ra-2ra-1ra-2A. BilimovicF. MauthnerH. CohenA. WagnerB. Erdmann    
 
ADOLF LASSON
Das unendlich Kleine
im wirtschaftlichen Leben

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"Die Menschheit geht vorwärts; aber der Fortschritt vollzieht sich sehr allmählich, sehr langsam, und wer ihn überstürzen will, der hält ihn vielmehr auf. Die Überwindung von Schranken, die Heilung von Übeln, die Befreiung und Kräftigung vollzieht sich nicht von heute auf morgen, nicht in großen auffälligen Sprüngen, unter Trompetengeschmetter und Hurrarufen, sondern sie geschieht ganz bescheiden, in der Form unendlich kleiner Zuwächse und unendlich kleiner Abminderungen, in kleineren Zeiträumen kaum merklich, aber summiert im geschichtlichen Prozeß von längerer Dauer tritt sie mit unzweifelhafter Deutlichkeit hervor, nicht zufällig noch sporadisch, sondern gesetzlich und allgemein, mit tiefen Wurzeln in der Natur der Sache sich gründend, der die Menschen, willig oder nicht, mit ihren Trieben, Absichten und Tätigkeiten, doch nur als Werkzeuge dienen müssen."


IV.

Aber wie nun? Angenommen, unsere Anforderung verwirklicht sich, und es wird dem wirtschaftlichen Leben nach Möglichkeit Freiheit gegeben, sich nach seiner eigenen innewohnenden Natur aufgrund seiner inneren Lebenskräfte fortzubilden: kann es denn damit gehen? Bietet es für seinen eigenen Fortgang, bietet es für alle die hauptsächlichen Zwecke des menschlichen Geschlechts wirklich befriedigende Aussichten? Es ist die alte Frage, die damit aufgeworfen wird, die Frage nach der inneren Berechtigung des entschlossenen Widerstandes gegen alle noch so verlockenden Pläne der Weltbeglückung, gegen alle sozialistischen Tendenzen, in wie verschiedener Form und Fassung sie auch auftreten mögen, gegen alle Projekte, die das Heilsame herstellen und das Übel abwehren zu können glauben durch künstliche Veranstaltung, durch eine Unterbindung des natürlichen Ganges der Dinge und die absichtliche Überleitung der Strömung in ein anderes Bett, als das sie von selbst gewählt haben würde.

Die Frage lautet: hat das System des wirtschaftlichen Lebens wirklich gar keine oder hat es eine allzu geringe Kraft organischer Selbstregulierung, um sich irgendwie selbst überlassen werden zu können? Würde es nicht, sich selbst überlassen, eine Vergrößerung der vorhandenen Übel statt eine Verringerung, eine Verstärkung der Ungleichheit statt einen Ausgleich ergeben?

Eine Antwort auf diese Frage zu geben, versuchen wir im Anschluß an unsere Erörterungen über das unendlich Kleine im wirtschaftlichen Leben. Wir stellen dabei keine Betrachtungen an über das, was gewesen ist; wir sprechen nicht von vergangenen Zeiten und Zuständen, sondern vom wirtschaftlichen Leben, wie es sich in der gegenwärtigen Epoche darstellt auf dem Hintergrund der politischen, wissenschaftlichen, technischen Errungenschaften der jüngsten Zeit. Alles Historische ist gewiß sehr interessant und sehr wissenswürdig, und es ist ein großes Verdienst, es sorgfältig zu erforschen; aber maßgebend für den Gang unseres gegenwärtigen Lebens ist es in keiner Weise, weil sich die Bedingungen aller wirtschaftlichen Tätigkeit völlig und von Grund auf verändert haben. Die sorgfältige Beobachtung des Ganges der Dinge seit dem Eintreten dieser veränderten Bedingungen nun scheint uns zu ergeben, daß heilende und wiederherstellende Kräfte, Daß Kräfte des Gedeihens und Wachstums in der für alle menschlichen Zwecke erwünschten Richtung im System des wirtschaftlichen Lebens, wie es heute ist, innewohnen und tätig sind, denen es am zweckmäßigsten ist freie Bahn zu lassen, und denen man in ihrer Weise eine ungestörte Wirksamkeit gönnen soll, um der Einsicht willen in das Beste und Förderlichste und aus Liebe zu Gott und den Menschen.

Freilich, Paradiese auf Erden gibt es nicht und soll es auch nicht geben. Solange unter den Menschen Sünde und Torheit, Schwäche und Unwissenheit Raum findet, hört auch die wirtschaftliche Not nicht auf, und sie darf nicht aufhören, wenn die Menschheit nicht ganz versinken soll. Aber was das wirtschaftliche System beitragen kann zur sittlichen Hebung, zum intellektuellen Fortschritt, zur möglichsten äußeren Wohlfahrt der Völker und der Einzelnen, das wird es sicher am kräftigsten leisten, wenn man ihm gestattet, sich möglichst frei von einem äußeren Eingriff nach seinen eingeborenen Gesetzen weiter zu gestalten und fortzubilden.

Die Menschheit geht vorwärts; aber der Fortschritt vollzieht sich sehr allmählich, sehr langsam, und wer ihn überstürzen will, der hält ihn vielmehr auf. Die Überwindung von Schranken, die Heilung von Übeln, die Befreiung und Kräftigung vollzieht sich nicht von heute auf morgen, nicht in großen auffälligen Sprüngen, unter Trompetengeschmetter und Hurrarufen, sondern sie geschieht ganz bescheiden, in der Form unendlich kleiner Zuwächse und unendlich kleiner Abminderungen, in kleineren Zeiträumen kaum merklich, aber summiert im geschichtlichen Prozeß von längerer Dauer tritt sie mit unzweifelhafter Deutlichkeit hervor, nicht zufällig noch sporadisch, sondern gesetzlich und allgemein, mit tiefen Wurzeln in der Natur der Sache sich gründend, der die Menschen, willig oder nicht, mit ihren Trieben, Absichten und Tätigkeiten, doch nur als Werkzeuge dienen müssen. Darum ist die Ungeduld verwerflich, die den langsamen geschichtlichen Prozeß überholen möchte, und noch verwerflicher der Eigensinn, der da vorgibt zu organisieren, wo er vielmehr das Organische tötet und seine künstlich ausgeheckten Mechanismen an die Stelle des frei sprießenden Lebens setzt, eine Kulissenwelt von Pappe und Kleister. Die Natur macht keinen Sprung und das wirtschaftliche Leben auch nicht. Es nähert sich dem Ziel, das allen Edlen und Wohlgesinnten vorschwebt, die äußerlichen Bedingungen herzustellen für die freieste und allgemeinste Entfaltung der gottebenbildlichen Persönlichkeit so gewiß wie eine Vernunft in der Welt ist; es rückt vor unausgesetzt, mit sicherem Schritt, und  die Art seines Vorgehens wird durch die geheimnisvoll gestaltende Macht des unendlich Kleinen bezeichnet. 

