tb-1ra-2ra-2R. Schubert-SoldernG. AdlerF. BitzerF. Staudinger    
 
FRIEDRICH ALBERT LANGE
(1828-1875)
Die Arbeiterfrage
[1/4]

    1. Der Kampf ums Dasein
2. Der Kampf um die bevorzugte Stellung

"Wir verlangen für den Menschen eine andere Natur, als die Natur der Tiere ist und das ganze große Ringen und Streben der Menschheit hat zum Zweck, einen Zustand zu schaffen, in welchem sich der Lebende, sein Dasein genießend, in möglichster Vollkommenheit auslebt und weder einer plötzlichen Vernichtung, noch auch dem langsam nagenden Zahn des Elends zum Opfer fällt."


Erstes Kapitel
Der Kampf ums Dasein

Vor hundert Jahren war es einer der beliebtesten Gegenstände volkstümlicher und wissenschaftlicher Schriften, die Zweckmäßigkeit der Schöpfung zu preisen; zu rühmen, wie in der Erhaltung der lebenden Wesen auf Erden alles so trefflich ineinander greift und wie für jedes Bedürfnis durch besondere und kunstvolle Vorrichtungen gesorgt ist. Heutzutage hat man einen Zipfel des Schleiers gelüftet, welche die Geheimnisse der Natur verhüllt; man hat einen Einblick gewonnen in die Art,  wie  jene Zweckmäßigkeit zustande kommt; (1) ein Blick in den unermeßliche Hintergrund der engen Bühne des Lebens, die vor jedermanns Augen liegt, ist der Kühnheit und Unermüdlichkeit unserer Forscher gelungen. Da sehen wir denn, wie das große, unter mancherlei Form immer wiederkehrende Mittel der Natur zur Erhaltung des Bestehenden nichts ist, als die riesenhafte  Verschwendung  neuer und wieder neuer Lebenskeime und die prompte  Vernichtung  der zahllosen Keime und lebenden Wesen, welche nicht eben der günstige Wurf in die enge Bahn der bevorzugten Entwicklung bringt. So ist es im Pflanzenreich; so auch im Tierreich; und wenn auch die massenhafteste Erzeugung und Vernichtung den niedersten Formen der Organismen zukommt, so reicht das Gesetz doch bis in die höchsten hinauf und selbst der Mensch ist ihm nicht entzogen.
    "Ein Kampf ums Dasein", lehrt DARWIN (2), "folgt unvermeidlich aus der Neigung aller Organismen, sich in starkem Verhältnis zu vermehren. Jedes Wesen, das während seiner natürlichen Lebenszeit mehrere Eier oder Samen hervorbringt, muß während einer Periode seines Lebens oder zu gewisser Jahreszeit oder in einem zufälligen Jahr Zerstörung erfahren, sonst würde seine Zahl in geometrischer Progression rasch zu so außerordentlicher Größe anwachsen, daß keine Gegend das Erzeugnis zu ernähren imstande wäre. Wenn daher mehr Individuen erzeugt werden, als möglicherweise fortbestehen können, so muß jedenfalls ein Kampf ums Dasein entstehen, entweder zwischen den Individuen einer Art oder zwischen den verschiedenen Arten oder zwischen ihnen und den äußeren Lebensbedingungen."

    "Es gibt keine Ausnahme von der Regel, daß jedes organische Wesen sich auf natürliche Weise in dem Grad vermehre, daß, wenn es nicht durch Zerstörung litte, die Erde bald von der Nachkommenschaft eines einzigen Paares bedeckt sein würde. Selbst der Mensch, der sich doch nur langsam vermehrt, verdoppelt seine Anzahl in fünfundzwanzig Jahren und bei so fortschreitender Vervielfältigung würde die Welt schon nach einigen Tausen Jahren keinen Raum mehr für seine Nachkommenschaft haben."
Die Zerstörung, welche diesem unendlichen Lebenstrieb Schranken setzt, erfolgt zum Teil einfach durch den Mangel der erforderlichen Lebensbedingungen, besonders der Nahrung, zum Teil aber dadurch, daß eine Tierart der andern wieder zur Beute wird. Einen sehr wesentlichen Anteil am großen Vernichtungswerk hat ferner das Klima. DARWIN schätzt, daß der Winter 1854/55 auf seinen eigenen Jagdgründen  vier Fünfteile  aller Vögel zerstört hat. "Und das ist eine furchbare Zerstörung, wenn wir berücksichtigen, daß bei den Menschen eine durch Seuchen verursachte Sterblichkeit von zehn Prozent schon ganz außerordentlich stark ist."

