ra-2HegelLujo BrentanoA. DöringDas Bedürfnis    
 
FRANZ CUHEL
(1862-1914)
Zur Lehre von
den Bedürfnissen

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"Es ist befremdend, daß es, obwohl der Bedürfnisbegriff von einigen Volkswirtschaftslehrern für den ersten Grundbegriff der Volkswirtschaftslehre erklärt wurde und trotz der wichtigen Rolle, welche die Bedürnisse in der Lehre vom Grenznutzen spielen, an einer systematischen Bearbeitung der Lehre von den Bedürfnissen bisher gemangelt hat."

"Niemand, der Anspruch auf den Namen eines Forschers macht, wird glauben, dadurch, daß er die geltenden Sprachbegriffe untersucht, auch nur das Geringste zur besseren Erkenntnis der Dinge beitragen zu können, niemand wird glauben, eine Tatsache, welche durch unmittelbare Beobachtung erwiesen ist, deshalb bezweifeln zu müssen, weil er bemerkt, daß sie sich im Widerspruch mit dem Sinn befindet, in welchem die Menschen den Namen jener Tatsache auszusagen pflegen. Das ist es, was den Ruhm der modernen Naturwissenschaft ausmacht und ihren Fortschritt sichert; hierdurch ist sie eine empirische Wissenschaft."


Vorrede

Vorliegende Schrift erhebt, wie schon der Titel andeutet, keineswegs den Anspruch darauf, als eine erschöpfende Darstellung der ganzen Lehre von den Bedürfnissen angesehen zu werden. Da sie als Einleitung zu einer systematischen Darstellung der abstrakten Ökonomie gedacht ist, unter welcher ich jene allgemeine Wirtschaftswissenschaft verstehe, welche die Grundwissenschaft für alle ökonomischen, sowohl die national- oder sozialökonomischen als auch die privatwirtschaftlichen Erscheinungen behandelnden Disziplinen bildet, so haben darin nur jene Partien der Lehre von den Bedürfnissen Berücksichtigung gefunden, welche für diese abstrakte Wissenschaft von Wichtigkeit sind. Nach dem ursprünglichen Plan sollte sie noch ein neuntes Kapitel, welches von den Bedürfnisbeständen zu handeln hatte, enthalten; nach reiflicher Überlegung bin ich aber schließlich zu der Ansicht gekommen, daß es passender ist, mit diesem Kapitel die Lehre von den Wirtschaften beginnen zu lassen.

Trotz dieser Beschränkung dürfte die Lehre von den Bedürfnissen im vorliegenden Buch vielseitiger und vollständiger als in irgendeinem der bisher erschienenen volkswirtschaftlichen Werke behandelt sind. Es ist befremdend, daß es, obwohl der Bedürfnisbegriff von einigen Volkswirtschaftslehrern für den ersten Grundbegriff der Volkswirtschaftslehre erklärt wurde und trotz der wichtigen Rolle, welche die Bedürnisse in der Lehre vom Grenznutzen spielen, an einer systematischen Bearbeitung der Lehre von den Bedürfnissen bisher gemangelt hat. Vorliegende Schrift dürfte sonach innerhalb der oben angegebenen Grenzen der erste Versuch einer solchen Darstellung derselben sein.

Ob durch irgendeinen ihrer Abschnitte die theoretische Erkenntnis der wirtschaftlichen Erscheinungen einigermaßen gefördert wurde, darüber werden berufenere Beurteiler derselben zu entscheiden haben. Nach meiner unmaßgeblichen Ansicht dürfte eine solche Bedeutung dem im zweiten Kapitel gelieferten Nachweis zukommen, daß dasjenige, was in der Wirtschaftswissenschaft bisher mit dem Ausdruck "Bedürfnis" bezeichnet wurde, sich nicht als ein einheitlicher Begriff, sondern als ein Gemengsel von drei einander koordinierten und fünf einander übergeordneten Begriffen darstellt, von welchen eine ganz besondere Beachtung die Begriffe Wohlfahrts-, Verwendungs- und Verfügungsbedürfnis verdienen dürften. Eine hervorragende Wichtigkeit glaube ich ferner der Erkenntnis, daß den Ausgangspunkt der Wirtschaftswissenschaft die Verwendungsbedürfnisse bilden, zuschreiben zu sollen. Im vierten Kapitel glaube ich den Begriff des Kollektivbedürfnisses klarer, als es bisher der Fall war, bestimmt zu haben, wozu insbesondere der von mir aufgestellte Begriff des akzessorischen [gesicherten - wp] Kollektivbedürfnisses beigetragen haben dürfte. Das fünfte Kapitel enthält eine so vollständige Übersicht der Einteilungen der Bedürfnisse, wie sie bisher in keinem volkswirtschaftlichen Werk zu finden war; auch von den hier angeführten Begriffen dürften einige genauer gefaßt oder richtiggestellt worden sein. Im sechsten Kapitel dürfte die Kontroverse über die Kommensurabilität der Bedürfnisse einer endgültigen Erledigung zugeführt worden sein. Aus dem siebenten Kapitel möchte ich insbesondere die Feststellung der Voraussetzungen, unter welchen das erste GOSSENsche Gesetz der Genußabhnahme gültig ist, hervorheben, während im achten Kapitel die bisherigen Ansichten über die sogenannte Diskontierung der künftigen Bedürfnisse in mehreren Richtungen eine Berichtigung erfahren haben dürften.

