ra-2ra-2Böhm-BawerkR. StammlerA. VoigtG. Schmoller    
 
KARL DIEHL
Wirtschaft und Recht
[2/2]

"Die kausale Feststellung der empirischen Triebfedern, von denen die Menschen bei ihren Handlungen geleitet werden, bereitet unüberwindliche Schwierigkeiten, daher sollte man nicht von ökonomischen  Gesetzen  sprechen, sondern nur von gehäuften Einzelbeobachtungen. Vollends wer es unternimmt, den Zusammenhang zwischen einzelnen ökonomischen Phänomenen klarzulegen, muß sich hüten, hier einfach von Ursache und Wirkung zu reden. Diese Zusammenhänge sind oft so kompliziert und verschlungen, daß man höchstens von einer gewissen gegenseitigen Bedingtheit reden darf, nie von einer exakten Kausalität. Diese Vorsicht und Resignation ist in noch höherem Grad bei der Feststellung sogenannter ökonomischer Entwicklungstendenzen zu üben."


3. Die ökonomischen Phänomene

Der wichtigste und originellste, aber auch der schwierigste Teil des STAMMLERschen Werkes ist der, welcher von den ökonomischen Phänomenen handelt. Die STAMMLERsche Auffassung beruth auf folgenden Grundgedanken: Das soziale Leben ist der Inbegriff  geregelter  Wechselbeziehungen unter den Menschen; das soziale Zusammenwirken eines Rechtsverbandes erwächst aus Einzelvereinigungen von Privaten. Solche Vereinigungen von Privaten heißen  Rechtsverhältnisse nach darüber stehenden Regeln übernehmen die in ihnen Verbundenen gegeneinander Verpflichtungen bestimmten Verhaltens, Verbindlichkeiten zu einem bestimmten Tun, Dulden oder Unterlassen. Aufgrund der Erkenntnis, daß sich die konkrete Ausführung eines sozialen Lebens in Begründung und Durchführung von Rechtsverhältnissen vollzieht, ist der Begriff der  ökonomischen Phänomene  zu bestimmen. Nicht jedes Rechtsverhältnis ist ein ökonomisches Phänomen: für letztere ist der Gedanke der  Notwendigkeit  erforderlich so, daß unter der betreffenden sozialen Regelung bei obwaltenden Umständen es sicher so kommen mußte. Da die Kausalität des isolierten Vorgangs nicht exakt darzulegen ist, müssen mehrere gleiche Vorgänge aufgewiesen werden; aus regelmäßigen Wiederholungen wird auf unterliegendes gleichmäßig Wirkendes geschlossen. So gelangt STAMMLER zu der Erklärung:  "Ein ökonomisches Phänomen ist eine gleichheitliche Massenerscheinung von Rechtsverhältnissen." 

Als einfachste Beispiele ökonomischer Phänomene erwähnt STAMMLER solche, bei denen die rechtlichen Beziehungen als  ganze  in Quantitäten zur Erwägung genommen werden und das unterscheidende Kriterium im  juristischen Moment  liegt, wodurch sich die Rechtsverhältnisse voneinander abgrenzen: z. B. die Menge der Grundeigentümer, oder die Personen, die auf Mietswohnungen angewiesen sind, die Zahl der Auswanderer etc., ferner die Vereinigungen und Verbände, deren Mitglieder durch gewisse rechtliche Bestimmungen zusammengehalten werden.

STAMMLER nimmt eine doppelte Klassifizierung der ökonomischen Phänomene vor, indem er zuerst  analytisch,  d. h. nach gemeinsamen Merkmalen innerhalb gleichartiger Rechtsverhältnisse, dann  synthetisch,  d. h. nach ihrer übereinstimmenden Verknüpfung hinsichtlich der in ihnen auftretenden Personen unterscheidet. Die erste Klassifikation ergibt folgende vier Möglichkeiten einer systematischen Gruppierung:
    1) Nach den verschiedenen Eigenschaften der Personen als Träger und Inhaber jener sozialen Beziehungen; hier kommen z. B. die Unterschiede nach Alter und Geschlecht (z. B. die Verwendung von Frauen und Kindern als Lohnarbeiter) sowie nach Ethik und Intellekt in Betracht;

    2) nach der technischen Art und Beschaffenheit der von den Rechtsverbundenen zu machenden Leistungen; hier liegen gleiche Rechtsverhältnisse vor als Form des Zusammenwirkens in technisch verschiedenartiger Arbeit (z. B. Bäcker- und Maurergesellen, Lohnarbeiter in Fabriken, im Bergbau etc.);

    3) nach den quantitativen Momenten in Objekten und Leistungen (z. B. große, kleine, mittlere Grundbesitzer);

    4) nach der Eigenart der Verwirklichung und Durchführung der geregelten Beziehungen (z. B. Zahl der Rechtsstreitigkeiten, Konkurse, Zwangsvollstreckungen).
Nach der zweiten Art der Klassifizierung - wobei bestimmte Rechtsverhältnisse auf ein und dieselbe Person bezogen werden, sind abermals vier Klassen zu unterscheiden:
    1) Nach den Qualitäten der Personen, in denen verschiedenartige Rechtsverhältnisse zur Einheit verbunden werden (Gesunde und Kranke, physische und juristische Personen);

    2) nach der Technik der Produktion und des Umsatzes und nach dem technischen Betrieb und Gewerbe;

    3) nach der Quantität der in einer Person zusammenfließenden Rechtsverhältnisse;

    4) nach der Art tatsächlicher Durchführung. -
Zu den bisher erwähnten Gruppen von ökonomischen Phänomenen tritt eine neue hinzu, die STAMMLER als diejenige der  negativen sozialen Phänomene  bezeichnet; diese zerfallen wieder in zwei Klassen:
    a) die, wobei es sich um die Nichtbegründung rechtlich möglicher Beziehungen handelt (die Arbeitslosen, die leerstehenden Mietwohnungen, die Hagelstolze),

    b) die, wobei eine Verletzung der sozialen Regelung durch Übertretung und Zuwiderhandeln stattfindet (Verbrechen etc.). -
Was die Entstehung und Ausbildung der ökonomischen Phänomene anlangt, so sind zweierlei Möglichkeiten einwirkender Gründe vorhanden:
    1) die  Technologie;  deren Einwirkung ist keine direkte, sondern auf weitem Umweg vermittelte. Die Technologie  ermöglicht  nur die Bildung von ökonomischen Phänomenen, verwirklicht sie aber  ansich  noch gar nicht; soll sie in Wirklichkeit übergehen, so muß sie im menschlichen Zusammenwirken angewendet werden, also sich in ein geregeltes soziales Dasein einfügen. Da erst durch menschliche Tat diese Einwirkung positiv werden kann, muß in Betracht kommen

    2) Zahl und Beschaffenheit der rechlich verbundenen Menschen. Es ist nötig, darauf zu achten, welche Motive diese bestimmen, in übereinstimmender Weise gleichartige Rechtsverhältnisse zu begründen; diese Bestimmungsgründe für soziales Handeln sind
      a)  bloß natürliche,  z. B. der natürliche Selbsterhaltungstrieb
      b) soziale, vor allem die erzieherischen Einflüsse.
Wenn STAMMLER von der "Notwendigkeit" spricht, mit der sich die ökonomischen Phänomene entwickeln, so soll damit keine exakte Kausalität im Sinne einer reinen Naturwissenschaft gemeint sein. Die Notwendigkeit ihres Auftretens ist nur eine solche, die sich bei konkreter Ausführung einer besonderen sozialen Ordnung ergibt; es gibt keine allgemeingültige Gesetzmäßigkeit für das soziale Leben - auch bei der Feststellung einer Notwendigkeit in dem hier gültigen Sinne ist Massenbeobachtung das einzige, was sich als gesetzmäßige Unterlage herausstellt. Die kausale Feststellung der empirischen Triebfedern, von denen die Menschen bei ihren Handlungen geleitet werden, bereitet unüberwindliche Schwierigkeiten, daher sollte man nicht von ökonomischen "Gesetzen" sprechen, sondern nur von gehäuften Einzelbeobachtungen. Vollends wer es unternimmt, den Zusammenhang zwischen einzelnen ökonomischen Phänomenen klarzulegen, muß sich hüten, hier einfach von Ursache und Wirkung zu reden. Diese Zusammenhänge sind oft so kompliziert und verschlungen, daß man höchstens von einer gewissen gegenseitigen Bedingtheit reden darf, nie von einer exakten Kausalität. Diese Vorsicht und Resignation ist in noch höherem Grad bei der Feststellung sogenannter ökonomischer Entwicklungstendenzen zu üben.