Um das näher zu beleuchten, nehmen wir an, es sei ein wirtschaftlicher Zustand geschaffen, bei dem auf dem Boden eines staatlich wohlgeordneten und geschützten Rechtszustandes und mit den gegenwärtig vorhandenen und noch weiter zu entwickelnden Mitteln der Technik eine Freiheit der Unternehmung und des Austausches in möglichst weitem Umfang gewährt ist, und wir erwägen, welche Aussichten für die Zukunft ein solcher Zustand wohl gewähren mag. Es wird dabei genügen, einige wenige Gesichtspunkte hervorzuheben, die von entscheidender Bedeutung sind und die anderes, was von uns übergangen werden muß, mit vertreten können.

1. Die erste Folge der oben bezeichneten Bedingungen, die hier hervorzuheben ist, ist  die stetige Abnahme der Übermacht des beweglichen Kapitals unter stetiger Zunahme seiner befreidenen Wirkungen. 

Kapital ist jedes Erzeugnis früherer Arbeit, sofern es zur Erleichterung späterer Arbeit benutzt wird. Zwecks des Austausches kleidet sich das Kapital vorübergehend in die Form des Geldes; aber ansich ist das Kapital kein Geld; es wird nur durch Geld vertreten, bis es wieder seine eigentümliche Form annimmt. Nur durch seine Fähigkeit, Kapital wirksam zu vertreten und es dadurch in seiner Funktion der Arbeitserleichterung zu unterstützen, erlangt das Geld selbst die Bedeutung von Kapital.

Für das Kapital haben wir schon oben an das Gesetz erinnert, daß die Arbeitserleichterung durch zunehmende Kapitalsmengen nicht im gleichen Verhältnis mit dieser Zunahme, sondern in einem viel höheren Verhältnis wächst. Daraus folgt, daß je mehr die Kapitalien wachsen, desto beschleunigter die Erzeugung immer weiteren Kapitals vor sich geht.

Damit wird zunächst die  Ausbildung der persönlichen Arbeitskraft  erleichtert und verallgemeinert. Nicht nur, daß die Bevölkerung schneller wächst und es be einer größeren Anzahl von jungen Leuten gelingt, sie wohlerhalten bis in das Alter produktiver Tätigkeit aufzuziehen: es werden auch die Bildungsmittel und Bildungsanstalten da vermehrt und zugänglicher gemacht, wo das Kapital, das als Auslage nötig ist, um die werdende Arbeitskraft bis zu voller Reife zu entwickeln, reichlicher zufließt.

Aus beiden Ursachen stammt sodann das für alle höhere wirtschaftliche Kultur geltende Gesetz, daß  der Zinsfuß das Streben hat, in längeren Zeiträumen beständig abzunehmen  und sich der Null anzunähern.

Mit der Zunahme des Kapitals und dem Zusammenwirken immer gewaltigerer Massen von summierten Erzeugnissen früher geleisteter Arbeit mit gegenwärtiger Arbeit steigt, so sahen wir, die Produktivität der Arbeit ins Ungemessene. Die weitere Folge ist, daß  vom Gesamtertrag der Arbeit jedem Kapitalsteil eine immer geringere, jedem Teilchen der Arbeitskraft dagegen eine immer größere Quote zufällt. 

Diejenigen also, die den Wunsch hegen, daß der verhältnismäßige Anteil der Arbeitskraft am Arbeitsertrag ebenso wie dieser selbst im höchsten Maß zunimmt, müssen vor allem danach streben, daß die Menge des vorhandenen Kapitals in möglichst großem Maßstab wächst, damit bei sinkendem Zinsfuß der Arbeitslohn steigt.  Alles also, was das Wachstum der Kapitalien hindert, ist wider das Interesse der arbeitenden Klassen und verschlechtert ihre Lage. 

Eine Zunahme der wirtschaftlichen Kultur bedeutet im allgemeinen auch eine Zunahme der geistigen Kultur. Aber auch die Umkehrung des Satzes ist gerechtfertigt. Die höhere geistige Kultur wirkt ebenso fördernd auf das wirtschaftliche Leben zurück, wie sie von ihm gefördert wird: ein treffliches Beispiel von Wechselwirkung. Überall in den Kulturländern wächst mit dem Reichtum auch die Bevölkerung, aber der Reichtum wächst in stärkerem Maß als die Bevölkerung. Es wächst zugleich mit den Kapitalien die Einsicht, der wirtschaftliche Sinn. Der Charakter wird gestärkt, die Selbstbeherrschung vermehrt. Wie die Verschwendung das Kennzeichen roher, so ist die Sparsamkeit das Kennzeichen geförderter wirtschaftlicher Zustände. Der Gedanke an die Zukunft überwiegt bei größeren Massen die Lust und die Begierde des Augenblicks, wo das Kapital wächst. Es wächst zugleich die öffentliche Sicherheit, und die Epochen des Friedens nach außen und innen werden länger. Zunehmende Kultur bedeutet zunehmende Sicherheit in nutzbringender Kapitalanlage; dadurch wird die Enthaltsamkeit im Verbrauch gefördert, der Antrieb zur Kapitalbildung verstärkt.

So sehen wir dann in der Tat den unsinnigen Luxus früherer Zeiten, übermäßigen Besitz an edlen Metallen, das Halten von zahlreichen Dienerschaften, Kleider- und Wohnungsprunk, Schwelgerei und prahlerischen Aufwand beständig abnehmen; dagegen wächst Fleiß und Ordnungsliebe und ein billigenswertes Streben nach anständiger und angemessener Repräsentation.

All das ist die Folge, aber seinerseit auch wieder Ursache der Kapitalzunahme. Diese bewirkt dann weiter, daß  die Masse von aufzuwendender Arbeit, die nötig ist, um ein bestimmtes Güterquantum zu erzeugen, immer geringer wird.  Immer mächtiger greift der Anteil des Kapitals in die Gütererzeugung ein. So geschieht es, daß die Löhne der Arbeit immer höher werden, daß sie aber einen immer geringeren Bruchteil des nationalen Einkommens bilden. Machten sie vor 100 Jahren noch drei Fünftel aus, so betragen sie heute kaum noch zwei Fünftel. Für gegenwärtige Arbeit treten die Maschinen, die Anlagen und Meliorationen [Verbesserungen - wp] ein, die aus früheren Zeiten stammen. Sie machen Arbeit überflüssig; aber der aus ihnen stammende Ertrag verteilt sich ohne Arbeit auf alle.

Es ist ein ganz ungeheures, ein gar nicht abzuschätzendes Quantum, was an solchen Kapitalien schon heute Gemeineigentum für alle ist: Straßen, Kanäle und Eisenbahnen, Wasserleitungen und Beleuchtungsanlagen, Anstalten zur Mitteilung, Gärten und Wälder, öffentliche Gebäude, Einrichtungen und Sammlungen. Ob die Möglichkeit der Benutzung subjektiv als Zuwachs des Glücks empfunden wird, das ist ein andere Frage; was unzweifelhaft vor Augen liegt, ist der größere Reichtum an Mitteln der Befriedigung für alle.