Diese Ursachen greifen dann wieder mannigfach ineinander. Die Ungunst des Klimas wirkt nicht nur direkt, sondern namentlich auch durch die Entziehung der Nahrung und durch den furchtbaren Kampf, der zwischen den einzelnen Arten und Individuen entbrennt, sobald die Nahrung zu fehlen beginnt. Stelbst unter den Pflanzen herrscht ein beständiger Kampf auf Leben und Tod um das kleine Fleckchen Erde, aus dem sie ihre Nahrung ziehen. Eine große Menge von Pflanzen, welche unser Klima ganz gut aushalten, kann doch bei uns im Freien nicht gezogen werden, weil sie von stärkeren Bewerbern erstickt, verdrängt und ihrer Nahrung beraubt werden. Andere halten sich nur in großen Massen, wie z. B. der Weizen, der vereinzelt, im Garten, nicht aufkommen kann, während er auf freiem Felde durch die Widerstandskraft eng verbundener Massen sich gegen seine Feinde behauptet. Sät man aber verschiedene Spielarten von Weizen durcheinander, so kämpfen diese unter sicht. Man braucht nur den Samen immer wieder mischen und saen, so wird zuletzt diejenige Sorte, welche dem Boden am meisten angemessen ist, ganz allein übrig bleiben. "Wenn wir über diesen Kampf ums Dasein nachdenken," sagt DARWIN schließlich, "so mögen wir uns selbst trösten mit dem tollen Glauben, daß der Krieg der Natur nicht ununterbrochen ist, daß keine Furcht gefühlt wird, daß der Tod im Allgemeinen schnell ist und daß es der Kräftigere, der Gesündere, der Geschicktere ist, welcher überlebt und sich vermehrt."

Während nun aber für die Pflanze Wachstum und Welten, Wuchern und Verschmachten nur auf- und niedersteigende Formen eines unbewußten Daseins sind, während das Tier wenigstens nur in der Gegenwart lebt und sorglos das Glück des Augenblicks genießt, so lange eben die Verhältnisse günstig sind, kann sich der Mensch nicht dabei beruhigen, die Leiden und Freuden des Daseins gegeneinander aufzurechnen. Er kennt die Schrecken der Vernichtung im Voraus und er haßt sie und sucht ihnen mit aller Anstrengung seiner Kräfte zu entgehen. Er hat eine Idee davon gefaßt, wie der Mensch leben und gedeihen sollte. Er kennt das natürliche Lebensziel und weiß, wie leicht sich stirbt, wenn dies erreicht ist. Der zivilisierte Mensch geht vom Grundsatz aus, daß dieses Lebensziel ihm selbst und allen seinen Mitmenschen zukommt. Das Leben, das einmal geschaffen ist, soll auch erhalten werden. Die zarten Kinder, welche am meisten von Krankheit und Elend bedroht werden, sind es gerade, die er auch am meisten liebt und am sorgsamsten pflegen möchte, wenn es nur der Kampf umd das Dasein gestattete. Wird aber ein Mensch in seiner Vollkraft durch einen Unglücksfall dahingerafft, von einem Mitmenschen erschlagen oder gar von wilden Tieren zerrissen, so nennen wir das nicht einen natürlichen Tod. Wir verlangen eben für den Menschen eine andere Natur, als die Natur der Tiere ist und das ganze große Ringen und Streben der Menschheit hat zum Zweck, einen Zustand zu schaffen, in welchem sich der Lebende, sein Dasein genießend, in möglichster Vollkommenheit auslebt und weder einer plötzlichen Vernichtung, noch auch dem langsam nagenden Zahn des Elends zum Opfer fällt.