Der Untertitel bezeichnet die vorliegende Arbeit als Untersuchungen über das Grenzgebiet der Ökonomik und der Psychologie. Denn während das erste Kapitel einen kurzen Exkurs in die reine Psychologie und das letzte Kapitel eine Darstellung der Elementargesetze der Ökonomie enthält, gehören die dazwischen liegenden sechs Kapitel in das Gebiet jener angewandten Psychologie, welche den Übergang von der einen zur anderen der beiden genannten Disziplinen vermittelt. Sie kann zwar nicht zu den Wirtschaftswissenschaften gerechnet werden, bildet aber eine sehr wichtige Hilfswissenschaft für jene abstrakte Ökonomie, die ich oben als die Grundwissenschaft im System der Wirtschaftswissenschaften bezeichnet habe.

Ich bin mir also dessen wohl bewußt, daß die vorliegende Schrift nur mit einem sehr geringen Teil ihres Inhalts in die Ökonomie gehört, glaube aber dennoch, daß mir der Vorwurf, einen Übergriff in ein fremdes Forschungsgebiet begangen zu haben, nicht gemacht werden kann, solange nich Psychologen oder Spezialforscher die vorgenannten Partien der angewandten Psychologie soweit bearbeitet haben werden, daß die Ökonomisten in der Lage sein werden, die zum Aufbau des Lehrgebäudes ihrer Wissenschaft erforderlichen Grundlehren den Ergebnissen jener Forschungen zu entnehmen.

Vertreter der Historischen Schule werden vielleicht geneigt sein, auch den Inhalt des achten Kapitels aus der Wirtschaftswissenschaft in die angewandte Psychologie zu verweisen. Dem gegenüber ist aber zu bemerken, daß die Wirtschaftswissenschaften nicht bloß ein Zweig der Sozialwissenschaften sind und sich daher nicht nur mit der Volks- oder Sozialwirtschaft, d. i. mit den wirtschaftlichen Massenerscheinungen, sondern auch mit der Privatwirtschaft oder mit den wirtschaftlichen Entschlüssen der Individuen zu befassen haben. Diesbezüglich teile ich also die methodologischen Ansichten der Österreichischen Schule, nur daß ich das, was letztere für eine theoretische Volkswirtschaftslehre ausgibt, für eine abstrakte allgemeine Wirtschaftswissenschaft halte. Nach dem auch die Vertreter der Historischen Schule dieser abstrakten Ökonomie wenigstens den Rang einer Hilfswissenschaft ihrer allgemeinen Volkswirtschaftslehre werden zuerkennen müssen, so wird über die Legitimation der Ökonomisten, sich mit ihr zu befasen, kein Zweifel obwalten können.

Zur Beziehung einiger Begriffe habe ich statt der bisher gebräuchlichen Ausdrücke neue Termini verwendet. Es geschah ides keineswegs aus kleinlicher Sucht nach einer billigen Originalität, sondern hauptsächlich zu dem Zweck, Mißverständnisse infolge der den bisherigen Ausdrücken anhaftenden Nebenbedeutungen zu vermeiden. Ich reflektiere daher selbst für den Fall, daß es mir gelungen sein sollte, die Leser von der Zweckmäßigkeit des Gebrauches neuer Termini in den betreffenden Fällen zu überzeugen, keineswegs darauf, daß zu diesem Zweck gerade die von mir gebrauchten Ausdrücke akzeptiert werden. Auch an dieser Stelle erlaube ich mir meiner Überzeugung Ausdruck zu geben, daß es im Interesse des Fortschritts der Wirtschaftswissenschaft gelegen wäre, wenn sie den Ausdruck Bedürfnis über Bord werfen und durch einen neuen Terminus ersetzen würde. Vielleicht wäre es auch dieser Schrift dienlich gewesen, wenn ich den Mut gehabt hätte, den Terminus  Egenz  statt in der aus dem sechsten Kapitel ersichtlichen Bedeutung schon im zweiten Kapitel zur Bezeichnung der drei chreonomischen Bedürfnisbegriffe (Wohlfahrts-, Verwendungs- und Verfügungsbedürfnis) zu verwenden.




