eine Anzahl von Arbeitgebern, welche, so lange sie nur Aussicht auf Gewinn hatten, die Größe der Kapitalien, welche sie auf die Lohnzahlung verwandten, nach der Notwendigkeit, größere oder geringere Löhne zu zahlen bemaßen. In der Tat, wenn nach dem Urteil aller Sachverständigen die wirtschaftliche, sittliche, politische und soziale Lage der englischen Arbeiter heute eine unendlich bessere ist als um 1840, so ist die Ursache lediglich die, daß die von der klassischen Nationalökonomie über Arbeit und Kapital vorgetragenen Lehren samt dem dazu gehörigen ehernen Lohngesetz absolut falsch waren!
LITERATUR Lujo Brentano, Die klassische Nationalökonomie, Vortrag gehalten beim Antritt des Lehramts an der Universität Wien, am 17. April 1888, Leipzig 1888
    Anmerkungen
    1) Vgl. BONAR, Letters of Ricardo to Malthus, Oxford 1887, Seite 46
    2) So kann es als Antizipation der sozialdemokratischen Forderung nach planmäßiger Regelung der Produktion gelten, wenn RICARDO in einer Erörterung der Heilmittel der Überproduktion sagt: "Wenn ein überlegener Genius das Kapital des Landes zu seiner Verfügung hätte, würde er in sehr kurzer Zeit die Geschäfte wieder so lebhaft wie je machen."