Der vorhandene Kapitalsreichtum ist aller Menschen Reichtum, kommt allen zugute.  Das Kapital, das früher den einzelnen ländlichen Arbeiter bei seiner Arbeit unterstützte, war sehr gering; der Wert sämtlicher Geräte für die einzelne Arbeitskraft mochte den Lohn für einige Arbeitstage nicht übersteigen. Wird die ländliche Arbeit mit Hilfe von Maschinen vollzogen, so bedeutet der Apparat, mit dem die einzelne Arbeitskraft zusammenwirkt, den Wert von vielen Arbeitsjahren. Ganz ähnlich ist das Verhältnis zwischen Dampfschiff und Ruderboot oder Segelschiff, zwischen Lokomotivbeförderung und Frachtwagen, zwischen Maschinenweberei und Handweberei. Auf einen bei der Eisenbahn beschäftigten Menschen darf man eine Kapitalsanlage im Wert von 100 000 Mark rechnen, die mit ihm in der Transportaufgabe zusammenwirkt.

Die befreiende Macht des Kapitals liegt so in der gesteigerten Produktivität der Arbeit entbehrlich wird und das gleiche Quantum von Gütern nur einen Bruchteil der früher benötigten Mühsal erfordert. Je mehr Arbeit gespart wird, desto zugänglicher werden die Mittel der Befriedigung, desto höher steigt die durchschnittliche Lebenshaltung, desto wertvoller wird die Arbeitskraft selber, desto größere Geltung erlangt jede menschliche Persönlichkeit. Durch das Sinken des Zinsfußes wird müßiger Wohlstand mehr und mehr möglich; das Bedürfnis nach Arbeitskräften wird vom Kapital, das nach nutzbringender Anlage strebt, immer dringlicher empfunden. Die völlig veränderte gesellschaftliche Position des Arbeiters in der modernen Gesellschaft hängt so an der Zunahme der Kapitalien.  Ein ungestörter Gang der Entwicklung in der Richtung, die das wirtschaftliche Leben infolge der modernen Technik eingeschlagen hat, führt nach all dem mit aller Sicherheit zu einer langsamen, aber unverkennbaren Hebung der niederen Bevölkerungsklassen. 

2. Unterstützt wird dieser Gang der Dinge durch ein zweites Moment von gleicher Bedeutung, das sich so bezeichnen läßt:  Die zeitlichen Preisschwankungen und lokalen Preisunterschiede haben die Tendenz, immer geringer zu werden;  in das gesamte Leben kommt damit ein Zug von größerer Stetigkeit. Und was damit zusammenhäng:  die Verwertung jedes menschlichen Talents geschieht mit größerer Sicherheit und auf dem weitesten Schauplatz. 

Seitdem die Menschheit in das Zeichen der auf Wissenschaft gestützten, planmäßig fortschreitenden Erzeugung immer vollkommenerer Werkzeuge, immer wirksamerer Maschinen getreten ist, werden die Hindernisse der räumlichen Entfernung immer siegreicher überwunden. Das wesentlichste Merkmal dieses neuen Zeitalters ist die  Ausbildung des Transportwesens.  Keine frühere Zeit hat auch nur annähernd Ähnliches geleistet: Transport von Personen, Sachen, Nachrichten, Gedanken und Entschließungen. Damit wächst zugleich die Größe des Marktes für jede Ware, die Sicherheit für den, der Waren produziert oder Vorrat hält, auf Nachfrage zu treffen.

Die Preise der Güter streben sich infolgedessen ringsum auf dem ganzen Erdboden mehr und mehr auszugleichen; es bilden sich  Weltmarktpreise.  Am ehesten geschieht das bei Gegenständen des allgemeinsten Gebrauchs und von gleichmäßiger Qualität, wie bei Feldfrüchten, edlen Metallen, Wertpapieren. Der Telegraph bewirkt, daß die Nachricht von niedrigeren oder höheren Preisen an irgendeinem Markt, von vorhandenen Bedürfnissen oder Vorräten, von den Aussichten für eine nähere oder fernere Zukunft in kürzester Frist zu allen anderen Märkten dringt und die entsprechenden Handelsbewegungen veranlaßt, die an Schwierigkeiten des Transports kein nennenswertes Hindernis mehr finden.

Die Sicherheit, die gleiche Ware immer wieder an der Börse einkaufen oder verkaufen zu können, hat zur Folge, daß mit  geringerem Handelsgewinn  gekauft und verkauft wird. Die Ausdehnung des Marktes vermindert zugleich die Schwankungen der Preise und drückt den Prozentsatz des Handelsgewinns im Verhältnis zum Preis der Ware herab. Der Markt aber wird umso ausgedehnter, je mehr sich die Mittel des Transports und der Mitteilung vervollkommnen, und selbst Gegenstände, die leichtem Verderben ausgesetzt sind, lernt man entweder zu konservieren oder den Transport so zu beschleunigen, daß auch sie zu Artikeln des Welthandels werden können.  Die Zugänglichkeit aller wirtschaftlichen Güter, die irgendwo auf der Erde gedeihen, für alle Menschen, wächst ohne Grenze. 

Mit der Verbesserung der Transportmittel  schwächen sich die Krisen der Produktion und der Konsumtion  mehr und mehr ab. Es gibt in Kulturländern keine Hungersnöte mehr, kaum noch erhebliche Teuerungen; die Stockungen des Absatzes ziehen schneller vorüber. Handelskrisen konnten noch vor der Erfindung des Telegraphen die furchtbarsten Verheerungen anrichten; wir haben es erst vor Kurzem erlebt, daß die Leichtigkeit in der Translokation [Ortsveränderung - wp] barer Zahlungsmittel einer heranziehenden schweren Krisis gleich im Entstehen auf die wirksamste Weise begegnen konnte. Es war nur nötig, daß Einsicht und Erfahrung die drohende Gefahr rechtzeitig erkannte und sich ein guter Wille in den Dienst der allen gemeinsamen Interessen stellte, und der Feind war geschlagen. Was haben die Weltverbesserer noch vor zwei Jahrzehnten zu perorieren [mit Nachdruck sprechen - wp] gewußt über die Verkehrtheit der modernen Produktionsweise, die sich nicht einmal vor den von Zeit zu Zeit wiederkehrenden Handelskrisen zu schützen weiß, und welche Vorschläge staatlicher Zwangsorganisationen ungeheuerlichster Art dachte man sich aus, um die Sache in bessere Bahnen zu lenken! Wir können gerade die jüngsten Erlebnisse als das sichere Unterpfand betrachten, daß das System in seinem eigenen inneren Fortschritt Heilmittel genug entwickelt, um die akuten wie die chronischen Übel mehr und mehr zu überwinden.