Die Wissenschaft läßt kaum einen Zweifel mehr darüber bestehen, daß der Mensch in grauer Vorzeit, hunderttausende von Jahren hindurch, trotz seiner geistigen Überlegenheit, mit allen größeren und stärkeren Tieren im Wettbewerb um das Dasein stand. Als er in der Diluvialperiode mit den jetzt ausgestorbenen Geschlechtern des Höhlenlöwen, des Höhlenbären und der Höhlenhyäne zusammenwohnte, mochte er vielleicht einen unermeßlichen Zeitraum hindurch nur imstande sein, sich durch die Flucht vor den Zähnen und Krallen jener Bestien zu retten und die Ausbreitung der Art wurde schon durch die begrenzte Zahl der sicheren Schlupfwinkel in Schranken gehalten. Mit der Gewinnung des Feuers und der ältesten, rohesten Steinwaffen begann eine Umwälzung auf Erden, welche in wissenschaftlichem Sinn erst als die wahre Schöpfung des Menschengeschlechts betrachtet werden kann. Der Kampf gegen die Tierwelt wurde zur Jagd und die Denkkraft, welche ehedem ganz der Sicherung vor Gefahren und der Gewinnung des notdürftigen Unterhaltes gewidmet war, begann sich höheren Aufgaben zuzuwenden. Die Tiergeschlechter von überlegener physischer Kraft wurden teils unterjocht, teils ausgerottet oder in abgelegene Gegenden vertrieben.

Nun kämpft aber die ganze Tier- und Pflanzenwelt nicht nur um den Boden überhaupt, sondern auch um den  günstigsten  Boden. Ein warmes und feuchtes Fleckchen inmitten einer rauheren Gegend ist übersät von zahlreichen Stauden, Kräutern und Blumen, die sich hier zu behaupten und die Mitbewerber zu verdrängen suchen und da, wo das Leben sich reich zusammendrängt, hält auch die Vernichtung die reichste Ernte. Kräftige Eindringlinge von Außen bemächtigen sich oft des Boden und vertilgen die ganze frühere Vegetation. So kämpften die Menschen in verwüstenden Völkerwanderungen um die gesegnetsten Länder und das üppige Kleinasien, das milde Italien wurden Gräber ganzer Völkerschaften. Dann kommt der furchtbare  Rassenkampf.  Der bevorzugte Europäer betritt die Gegenden, welche minder entwickelte Glieder der großen menschlichen Familie bisher ungestört behaupteten. Er bringt ihnen das Christentum und den Tod. Eine entsetzliche, jeden Begriff übersteigende Verwüstung beginnt. Die Antillen, die Südsee-Inseln, weite Strecken von Nord-Amerika entvölkern sich; die Urbewohner von VAN-DIEMENS-Land werden ausgerottet; die Australier auf kümmerliche Reste reduziert; aus Afrika dagegen werden Millionen unglücklicher Neger verschleppt, um in Amerika gleich Haustieren ausgebeutet und gezüchtet zu werden. Hier ist es das Blatterngift oder andere verheerende Krankheiten, welche die Europäer mitbringen, dort der Branntwein; hier werden Bluthunde auf die Unglücklichen gehetzt, dort werden sie mit Feuerwaffen massenweise erlegt; hier wird ihnen durch Besetzung der Jagdgründe und Ausrottung der nutzbaren Thiere die Nahrung entzogen; dort werden sie mit grausamster Behandlung zu harter Arbeit gezwungen, der sie erliegen müssen.

Inzwischen rastete der Würgengel auch bei der herrschenden Klasse nicht. Die Verwüstungen der Pest im Mittelalter übersteigen alle unsere Begriffe. Der schauderhafte dreißigjährige Krieg ließ in ganzen Länderstrecken Deutschlands nur rauchende Trümmer zurück. Eine alle Begriffe übersteigende Grausamkeit und Willkür der Justiz tat das ihrige; besonders in den Inquisitionen und Hexenprozessen und allem was mit dem herrschenden Aberglauben zu schaffen hatte. Die Gefängnisse waren entsetzliche Höhlen des Jammers und der Tyrannei; oft schlimmer, als die martervollen Todesstrafen. Die Hinterbliebenen, denen ihr Versorger geraubt war, mochten sterben oder verderben. Die Sonne hat es gesehen, daß Herden halb verhungerter Kinder, deren Väter im Krieg geblieben waren, auf die Weide getrieben wurden, um Gras und Wurzeln zu fressen, bis sie vor Elend hinsanken. Eine reiche Ernte brachte damals leicht Überfluß und Üppigkeit ins Land, aber bei einer Hungersnot starben die Menschen wie Fliegen sogar in den Straßen der reichen niederländischen Handelsstädte.