Wenn eine bestimmte Entwicklung der ökonomischen Phänomene eine entsprechende Änderung der sozialen Ordnung  notwendig bedingt,  so ist die Frage: ob hierfür die  dualistische  oder die  monistische  Auffassung berechtigt ist. STAMMLER vertritt mit Entschiedenheit die Ansicht, daß die monistische Auffassung des sozialen Lebens am Platz ist. - Die dualistische Theorie wird verworfen, sowohl in der Form, daß Recht und Wirtschaft eine getrennte Kausalität hätten, als in der, daß ein übersinnlicher Nationalgeist als lediglich bestimmende Ursache angenommen werden soll, der von außen her, auf sonst nicht erklärte Weise in den empirisch sich entwickelnden Gang des sozialen Lebens hineingreift. - Die monistische Theorie STAMMLERs stellt den Vorgang der Wandlungen des sozialen Lebens so dar: Bei der konkreten Verwirklichung eines sozialen Lebens bilden sich soziale Phänomene oder Massenerscheinungen rechtlicher Beziehungen; indem diese anschwellen und in sicherer Tendenz sich weiterentwickeln, drängen sie auf Umänderung der bestehenden Form des sozialen Lebens. So bietet - nach STAMMLER - die Geschichte des sozialen Lebens einen ständigen Kreislauf, in welchem gesellschaftliche Phänomene eine Neugestaltung der sozialen Ordnung hervorrufen und diese nun wiederum andere soziale Phänomene erschafft. -

Wenn wir jetzt zu STAMMLERs Theorie der ökonomischen Phänomene kritisch Stellung nehmen, so bemerken wir zunächst, daß die Feststellung der Tatsache, daß jede nationalökonomische Erscheinung nur Sinn und Bedeutung hat, wenn eine rechtliche Regelung vorausgesetzt wird, uns durchaus richtig erscheint: wie wir diese Zustimmung schon wiederholt erklärt haben. Es soll dadurch die scharfe Grenze gegenüber isoliertem Dasein, und gegenüber technischer, naturwissenschaftlicher Betrachtung gezogen sein. Eine Übertreibung aber dieses formalen Gesichtspunktes ist es, wenn STAMMLER wegen der angegebenen äußerlichen Bedingtheit die ökonomischen Phänomene als gleichheitliche Massenerscheinungen von  Rechtsverhältnissen  definiert; und wenn er dann weiter auch die Klassifikation dieser Phänomene nach den Artmerkmalen dieser Rechtsverhältnisse und nach der Synthese der Rechtsverhältnisse in einem Subjekt vornimmt. Der  Form  wird hierbei gegenüber dem  Stoff  eine zu große Wichtigkeit beigelegt. Denn was ist der Gegenstand der nationalökonomischen Betrachtung? Das Zusammenwirken der Menschen zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung; der  Form  nach handelt es sich um ein durch gewisse Normen geregeltes Wirken, dem Stoff nach um die gemeinsame Bedürfnisbefriedigung selbst. Letzteres ist das speziell nationalökonomisch Relevante im Gegensatz zum juristischen Interesse, das auf die Form des sozialen Lebens in erster Linie gerichtet ist. Zugegeben also, daß das formale Moment eine notwendige Erkenntnisbedingung nationalökonomischer Sätze ist, so muß doch den, der ökonomische Phänomene erforscht, nicht die Form, sondern die Sache selbst interessieren, d. h. die Frage, wie und in welchem Maß der betreffende Rechtsverband tatsächlich mit Sachgütern und Leistungen versorgt wird, wie diese Güter, Waren, etc. an die einzelnen Personen verteilt werden, wo Überfluß, wo Mangel, wo günstige, wo ungünstige Verhältnisse nach dieser Richtung hin vorliegen. Diese, nach Quantität und Qualität zu untersuchenden Verhältnisse der Produktion, Zirkulation, Verteilung und Konsumtion der Güter - um beim althergebrachten Schema zu bleiben - bildet das Hauptinteresse des Nationalökonomen; er wird daher ihren unterliegenden Rechtsverhältnissen, abgesehen von ihrer grundlegenden systematischen Bedeutung, doch nur in dem Maß Bedeutung beilegen können, als das Recht  verantwortlich  gemacht werden kann für die in Frage stehenden ökonomischen Erscheinungen. Allerdings trägt in einem sehr weiten Sinne genommen das Recht  allein  die volle Verantwortung für alles wirtschaftliche Tun und Lassen; denn da das wirtschaftliche Leben ein rechtlich geregeltes ist, so ist der Zusammenhang sofort klar: man setze nur den Fall, daß es kein Privateigentum mehr gibt und so gut wie alles, was wir heute an ökonomischen Phänomenen haben, wäre verschwunden und macht ganz anderen Erscheinungen Platz; aber: jede Rechtsordnung und sei sie noch so despotisch auch auf wirtschaftlichem Gebiet, wird, wie auch STAMMLER hervorhebt, dem  freien Ermessen  der Individuen einen gewissen Spielraum lassen; ist dies aber der Fall, so hängt auch die tatsächliche Gestaltung des Wirtschaftslebens wesentlich vom Verhalten der Individuen selbst ab. Die Rechtsordnung hat hierauf nur sehr bedingten und indirekten Einfluß, wie STAMMLER selbst sagt (Seite 285):
    "Das Recht ist alsdann zwar die unerläßliche Bedingung für alle sozialwirtschaftlichen Erscheinungen, gibt aber keineswegs die  unvermittelt  bestimmende Ursache für die Entstehung derselben im einzelnen ab. Diese gründen sich vielmehr auf die Initiative der Rechtsunterworfenen und deren tatsächliches Vorgehen innerhalb des geregelten gesellschaftlichen Daseins." -
Auf dieses  Verhalten  kommt es gerade wesentlich an; daß dabei stets die Wirkung dieses Verhaltens auf die  Gemeinschaft  und nicht auf den Einzelnen ins Auge gefaßt wird, ergibt sich schon aus dem Wesen aller volkswirtschaftlichen Untersuchungen. Wer ökonomische Phänomene erforscht und darlegt, wird in erster Linie auf die tatsächliche Bedürfnisbefriedigung einer wirklichen Gemeinschaft zu sehen haben, nicht aber auf die rechtlichen Formen, unter denen sich diese Erscheinungen jeweils herausstellen. - Man könnte einwenden: wenn auf diesen wirtschaftlichen Gebieten das Verhalten der einzelnen Wirtschaftssubjekte maßgebend ist, so ist dies doch gerade der Rechtsordnung geschuldet; denn sie hat diese Freiheit zugelassen, folglich sind auch die zutage tretenden Wirkungen in letzter Linie Rechtsverhältnissen geschuldet. Dies würde jedoch eine sehr weite Fassung des Begriffs der Rechtsverhältnisse bedeuten. Auf die konkrete Art der Verwirklichung, auf die faktische Ausgestaltung der Arbeitsgemeinschaft, nicht auf die durch das Recht gebotene  Möglichkeit  der Verwirklichung kommt es an.