Die modernen Bedingungen des wirtschaftlichen Lebens bewirken eine stetige  Vervollkommnung der wirtschaftlichen Organisation vor allem der  Organisation des Kreditwesens,  und dieses wichtigste Hilfsmittel allen wirtschaftlichen Fortschritts breitet sich zunehmend über den ganzen Erdboden aus. Die  Handelsspekulation  spielt eine immer größere, immer entscheidendere Rolle, und die Früchte der Sicherheit, Gleichmäßigkeit und Stetigkeit, die das Vorauserforschen und Vorwegnehmen der Zukunft durch Tausende von erfahrenen und auf das Unmittelbarste interessierten Köpfen zur Folge hat, machen sich auf immer weiteren Gebieten geltend.

Die neuen technischen Hilfsmittel befördern die Richtung auf  Produktion im großen Maßstab  mit den Vorteilen der reicheren Auswahl, die sie dem Käufer bietet und des größeren Vertrauens, das sie erregt. Die Zahl der großen Unternehmungen wächst; mit der Sicherheit des größeren Absatzes darf der Gewinn für das einzelne Stück kleiner werden. Die große Unternehmung spart im Verhältnis zur kleinen an Maschinen, Raumbedürfnis und sonstigem Apparat; sie kann in großen Massen einkaufen; sie erlangt niedrige Frachten; sie vermag die Begabung des Personals besser auszunutzen, Abfälle besser zu verwerten; sie darf sich eher kostspielige Experimente gestatten; sie vermag Verbesserungen des Betriebes besser anzubahnen und durchzuführen. Die große Unternehmung ist eine der wesentlichsten Bedingungen für eine Stetigkeit der Preise.

Von immer entscheidenderer Bedeutung für jedes Unternehmen wird die  ausgezeichnete Arbeitskraft  des Leiters und Führers. Nicht der Eigentümer des großen Kapitals ist auch der große Unternehmer. Wo eine begabte Persönlichkeit ist, da stellen sich ihr Kapitalien und Arbeitskräfte willig zu Gebote; denn Kapital und Arbeitskraft hungern nach einem wirtschaftlichen Talent, das sie nutzbringend zu verwenden vermag, wie der an Keimen reiche Boden nach befruchtendem Regen verlangt. Die günstige Konjunktur braucht nicht unbenutzt zu bleiben. Die Kapitalsmenge und die Ausbildung des Kreditsystems bewirkt, daß geschäftliche Begabung auch im rechten Augenblick das Kapital findet für gewinnreiches Operieren.

Glück und Zufall verlieren an Bedeutung. Niemals war die Zeit so günstig dafür, daß die tüchtige Kraft es im wirtschaftlichen Leben zu hoher Bedeutung bringt. Mehr als je ist die persönliche Geschäftstüchtigkeit zum Hebel wirtschaftlichen Fortschritts, zum Gewinn für alle geworden. Die Spezialisierung des Talents tritt dabei zurück. Der Charakter, den der wirtschaftliche Betrieb angenommen hat, bringt es mit sich, daß die Geschäftstüchtigkeit auf den verschiedensten Gebieten gleichmäßig zuhause ist. Urteil, Findigkeit, Sorgfalt, Ausdauer, die Kunst zu leiten und anzuordnen, mit Menschen umzugehen ist in jeder Art von Geschäften gleich verwendbar, und das spezifische Element des bestimmten Faches ist kein für den Außenstehenden unzugängliches Arkanum [Geheimnis - wp].

Damit verträgt sich sehr wohl, daß auf manchen Gebieten die Persönlichkeit des Unternehmers ohne Nachteil, oft mit Vorteil durch eine  anonyme Kapitalassoziation  ersetzt werden kann, deren Beamte dann wieder eine andere wertvolle Art von geschäftlicher Begabung verwerten und ausbilden. Wo es gilt, einen Betrieb im gleichmäßigen Gang zu erhalten, nicht sowohl neue Wege zu bahnen, als bei weitem überwiegend vorgezeichnete Funktionen regelmäßig zu üben, wie im Bank-, Transport-, Versicherungswesen, da ist die Kapitalassoziation im großen Maßstab ein höchst bedeutngsvoller Faktor immer steigender wirtschaftlicher Erfolge.

Andererseits ist die Anforderung an den  industriellen Arbeiter  und seine persönliche Geschicklichkeit im beständigen Steigen. Die Maschine wird immer selbständiger; immer mehr wird sie darauf eingerichtet, sich selbst zu regulieren. Damit wird sie aber zugleich kostbarer und empfindlicher, und beim Arbeiter, der sie bedient, wird immer mehr Verständnis für den Gang der Maschine und eine immer gespanntere Aufmerksamkeit erfordert. Seine Beschäftigung wird immer weniger eintönig und verlangt immer mehr eigenes Urteil. Der Arbeiter in der großen Fabrik wird in seiner Weise selbst zum Leiter, Aufseher und Ordner, statt daß bloß auf die Aufwendung seiner mechanischen Kraft gezählt würde.

Die zunehmende Ersetzung bloß mechanischer menschlicher Arbeit durch die Maschine macht menschliche Kräfte frei für höhere Arbeitsformen im  Handwerk.  Das Handwerk verfeinert sich; es erlangt seinen höheren Wert und das Recht auf Bestand und Blüte durch eine Ausbildung des Geschmacks, durch Sorgfalt in der Ausführung, durch ein Verständnis für die individuellen Bedürfnisse des Bestellers. In vielen Zweigen nimmt es ein Element der Kunst in sich auf und wird zum  Kunsthandwerk,  sich selbst und die gesamte Umgebung des Menschen veredelnd. So wird dem besonderen Talent Raum geschaffen und der gesteigerten Arbeit entspricht ein gesteigerter Lohn und eine höhere gesellschaftliche Stellung.

Zugleich wird die menschliche Begabung und Fertigkeit unabhängiger vom Zufall der Geburt und von einem bestimmten Ort. Die Welt steht ihr offen, um sich geltend zu machen; die Schranken sind gefallen, die Laufbahn ist offen für jede tüchtige Kraft auf dem ganzen Erdboden. Der Weltmarkt winkt auch ihr und teilt ihr seine Prämien aus. Es kommt nur darauf an, daß einer was kann. Das menschliche Los ist gegen früher ganz allgemein sicherer und günstiger geworden.

3. Durch die Freiheit des Unternehmertums und des Austausches wird die Masse der unnützen Arbeit stetig verringert, die Masse der fruchtbaren Arbeit stetig vergrößert. 

In freier Bewegung des Wettbewerbs bildet sich die  Arbeitsteilung nach geographischen Zonen, Ländern und Völkern, Bezirken und Ortschaften  immer vollkommener aus. Jede Arbeit wird da vollbracht, wo die Bedingungen für sie am günstigsten liegen, wo dem gleichen Quantum aufgewandter Arbeit der verhältnismäßig reichste Ertrag lohnt, und das in abgestufter Reihe, bis das Gesamtbedürfnis befriedigt ist.

