p-4M. SchießlH. MaierTh. ZieglerA. HorwiczG. K. Uphues    
 
PAUL STERN
Einfühlung und Assoziation
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    Kapitel I - Der Einfühlungsgedanke in der Romantik
Kapitel II - Übergang vom Symbolbegriff zum Einfühlungsbegriff
Kapitel III - Die psychologische Tendenz bei Robert Vischer
Kapitel IV - Die Gestaltung des Gewonnenen
Kapitel V - Die Formulierung der Einwände gegen die Psychologie
Kapitel VI - Warum die Assoziation nicht ein bewußtes ...
Kapitel VII - Wie Assoziation und Gefühl zusammenhängt.
Kapitel VIII - Warum Assoziation nicht nur einen rein zufälligen ...
Kapitel IX - Zusammenfassung

"Bedeutsam und wichtig an diesen Ausführungen Robert Vischers ist der Hinweis auf die Tatsache, daß wir uns ästhetisch nur da verhalten, wo wir das Betrachtete wie etwas menschlich Beseeltes ansehen."

"War Hermann Lotze nicht darüber hinausgekommen, das ästhetische Objekt als Symbol eines eigentümlichen Genusses zu bezeichnen, ohne endgültigen Bescheid darüber zu geben, ob dieser Genuß denn nun zu unserem eigenen werde oder nicht, so finden wir bei Robert Vischer diese Frage deutlich bejaht:  Ich fühle, um zu fühlen."

"Vischers pantheistischer Standpunkt verleitet ihn dazu, durchweg mehr die Erkenntnis eines eigentümlichen Lebens in den Dingen zu betonen, als die Tatsache, daß es unsere eigenen Lebenszustände sind, die sich uns als ästhetische und zwar gleichzeitig als mehr oder minder wertvolle Erregungen darstellen."

"Haben wir uns aber einmal dazu entschlossen, die bei der ästhetischen Betrachtung auftretenden Erregungszustände, die wir allerdings, wo es sich um künstlerische Beschreibung und Mitteilung handelt, den Objekten zusprechen, doch eben nur als unsere eigenen anzusehen, so müssen wir auch die Gründe der ästhetischen Billigung in jenen unseren eigenen Erregungszuständen selbst suchen. Nun kann ich mich überhaupt in keinem Zustand befinden, ohne daß der ethische Wert desselben unter den für ihn Lust oder Unlust bestimmenden Faktoren enthalten wäre. Ich erlebe sozusagen alles, was ich erlebe, mit mehr oder weniger gutem Gewissen."

"SIEBECK wahrt sich damit gegen den gefährlichen Irrtum, als könnten Vorstellungen zunächst selbständig, sozusagen auf eigene Kosten, in mir vorhanden sein und es ruhig abwarten, in welchem Licht ich sie betrachten, in welchem Zusammenhang ich sie vorlassen will."


Kapitel III
Die psychologische Tendenz bei Robert Vischer

Was LOTZEs Ausführungen historisch so wichtig machte, war der Versuch, den ästhetischen Eindruck wirklich psychologisch zu analysieren und nicht nur, wie es noch VISCHER getan hat, sich bei der Berufung auf seine psychologische Notwendigkeit zu beruhigen. Die gleiche Tendenz hatte bereits FECHNER gehabt, als er sein ästhetisches Assoziationsprinzip proklamierte. Leider war der Begriff der Assoziation zu vieldeutig, als daß nicht Mißverständnisse eine Einigung in diesem Punkt hätten verhindern müssen. Metaphysische Nebenrücksichten traten dazu. Die Folge davon war ein bis heute noch nicht geschlichteter Gegensatz, der sich zwischen den aus der Metaphysik zurückkehrenden und den vom Standpunkt der Psychologie an die gleichen Fragen herantretenden Ästhetikern auftat. Da nun die ersteren doch der Psychologie nicht entraten konnten, so entwickelte sich gewissermaßen eine Psychologie in usum delphini ["geschönte" Psychologie - wp], der wir am besten in der an Anregungen reichen Schrift ROBERT VISCHERs über das optische Formgefühl nachgehen können.

Der psychologische Akt, welcher zu der gegenüber dem Formalismus postulierten Symbolisierung der Dinge führen soll, ist nach VISCHER die Einfühlung. VISCHER faßt dieselbe als inneres Nacherleben und stellt dieses hin als notwendiges Ergebnis eines jeden sich ungestört vertiefenden Sinneseindrucks, als "geistige Sublimation der sinnlichen Erregung." (1) Seine Schrift liefert eine eingehende Erläuterung ihrer Stationen und der Art des Überganges von der einen zur anderen.