Wer das wichtige Phänomen der Lohnveränderungen, speziell etwa das Steigen der Arbeitslöhne in der Industrie betrachtet, würde nach STAMMLERs obiger Einteilung ad. I, 3, gleichartige Rechtsverhältnisse nach qualitativen Momenten betrachten; das Rechtsverhältnis, daß ein Kapitalbesitzer im freien Lohnvertrag einen Lohn stipuliert [festlegt - wp], tritt aber hier völlig zurück: denn es handelt sich hier darum,  wieviel  an Lohn gegeben wird. Das Gesetz schreibt kein Lohnminimum und Lohnmaximum vor: da interessiert den Nationalökonomen, wie sich das faktische Machtverhältnis der Interessengruppen gestaltet im Hinblick auf die Lohnhöhe; es ist ein Phänomen der Güterverteilung, das selbstverständlich auch, wenn man bis auf die Wurzel zurückgeht, aus einem Rechtsboden erwachsen ist. Innerhalb derselben Rechtsordnung können sich die Machtverhältnisse sehr verschieden gestalten, innerhalb derselben Rechtsordnung kann je nach der Gesinnung der Arbeitgeber und ihrer Auffassung des Lohnvertrages die Lohnhöhe im einzelnen Fall eine sehr verschiedene sein und dieselbe Lohnhöhe kann nach den Konsumtionsgewohnheiten der einzelnen Arbeiter wirtschaftlich etwas sehr verschiedenes bedeuten; bei der nationalökonomischen Betrachtung wird eine Erhöhung des Reallohnes betrachtet werden müssen in Verbindung mit einer etwaigen Erhöhung der Lebensmittelpreise, mit zeitweiliger Arbeitslosigkeit etc. Kurz, alle diese Momente, die hier erwogen werden, betreffen die quantitativen Verhältnisse der Bedürfnisbefriedigungen. Ja selbst das rein  persönliche,  durch Gesetz gar nicht vorzuschreibende Verhalten des Arbeitgebers zum Arbeitnehmner, die Art seines persönlichen Verkehrs kann von sehr großer sozialer Bedeutung sein. Die allmähliche Verkürzung der Arbeitszeit, die als ein bemerkenswertes Phänomen namentlich in der englischen Großindustrie hervortritt, hat sich, was die erwachsenen Arbeiter anlangt, ohne Eingreifen der Gesetzgebung vollzogen, vielfach im eigenen Interesse der Arbeitgeber; infolge der machtvollen Stellung englischer Arbeiterverbände, und unter dem Einfluß anderer Faktoren ist sie erfolgt. Gewiß liegen auch hier Rechtsverhältnisse vor, denn das ganze Arbeitsverhältnis ist ein Rechtsverhältnis; aber an diese juristische Form, an die dabei abgeschlossenen Arbeitskontrakte denkt der Sozialökonom nicht; sondern an die erleichterte Arbeitsleistung, an den erhöhten Lebensgenuß, an den größeren Anteil am Kulturleben, das hierdurch dem Arbeiter ermöglicht ist.

Ein wichtiges sozialökonomisches Phänomen ist die immer häufigere Bildung von Ringen, Kartellen, Syndikaten, Trusts etc. - eine Menge von rechtlichen Formen haben sich herausgebildet von der einfachen Preiskonvention bis zu den amerikanischen Trusts; - nicht diese Rechtsverhältnisse sind es jedoch, die dem Nationalökonomen als das Essentielle erscheinen, sondern die Frage, ob und inwieweit hierdurch eine Konzentration des Vermögens, eine Stärkung des Kapitalismus herbeigeführt wird etc. - ja, es kann unter Umständen ganz dieselbe volkswirtschaftliche Wirkung erzielt werden, ohne daß irgendeine rechtliche Abmachung dieser Art vorliegt - wenn z. B. ein Einzelner eine bestimmte Produktion faktisch monopolisiert hat. - Wie die Güterproduktion durch derartige monopolistische Tendenzen umgestaltet wird, wie die Güterverteilung dadurch beeinflußt wird, das macht das nationalökonomische Interesse aus. Und wenn zwei juristisch völlig gleichlautende Abmachungen vorliegen, die etwa eine Preiskonvention zwischen einer Reihe von Produzenten herbeiführen sollen, so können diese doch zwei nationalökonomisch völlig verschiedene Phänomene sein, wenn etwa die eine Konvention abgeschlossen ist, um einem ruinösen Preissturz vorzubeugen, die andere, um einzelnen Produzenten den Vorzug einer hohen Preisstellung zu garantieren. -

Je nach nationalen und lokalen Sitten und Eigentümlichkeiten kann dieselbe Rechtsinstitution eine sehr verschiedene Bedeutung haben; dies leugnet STAMMLER keineswegs; er spricht von der
    "Unsicherheit, die sich aus der Schwäche menschlicher Voraussicht auf der Seite der Regelsetzenden ergibt." ... "Die Folgen einer vorzunehmenden sozialen Regelung unter gegebenen Umständen richtig im Voraus zu berechnen, muß unvermeidlicherweise eine schwierige Aufgabe sein, deren Lösung sich für die menschliche Voraussicht bis zur Unmöglichkeit steigert."
Auf diese  Folgen  aber kommt es gerade vom ökonomischen Standpunkt an, nicht so sehr auf die rechtliche Regelung, die vielleicht eine ganz andere Wirkung beabsichtigt hat. Die härteste Strafe, die auf das Agio-Nehmen in der Papiergeldwirtschaft gesetzt wurde, hat ein Agio [höherer Preis für ein Wertpapier im Vergleich zu seinem Nennwert - wp] nicht verhindert, das sich bildete kraft des nationalökonomischen sogenannten Gesetzes, daß gutes Geld durch schlechtes verdrängt wird.

Unter den Verfechtern einer möglichst freien Gesetzgebung in Bezug auf den Grundstücksverkehr finden wir sowohl Anhänger der  petite culture,  als solche des Großgrundbesitzes; beide hoffen von der Gesetzgebung, daß diese in ihrem Sinne wirksam wird. Das Resultat ist völlig unsicher. Und wir sehen, daß, wo eine Gesetzgebung vorhanden ist, gegen welche sich der  Sinn der Bevölkerung  sträubt, die vom Gesetz beabsichtigte Wirkung ausbleibt, z. B. wie BERNHARDI berichtet (17):
    "Wir sehen mitunter Sinn und Geist der Bevölkerung im Kampf mit dem Einfluß des Gesetzes diesen zum Trotz bestehende günstige Verhältnisse erhalten. So in Belgien und im Luxemburgischen, wo es fast als ein Frevel gilt, einen alten Bauernhof zu zerstückeln, das Streben der besitzenden Familie dahin geht, ihn ganz zu erhalten, und die Erben oft lieber sämtlich auf den heimatlichen Herd verzichten, und das natürliche Landgut im Ganzen verkaufen, als unter sich zu teilen." -
Unter derselben freiheitlichen Gesetzgebung in Bezug auf Eheschließung, Kindererzeugung etc. hat Frankreich über eine Bevölkerungsstagnation, Deutschland über eine zu starke Bevölkerungsvermehrung zu klagen; das französische Zweikindersystem müßte nach STAMMLERs Schema unter II 3 fallen, da wir es hier mit einer Erwägung nach der Quantität der in einer und derselben Person zusammenfließenden Rechtsverhältnisse zu tun haben; aber an die Rechtsverhältnisse der französischen Familienväter, bzw. ihre rechtliche Gewalt über zwei Kinder denken wir hier doch nicht: sondern an die Einbuße an wirtschaftlicher Kraft und Macht, die hierdurch Frankreich droht an die Wirkung derartiger Zustände auf die Güterverteilung etc.

Wie sehr es mit Schwierigkeiten verknüpft ist, die ökonomischen Phänomene in den Bann einer juristischen Systematik einzufügen, zeigt die besondere Rubrik der sogenannten negativen sozialen Phänomene. Da wichtige wirtschaftliche Erscheinungen die Eigentümlichkeit aufweisen, daß Rechtsverhältnisse  nicht  zustande kommen, sollen hier negative soziale Phänomene vorliegen; z. B. die Arbeitslosigkeit, die Massen unverkäuflicher Waren etc. Die Arbeitslosigkeit ist für uns ein wichtiges Phänomen wegen des Brachliegens so vieler Arbeitskraft, wegen der Not und des Mangels, der damit für die Arbeitslosen verknüpft ist, wie die Massen der unverkäuflichen Waren oder die "Krisen" uns bedeutsam sind wegen der Verschwendung von Arbeitskraft und Arbeitsmaterial, nicht aber wegen des negativen Moments, daß Kaufverträge und Arbeitsverträge  nicht  abgeschlossen werden. Welche Bedeutung die genannten Erscheinungen für den volkswirtschaftlichen Ernährungsprozeß haben, steht in Frage, nicht ein Defizit von Rechtsabmachungen.