Durch die Vervollkommnung der Transportmittel und die Erleichterung des Austausches geschieht es, daß jedem Teil der Menschheit ein möglichst großer Genuß an wirtschaftlichen Gütern für einen möglichst geringen Aufwand an Arbeit zugänglich wird.

Jedes System künstlicher Anordnung kann in dieser Beziehung nur verhängnisvolle Wirkungen üben.  Der Schutz der nationalen Arbeit sollte vielmehr Schutz der nationalen Mühseligkeit genannt werden.  Man hängt einem kraftstrotzenden Riesen schwere Klötze an die Beine. Ist er nun trotzdem vorwärts gekommen, so hat man daran deutlich den Segen solcher Klötze vor Augen; denn offenbar haben sie das Vorwärtskommen bewirkt.

Die Masse an Arbeit, die geleistet werden kann, hängt ab von der Masse der vorhandenen Arbeitskräfte und Arbeitsmittel. Unmöglich ist es, die Masse der zu leistenden Arbeit künstlich zu vergrößern; aber wohl ist es möglich, sie künstlich zu verringern. Ein ausgeklügeltes System der Protektion verlegt die Wege, die als die nächsten zur Befriedigung der vorhandenen Bedürfnisse eingeschlagen werden; was man damit wirklich erreicht, ist nichts als eine Translokation. Eben dieselbe Menge des Kapitals und der Arbeitskraft, die man in die künstlich geschützte Industrie hineindrängt, die entzieht man anderen Industrien, die an Kapitalzins und Arbeitslohn ertragreicher sein würden. So schafft man ein gewisses Quantum an unnützer und verschwendeter Arbeit, die ohne einen solchen Schutz nicht geleistet zu werden braucht, und die Summe des Ertrages wird verringert.

Daß alle protektionistischen Maßregeln verwerflich wären, ist damit nicht gesagt. Gewiß kann es Gründe geben, die auch eine einsichtsvolle Regierung zu ihnen drängen. Aber verwerflich ist, aus ihnen ein Prinzip zu machen. Der Krieg aller gegen alle kann nicht das wirtschaftliche Ziel sein. Im wirtschaftlichen Leben kann man nicht den andern schädigen, ohne sich selbst zu schädigen. Schießt man auf den Nachbarn, so schießt er zurück, und die Folge ist das Elend auf beiden Seiten.

In einem Zeitalter, wo man allen Scharfsinn und alle Mühe aufwendet, Straßen und Werkzeuge des leichtesten und schnellsten Verkehrs mitten durch die Eingeweide der Berge und über die Fluten des Weltmeeres zu führen, ist es ein Widersinn, eben diese Straßen durch Blöcke zu sperren, damit man sie nur nicht nach ihrer Bestimmung benutzt. Man veranstaltet Ausstellungen, bei denen die Absicht nur die zu sein scheint, den Leuten die Herrlichkeiten zu zeigen, die ihnen künstlich unzugänglich gemacht worden sind. An die Stelle des Weltmarktes setzt man lokale Beschränkungen, anstelle der natürlichen Preisbildung eine künstliche; man läßt Monopole wieder aufleben und überliefert den Konsumenten der Willkür von Produzentenringen, die keine Konkurrenz zu fürchten haben.

Kehren wir dagegen zu unserer Annahme zurück, wonach das System wirtschaftlicher Freiheit als das der modernen Form der Wirtschaft angemessene auch zwischen den Völkern herrscht, so finden wir den eingeborenen Zug der wirtschaftlichen Verhältnisse zur Vervollkommnung und zum allgemeinen Vorteil für alle wieder.

Die Konkurrenz zwingt, je weiter sie greift, zur Produktion mit den geringsten Kosten; sie treibt zu jeder technischen Verbesserung; sie lehrt alle Kraft zusammennehmen und erzieht zu wirtschaftlicher Tugend; sie läßt keinen Schlendrian, kein Stocken und keinen Stillstand zu.

Aus Ländern von geringerer Kultur erhält der Konsument in unserem Land billige Rohstoffe und Lebensmittel; wir senden ihnen dafür unsere Industrieprodukte. Die Zonen, die Klimate tauschen aus und bereichern sich gegenseitig. Doch es ist überflüssig, bei dem zu verweilen, was heller als der Tag ist. Das System des freien Austauschs macht es allein möglich, daß in unserem Klima da eine dreifache Bevölkerung in verhältnismäßigem Wohlstand lebt, wo vor 100 Jahren eine dreifach geringere Bevölkerung darbte. Es ist kein Grund zur Annahme, daß die weitergehende Entwicklung nicht in derselben Richtung noch viel glänzendere Resultate erzeugen sollte, wenn man ihr freie Bahn gönnt.

4. Die fortschreitende wirtschaftliche Kultur auf das Basis der freien Unternehmung und des freien Austauschs hat die Tendenz, die Ungleichheiten zwischen den Menschen in Einkommen und Genuß der wirtschaftlichen Güter fortschreitend zu verringern und auszugleichen. 

In diesem Punkt gilt es am allermeisten den Deklamationen der Einsichtslosen oder Übelwollenden zu widerstehen, die nur die unleugbar vorhandenen Schäden betonen, aber zu gedankenlos oder zu gehässig sind, um sie mit denen der vergangenen Zeit zu vergleichen und die Richtung der Bewegung zu untersuchen, ob sie zu einer Vergrößerung oder zur Verringerung der überkommenen Schäden zu führen die Natur hat.

Ungleichheit zwischen den Menschen auch in den wirtschaftlichen Verhältnissen ist natürlich und notwendig. Sie ist ansich auch ein Segen und kein Übel; denn sie spornt und weckt menschliche Kraft, die höhere Stellung zu erringen oder zu bewahren. Ungleichheit erscheint im Gefolge jeder höheren Kultur. Leidlich gleich sind die Wilden; aber es ist die Gleichheit des Elends und des Wahnes.

Die Ungleichheit wird erst zum Übel, wo sie übermäßig groß wird. Dieses Übel aber ist am ehesten die Frucht von wirtschaftlicher Gebundenheit. Wo der Gegensatz von Freien und Unfreien, von Herren und Knechten durch eine politische und gesellschaftliche Organisation festgelegt ist; wo unüberwindliche Schranken zwischen Kasten und Klassen errichtet sind und das überkommene Geschick unbezwingbar ist auch für die tüchtigste Kraft: da hat die wirtschaftliche Ungleichheit die Neigung, sich im Laufe der Generationen zu steigern und ins Ungemessene zu wachsen. Wirtschaftliche Freiheit dagegen, die jeder vorhandenen Kraft und Begabung Raum schafft, sich zu betätigen, ist das Mittel, die Ungleichheit in engeren Schranken zu halten und sie auf ihr naturnotwendiges Maß zurückzuführen.