1. Kapitel
I. Über den Ausgangspunkt der Untersuchung

1. Die Wissenschaft, welche unter dem Namen  Volkswirtschaftslehre  oder Nationalökonomie oder politische Ökonomie bekannt ist,  hat die Ausdrücke, mit welchen ihre Grundbegriffe  wie Bedürfnis, Gut, Nutzen und Nützlichkeit, Wert, Wirtschaft usw.  bezeichnet werden, dem Wortschaft des gemeinen Sprachgebrauchs entnommen.  Dieser Umstand hat zwar den  Vorteil,  daß volkswirtschaftliche Werke auch von Laien, wenn sie nur einen gewissen Grad allgemeiner Bildung erworben haben, leicht verstanden werden können, für den Fortschritt unserer Wissenschaft hat er jedoch die  nachteiligsten  Folgen gezeitigt. Es ist ja so natürlich, daß die volkswirtschaftlichen Schriftsteller die sprachüblichen Begriffe, die sie von Kindheit an mit jenen Namen zu verbinden gewohnt waren, für so einleuchtend hielten, daß es ihnen gar nicht einfiel, daß sie dem Wesen der betreffenden Erscheinungen inadäquat sein könnten; sie glaubten daher, sich auf die Analyse der mit jenen Wörtern bezeichneten sprachüblichen Begriffe beschränken zu dürfen, um die wesentlichen Merkmale der diesen Begriffen entsprechenden Erscheinungen festzustellen.

2. Für solche Analysen boten diese Begriffe in Anbetracht der launenhaften Inkonsequenzen des gemeinen Sprachgebrauchs ein sehr weites Feld dar. Trotz, oder richtiger, infolge dieser Analysen gibt es aber vielleicht keine zweite Wissenschaft, in welcher eine so  große Zerfahrenheit der Meinungen über deren Grundbegriffe  herrscht, wie in unserer Wissenschaft, was sich wohl dadurch erklärt, daß jeder Forscher von den zahlreichen Bedeutungen, welche die zur Bezeichnung dieser Grundbegriffe dienenden Wörter im gemeinen Sprachgebrauch besitzen, diejenige für die richtigste hielt, die  ihm  am geläufigsten war.

3. Diesem Übelstand wird kaum anders abzuhelfen sein, als wenn man  die bisherige Methode verläßt  und sich auf den  gleichen Weg  begibt,  den die Naturwissenschaften schon längst eingeschlagen  haben.
    "In den Naturwissenschaften  unterscheidet man überall zwischen der Erscheinung und dem Begriff, welchen die Menschen sprachüblich mit dem Namen verbinden,  den sie der Erscheinung geben."

    "Diese Unterscheidung ist von der größten Wichtigkeit.  Der Inhalt der Phänomene, wie ihn die fortschreitende Wissenschaft nach und nach kennen lernt, deckt sich nicht mit den althergebrachten Vorstellungen, die sprachüblich mit den volkstümlichen Namen der Phänomene verbunden werden müssen. Das Wesen von Licht und Wärme kommt z. B. mit dem Sinn nicht überein, in dem die Namen Licht und Wärme gebraucht werden. Die Physiker lehren uns, daß die Wärme Bewegung der Materie sei; wer aber unseren Sprachgebrauch untersucht, müßte zu dem Schluß gelangen, daß sie selbst eine besondere Materie sei."

    "Die moderne Naturforschung beschäftigt sich ausschließlich mit den Phänomenen.  Niemand, der Anspruch auf den Namen eines Forschers macht, wird glauben, dadurch, daß er die geltenden Sprachbegriffe untersucht, auch nur das Geringste zur besseren Erkenntnis der Dinge beitragen zu können, niemand wird glauben, eine Tatsache, welche durch unmittelbare Beobachtung erwiesen ist, deshalb bezweifeln zu müssen, weil er bemerkt, daß sie sich im Widerspruch mit dem Sinn befindet, in welchem die Menschen den Namen jener Tatsache auszusagen pflegen. ... Das ist es, was den Ruhm der modernen Naturwissenschaft ausmacht und ihren Fortschritt sichert; hierdurch ist sie eine empirische Wissenschaft." (1)
4.  Diese  vollkommen zutreffenden  Bemerkungen haben  aber nicht bloß für die Naturwissenschaften, sondern auch für die Wissenschaften von den menschlichen Handlungen, insbesondere  auch für unsere Wissenschaft volle Geltung.  Das Wesen der Nützlichkeit und des Wertes z. B. deckt sich ebenfalls nicht mit den Vorstellungen, welche dem Sprachgeist bei der Entstehung dieser Wörter vorschwebten. Denn die syntaktischen Verbindungen derselben sind der Art, als ob es sich um Eigenschaften der betreffenden Güter handeln würde, während die Wissenschaft nachgewiesen hat, daß das Wesen dieser Erscheinungen in den menschlichen Begehren liegt. Ebensowenig ist die Analyse des sprachüblichen Bedürfnisbegriffes oder richtiger gesprochen, der sprachüblichen Bedürfnisbegriffe (denn es gibt deren mehrere) geeignet, um zu einem richtigen Verständnis derjenigen Erscheinungen zu führen, welche die Triebfeder der wirtschaftlichen Handlungen bilden.