Ähnliches läßt sich von der 2. Gruppe von negativen sozialen Phänomenen sagen, den Wirtschaftsakten, die  contra legem  [gegen die offizielle Rechtsprechung - wp] vollzogen werden. Daß im wirtschaftlichen Leben viel Unrechtmäßiges vorkommt, ist eine Tatsache, die der Nationalökonom hinnimmt, deren weitere Verfolgung er den Juristen und speziell den Kriminalisten überläßt, die er aber nicht zur Systematik der ökonomischen Phänomene brauchen kann: Waren, die durch Schmuggel ins Land gebracht werden, vermehren ebenso das Warenangebot und drücken ebenso auf die Preise, wie die Waren, die rechtmäßig eingeführt sind; die Prostitution als soziales Phänomen wird im Zusammenhang mit den niedrigen Löhnen der Arbeiterinnen, dem Zug nach den Großstädten, der schwierigen Erwerbsmöglichkeit der Frauen und der erschwerten Heiratsmöglichkeit und anderen wirtschaftlichen Faktoren betrachtet: das juristische Moment, daß hier Verträge abgeschlossen werden, die rechtlich null und nichtig sind, tritt für den Nationalökonomen völlig in den Hintergrund; als soziales Phänomen wäre es genau dasselbe, wenn die Verträge rechtlich gültig wären. -

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich schon, daß ich nicht deshalb gegen STAMMLERs Auffassung der ökonomischen Phänomene polemisiere, weil ich bei der Betrachtung der letzteren von der Rechtsordnung abstrahieren will - nur sollen die juristischen Gesichtspunkte nicht ungebührlich in den Vordergrund treten zu Ungunsten der hier wesentlichen wirtschaftlichen Gesichtspunkte. - Auch in anderer Hinsicht möchte ich Bedenken gegen die STAMMLERsche Definition der ökonomischen Phänomene äußern. Für STAMMLER ist wesentlich zum Begriff eines ökonomischen Phänomens die  Notwendigkeit  und  Unvermeidlichkeit  ihres Eintretens;
    "die Feststellung eines ökonomischen Phänomens führt den Gedanken einer Notwendigkeit mit sich; den Gedanken, daß unter dieser betreffenden sozialen Regelung bei obwaltenden Umständen es sicher so kommen mußte, wie es geschehen ist." -
Allerdings will STAMMLER diese Notwendigkeit in keiner Weise im Sinne einer exakten Kausalität gemeint wissen; wohl versteht er aber unter  Notwendigkeit,  daß aufgrund  gehäufter  Beobachtungen man zu dem Schluß berechtigt ist, daß auch eine gleichmäßig wirkende Ursache vorhanden ist - und da das Recht in letzter Linie für die Gestaltung des Wirtschaftslebens die Verantwortung trägt, so folgert STAMMLER daraus, daß die ökonomischen Phänomene als die  notwendige  Folge einer bestimmten Rechtsordnung aufgefaßt werden müßten. -

Sollen tatsächlich die ökonomischen Phänomene in dieser Weise als unabweisbare und unveränderliche Konsequenzen einer bestimmten Rechtsordnung betrachtet werden, so muß daraus folgen, daß der Kreis der ökonomischen Phänomene nur ein äußerst geringer sein kann und daß eine Menge gerade der interessantesten und wichtigsten volkswirtschaftlichen Erscheinungen außer Betracht bleiben müßte. Die Notwendigkeit gewisser wirtschaftlicher Erscheinungen ist in gewissen Fällen klar gegeben aufgrund bestimmter rechtlicher Normen, z. B.: Geld ist eine notwendige Erscheinung für eine auf Privateigentum, Arbeitsteilung und Tauschverkehr basierte Wirtschaftsordnung; der Arbeitslohn ist ein notwendiges ökonomisches Phänomen unter der Herrschaft des freien Lohnvertrages - aber nicht notwendig ist eine bestimmte  Höhe des Geldwertes,  der häufig ganz zufälligen Schwankungen unterliegt, nicht unvermeidlich eine gewisse  Höhe des Arbeitslohnes,  wo ebenfalls viele unberechenbare Momente mitspielen; Überproduktion, Krisen und Arbeitslosigkeit sind kaum vermeidbar bei der planlosen Produktionsweise, wie sie sich unter dem Privateigentum und dem System der freien Konkurrenz herausgestaltet: aber in  welchem Maß  und  in welchem Umfang  diese Erscheinungen auftreten, ist wieder gar nicht notwendig bestimmt. Je nach dem Grad der Vorsicht bzw. der Spekulationssucht im gewerblichen Leben können die genannten Erscheinungen sehr verschieden sein: auf dieses quantitative Moment kommt es aber gerade für die nationalökonomische Betrachtung an. Danach bemißt sich, ob die Krise z. B. aufgefaßt werden kann als eine heilsame Strafe für einzelne waghalsige Spekulanten, oder ob sie eine das ganze Erwerbsleben tief erschütternde Katastrophe bedeutet; nur nach Prüfung des einzelnen Falles läßt sich entscheiden, ob hier eine "notwendige" Folge eines bestimmten Rechtssystems, oder vereinzelte Auswüchse und Ausschreitungen vorliegen. Nur in vereinzelten Fällen läßt sich von "Notwendigkeit" und "Unvermeidlichkeit" sprechen. -

Diese Betrachtungen ergeben auch eine von der STAMMLERschen Ansicht abweichende Auffassung der Frage der  Abänderung der sozialen Ordnung. 

- Nach STAMMLERs Meinung gibt es, wenn sich gewisse ökonomische Phänomene als soziale Übelstände herausstellen, nur  einen  Weg zur Abänderung, nämlich die Schaffung einer neuen rechtlichen Regelung; denn wenn ökonomische Phänomene die  notwendigen  Folgen bestimmter Rechtsregeln sind, so folgt daraus, daß sie nur mit einer Beseitigung der dafür in letzter Linie verantwortlichen Instanz verschwinden können; wer den Zins beseitigen will, muß das private Kapitaleigentum aufheben, wer das Geld als sozialen Übelstand betrachtet, muß den Tauschverkehr verbieten etc. STAMMLER kennt aber noch eine zweite Kategorie von ökonomischen Erscheinungen; das sind die unerwünschten und schlechten sozialen Erscheinungen, die auch  ohne  Eingreifen der Gesetzgebung, ohne eine rechtliche Abänderung beseitigt werden können; in Bezug auf diese sagt er (Seite 314):
    "Es ergibt sich daraus, daß bei unerwünschten und schlechten sozialen Erscheinungen selbstverständlich das Augenmerk eines jeden praktisch Eingreifenden in erster Linie darauf gerichtet werden muß, ob man unter derselben sozialen Ordnung und mit Beibehaltung ihrer jener Einzelausführung nicht ledig werden kann. Belehrung und tatkräftige Hilfe der Rechtsgenossen haben hier einzusetzen und den üblen Erscheinungen eines sozialen Lebens gegenüber möglichst abändernd und ausmerzende gegenüberzutreten. Kleidet man  diesen  Gedanken in den häufig gehörten Wunsch, daß bei sozialen Übelständen  nicht gleich  nach dem Eingriff der Gesetzgebung gerufen werden soll, so ist gegen eine solche Formel nichts allgemeines einzuwenden." -
Wie die Erklärung der ökonomischen Phänomene als "notwendiger" Erscheinungen, so kann ich auch die Unterscheidung von "notwendigen Phänomenen" und "üblen Einzelerscheinungen" nicht für glücklich halten. Denn wo soll da die Grenze verlaufen? Woran erkenne ich, ob eine bestimmte Erscheinung unvermeidlich ist und wo nur eine fatale und unerwünschte Einzelausführung? Für einzelne wirtschaftliche Erscheinungen läßt sich der Kausalzusammenhang leicht ersehen: bei der  großen Menge  derselben wird es sehr schwer sein, hier irgendeine sichere Entscheidung zu treffen. Wenn es z. B. in Handwerkerkreisen als ein schwerer Mißstand angesehen wird, daß die schlechte Gewohnheit langer Borgfristen immer mehr zunimmt, so ist schwer zu sagen, ob sie durch gesetzgeberische Eingriffe (etwa durch eine gesetzliche Erschwerung des Borgsystems) oder durch eine Aufklärung des Publikums, damit dieses sich allmählich an eine bessere Zahlungsweise gewöhnt, geholfen werden kann. Bei den Enquête-Verhandlungen über die Börsenreform wurde mehrfach - ob mit Recht oder Unrecht, sei hier dahingestellt - behaupte, daß gewisse Mißstände an der Börse weit besser als durch gesetzliche Zwangsmaßregeln durch das eigene und freiwillige Vorgehen der Börsenbesucher allmählich beseitigt werden könnten; beim letzten Streik der Konfektionsarbeiterinnen in Berlin wurde vielfach die Ansicht vertreten, daß das beste Mittel gegen die Hungerlöhne, die hier vielfach gezahlt werden, der Druck der öffentlichen Meinung ist, die sich mit immer größerer Einhelligkeit auf die Seite dieser Arbeiterinnen stellen muß und dadurch ihre Macht im Lohnkampf erheblich verstärken kann. - Ein sicheres Kriterium, wo nur durch gesetzliches Eingreifen ein Phänomen zu beseitigen ist, fehlt in den meisten Fällen.