Fortgeschrittene wirtschaftliche Kultur mit einer Freiheit der Unternehmung und des Austauschs hat deshalb nicht bloß zur Folge, daß die Produktivität der Arbeit im größten Maßstab wächst, sondern auch daß sich die erzeugten Güter in möglichster Gleichmäßigkeit unter alle verteilen.  Der Gewinn, den die Menschen aus dem System der wirtschaftlichen Freiheit ziehen, ist somit am größten auf Seiten der früher am meisten benachteiligten, der niederen Klassen.

Die steigende Entwicklung der Transportmittel, die stetige Erweiterung des Marktes, die zunehmende Gleichförmigkeit des Verfahrens der Produktion in allen Ländern der Kulturwelt, das Maschinenwesen und die Herstellung einer ungezählten Menge gleichartiger Dinge nach einem gleichen Modell, die sich daraus ergebende Gleichmäßigkeit und Billigkeit der Preise für Gegenstände des allgemeinsten Gebrauchs, das alles, was gerade für die neue Zeit charakteristisch ist, kommt am allermeisten der großen Masse und den Massenbedürfnissen zu statten.

In den Zeiten, wo die Mittel des Transports weniger entwickelt waren, konnte man aus fernen Ländern nur die kostbareren Güter heranschaffen für die Bequemlichkeit und den Luxus der besser Situierten; die Verbesserung und Verbilligung des Transports macht es möglich, daß gerade die Befriedigung der Bedürfnisse der großen Massen erleichtert wird, indem die nicht ausreichende Produktion des eigenen Bodens durch die Zufuhren aus weiter Ferne ergänzt wird.

Unter den Einwirkungen des modernen wirtschaftlichen Betriebes  werden die plötzlichen Glückswechsel seltener.  Das Versinken der Reichen in Armut und Elend wird durch eine große Anzahl von Vorkehrungen abgewehrt. Freilich, für Sünden und Laster und eine vollkommene wirtschaftliche Unfähigkeit werden die Aussichten immer ein wenig glänzend bleiben; für solche Schäden ist kein Kraut gewachsen.  Dagegen wird das Aufsteigen der Armen zu Wohlstand und zu Reichtum fortschreitend erleichtert.  Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst der Prozentsatz erfolgreicher Unternehmungen im Verhältnis zu denjenigen mit ungünstigem Ausgang: aber die Größe der Erfolge nimmt im allgemeinen ab.  Bescheidener Wohlstand gewinnt an Ausdehnung. 

Erworbenes Vermögen und gesellschaftlich angesehene Stellung hält sich länger in derselben Familie  als noch zu Anfang des Jahrhunderts. Die großen Katastrophen kommen nicht mehr vor; selbst der Krieg hat an verheerender Einwirkung auf privaten Wohlstand eingebüßt, durch die Verkürzung der Dauer wie durch die menschlichere Art der Kriegsführung. Ein Börsenkrach trifft nur die Leichtfertigen oder Gewinssüchtigen; es gibt eine hinreichende Zahl von Gelegenheiten zu sicherer Anlage, und niemand ist gezwungen, sein Vermögen durch eine unsichere Anlage aufs Spiel zu setzen.

Früher galt das Wort: Innerhalb dreier Generationen wechselt die Familie des Herrn und die seines Kutschers ihre soziale Stellung; und in Amerika sagte man: In drei Generationen geht es von Hemdsärmeln aufwärts und wieder zu Hemdsärmeln bergab. Das hat sich doch sehr geändert, seitdem eine zunehmende Gesittung unsinnigen Aufwand einschränkt, dagegen die Sicherheit der Kapitalsanlage verstärkt hat, seitdem ferner die Erziehung allgemeiner und vernünftiger geworden ist und die hochmütigen Ansprüche bevorzugter Stände sich zu bescheiden gezwungen worden sind.

Das Geschäftsrisiko nimmt stetig ab, und die Aussichten für Nüchternheit, Fleiß und Sorgfalt werden immer günstiger.  Geschäftliche Tüchtigkeit bezieht ihre Rente viel sicherer als früher. Es kommt wohl immer noch vor, daß solche, die durch Talent und Glück besonders begünstigt sind, ungeheure Vermögen erwerben; aber im Großen und Ganzen wird die Verteilung der Vermögen eine immer gleichmäßigere. Die übergroßen Vermögen kommen am ehesten in den Ländern mit protektionistischen Tendenzen zustande; wirtschaftliche Freiheit begünstigt den Ausgleicht.

Es gibt für jedes Volk je nach seiner geschichtlichen Lage ein glücklichstes Verhältnis zwischen großen, mittleren und kleinen Vermögen; denn vorhanden sein müssen alle drei, soll das Volk gedeihen. Eben dieses glücklichste Verhältnis bildet sich langsam aber sicher heraus, wo wirtschaftliche Freiheit herrscht. Schon unter den gegenwärtigen Zuständen läßt sich diese Tendenz mit aller Deutlichkeit beobachten.  Seit langer Zeit wächst das Einkommen der Mittelklassen in größerem Maßstab als das der meisten Begüterten.  Das Einkommen des Handwerkes steigt verhältnismäßig mehr als das des Beamten, und das Einkommen des ungelernten gewöhnlichen Arbeiters steigt schneller und in einem größeren Verhältnis als das des Handwerkers. Unternehmer- und Handelsgewinne sinken, Kapitalzins und Bodenrente nehmen stetig ab. So hohe Gehält wie noch zu Anfang des Jahrhunderts gibt es nirgends mehr in keiner noch so hohen Stellung des Zivil- oder Militärdienstes; nur die Einkünfte katholischer Kirchenfürsten sind zum Teil unvernünftig hoch geblieben. Die mittleren oder geringeren Gehälter steigen dagegen im Verhältnis, und die Differenz zwischen ihnen und den höchsten Gehältern wird immer geringer. Indem die Ausdehnung des Marktes wächst, schwächt sich der Vorteil der geringeren Entfernung fortwährend ab, und die hohen Monopolgewinne früherer Zeiten werden mehr und mehr unmöglich.

Es ist eine einfache Konsequenz der wirtschaftlichen Freiheit, insbesondere des Koalitionsrechts der Arbeiter, daß  die Löhne die Tendenz innehaben, das für sie günstigste Niveau zu erreichen.  Dieses Niveau ist erreicht, wo die Löhne gleich werden dem Reinprodukt der durch sie vergoltenen Arbeit, d. h. dem Wert des Arbeitsproduktes nach Abzug der Zinsen für das bei der Arbeit mitwirkende Kapital. In enger Verbindung damit stellt sich, was auf diesem Gebiet das Gerechteste und Zweckmäßigste ist, unter den gleichen Bedingungen im Verlauf langer Perioden allmählich her, nämlich daß jeder für den Lohn aus seiner Arbeit das Reinprodukt eines gleichen Quantums anderer Arbeit von gleicher Stufe einzutauschen vermag. Indem die durchschnittliche Produktivität der Arbeit in all den Fächern und Gewerben steigt, für deren Erzeugnisse der Arbeiter seinen Lohn ausgeben muß, so  steigt damit zugleich die durchschnittliche Lohnhöhe und die Kaufkraft des erlangten Lohne.  Immer also sind es die Geringen und Niederen, deren Los dadurch die verhältnismäßig größte Verbesserung erfährt; sie sind es doch auch, die unter einem System künstlichen Schutzes oder ausgeklügelter sozialistischer Organisationen die größte Verkürzung erleiden.