Erst in den letzten Jahrhunderten sind allmählich Grundsätze der Humanität aufgekommen, welche jene Greuel beseitigt haben; aber das Vernichtungsgeschäft der Natur hat damit unter den Menschen nur wieder andere Formen angenommen. Diese Formen, wir müssen es gestehen, sind milder als in früheren Jahrhunderten. Wie kommt es nun, daß dennoch das Elend der leidenden Menschheit nie so tief empfunden wurde, wie gerade jetzt? Wie kommt es, daß früher meist nur idealistische Schwärmer und dichtende Philosophen über die Mittel nachdachten, einen vollkommeneren Zustand der menschlichen Gesellschaft herbeizuführen, während jetzt allmählich die Massen selbst den Gedanken fassen, daß ihrer Lage durch ganz neue und großartige Änderungen und Einrichtungen müsse geholfen werden? Weshalb wurde ehemals das äußerste Elend als eine unvermeidliche Schickung betrachtet, was doch, wie die Erfahrung lehrt, keineswegs unvermeidlich war; während jetzt der Schranke des scheinbar unüberwindlichen Naturgesetzes selbst getrotzt und ein besserer Zustand verlangt wird, von dem man noch kaum eine unbestimmte Ahnung hat, wie er sich gestalten soll?

Die erste Antwort ist einfach die, daß die Entwöhnung von Greueln, die größere Ruhe und die größere Bildung ganz von selbst dazu führen müssen, daß auch die Ansprüche an das Leben steigen. Der Mensch besinnt sich auf seine höhere Bestimmung; er sieht an den Bevorzugten seiner Gattung, was er selbst auch werden könnte, wenn die Verhältnisse es ihm erlaubten. Er betrachtet die Verhältnisse mit prüfendem Blick; er rechnet und er findet, daß manches anders sein könnte. Es ist leider eine furchtbare Wahrheit, daß die Tyrannen in ihrer Weise recht haben, wenn sie den Grundsatz aussprechen, daß daß Volk unter einem Druck gehalten werden müsse, bei dem es gar nicht zur Besinnung komme.

Wie der einzelne Mensch im täglichen Ringen um seine Existenz erst eine gewisse Ruhe haben muß, bevor er ernsthaft auf die Verbesserung seiner Lage denken kann, so sind auch gerade die geordneteren Zustände der Gegenwart, die seltenen Kriege, die minder verwüstenden Krankheiten, die Vermeidung eigentlicher Hungersnot ein Grund mit, weshalb das beklagenswerte Los der großen Masse der Menschheit jetzt ernsthafter empfunden wird, als jemals zuvor. Aber ein zweiter Grund ist freilich ganz entgegengesetzter Art. Er besteht darin, daß dieser ganze Zustand der Ruhe und der vergleichsweisen Schonung doch wieder mit Übelständen verknüpft ist, die in mancher Beziehung viel schwerer auf der Seele lasten müssen, als der beständige Wechsel von Furcht und Hoffnung in den früheren stürmischen Zeiten. Wie ein Wanderer in der endlosen Einförmigkeit der Ebene weit mehr ermüdet, als wenn er bald einen steilen Berg hinankeucht, bald wieder lustig ins Thal herniedersteigt, so ist auch die  Gleichmäßigkeit des Druckes,  welchen die Völker der Kulturstaaten jetzt zu tragen haben, für das Gemüth unerträglicher, als das ewige Spiel von Furcht und Hoffnung in früheren Zeiten. Dazu kommt aber für den Arbeiterstand noch die Abgeschiedenheit von den anderen Elementen der Gesellschaft, welche ihm zugleich die Teilnahme an all den Genüssen der Kultur entzieht, die er selbst durch sein unablässiges Schaffen möglich machen muß. Auch hierfür gibt es eine Parallele aus den Zeiten vor der französischen Revolution.
    "Im achtzehnten Jahrhundert," sagt TOQUEVILLE, "konnte der französische Bauer nicht mehr eine Beute kleiner feudalistischer Despoten werden; er erfuhr nur selten offenbare Gewalttätigkeit von Seiten der Regierung; er genoß bürgerliche Freiheit und besaß einen Teil des Bodens des Reiches, aber alle Menschen aus den anderen Ständen hatten sich von ihm abgesondert und er lebte einsamer, als man ihn jemals anderswo auf der Welt gesehen hatte. Dies war eine neue und seltsame Bedrückung, deren Folgen eine besondere, sehr aufmerksame Betrachtung verdienen."
Im Verlauf seiner scharfsinnigen Untersuchung führt TOCQUEVILLE (Das alte Staatswesen und die Revolution, Seite 156 der in Leipzig 1857 erschienenen Übersetzung) aus einem Schreiben des Finanzministers NECKER folgende Worte an:
    "Die ungeheure Kluft, die das Volk von den anderen Klassen trennt, trägt dazu bei, daß man die Augen von der Art und Weise abwendet, wie man gegen alle diejenigen, die der Menge angehören, rücksichtslos verfahren kann. Ohne die für die Franzosen charakteristische, milde und menschenfreundliche Gesinnung, ohne den Geist des Jahrhunderts, würde der Anblick nur Trauer im Herzen desjenigen erwecken, der mit einem Elend Mitleid haben kann, von dem er selber befreit ist." Und TOCQUEVILLE setzt hinzu, daß die Bedrückung sich weniger durch das Böse zeigte, das man diesen Unglücklichen zufügte, als durch das Gute, das man ihnen versagte, sich selber zu bereiten. "Sie waren frei und Eigentümer und sie blieben doch ebenso unwissend und oft elender, als die Leibeigenen, ihre Vorfahren. Sie verblieben ohne Industrie mitten unter den Wundern der Kunst und unzivilisiert mitten in einer Welt voll Licht und Aufklärung."