5. Da über die Zweckmäßigkeit einer Methode in letzter Linie doch nur die mittels derselben erzielten Resultate entscheiden können, so sei es gestattet, in den nachstehenden Abschnitten den  Versuch  zu unternehmen,  zu einigen Grundbegriffen unserer Wissenschaft vorerst mit Außerachtlassung der sprachüblichen Begriffe zu gelangen.  Erst wenn wir die ersteren gewonnen haben werden, wollen wir sie mit den letzteren vergleichen, um zu erkennen, wie weit diese für die Zwecke unserer Wissenschaft brauchbar sind. Wird die auf diesem Wege gewonnene Einsicht in das Wesen der Grunderscheinungen unserer Wissenschaft tiefer und klarer sein als die bisherige, so werden wir es für einen hinreichenden Beweis halten dürfen, daß die neue Methode zweckmäßiger ist als die bisherige. Werden hingegen die weiter unten aufzustellenden Begriffe dem Wesen der betreffenden Erscheinungen und den Anforderungen unserer Wissenschaft nicht besser entsprechen als die bisherigen, so wird man noch immerhin mit der Möglichkeit zu rechnen haben, daß es einem berufenen Forscher gelingen wird, auf dem gleichen Weg zu befriedigenderen Resultaten zu gelangen, als vielleicht die meinigen sein werden.


II. Von den objektiven Wohlfahrtszuständen

6. Wie man sich eine Linie aus einer zusammenhängenden Reihe unzähliger Punkte zusammengesetzt denken kann, so läßt sich auch das menschliche Leben (die Lebensdauer) als eine ununterbrochene Kette unzähliger untereinander verschiedener Zustände des menschlichen Organismus vorstellen. Aber nicht alle diese Zustände haben für das Leben (den Inbegriff der Lebensfunktionen) des Menschen die gleiche Bedeutung. Es gibt Zustände, in welchen die Lebensfunktionen leicht vor sich gehen, der Organismus rasch und in allen Teilen gleichmäßig wächst, im Stadium seiner vollen Entwicklung eine überdurchschnittliche Größe erreicht, in allen seinen Organen eine bedeutende Kraft und Beweglichkeit besitzt, gegen schädliche Einflüsse der Umgebung eine Widerstandsfähigkeit aufweist und daher ein überdurchschnittliches Alter erreicht; andererseits kann man aber am menschlichen Organismus auch Zustände wahrnehmen, in welchen die Lebensfunktionen nur mühsam vor sich gehen, der Organismus sich nur langsam oder ungleichmäßig entwickelt, im Stadium seiner vollen Entwicklung nur eine unter dem Durchschnitt stehende Größe erreicht, in seinen Organen nur eine verhältnismäßig geringe Kraft und Beweglichkeit zu entfalten vermag, gegen schädliche Einflüsse der Umgebung wenig Widerstandsfähigkeit besitzt und infolge dessen vorzeitig absterben muß. Die erstgenannten  Zustände des Organismus,  welche die Erhaltung und Entfaltung des Lebens (der Lebensfunktionen) bewirken, werden wir kurz  lebensfördernde,  die letztgenannten, welche die Verkümmerung und Vernichtung des Lebens zur Folge haben, kurze  lebenshemmende  nennen.

7. Die lebensfördernden und lebenshemmenden Zustände des Organismus kann man unter dem gemeinsamen Namen  objektive (physische) Wohlfahrtszustände  zusammenfassen. Als objektive bezeichnen wir sie deshalb, weil sie unabhängig von der Erkenntnis (der Ansicht) der betreffenden Person existieren. Den Inbegriff aller lebensfördernden sowohl als auch lebenshemmenden Zustände des ganzen physischen Organismus eines Menschen in einem bestimmten Zeitpunkt kann man seinen  objektiven (physischen) Gesamt-  oder  Total-Wohlfahrtszustand  in diesem betreffenden Zeitpunkt nennen. Zum Unterschied hiervon werden wir die einzelnen lebensfördernden oder lebenshemmenden Zustände als  Partial-  oder  partielle Wohlfahrtszustände  bezeichnen.