Leicht mißverständlich ist STAMMLERs Ausdruck "Massenerscheinungen"; wäre z. B. das Petroleum-Weltmonopol zustande gekommen, so hätten wir eine in ihrer Art einzig dastehende Erscheinung gehabt und doch ein wichtiges soziales Phänomen. Anstelle der STAMMLERschen Definition: Ein ökonomisches Phänomen ist eine gleichheitliche Massenerscheinung von Rechtsverhältnissen, würde ich ökonomisches Phänomen jede Erscheinung bezeichnen, die für die faktische Ausgestaltung des wirtschaftlichen Lebens von Bedeutung ist; ob diese Erscheinung "notwendig" ist oder nicht, muß immer erst im einzelnen Fall geprüft werden, und wird sich häufig überhaupt nicht mit Sicherheit entscheiden lassen, so wenig wie die Frage, ob sie durch ein gesetzgeberisches Eingreifen oder ohne ein solches unter Beibehaltung der bisherigen rehtlichen Regeln zu vermeiden ist.


4. Soziale Teleologie. Kritik der
materialistischen Geschichtsauffassung.

Mit seiner Darlegung der ökonomischen Phänomene, mit der Feststellung des kausalen Werdeganges von sozialem Wollen und Streben hält STAMMLER seine Aufgabe, die oberste Einheit zu finden, unter der das gesellschaftliche Leben der Menschen begriffen werden könnte, noch nicht für gelöst. Er wendet sich jetzt zu der Frage, welche  Art von Gesetzmäßigkeit  für das soziale Leben angenommen werden soll und beantwortet dies folgendermaßen: Das soziale Leben hat es mit menschlichen Handlungen zu tun; das Kausalitätsgesetz ist aber nicht die einzige Art einer gesetzmäßigen Erfassung des menschlichen Handelns. Vielmehr können vorzunehmende Handlungen, die von mir ausgehen, auf zweierlei Art vorgestellt werden: entweder als kausal bewirktes Geschehnis in der äußeren Natur oder als  von mir zu bewirkendes.  Bei der zweiten Möglichkeit fehlt die Wissenschaft von der Notwendigkeit gerade dieser Handlung, dieselbe ist in der Erfahrung möglich, aber an und für sich nicht notwendig; wenn sie wirklich werden soll, muß ich sie  bewirken.  Sobald man sich eine vorzunehmende Handlung als eine von den Handelnden zu  bewirkende  vorstellt, liegt eine  Zwecksetzung  vor. Nach diesem Kriterium ist die Kausalitätserkenntnis und teleologisches Vorstellen durchaus geschieden: es sind zwei ganz getrennte Arten, sich kommendes Tun vorzustellen. STAMMLER untersucht weiter, wie es mit der Gesetzmäßigkeit dieser zweiten Klasse von Vorstellungen, des Wollens, beschaffen ist und wie diese sich zu Gesetz und Einheit zusammenschließt. Eine  berechtigte  Zwecksetzung und eine  gerechtfertigte  Wahl ist eine solche, die in ihren besonderen Fällen einem allgemeingültigen Gesetz des Telos entspricht; der Begriff eines solchen, von allem empirischen Beiwerk abstrahierenden unbedingten Endziels liegt notwendig im Gedanken eines berechtigten Wollens, das nur an diesem Ziel gemessen werden kann. - Die grundlegende Einheit findet STAMMLER im Gedanken eines Ziels, bei dessen Erreichung der Mensch von keinem subjektiven Sonderzweck und keiner zufälligen Begierde und keinem persönlichen Wunsch geleitet worden ist. Dieses Gesetz ist mithin nur eine  Idee,  der keine Erfahrung jemals zu korrespondieren vermag, die aber einen Ziel- und Leitpunkt für die Verfolgung der menschlichen Einzelzwecke abzugeben hat:  Frei  wollen von aller empirischen Bedingtheit, seine Zwecke so setzen und wählen, daß sie in der Richtlinie des absoluten Endzieles liegen; das ist die Gesetzmäßigkeit des Telos, die wir in unserer Sprache mit  Sollen  bezeichnen. Es ist des weiteren die Frage aufzuwerfen, welche praktische Anwendung dieses Zweckgesetz finden kann, wie dieses mit dem tatsächlichen Handeln in eine bestimmte Verbindung zu bringen ist. Hier ist soviel klar - nach STAMMLER - daß sich die ganze Frage der Zwecksetzung praktisch immer nur aus einer gegebenen empirischen Lage erhebt. Es handelt sich um empirisch gelieferte Möglichkeiten, zwischen denen wählend eine Entscheidung zu treffen ist; es kommt darauf an, die Wahl unter dem richtigen Gesichtspunkt gemäß dem angegebenen Endzweck vorzunehmen; die objektive Geltung der grundlegenden Gesetzmäßigkeit ist von der Frage nach ihrer subjektiven Erwerbung zu trennen und das Grundgesetz der wahren Erkenntnis und des berechtigten Wollens steht in seiner fundamentalen systematischen Bedeutung von der Erwägung jenes Werdeganges völlig unberührt da.

Somit ist STAMMLER jetzt zu dem Punkt seiner Untersuchungen angelangt, daß er das Recht eines richtenden Urteils über menschliches Streben und Handeln für beschlossen erklären kann; der Maßstab des Urteils ist in einem allgemein gültigen Gesetz für berechtigtes Wollen gegeben. Vom Standpunkt dieser seiner sozialphilosophischen Grundlegung aus liefert STAMMLER eine eingehende Kritik eines anderen Versuches, eine grundlegende Einsicht in die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens zu gewinnen, nämlich der  materialistishen Geschichtsauffassung. 