    "Aber die Ideen des Zeitalters begannen diese rohen Gemüter von allen Seiten zu durchdringen; sie kamen auf unterirdischen, abgelegenen Wegen daher und nahmen, durch diese enge und dunkle Bahn sich drängend, seltsame Formen an. Sitten, Glaube und Gewohnheiten des Bauers schienen noch dieselben zu sein; er war gehorsam, ja sogar heiter. "

    "Öffnet diesem Menschen einen Ausweg, der ihn aus dem Elend führen könnte, das er so wenig zu empfinden scheint und er wird sich mit solcher Heftigkeit nach dieser Seite hinstürzen, daß er, wenn ihr ihm im Weg steht, euch über den Leib schreiten wird, ohne euch auch nur zu bemerken."

    "Wir erblicken diese Dinge ganz deutlich vom Standpunkt, auf dem wir uns gegenwärtig befinden, aber  die Zeitgenossen sahen sie nicht.  Nur mit großer Mühe gelingt es Männern aus höheren Ständen, deutlich zu unterscheiden, was in der Seele des Volkes, besonders in der des Bauern, vorgeht. Erziehung und Lebensweise lassen diesem die Dinge in einem Licht erscheinen, das nur für ihn scheint und anderen Menschen unsichtbar bleibt. Aber wenn der Arme und der Reiche kein gemeinsames Interesse, keine gemeinsamen Beschwerden, keine gemeinsamen Angelegenheiten mehr haben, dann wird die Finsternis, die den Geist des einen dem des andern verbirgt, unergründlich und diese beiden Menschen könnten ewig nebeneinander wohnen, ohne sich jemals zu durchdringen. Man wird betroffen, wenn man sieht, in welch seltsamer Sicherheit alle diejenigen, die auf den höheren und mittleren Stufen des Staatsgebäudes standen, noch zu Beginn der Revolution lebten und sie untereinander von den Tugenden des Volkes reden hört, seiner Sanftmut, seiner Hingebung, seinen unschuldigen Vergnügungen, als schon das Jahr 1793 unter ihren Füßen glüht: lächerlicher und doch schauervoller Anblick!"
"Lächerlicher und doch schauervoller Anblick!" wird man vielleicht einst auch beim Rückblick auf unsere Tage rufen, wenn nicht die Erfahrung der französischen Revolution doch wenigstens einige einflußreiche Männer sehend macht, durch deren Arbeit es gelingen möchte, den Umschwung, welcher aus den Verhältnissen unseres Zeitalters mit Notwendigkeit folgen muß, in die Bahnen einer friedlichen Entwicklung hinüberzulenken. Tatsache ist, daß der Kampf ums Dasein gerade jetzt wieder in der mächtigsten und einschneidensten Schicht der Nation - diesmal sind es  die Arbeiter der Industrie  - in seiner ganzen ermattenden Schwere empfunden wir und daß die Geister beginnen, der Einförmigkeit dieses Druckes überdrüssig zu werden und sich, selbst auf die Gefahr der Verschlimmerung hin, nach Veränderung zu sehnen.