Alle objektiven Wohlfahrtszustände eines jeden Menschen lassen sich je nach dem Grad, in welchem sie zur objektiven Gesamtwohlfahrt desselben beitragen, in eine einheitliche Stufenleiter zusammenstellen, welche man die  objektive Wohlfahrtsskala  nennen kann und deren  Nullpunkt  jener objektive Wohlfahrtszustand bildet, bei welchem der Tod des betreffenden Individuums eintritt. Das ist der  absolute Nullpunkt der objektiven Wohlfahrsskala.  Über ihm stehen zunächst jene lebenshemmenden Zustände, welche geringere Störungen der Lebensfunktionen als den Tod zur Folge haben und nach ihnen kommen sodann die lebensfördernden Zustände. Die Grenze zwischen beiden kann man als den  relativen Nullpunkt der objektiven Wohlfahrtsskala  bezeichnen, welcher dem Nullpunkt oder Eispunkt unserer Thermometerskalen analog ist. Und wie man die Temperaturgrade über dem Eispunkt als  positive,  diejenigen unterhalb desselben als  negative  Wärmegrade bezeichnet, so kann man in weiterer Verfolgung der angeführten Analogie die lebensfördernden Zustände auch  positive,  die lebenshemmenden hingegen  negative Wohlfahrtszustände  nennen.

In analoger Weise kann man einen ausschließlich oder doch überwiegend aus positiven Partial-Wohlfahrtszuständen bestehenden objektiven Gesamt-Wohlfahrtszustand als einen  positiven,  hingegen einen ausschließlich oder doch überwiegend aus negativen Partial-Wohlfahrtszuständen sich zusammensetzenden objektiven Gesamt-Wohlfahrtszustand als einen  negativen Gesamt-Wohlfahrtszustand  bezeichnen.

Wenn von zwei aufeinander folgenden Wohlfahrtszuständen der spätere auf der objektiven Wohlfahrtsskala höher steht als der frühere, so sprechen wir von einem  objektiven Wohlfahrtszuwachs  oder  Wohlfahrtsgewinn,  im entgegengesetzten Fall aber von einem  objektiven Wohlfahrtsausfall  oder  Wohlfahrtsverlust.  Jeder objektive Wohlfahrtszuwachs bedeutet somit die Erhaltung oder Entfaltung, jeder objektive Wohlfahrtsausfall die Vernichtung oder Verkümmerung des Lebens (der Lebensfunktionen).


III. Von den Gefühlen

8. Den Zuständen, in welchen sich unser Organismus, bzw. die einzelnen Teile desselben jeweils befinden, laufen gewisse Phänomene unseres Bewußtseins parallel, welche man  Empfindungen  (2) nennt.

Aber  nicht alle diese Zustände gelangen auf solche Weise in unser Bewußtsein;  denn abgesehen davon, daß unser Bewußtsein jeden Tag während mehrerer Stunden durch den  Schlaf  unterbrochen zu sein pflegt und zeitweise auch durch  Ohnmacht  außer Tätigkeit gesetzt werden kann, ist dasselbe  viel zu eng,  um alle die mannigfaltigen Zustände, in welchen sich die unzähligen Teile des menschlichen Organismus jeweils befinden, zu umfassen.

9. Es sind aber nicht bloß die bereits in Erscheinung getretenen lebenshemmenden oder lebensfördernden Zustände des Organismus von Interesse, sondern, da alle Veränderungen dieser Zustände durch zureichende Ursachen hervorgebracht werden müssen, auch das jeweilige Verhältnis des Organismus zu solchen Ursachen und zwar schon zu jenem Zeitpunkt, wo deren Wirkungen noch nicht offenbar sind. Sind diese Ursachen der Art, daß sie, falls ihre Wirkung nicht gehemmt wird, einen lebensfördernden, bzw. einen lebenshemmenden Zustand des Organismus hervorbringen, so kann man auch das  Verhältnis  des Organismus zu ihnen als ein  lebensförderndes,  bzw.  lebenshemmendes  bezeichnen und die Kenntnis eines aktuellen Verhältnisses dieser Art ist für die Erkenntnis jenes künftigen Wohlfahrtszustandes, welcher aus diesem Verhältnis hervorgehen soll, von großer Bedeutung.