Trotz seiner scharfen, kritischen Stellungnahme gegenüber dieser Theorie erkennt STAMMLER rückhaltlos ihre hohe wissenschaftliche Bedeutung an: ihre wissenschaftliche Tendenz sei löblich, denn ihr Streben ginge auf Gesetz und Einheit im gesellschaftlichen Dasein der Menschen und dadurch stehe sie höher als der Historismus, der nichts als Einzelheiten kennt und das sie einigende Band, den dafür geltenden obersten Gesichtspunkt einer prinzipiellen Auffassung verschmäht. Mit vollem Recht vindiziert [zusprechen - wp] STAMMLER der materialistischen Geschichtsauffassung ihre große Bedeutung für das Verständnis des modernen Sozialismus; er betont treffend, daß alle MARXschen nationalökonomischen Theorien über Wert, Mehrwert, Zins etc., so wichtig sie sein mögen, doch nicht die grundlegende Theorie des Sozialismus abgeben, sondern vielmehr die genannte Geschichtsauffassung, mit der sich jeder auseinandersetzen muß, der eine fundamentale Kritik des MARXschen Systems liefern will: erst auf dem Grund dieser Geschichtsphilosophie erhält die Wert- und Mehrwertlehre ihre richtige Fassung - losgelöst von ihr kann keine einzige MARXsche ökonomische Theorie richtig verstanden werden. Bei der Wichtigkeit dieser geschichtsphilosophischen Auffassung zum Verständnis der modernen sozialistischen Theorie ist es sehr verdienstvoll, daß hier eine ausführliche, klare Darstellung und eine ebenso gründliche Kritik derselben geboten wird: die bisher erschienenen kritischen Auseinandersetzungen mit MARX' Sozialphilosophie waren meist gegen Einzeldaten gerichtet: es wurde versucht, aus der Geschichte nachzuweisen, daß andere Faktoren, als wirtschaftliche, auf den Verlauf des gesamten sozialen Lebens von ausschlaggebendem Einfluß waren. Die STAMMLERsche Kritik geht auf die  systematische  Grundlage der MARXschen Geschichtstheorie ein, die er einer Kritik unterzieht. - Auch darin hat STAMMLER durchaus Recht, daß er der MARXschen materialistischen Geschichtsauffassung unbedingt das Recht der Originalität zuschreibt - und damit die Versuche abweist, die Priorität in dieser Hinsicht anderen Forschern zuzuerkennen. Man hat auf LOUIS BLANC, LAVERGNE, PROUDHON, Le CHEVALIER, SAINT-SIMON u. a. m. hingewiesen, die alle die eigentlichen Begründer der materialistischen Geschichtstheorie sein sollen. Mit Unrecht. Allerdings alle die genannten Autoren betonen die große Bedeutung der wirtschaftlichen Verhältnisse für das gesamte Kulturleben; sie alle heben hervor, daß die politische Entwicklung sich im wesentlichen parallel der Entwicklung der wirtschaftlichen Zustände vollziehen muß; aber mit einer solchen Hervorhebung der Wichtigkeit der ökonomischen Verhältnisse ist noch lange nicht die materialistische Geschichtsauffassung gegeben. Dies ist erst dann der Fall, wenn die wirtschaftlichen Bedingungen als die schlechthin entscheidenden für die gesamte soziale Entwicklung dargestellt werden. Der materialistische Gedankengang, der bei MARX hervortritt, ist deswegen bei den erwähnten Autoren nicht vorhanden, da sie alle irgendein "Ideal" haben, aus dem sie ihre wirtschaftliche Anschauung begründen - für MARX ist gerade charakteristisch, daß er jede derartige Begründung auf ein Ideal abweist, vielmehr die menschlichen Ideale wieder als von wirtschaftlichen Zuständen bedingt auffaßt. Den erwähnten Schriftstellern ist ferner eigentümlich, daß sie alle eine  gesellschaftliche Reform  anstreben, daß sie alle ein soziales "Heilmittel" bereit haben, womit sie die sozialen "Übel" beseitigen wollen, wie z. B. LOUIS BLANC seine Arbeiter-Assoziation mit Staatskredit, PROUDHON seine Tauschbank. Auch dies ist so unmarxistisch wie möglich, da MARX vielmehr einen naturgesetzlichen Entwicklungsgang der menschlichen Gesellschaft annimmt. Was hier im allgemeinen zugunsten der Originalität der MARXschen Geschichtsphilosophie gesagt wird, sei noch spezieller gegenüber SAINT-SIMON nachgewiesen, der neuerdings wieder als der eigentliche Entdecker dieser Theorie hingestellt worden ist (18).

Nachdem BARTH eine für die materialistische Grundauffassung SAINT-SIMONs allerdings sehr entscheidende Stelle zitiert hat (Seite 17):
    "Wir legen viel Wert auf die Form der Regierung ... Das Gesetz, das die Befugnisse und die Form der Regierung darstellt ist nicht so wichtig und hat nicht so viel Einfluß auf das Glück der Völker, wie das, welches aus dem regelmäßigen Gebrauch der Güter durch das Volk entsteht. Die parlamentarische Form der Regierung ist eine Form, deren Hintergrund das Eigentum ist. Das Eigentum ist die Verfassung, die das eigentlich grundlegende soziale Gebäude darstellt,"
zeigt er selbst kurz darauf die Kehrseite: "die Ideen als treibende Mächte der Entwicklung": Neben dieser Geschichte freilich (d. h. der Klassenbildung und der Klassengegensätze) geht bei ihm eine Geschichte der Ideen einher, die auf für die politische Wandlung bestimmend sind." (Seite 19) - und an späterer Stelle (Seite 104):
    "Doch ist bei  Saint-Simon  die Geschichte der durch wirtschaftliches Begehren und durch Technik sich ändernden Klassenverhältnisse nicht die ganze Geschichte. Wir sahen oben, wie er auch eine Geschichte der Ideen kennt, die  nicht minder  als die Wirtschaft für die politische Wandlung bestimmend sind."
PAUL BARTH überschätzt bedeutend den Einfluß, den SAINT-SIMON und LOUIS BLANC auf MARX gehabt haben, wenn er schreibt:
    "Dieser neuen naturalistischen Richtung kam fördernd entgegen, was  Marx  bei  Saint-Simon  und  Louis Blanc  fand, daß die ganze Geschichte nicht nur von den Ideen, sondern bei dem einen  neben  ihnen von wirtschaftlichen Tendenzen, bei den andern  fast  nur von solchen beherrscht wird." -
Einmal behauptet BARTH geradezu, daß der theoretische Teil des Marxismus von SAINT-SIMON herrührt; in dem Kapitel, wo er den Ursprung und Inhalt der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung (des Marxismus) behandelt, sagt er (Seite 303):
    "Der theoretische, rückwärts blickende Teil des sozialdemokratischen Programms rührt her von  Saint-Simon ... Er ist bei  Saint-Simon  in den Grundzügen, zum Teil auch in Einzelheiten fertig, wenn er auch nicht die ganze geschichtliche Ansicht  Saint-Simons  ausmacht." -
Dies ist nicht haltbar: vielmehr sind die tiefgehendsten Gegensätze zu konstatieren zwischen dem idealistischen Staatssozialisten SAINT-SIMON und dem wahren Schöpfer der materialistischen Geschichtsauffassung: KARL MARX. -

STAMMLER nennt den modernen deutschen Sozialismus die bedeutsamste Einzelerscheinung der materialistischen Geschichtsauffassung und erwähnt bei dieser Gelegenheit, daß es nicht möglich ist, einen  einheitlichen Begriff des Sozialismus  aufzustellen:
    "Es ist eine unlösbare Aufgabe, zu denjenigen sozialen Richtungen, welche sich im Laufe dieses Jahrhunderts den Beinamen von  sozialistischen  in allgemein üblicher Sprechweise errungen haben, einen einheitlichen sachlichen Begriff zu finden." -
Ich glaube, daß dies wohl möglich ist. Die großen Schwierigkeiten, die einer derartigen Definition entgegenstehen, sollen nicht geleugnet werden; DIETZEL hat ausführlich dargelegt (19) in wie unendlich verschiedenartiger Weise der Versuch dieser Begriffsbestimmung gemacht worden ist. Und doch verlangt die wissenschaftliche Terminologie gebieterisch eine deutliche Erklärung dieses so viel gebrauchten Wortes. Die philosophischen Grundanschauungen der einzelnen sozialistischen Autoren sind allerdings viel zu weit auseinandergehende, als daß sie in die Definition einbezogen werden könnten; auch geht es nicht an, ein zu eng begrenztes praktisches Ziel als das wesentliche hinzustellen z. B.: "Verstaatlichung der Produktionsmittel" oder "Gütergemeinschaft" etc. - aber wohl scheint mir eine Einigung dahin möglich, daß man unter Sozialismus alle diejenigen sozialen Richtungen zusammenfaßt, die eine dem Privateigentum gegnerische Tendenz haben; darunter ist natürlich nicht jede Richtung zu begreifen, die etwa auf  einzelnen  Gebieten des wirtschaftlichen Lebens das Privateigentum beseitigen wissen will, z. B. für die Eisenbahnen, Forsten, Versicherungs- und Bankgeschäfte etc. - sondern es handelt sich um eine  prinzipiell  dem Privateigentum feindliche Tendenz, so daß  in praxi  mindestens eine Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in Frage käme. - STAMMLER meint zwar, die Negation des Privateigentums könne deswegen nicht das Kriterium sein, weil PROUDHON, der doch unzweifelhaft den Sozialisten zuzurechnen ist, am Privateigentum festgehalten hat. Es ist jedoch zu beachten,  in welcher Weise  PROUDHON das Privateigentum konservieren will; nämlich nur unter der Bedingung der Beseitigung von Geld und Zins. Also ein Privateigentum von zinstragendem Kapital soll es nicht mehr geben. - Wie das Geld aber eine notwendige Bedingung für jeden entwickelten Tauschverkehr, so ist auch das Privateigentum an Kapital undenkbar ohne privaten Zinsbezug seitens der Inhaber des Kapitals; es lag hier also ein nationalökonomischer Irrtum PROUDHONs vor. Seine prinzipielle Verwerfung von Geld und Zins hätte in logischer Folge auch zur Negation des Privateigentums an den Produktionsmitteln führen müssen - trotz dieses Widerspruchs und trotz seines formalen Festhaltens am Eigentum kann PROUDHON unbedenklich unter unsere oben festgestellte Kategorie gebracht werden.