Die spezifische Form, welche der Kampf um das Dasein in dieser seiner neuesten Phase angenommen hat, liegt in der Abtrennung der ernährenden Arbeit vom ernährenden Boden, in der Behandlung sämtlicher Produkte der Arbeit als Ware und in der dadurch bedingten Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital (3). In früheren Perioden wurde die arbeitende Mehrheit der Menschen von der raubenden Minderheit durch physische Gewalt zum Frohndienst gezwungen oder in den Zustand der Leibeigenschaft, der Sklaverei oder mindestens der Tributpflichtigkeit versetzt; gegenwärtig wird diese Abhängigkeit in einer minder unmittelbaren aber ebenso wirksamen Weise durch das Übergewicht des Kapitalbesitzes bewerkstelligt, kraft dessen der Arbeiten, um nur überhaupt seinen Lebensunterhalt zu finden, gezwungen ist, seine ganze Arbeitskraft in den Dienst des Kapitalisten zu stellen. Durch diesen notwendigen Vertrag fällt dem letzteren nicht nur ein Äquivalent zu für dasjenig, was er auf den Lebensunterhalt des Arbeiters verwendet, sondern auch noch der ganze Mehrwert, welcher durch die äußerste Anspannung der Arbeitskraft erzielt werden kann und welcher dem Arbeiter selbst zufallen würde, sobald dieser mit gleichem Fleiß ein Stück Land bebauen oder auch Waren auf eigene Rechnung produzieren könnte. Der Umstand, daß dieser Vertrag auf Vermietung der vollen Arbeitskraft nicht auf Lebenszeit geschlossen wird, sondern nur auf die Frist weniger Tage, gibt einerseits dem Arbeiter die Freiheit, seine Arbeitskraft wieder zurückzunehmen, sobald er sie mit mehr Vorteil für sich verwenden kann, andererseits aber auch dem Kapitalisten die Möglichkeit, den Arbeiter durch Entziehung des Lebensunterhaltes zu immer ungünstigeren Bedingungen zu zwingen. Es entsteht dadurch ein Schein von Freiheit, welche jedoch eine nur umso größere Ausbeutung und Unterwerfung des Arbeiters verbirgt, weil dieser in einem Land mit gänzlich besetztem Grund und Boden keine Möglichkeit hat, seinen Unterhalt direkt von der Natur zu gewinnen und weil ihm die vorherrschende Produktion für den Warenmarkt statt für den direkten Gebrauch den Bestand ohne Kapital unmöglich macht. Der Kampf ums Dasein tritt dadurch in die Form eines Kampfes um den Arbeitslohn, wobei das traurige und niederdrückende Verhältnis entsteht, daß nach oben hin eine Grenze des Wohlbefindens dadurch gezogen ist, daß der Überschuß des Arbeitsertrages über die Unterhaltungskosten dem Kapitalisten zufällt, während nach unten hin sich eine endlose Stufenleiter des Elends eröffnet, je nachdem es dem Kapitalisten gelingt, aus der von ihm gemieteten Arbeitskraft möglichst viel Arbeit für möglichst wenig Lohn herauszupressen. Dies hängt natürlich neben anderen Faktoren hauptsächlich davon ab, ob mehr oder weniger Arbeiter um die Existenz aus demselben Lohnfond konkurrieren. Je größer der Andrang derselben, desto tiefer wird der Lohn herabgedrückt werden; je geringer, desto mehr nähert er sich demjenigen Satz, welcher ausreicht, vor Mangel und Elend zu schützen. Er wird über diesen Punkt hinaussteigen, wo der Arbeiter die Möglichkeit hat, seine Nahrung auf dem freien Boden noch unbebauter und nicht in Privateigentum übergangener Länderstrecken zu gewinnen. Wo dagegen in einem geschlossenen, altbebauten Land die Industrie eine Anzahl besitzloser Arbeiter versammelt hat, da wird dasselbe Naturgesetz, welches wir im Kampf ums Dasein durch den ganzen Organismus walten sehen, stets dafür sorgen, daß jene Grenze nicht überschritten wird.
LITERATUR Friedrich Albert Lange - Die Arbeiterfrage - Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft, Winterthur 1894
    Anmerkungen