Der Existenz von Gegenständen, die sich, wenn sie sich in gewissen Verhältnissen zu unserem Organismus befinden, als Ursachen solcher Wohlfahrtszustände darstellen, werden wir sehr häufig durch jene Bewußtseinserregungen inne, die man als  Wahrnehmungen  (3) bezeichnet.

10. Soweit uns unser Bewußtsein darüber Aufschluß gibt, in welchem Zustand oder in welchem Verhältnis zu seiner Umgebung sich unser Organismus jeweils befindet, erfahren wir in der Regel zugleich, ob dieser Zustand, bzw. dieses Verhältnis ein lebensförderndes oder ein lebenshemmendes ist, ob sich also der Organismus in einem  positiven  oder  negativen objektiven Wohlfahrtszustand  befindet, bzw. befinden wird, indem im ersteren Fall die betreffende Empfindung, bzw. Wahrnehmung mit einem  Lust-,  im letzteren mit einem  Unlustgefühl(4) verbunden zu sein pflegt. Aufgrund solcher  Empfindungs-,  bzw.  Wahrnehmungsgefühle  fällen wir dann Urteile über das gegenwärtige oder künftige Vorhandensein eines positiven oder negativen objektiven Wohlfahrtszustandes.

Doch darf man nicht glauben, daß jedes Lustgefühl das subjektive Korrelat eines positiven und jedes Unlustgefühl das Korrelat eines negativen objektiven Wohlfahrtszustandes ist, wie wir auch nicht jeder einzelnen Sinneswahrnehmung zu trauen berechtigt sind. Im Gegenteil, gar häufig ereignet sich der Fall, daß das Bewußtswerden eines objektiven Zustandes oder Verhältnisses des Organismus, das sich nachträglich als lebenshemmend erweist, mit einem Lustgefühl verbunden ist und umgekehrt. Warum die Gefühle einmal mit den betreffenden objektiven Wohlfahrtszuständen übereinstimmen, das anderemal aber nicht, das zu erforschen ist nicht Sache unserer Wissenschaft, sondern der reinen Psychologie. Wir können uns mit der bloßen Konstatierung der Tatsache begnügen, daß derartige  Diskrepanzen zwischen den objektiven Wohlfahrtszuständen und den zugehörigen Gefühlen  vorzukommen pflegen, daß aber bei keinem Menschen eine derart abnorme Gefühlsanlage anzutreffen ist, daß die Empfindungen oder Wahrnehmungen (5)  aller  positiven objektiven Wohlfahrtszustände von Schmerzgefühlen, hingegen die Empfindungen oder Wahrnehmungen  aller  negativen objektiven Wohlfahrtszustände von Lustgefühlen begleitet wären. Immer bezieht sie sich vielmehr  nur auf einen Teil der Gefühle,  bei dem einen auf diesen, bei dem andern auf jenen. Sie ist also einem angeborenen körperlichen Gebrechen, etwa der Farbenblindheit, zu vergleichen. (6) (7)

11. Wie sich der menschliche Geist durch die Unerläßlichkeit einzelner Sinneswahrnehmungen nicht abhalten ließ, am Ausbau des gegenwärtig so großartigen Systems der Naturwissenschaften zu arbeiten, obwohl wir für die Erkenntnis der Natur keine andere Quelle besitzen, als die durch die Sinneswahrnehmungen vermittelte Erfahrung, die wir solange für richtig halten müssen, als sie nicht durch eine ihr widersprechende andere Erfahrung oder durch eine ihr widersprechende logische Konsequenz aus einer anderen Erfahrung umgestoßen wird, ebenso brauchen wir an der  Möglichkeit der Erkenntnis des positiven oder negativen Charakters wenigstens eines Teiles unserer objektiven Wohlfahrtszustände  nicht zu verzweifeln, obwohl wir hierbei auf die  Gefühle als unsere letzte Erkenntnisquelle  angewiesen sind. Denn wenn uns ein Wohlfahrtszustand durch ein das Bewußtwerden desselben begleitendes Lustgefühl als ein positiver signalisiert wurde, wir aber später erfahren, daß er Folgen nach sich zieht, deren Empfindung mit einem bedeutend intensiveren oder länger dauernden oder auf eine größere Fläche sich erstreckenden Schmerzgefühl verbunden ist, so kommen wir durch diese Erfahrung in die Lage, unser früheres, aufgrund des seinerzeitigen Lustgefühls über den Charakter jenes Wohlfahrtszustandes gefälltes Urteil zu  korrigieren  und diesen letzteren, wenn er sich wiederholt, bei seinem späteren Eintreffen trotz des das Bewußtwerden desselben begleitenden Lustgefühls als einen negativen Wohlfahrtszustand zu erkennen.