Nach dieser Abschweifung kehren wir wieder zu STAMMLERs Kritik zurück. STAMMLER tritt in einen schroffen Gegensatz zum Grundgedanken des sozialen Materialismus; dieser stellt als Endzweck aller Rechtsordnung bekanntlich das Ziel möglichster Förderung der gesellschaftlichen Produktion auf. Nach dieser Theorie ist ein sozialer Konflikt ein Gegensatz zwischen neuer Sozialwirtschaft und alter Rechtsordnung; diese wird bestimmt und gerichtet nach dem obersten Zweck des Rechts, also gemäß der marxistischen Theorie nach dem Umstand, ob das Recht die gesellschaftliche Produktion hemmt, anstatt sie zu fördern. In welchem Sinn und mit welcher Notwendigkeit kann die Lösung eines solchen inneren Widerspruchs gesetzmäßig gefordert werden? Darauf antwortet die materialistische Geschichtsauffassung, daß die Lösung eines sozialen Konflikts  naturnotwendig  ist, so daß sich das bei geänderter Sozialwirtschaft seinem Endzweck untreu gewordene Recht nach unvermeidlich zwingender Kausalität ändern und mit seinem obersten Ziel wieder in Übereinstimmung gebracht wird. STAMMLER gibt eine ganz abweichende teleologische Lösung: das Nachgeben des geltenden Rechts, das bei gewandelter gesellschaftlicher Wirtschaft mit seinem obersten Zweck nicht mehr im Einklang steht, dürfe nur als ein  Sollen  aufgefaßt werden -; es sei nach einer teleologischen Gesetzmäßigkeit umzuändern, ohne daß jedoch der Erfolg als ein unvermeidlich sicherer vorhergesagt werden kann. - STAMMLER macht der materialistischen Geschichtsauffassung zum Vorwurf, daß sie  unfertig  und  unausgedacht  ist. Das Verhältnis der gesellschaftlichen Ordnung zur sozialen Ordnung sei nicht klar gekennzeichnet, unter  Produktionsweise  wird bald die natürliche Technik, bald ein bestimmt geregeltes Zusammenwirken verstanden. Ebenso undeutlich bleibt - nach STAMMLER - die Art der Notwendigkeit, der zufolge eine soziale Wirtschaft abgeändert werden muß; es genüge nicht, auf den naturgesetzlichen Gang in der Entwicklung der gesellschaftlichen Erscheinung hinzuweisen, sondern es muß die soziale Bewegung richtig bestimmt werden. STAMMLER weist auch mit Recht auf die  Inkonsequenz  ihrer Anschauung hin, indem die Vertreter dieser Lehre trotz ihrer materialistischen Grundanschauung doch gelegentlich teleologische Gesichtspunkte in die Erörterung einbeziehen. Sie lehrten zwar, daß die Ideen der Menschen, insbesondere ihre Vorstellung darüber, was sozial sein sollte, nur Spiegelbilder von ökonomischen Phänomenen sind, gleichzeitig aber redeten sie von  Zielen,  hatten sie  Bestrebungen, agitierten  sie für die und die  Zwecke;  wenn aber der naturgesetzliche Gang der ökonomischen Entwicklung durch Menschen nach ihren Zielen gelenkt und geleitet werden soll, so ist damit der Gedanke des Telos neben dem der Kausalität wieder aufgenommen. Das oberste Ziel des sozialen Lebens ist falsch angegeben, wenn es in der möglichsten  Hebung und Förderung der Produktion  aufgezeigt wird - denn auch eine rechtliche Ordnung, durch die quantitativ und qualitativ die größte Steigerung der Produktion erzielt wird, könnte ein elendes Recht sein; überhaupt kann kein einzelnes technisches Ziel als oberstes soziales Prinzip betrachtet werden; eine innere Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Daseins der Menschen kann nur ein einheitlicher Gesichtspunkt für allen denkbaren Inhalt sozialer Einzelziele sein. - Die Einwände, die SOMBART neuerdings gegen diese Auffassung geltend macht (20) kann ich nicht für stichhaltig erklären; er meinte, die Sozialpolitik habe ihr eigenes Ideal und zwar sei dieses notwendig ein "Produktionsideal"; zwar will er nicht sein Ideal der "Produktivität" verwechselt wissen mit dem Ideal "größtmöglicher Produktion" der alten Schule - sondern er will die "Verteilungspolitik" einbeschlossen wissen. Er hält für das "erstrebenswerte Ziel eine solche Organisation des Wirtschaftslebens, bei welcher die höchste Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit herauskommt, also die  Möglichkeit für die Gesellschaft  geschaffen wird, wenig zu arbeiten oder viel zu produzieren" (21). Dies kann aber niemals das Ideal der Sozialpolitik abgeben: auch eine Wirtschaftsordnung, die den größten Produktionserfolg für die Gesellschaft garantiert, kann sehr schlecht sein, wenn z. B. unter ihr die persönliche Stellung gewisser Klassen, z. B. der Arbeiter, eine sehr gedrückte ist (z. B. im Hinblick auf das Koalitionsrecht) - und vor allem: SOMBART sagt selbst, die  Verteilung  sei einbeschlossen: eine bestimmte Verteilungspolitik ist aber doch nicht notwendig mit einer bestimmten Produktionspolitik verknüpft; in der produzierenden "Gesellschaft" gibt es alle möglichen Klassen und Interessen; nach welchem  Maßstab  soll hier die  Verteilung  geschehen? Um diesen Maßstab zu bestimmen, muß doch irgendein Ideal sozialer Gerechtigkeit aufgestellt werden, das unmöglich aus der Produktionssphäre entnommen werden kann. -


5. Sozialer Idealismus

Die  Gemeinschaft frei wollender Menschen - das ist nach STAMMLER das unbedingte Endziel des sozialen Lebens. Es ist die Idee einer Menschengemeinschaft, in der ein jeder die objektiv berechtigten Zweck des andern zu den seinigen macht; eine Regelung des vereinten Daseins und Zusammenwirkens, der  jeder  Rechtsunterworfene zustimmen muß, sobald er sich frei von bloß subjektivem Begehren entscheidet. Diese Idee ist das regulative Prinzip, das ein gefestigtes Urteil über die objektive Berechtigung einer sozialen Regelung oder Bestrebung möglich macht; und das zugleich dem Gesetzgeber die  gesetzmäßige Richtung  seines Vorgehens im wilden Getriebe des Einzelbegehrens aufhellend zu zeigen imstande ist. -

Wie zum sozialen  Materialismus  tritt diese idealistische Richtung im Gegensatz zum sozialen  Eudämonismus,  den STAMMLER durchaus verwirft, weil die objektive Berechtigung einer Zwecksetzung von der Bestimmung nach einer  rein persönlichen  Lustempfindung frei sein muß.