    1) Schon im Altertum war von einigen Denkern, am nachdrücklichsten von EMPEDOKLES, darauf hingewiesen worden, daß Wesen mit zweckmäßiger Organisation, wie überhaupt eine zweckmäßige Gestaltung der Dinge, keineswegs nur dadurch entstehen können, daß sie von einem denkenden Wesen nach der Idee des Zweckes geschaffen werden, sondern auch auf dem Weg des -  Zufalls;  als Spezialfall unter Tausenden und aber Tausenden von unzweckmäßigen Bildungen, die wir einfach deshalb nicht mehr sehen, weil sie eben nicht die Bedingungen der Zweckmäßigkeit in sich trugen und also untergehen mußten, da es gerade das Unterscheidende der "zweckmäßigen" Bildungen ist, daß sie befähigt sind, sich zu erhalten und zu reproduzieren. Denkt man sich also die Natur blind schaffend, so wird dennoch  nach unendlich großen Zeiträumen  zuletzt das Zweckmäßige, trotz seiner verhältnismäßigen Seltenheit, vorherrschend sein müssen, wie wenn es gleich nach einem bestimmten Plan geschaffen wäre.
    Diese, bei EMPEDOKLES noch in sehr roher Form auftretende Idee macht für denjenigen, der sie einmal gefaßt hat, den gewöhnlichen Schlußfolgerungen aus der Zweckmäßigkeit der Schöpfung ein Ende durch die einfache Einschaltung der Bemerkung: wenn diese Schöpfung nicht zweckmäßig wäre, so könnte sie  überhaupt nicht sein.  Wir sehen noch täglich neben dem Zweckmäßigen auch Unzweckmäßiges, neben dem Gesunden Krankes und Lebensunfähiges auftreten und was in dieser Beziehung im Großen schon dagewesen sein mag und sich nicht erhalten konnte, wissen wir nicht.
    Das Verdienst der Neuzeit besteht nun aber darin, daß an die Stelle des rohen und allgemeinen Gedankens die bestimmte, naturwissenschaftlich begründete Einsicht gesetzt worden ist, daß die Erzielung des Zweckmäßigen durch das anscheinend Unzweckmäßige noch jetzt in der organischen Welt eine ungemein große Rolle spielt. Es gibt Tierarten, wie z. B. die Bandwürmer, welche ihre Fortpflanzung und Ausbildung fast nur Vorgängen verdanken, die man als relativ seltenen Zufall betrachten muß und die sich dennoch durch die ungeheure Ausbreitung der Lebenskeime stets irgendwo und irgendwie einstellen. Im Anschluß an dieser Erkenntnis hat dann DARWIN (vgl. die folgende Note) dargetan, wie durch den Vorgang der Überproduktion von Lebenskeimen und lebenden Wesen notwendig jedes Wesen den Bedingungen seiner Existenz sich immer vollkommener anpassen und zugleich in der aufsteigenden Reihe der Wesen ein  beständiger Fortschritt  stattfinden muß.
    Man überläßt daher heutzutage die empedokleische Frage, ob die Natur auch einmal absolut Unzweckmäßiges hervorgebracht habe, der müßigen Spekulation und hält sich an die Tatsache, daß sie fortwährend  relativ  Unzweckmäßiges hervorbringt, welches gerade durch die Massenhaftigkeit seiner Erzeugung und Vernichtung das Zweckmäßige wieder aus sich hervorgehen läßt, denn von zahllosen, der Vernichtung ausgesetzten Wesen erhalten sich natürlich durchschnittlich diejenigen am besten, welche am besten organisiert sind. In dieser großartigen und einfachen Anlage der organischen Welt kann man nun in gewissem Sinne doch wieder, was das große Ganze betrifft, Zweckmäßigkeiten zu finden, jedoch freilich eine andere, als unsere  menschliche, berechnende  Zweckmäßigkeit. Vgl. hierüber meine Geschichte des Materialismus, Seite 402 und folgende.