So sehen wir in der Tat unter der Einwirkung des modernen Wirtschaftssystems  die Bevölkerung in einem größeren Maßstab wachsen als je in früheren Zeiten, aber die Masse des Elends fortwährend abnehmen.  Die Zahl der Menschen, die der öffentlichen Unterstützung anheimfallen, ist in allen Ländern höherer wirtschaftlicher Kultur in beständigem Sinken, und das doch nicht bloß infolge vernünftigerer Organisationen der Wohltätigkeit oder verstärkten Spartriebes. Wer sich heute keine Schuhe, Strümpfe oder Hemden beschaffen kann, gilt für bettelarm; früher waren drei Vierter der Bevölkerung in dieser Lage, ohne sich zu beklagen. Solche Sachen verfeinerter Lebensführung wie Taschentücher, Fenstervorhänge, Papiertapeten sind zum allgemeinsten Attribut auch der Ärmsten geworden. Der Verbrauch von Pflanzenkost, noch mehr der von Fleisch, wieder mehr der von Getränken und am meisten der von Manufakturwaren, auf den Kopf der Bevölkerung berechnet, ist in beständiger rascher Zunahme.

Eben dieses Wachstum des allgemeinen Wohlstandes gestattet das Bestreben, auch durch eine öffentliche gesetzliche Anordnung die Bedingungen für den Lohnarbeiter fortwährend zu verbessern.

Man muß in dem, was man jetzt gewöhnlich  sozialpolitische Gesetzgebung  nennt, die sehr verschiedenen Bestandteile wohl auseinanderhalten, um sie richtig zu verstehen und zu würdigen. Ein großer Teil der bezüglichen Anordnungen ist nicht unmittelbar wirtschaftlicher Art, sondern betrifft eine weitgehende  polizeiliche Fürsorge  zur Abwehr von Schädlichkeiten: die Abstellung von Mißständen und Gefahren in sanitärer und moralischer Hinsicht, Schutz der Schwachen, der Kinder, der jugendlichen, der weiblichen Arbeiter gegen die übermäßige Ausnutzung ihrer Kräfte, die ebensosehr vom eigenen Unverstand wie vom Eigennutz der Arbeitgeber zu befürchten ist.

Ein anderer Teil weider ist  privatrechtlicher Art  und will die Einhaltung der  Gerechtigkeit im Abschluß eines Arbeitsvertrages  sichern, damit eine Übervorteilung der Arbeiter wie der Arbeitgeber, jedes durch den anderen Teil, nach Möglichkeit ausgeschlossen wird.

Diese Gesetzgebung gehört zu den glänzenden Seiten in den erneuernden Bestrebungen der Gegenwart; nur muß sorgfältig darauf gehalten werden, daß man nicht in blindem Eifer über das Ziel hinausschießt und sich die Segnung in ein Verderben verkehrt. Wer den Schutz und die Bindung so weit treibt, daß er den Mut der Unternehmung unterbindet, die Produktivität der Arbeit und die Menge der möglicherweise zu leistenden Arbeit heruntersetzt, die Konkurrenz mit dem Ausland erschwert: der hat in einem blinden Drang der Besserung die Verhältnisse verschlechtert und naturgemäß diejenigen der Schwachen und Geringeren am meisten.  Einer solchen falschen Menschenfreundlichkeit gegenüber gilt die Mahnung: Summa humanitas summa saevitia! 

Von den vernünftigen und verdienstlichen Bestrebungen in dieser Richtung muß man alle Versuche sozialistischer Art, alle Anläufe zur künstlichen Organisation des wirtschaftlichen Betriebes, alle protektionistische Überklugheit, die eine Nation durch väterlichen Zwang lehren will, was sie eigentlich produzieren und was zu konsumieren hat, sorgfältig unterscheiden. Andererseits soll man das Verdienst an den wahrhaften Fortschritten der Gesetzgebung in Bezug auf wirtschaftliche Dinge keiner besonderen Gutmütigkeit und Einsicht der gegenwärtigen Menschen und auch nicht dem bitteren Zwang oder der Furcht vor der Sozialistengefahr zuschreiben:  sie ist vielmehr die einfache Konsequenz des gegenwärtigen Wirtschaftssystems. 

Weil die Menge des vorhandenen Kapitals so sehr gewachsen ist und in so großem Maßstab zu wachsen fortfährt, darum darf man dem Unternehmer zumuten, was man früher in einem bitteren Kampf um die Existenz nicht durfte, die Arbeitsräume und Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen weitestgehenden Anforderungen entsprechend an das, was zuträglich oder leidlich ist, mit immer größerem Aufwand von Mitteln und Sorgfalt zu gestalten. Und in dieser Richtung wird sich die Bewegung zu immer schöneren Zielen fortsetzen in dem Maß, wie der Reichtum der Nationen wächst, wie immer größere Mittel der Verbesserung verfügbar werden und Erfindsamkeit und Einsicht Übeln und Schäden geschickter zu begegnen lernt. Bürgschaft dafür leistet die innere Konsequenz des gegenwärtig herrschenden wirtschaftlichen Systems mit seinen innewohnenden Kräften.


In diesen Grundzügen stellt sich uns das moderne System der Wirtschaft dar. Haben wir das Gemälde in einem allzu optimistischen Sinn entworfen? Haben wir es in allzu lichten Farben aufgeführt? Wir glauben einen solchen Fehler mit aller Sorgfalt vermieden zu haben. Unsere Darstellung fußt auf den gegebenen Tatsachen, die jedem vor Augen liegen und auf den Beobachtungen und Darstellungen derer, die sich als die vorurteilslosesten und besonnensten Beurteiler und Forscher bewährt haben. Die Gegner, denen wir widerstehen, bewegen sich in unbestimmten Möglichkeiten, in traumhaften Vorstellungen von dem, was nicht ist, aber etwa gemacht werden könnte, wenn alles anders wäre als es ist, die Menschen und die Dinge und die Verhältnisse. Eine nüchterne Erwägung der Wirklichkeit, wie sie sich als das reife Produkt der geschichtlichen Tätigkeit des Menschengeschlechts herausgebildet hat, scheint uns den Vorzug zu verdienen.