Mit dem von STAMMLER aufgestellten Ideal einer Gemeinschaft frei wollender Menschen soll nicht etwa die Zustimmung zu irgendeiner Doktrin des politischen  Liberalismus  gegeben werden, so daß diese Gemeinschaft etwa gleichbedeutend wäre mit einem demokratisch regierten Staatswesen. Dies steht hier gar nicht in Frage. Die politische "Gleichheit" ist nicht gemeint; sie ist selbst wieder nur eine eigene Art im Inhalt einer empirisch bedingten Rechtsordnung; ob sie gut oder schlecht ist, kann erst wieder an einem obersten Ziel gemessen werden, dem sie selbst zu dienen hat. - Die rechten Mittel zur Besserung der sozialen Lage sind demnach Vorschläge einer solchen Regelung des gesellschaftlichen Lebens, daß dessen unvermeidliche konkrete Ausführung unter den gegebenen empirischen Bedingungen, unter denen diese Menschen leben, mit der Idee einer Gemeinschaft frei wollender Menschen im Einklang bleibt. - Darum erklärt auch STAMMLER das Axiom des modernen Sozialismus von der  Kollektivierung der Produktionsmittel  für wissenschaftlich nicht begründet. Denn daß die Entwicklung des sozialen Lebens naturnotwendig zu diesem Ziel führen muß, ist schon methodologisch falsch; also muß erst der Beweis erbracht werden, daß wirklich nur die Kollektivierung der Produktionsmittel unter unseren empirischen Verhältnissen das rechte Mittel wäre, um der Idee einer Gemeinschaft frei wollender Menschen gerecht zu werden. STAMMLER läßt es eine vollkommen offene Frage sein, ob es einmal im Laufe der Menschengeschichte dahin kommen könnte, daß ein derartiges Mittel zu empfehlen ist; für die Gegenwart ist der Nachweis nicht einmal versucht, geschweige denn erbracht worden. Da STAMMLERs soziales Ideal, ein reines  Formalprinzip  ist, können sich die verschiedenartigsten konkreten Wirtschaftsprogramme damit vertragen. Man kann von diesem Standpunkt aus für eine freiheitliche, wie für eine autoritative Wirtschaftspolitik eintreten, für Freihandel wie für Schutzzoll, für Gewerbefreiheit wie für Zwangsinnungen; nur auf die  Gesinnung  kommt es an, in der solche Vorschläge gemacht werden; die betreffenden Maßregeln müssen deswegen gefordert werden, weil ihre Durchführung dem Gedanken des sozialen Ideals entsprechen. - Nur durch Mißbrauch oder Mißverständnis könnte der "soziale Idealismus" zur Empfehlung einer reaktionären Wirtschaftspolitik verwandt werden; vielmehr verträgt sich dieser Standpunkt sehr wohl mit einer dem technischen Produktionsfortschritt sich anpassenden Wirtschaftspolitik. Ich erwähne dies ausdrücklich, weil SOMBART im zitierten Aufsatz der "ethischen" Nationalökonomie vorwirft, sie sei "ihrer Natur nach wirtschaftlich stets reaktionär" (22). Da STAMMLER von diesem Autor zur "ethischen" Nationalökonomie gerechnet wird, so dürfte ihm vielleicht derselbe Vorwurf gemacht werden; - ich halte ihn sowohl STAMMLER, als der "ethischen" Nationalökonomie gegenüber für unbegründet; in beiden Fällen kann es sich nur um die falsche Anwendung eines Prinzips, nicht um die logische Folge dieses Prinzips handeln. -

Man könnte vielleich behaupten wollen, daß STAMMLERs soziales Ideal nur eine neue Formulierung der Grundgedanken des  christlichen Sozialismus  wäre; jedoch mit Unrecht. - Denn was gerade die Eigenart der letzteren Richtung ausmacht, ist die Ableitung ihrer sozialen Postulate aus gewissen religiösen Sätzen - während STAMMLER in einer rein logischen Deduktion seine sozialwissenschaftlichen Grundsätze entwickelt. -

Ebenso ist STAMMLER bereits wiederholt dem  Kathedersozialismus  zugerechnet worden und SOMBART sagt geradezu (23):
    "Der jüngste ethische Nationalökonom von Relevanz ist Stammler, der merkwürdigerweise seine Deszendenz [Abhängigkeit - wp] vom Kathedersozialismus gar nicht zu kennen scheint, da er die von ihm verteidigte (ethisch-teleologische) Betrachtungsweise sozialen Geschehens, die in der offiziellen Nationalökonomie durchaus vorherrscht, für neu hält." -
Was ist aber Kathedersozialismus? Mit diesem Schlagwort werden alle nationalökonomischen Richtungen bezeichnet, die in Bezug auf Wirtschaftspolitik gegen das Manchestertum Front machen; im Hinblick auf Wirtschaftstheorie und Sozialphilosophie sind die allergrößten Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten innerhalb dieser Richtung vertreten. Man könnte höchstens sagen, daß sie alle für eine "gerechte" Ordnung der Volkswirtschaft eintreten. Wie vage und unbestimmt ist dies aber und in wie unendlich verschiedener Weise ist schon die "soziale Gerechtigkeit" begründet und verstanden worden. - Was aber gerade STAMMLERs Vorgehen kennzeichnet ist, daß er  nicht  wie der Kathedersozialismus für eine bestimmte Wirtschaftspolitik plädiert, sondern eine neue in sicherer Deduktion erlangte oberste Gesetzmäßigkeit für alles soziale Leben hat finden wollen. Mag sein, daß diesem oder jenem Vertreter des sogenannten Kathedersozialismus etwas ähnliches vorgeschwebt hat, ausgeführt hatte den Gedanken bisher noch keiner.

An manchem Einzelpunkt von STAMMLERs Werk habe ich meinen Dissens anmelden müssen; nicht der Lust zu kritisieren, sondern der lebhaften Anregung, welche das Studium des geistvollen Werkes mir geboten hat, sind die mannigfachen Widersprüche geschuldet. Umsomehr freue ich mich, meine volle Übereinstimmung zur Grundstimmung und Grundtendenz des Werkes, wie sie namentlich im Schlußabschnitt klar hervortritt, bekennen zu dürfen. - Möchte STAMMLERs Werk vor allem dem Zweck dienen, eine immer innigere Beziehung zwischen Rechtswissenschaft und Nationalökonomie fördern zu helfen, damit ein  intensiveres  Studium auf beiden Seiten erfolgen kann.  Intensiver  in dem Sinne, wie es DIETZEL jüngst in diesen Jahrbüchern formuliert hat (24):
    "Daß der Stoff, der heute meist nur aus dem Gesichtspunkt,  wie  ist das Gesetz, studiert wird, künftig auch aus dem Gesichtspunkt,  weshalb  ist es Gesetz, studiert wird - daß die juristische durch die staatswissenschaftliche, vor allem durch die politisch-ökonomische Behandlungsweise ergänzt wird." -
Jedem aber, dem die Wahrheit in den fundamentalen Fragen der Sozialwissenschaft am Herzen liegt, wird das Studium von STAMMLERs Werk die reichste Anregung und Belehrung bieten.
LITERATUR Karl Diehl, Wirtschaft und Recht, Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, III. Folge, Bd. 14, Jena 1897
    Anmerkungen
    17) THEODOR von BERNARDI, Versuch Kritik der Gründe, die für großes und kleines Grundeigentum angeführt werden, St. Petersburg 1849, Seite 511
    18) PAUL BARTH, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, Leipzig 1897.
    19) HEINRICH DIETZEL, Karl Rodbertus, Bd. II, Jena 1888, Seite 7f
    20) WERNER SOMBART, Ideale der Sozialpolitik, Brauns Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, 1897, Seite 44f.
    21) SOMBART, a. a. O., Seite 47
    22) SOMBART, a. a. O., Seite 33
    23) SOMBART, a. a. O., Seite 16
    24) DIETZEL, Stud. jur. et cam., Bd. 14, Heft 5, Seite 606