Mitunter ist die Empfindung oder Wahrnehmung eines Zustandes oder Verhältnisses unseres Organismus von  keinem Gefühl  begleitet; in solchen Fällen sind wir in der Regel erst aufgrund jenes Gefühls, welches mit der Empfindung einer seiner Folgen verbunden zu sein pflegt, imstande zu urteilen, ob es ein positiver oder ein negativer Wohlfahrtszustand ist.

Ähnliche  Korrekturen  und Ergänzungen unserer Urteile über die objektiven Wohlfahrtszustände können wir auch  aufgrund  von Erfahrungen anderer Personen oder aufgrund von Schlüssen aus ähnlichen, sei es von uns, sei es von anderen gemachten  Erfahrungen  ausführen.

Auch ist zu beachten, daß  nicht alle Menschen die gleiche Gefühlslage besitzen,  sondern daß, wenn bei den einen das Gefühl gewisse objektive Wohlfahrtszustände in unrichtiger Weise signalisiert, bei anderen, geistig vollkommeneren Individuen zwischen den Gefühlen und den objektiven Wohlfahrtszuständen eine zweckmäßigere Beziehung zu bestehen pflegt, so daß sich die ersteren von den letzteren belehren lassen können.
LITERATUR Franz Cuhel, Zur Lehre von den Bedürfnissen - Theoretische Untersuchungen über das Grenzgebiet der Ökonomik und der Psychologie, Innsbruck 1907
    Anmerkungen
    1) Friedrich von Wieser, Ursprung des Wertes, Seite 1 und 2
    2) Unter "Empfindungen" verstehe ich abweichend vom Sprachgebrauch vieler Volkswirtschaftslehrer niemals jene Bewußtseinserscheinungen, welche jedermann unter dem Namen Lust und Schmerz bekannt sind, sondern immer nur solche, welche sich als die ursprünglichste Form des präsentativen Bewußtseins darstellen, z. B. Licht-, Schall-, Geruchs-, Geschmacks-, Druck- und Wärmeempfindungen, da Empfindung ein  Terminus  der Psychologie ist und diese ihm die eben angegebene Bedeutung beilegt, (vgl. JODL, Psychologie, Seite 135: "Insofern wir an einer primären psychischen Erregung vorzugsweise die dingliche Seite, das "Was" (Quid), ins Auge fassen, nennen wir dieselbe Empfindung; beachten wir vorzugsweise ihre Wirkung auf unseren Bewußtseinszustand und unsere Wertung derselben, das "Wie" (Quomodo), nennen wir sie Gefühl.") und da mit Rücksicht darauf, daß alle Wissenschaften zusammen ein logisches Ganzes bilden sollen, keine Wissenschaft das Recht hat, für Erscheinungen, welche in den Forschungsbereich einer anderen Disziplin fallen, andere Termini zu gebrauchen als diejenigen, welche die kompetente Wissenschaft für dieselben eingeführt hat.
    3) Was die Abgrenzung der  Empfindungen  gegenüber den  Wahrnehmungen  anbelangt, so herrscht darüber unter den Psychologen eine ziemlich große Meinungsverschiedenheit. Für unsere Zwecke eignen sich am besten jene Bedeutungen, in welchen SCHNEIDER (Der tierische Wille, Seite 97) diese beiden Ausdrücke gebraucht. Wir werden somit von den präsentativen Erregungen des Bewußtseins, welche durch peripherische Reizungen der Empfindungsnerven hervorgerufen werden, jene als Empfindungen bezeichnen, durch welche man sich gewisser Zustände und Veränderungen des Organismus bewußt wird: als Wahrnehmungen dagegen jene, durch welche man das Bewußtsein von der Existenz äußerer Gegenstände an einem bestimmten Ort oder von Vorgängen an diesen Gegenständen erlangt. Von diesen Wahrnehmungen, welche  äußere  genannt werden, muß man aber die  inneren Wahrnehmungen  unterscheiden, deren Gegenstand die verschiedenen Erregungen des Bewußtseins selbst bilden. Man könnte vielleicht auch sagen:  Empfindungen  sind das Erleben verschiedener durch peripherische Reizungen der Sinnesnerven hervorgerufene Bewußtseinserregungen;  innere Wahrnehmungen  sind das Innewerden der verschiedenen Merkmale der einzelnen Bewußtseinserregungen, wenn die Aufmerksamkeit auf dieselben gelenkt wird;  äußere Wahrnehmungen  sind das Innewerden der äußeren Gegenstände oder Vorgänge, durch welche gewisse Bewußtseinserregungen hervorgerufen werden und der verschiedenen Merkmale derselben.