Man kann über die wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit im Ausgang des 19. Jahrhunderts sehr Verschiedenes mit gleichem Recht sagen. Wer glänzende Lichtzeiten hervorhebt, hat guten Grund dafür; wer dunkle Schatten malt, weicht nicht von der Wahrheit ab. Aber vor  einer  Versuchung muß man sich hüten: die vorhandenen Übel, die doch zum größeren Teil noch nicht überwundene Reste aus der Vergangenheit sind, dem herrschenden System zur Last zu legen und über die machtvollen Hebel stetigen Fortschrittes, die dem System eigen sind, achtlos hinwegzusehen.

Der gesamte moderne Zustand ist mit den wirtschaftlichen Verhältnissen auf das Innigste verflochten; alles wirkt wechselseitig aufeinander, gebend und empfangend. So hängt Politisches und Soziales, Religiöses und Sittliches, Technisches und Gedankliches auf das Innigste zusammen, und jede Seite des Gesamtzustandes hat ihren Anteil an der einheitlichen Richtung, in der die Dinge überhaupt gehen. Da sind einerseits die freien politischen Verfassungsformen, das allgemeine Wahlrecht und die öffentliche Debatte in Parlament und Presse; da ist die Macht der Kapitalasszoziation, der Fach- und Gewerkvereine, der Konsum- und Produktionsgenossenschaften, das gehobene Selbstvertrauen und die steigenden Ansprüche der Arbeitermassen; da sind ferner die allgemein verbreiteten Bildungsmittel, der Volksunterricht, das tiefere Eingreifen der Kirchen und die vom Geist der Religiosität getragenen Humanitätsbestrebungen. Manche dieser wirksamen Momente sind nue auf den Schauplatz getreten; andere sind alt, haben aber ihren Einfluß mächtig verstärkt. Es ist jeder Grund zu der Annahme vorhanden, daß sie zusammenwirkend im Fortgang der Zeit immer günstigere Erfolge zur Reife bringen werden.

Diejenigen, die mit den furchtbaren Übelständen demonstrieren, die mit den neuen Formen wirtschaftlichen Lebens noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts verbunden gewesen sind, bleiben den Beweis schuldig, daß jene Übelstände notwendige, unabstellbare Folgen des Systems sind. Daß sie geherrscht haben in einem Zeitalter des Übergangs und der Unerfahrenheit, des rücksichtslosen Kampfes um Bestehen oder Untergehen, um Siegen oder Unterliegen ist wohl begreiflich. So mußten sie wohl am heftigsten und schlimmsten in England als dem ursprünglichsten Schauplatz der industriellen Bewegung hervortreten. Ein Beweis gegen das System als solches liegt darin aber nicht. Gerade die Fortentwicklung des angeschuldigten Systems erzeugt die Heilmittel und bringt die Übel langsam zum Verschwinden.

Die gesetzgeberischen Akte im Sinne eines Staatssozialismus sind von der fragwürdigsten Wirkung wie alle künstliche Veranstaltung, die sich mit großem Geräusch ankündigt.  Die wirklichen Fortschritte vollziehen sich in der Form langsamer Transmutationen durch die stete Summierung unendlich kleiner Wandelungen in längeren Zeiträumen. 

Die zu erreichenden Ziele schweben allen edel Gesinnten in gleicher Form vor; der Streit dreht sich um die geeigneten Mittel. Gütererzeugung und äußerster Wohlstand ist nicht das höchste Ziel, aber ein wichtiger Hebel des Fortschritts in intellektueller, sittlicher und religiöser Kultur. Diejenigen, die für wirtschaftliche Freiheit einstehen, sind bloß deshalb doch wohl nicht die schlechteren Menschen. Man kann die Segnungen des Kapitals betonen und behaupten, daß diejenigen, die das Kapital verwalten, im Allgemeinen keine unedleren Gesinnungen haben als andere Menschen, und doch dabei wesentlich das Wohl der Niederen und Geringen im Auge behalten. Es ist kein Beweis von höherer sittlicher Auffassung, wenn man staatlichen Zwang, bürokratische Einschränkung, äußere Reglementierung für das Allheilmittel hält, als wenn man sich lieber auf die freie Entfaltung persönlicher Kräfte, auf Selbstverantwortlichkeit und die innere Vernunft der Sache verläßt.

Es ist schwer, gegen den Taumel anzukämpfen, der die Gemüter ergriffen hat und die Hohen wie die Niederen mit sich fortreißt. Aber zum Kleinmut ist kein Grund. Die Logik der Tatsachen ist allzumächtig. Der eingeborene Zug der Sache geht auch unter tausend Hemmungen und Widerständen, die ihm der Wahn und die blinde Leidenschaft entgegenstellt, seinen sicheren Gang. Der guten Sache der wirtschaftlichen Freiheit wird es niemals an Vertretern fehlen und die innere Notwendigkeit der Entwicklung wird ihnen zu Hilfe kommen. Das Verkehrte wird stetig durch die Erfahrung widerlegt; das Rechte und Wahre aber geht aus jeder Prüfung nur glänzender und mächtiger hervor.

Die geordnete Welt hat eine ungemeine Kraft der Selbsterhaltung. Wenn Torheit und Bosheit, gemeine Leidenschaft und fanatischer Wahn sie umstoßen könnte, sie wäre längst zugrunde gegangen. Die heuchlerische Selbstsucht der Begünstigten, die jede Schädigung ihrer Interessen für ein frevelhaftes Attentat auf die öffentliche Wohlfahrt ausgibt, dauert wohl fort; aber der schlimmste Giftzahn ist ihr ausgebrochen. Wohl kommt es vor, daß hohe Getreidezölle und Prämien für Spiritusbrenner im Namen des Christentums als Grundsäulen einer christlichen Gesellschaftsordnung gefordert werden; aber das ist doch nicht mehr möglich, daß wie im 17. Jahrhundert die Grafschaften in der Nähe Londons eine Petition richten gegen den Bau von Chausseen im Norden Englands, damit ihr Einkommen nicht sinkt, oder daß wie einst in Frankreich die Anpflanzung neuer Weinberge verboten wird, damit nicht die alten Besitzer geschmälert werden. Der einseitige Kommunismus, wie es ein geistreicher Mann genannt hat, daß ein ganzes Volk für die Verluste und Fehler einer Klasse büßen und ihre Existenz durch eigene Opfer fristen muß, ist krass genug; aber eben deshalb darf man hoffen, daß solche Institutionen aus abgetanen Zeiten nicht dauern.

Dem Unsinn und der Selbstsucht ist Raum und Zeit gegeben, sich vorzudrängen, um sich selbst zu widerlegen. Aber allerdings, gezählt wird auf die Einsicht und den guten Willen der Edleren, damit es in der Welt besser wird. Niemand darf die Hände in den Schoß legen; jeder muß für das Gute und Rechte wirken, wie er kann. Darauf beruth die Hoffnung der Zukunft. Der letzte und wirksamste Grund alles Guten auch im wirtschaftlichen Leben ist der begeisterte Wille, der mit religiösem Eifer für die erkannte Wahrheit einsteht.
LITERATUR Adolf Lasson, Das unendlich Kleine im wirtschaftlichen Leben, Berlin 1891