    2) Der englische Naturforscher CHARLES DARWIN, dessen berühmtes Werk "Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (natural selection)" im Jahre 1859 englisch und im folgenden Jahr zuerst deutsch erschien, ist keineswegs der erste Entdecker jener großen Tatsache, welche gegenwärtig in Verbindung mit seinem Namen in jedermans Munde ist, des Kampfes ums Dasein. Vielmehr findet man die Grundzüge derselben schon bei MALTHUS (vgl. unten die vierte Anmerkung), der sich des Zusammenhangs zwischen seiner Überbevölkerungstheorie und den allgemeinen Gesetzen, welche das organische Leben beherrschen, sehr wohl bewußt war. Übrigens ist MALTHUS noch weit weniger als Entdecker zu rühmen. Behauptet doch KARL MARX, zur Zeit wohl der vorzüglichste Kenner der Geschichte und Literatur der Volkswirtschaft, MALTHUS habe bei JAMES STEWART "abgeschrieben". BENJAMIN FRANKLIN und andere denkende Männer des vorigen Jahrhunderts waren über diesen Punkt schon vollständig im Klaren und doch ist die Lehre vom "Kampf ums Dasein" erst durch DARWINs Werk Gemeingut aller Gebildeten geworden. Der Grund hiervon liegt teils darin, daß überhaupt in solchen Fragen gewöhnlich nicht die erste Aufstellung einer Idee entscheidend eingreift, sondern die glücklichste und vollständigste Ausführung; teils aber in der Verbindung der Lehre vom Kampf ums Dasein mit der Frage nach der Entstehung der Arten und nach dem Ursprung des Menschengeschlechts. Alle diese, im Einzelnen auch schon früher, namentlich im vorigen Jahrhundert behandelten Fragen sind durch DARWINs Werk in den engsten Zusammenhang gebracht und mitten in die emsige Tätigkeit der naturwissenschaftlichen Spezialforschung hineingestellt worden. Zur populären Orientierung über DARWIN und sein System leistet gute Dienste: Dr. LUDWIG BÜCHNER, Sechs Vorlesungen über die Darwinsche Theorie von der Verwandlung der Arten usw., Leipzig 1868
    In unserer vorliegenden Schrift über die Arbeiterfrage spielt DARWIN schon insofern eine große Rolle, als wir versucht haben, die Zustände, welche der Arbeiterfrage rufen, aus den von DARWIN entwickelten Grundsätzen abzuleiten, ohne sie jedoch als absolut notwendige Zugaben des menschlichen Daseins zu betrachten. Denn während die Pflanze bewußtlos, das Tier in der Regel ganz vom Naturtrieb beherrscht, jenen Naturgesetzen willenlos unterliegen, tritt im Menschen als letzte Stufe jenes natürlichen Vervollkommnungsprozesses die Fähigkeit auf, sich über den grausamen und seelenlosen Mechanismus desselben zu erheben, durch berechnete Zweckmäßigkeit die sich blindlings gestaltende abzulösen und mit unendlicher Ersparnis an Schmerz und Todesqualen einen Fortschritt zu erzielen, welcher sich rascher, sicherer und lückenloser bewegt, als derjenige, welchen blind waltende Naturgesetze durch den Kampf ums Dasein hervorbringen. Wobei denn freilich nicht verkannt werden darf, daß trotz aller Intelligenz und allen guten Willens der Mensch sich doch niemals von den Wirkungen jener Naturgesetze befreien wird. Ferner aber ist in unserer Schrift - in den beiden folgenden Kapiteln - der erste, freilich noch sehr mangelhafte Versuch gemacht worden, auch den kulturgeschichtlichen Entwicklungsgang, die Entfaltung der höheren geistigen Befähigung in Einzelnen wie in ganzen Klassen, die Bildung der großen Vermögen usw., nach den gleichen Grundsätzen zu begreifen, wie die Entstehung der Arten aus dem Kampf ums Dasein.
    Es sei hier übrigens beiläufig bemerkt, daß der Verfasser kein unbedingter Anhänger des DARWINschen Systems in der speziellen Durchführung ist, welche vom Urheber desselben herrührt und von HAECKEL (Generelle Morphologie der Organismen, Berlin 1866, 2. Bde.) am konsequentesten weitergebildet.
    3) Man wird an dieser Stelle den Einfluß des trefflichen Werkes von KARL MARX, Das Kapital, 1. Bd., der Produktionsprozeß des Kapitals; Hamburg 1867, nicht verkennen. Näheres über sein Prinzip und unsere Stellung dazu folgt in den späteren Abschnitten.