    4) Unter  Unlust  oder  Schmerz  verstehe ich jedes Gefühl, welches die entgegengesetzte Qualität wie Lust hat, mag es auch sonst als Pein, Qual, Leid oder Unbehagen und dgl. bezeichnet werden.
    5) Der kürze halber werde ich statt des richtigen Ausdrucks "Wahrnehmung eines in einem gewissen Verhältnis zum Organismus befindlichen Gegenstandes, welcher die Ursache eines objektiven Wohlfahrtszuständes dieses Organismus befindlichen Gegenstandes, welcher die Ursache eines objektiven Wohlfahrtszustandes dieses Organismus zu sein pflegt," den weniger richtigen Ausdruck "Wahrnehmung eines objektiven Wohlfahrtszustandes" gebrauchen.
    6) Siehe JODL, Psychologie, Seite 382 - 384: "Der teleologische Zusammenhang zwischen der Gefühlswirkung der Reize und der normalen Funktion, sei es eines bestimmten Organes, sei es des Organismus überhaupt, hat nichts Geheimnisvolles und mutet der Sinnlichkeit durchaus keine ihre Kräfte übersteigenden Leistungen zu. Von der Zweckmäßigkeit, um welche es sich hier handelt, weiß das Gefühl nichts; sie wird erst erkannt durch Erfahrung und Reflexion. Was uns im Gefühl als Lust oder Schmerz erscheint, ist rein kausal bedingt durch die erworbene und vererbte Organisation des Geschlechts. ... Schmerz und Lust sind Wächter des Lebens innerhalb der bewußten Welt, das Gefühl die wichtigste Bedingung zur Selbsterhaltung des Organismus. ... Wenn irgendeine Tätigkeit uns ein unmittelbares Lustgefühl bereitet, so dürfen wir überzeugt sein, daß dieselbe lange Zeit hindurch von unseren menschlichen oder vormenschlichen Vorfahren geübt wurde. Je größer das Lustgefühl, umso enger die Beziehung zwischen dieser Tätigkeit und der Selbsterhaltung des Individuums wie der Gattung. ... Die sogenannten "schädlichen Lustgefühle" sind ebensowenig eine Instanz gegen diese Auffassung als die "heilsamen Schmerzen." Der Organismus ist zwar eine Einheit, aber doch eine sehr zusammengesetzte, vielfach differenzierte und das Gefühl nur ein Zeuge, kein Prophet. Ist im Organismus oder irgendeinem seiner Teile eine Erhöhung der Lebenskraft und Funktionstätigkeit oder ein gutes Gleichgewicht vorhanden, so beantwortet er diesen Zustand mit Vergnügen; tritt infolgedessen eine Depression ein, so wechselt auch der Gefühlszustand. Die Gefühlswirkung ist die unmittelbare psychische Parallele des vorhandenen Zustandes. Sie weiß nicht von einer schädlichen Lust oder wohltuendem Schmerz: diese Verbindungen gehören der Assoziation und Reflexion an, welche aber auch immer auf die unmittelbaren Aussagen des Gefühls angewiesen bleibt und nur verschiedene Stadien miteinander vergleicht. ... Der Grund des Gefühls liegt nicht in der Erkenntnis, sondern in den Entwicklungsgesetzen, welche die höchst zweckmäßigen kausalen Beziehungen zwischen der Nützlichkeit und Schädlichkeit der Reize und den Gefühlen erzeugt haben. Das unmittelbare Gefallen oder Mißfallen des Gefühls kann sich nur an der gewöhnlichen Umgebung und den regelmäßigen Eindrücken einer Gattung heranbilden, aber nicht an besonderen, ausnahmsweisen und künstlichen Umständen, wie sie scheinbaren Abweichungen zugrunde liegen." Ähnlich SCHNEIDER, Der menschliche Wille, Seite 264 und 265
    7) Siehe SCHMOLLER, Volkswirtschaftslehre I, Seite 21: "Die einzelnen wie die Völker haben zunächst die Gefühlsausbildung, welche ihrem bisherigen Zustand, ihren bisherigen Lebensbedingungen entspricht. Werden sie in andere versetzt, so reagieren ihre Gefühle doch zunächst noch in alter Weise, können sich erst langsam den anderen Zuständen anpassen. Aus allen diesen Gründen müssen einzelne Gefühle und zumal solche von anormaler Entwicklung, immer zeitweise den Menschen irreführen. ... Die Gefühle sind nicht blind, sondern vom Intellekt zu regulierende Wegweiser."