Die primitivste Form jedes optischen Eindrucks ist nach VISCHER zunächst nur "ein träumerischer Scheint von Ensemble." "Die Sonderung seiner kumulativen Einheit ergibt sich im Schauen." (2) Wie sie sich vollziehe, erläutert VISCHER im Anschluß an die bekannte LOTZE-WUNDTsche-Theorie, wonach die Lokalisation der optischen Eindrücke im Sehfeld bestimmt wird durch die zur Fixation jedes einzelnen derselben erforderlichen Augenbewegungen. Den am Eindruck haftenden Gefühlston bezeichnet VISCHER als Zuempfindung, wenn er vom optischen, als Nachempfindung, wenn er von den motorischen Nerven, die bei dem Vorgang erregt werden, bestimmt ist. Man kann die Zuempfindung zugeben, die Nachempfindung in diesem Sinne aber wird dadurch problematisch, daß jene Augenbewegungen gar nicht, wie hier vorausgesetzt wird, bei der Auffassung räumlicher Objekte stattzufinden brauchen. Und prinzipiell spricht gegen jene Theorie der Umstand, daß es jeder psychologischen Analogie entbehrte und somit nur als Wunder begriffen werden könnte, wenn, wie sie verlangt, "Augenbewegungen, die doch an sich für das Bewußtsein mit gesehenen Größen ganz und gar nichts zu tun haben, das Bewußtsein solcher Größen entstehen ließen." (3) Indessen auch abgesehen von dieser allgemeineren Frage, niemals würde die mit Augenbewegungen verbundene Lust oder Unlust den Eindruck des Gesehenen von sich aus bestimmen. Ein schöner Mensch erscheint mir nicht plötzlich häßlich, wenn ich ihn mit gewaltsam seitwärts gedrehten Augen betrachte, wo doch gewiß jede weitere Bewegung des Auges, mit der ich den Konturen seiner Gestalt zu folgen versuchte, von beträchtlicher Unlust begleitet wäre! Die bei der Betrachtung eines Objektes vollzogenen Augenbewegungen blieben also für seine ästhetische Wirkung ohne Belang.

Wie vertieft sich nun aber die primitive Erregung? Zunächst läßt VISCHER den inneren Zusammenhang, in dem jeder einzelne Sinneseindruck mit den anderen Sinnessphären und weiter mit dem Allgemeinbefinden steht, ins Spiel treten: "Der ganze Leibmensch wird ergriffen." (4) "Alterskrumme Mauern können die Grundempfindung unserer leiblichen Statik beleidigen". (5) FRIEDRICH VISCHER führt hierzu später das Beispiel des Kindes an, das vor einem ohne sein Wissen bewegten Spiegel das Gleichgewicht verliert. Auch die Wirkung des Rhythmus soll bereits in diesem Zusammenhang erklärt sein. "Er ist nichts anderes, als die wohlige Gesamtempfindung einer harmonischen Reihe von gut gelungenen Selbstmotionen." (6) Man kann die Behauptung der allgemeinen körperlichen Reaktion zugeben. Die Beispiele indessen sind allein durch sie nicht zu erklären. Unser Befinden gegenüber den alterskrummen Mauern, der Fall des Kindes wären nicht möglich, ohne eine ausreichende Erfahrung über die Wirkung der Schwerkraft und über die Bewegungen, mit denen wir uns ihrer Gefährlichkeit entziehen. Ebensowenig ist der Rhythmus durch jene allgemeine körperliche Reaktion bereits erklärt. Wie kommt denn jene Reihe von Selbstmotionen dazu, als etwas Ganzes und mit einer wohligen Gesamtempfindung aufgenommen zu werden? Offenbar fehlt hier ein wichtiger Faktor in der Begründung jener Reaktionen.

Das ist aber erst die subjektive Seite der Sache. Fragen wir weiter nach den objektiven Bedingungen, unter denen der Gegenstand uns angenehm erscheint, so erfahren wir, daß hier vor allem seine Ähnlichkeit zunächst mit dem Bau des Auges, weiterhin aber mit dem Bau des ganzen Körpers maßgebend sei. Aus der Regelmäßigkeit und Symmetrie unseres Körpers soll unmittelbar die Freude an Regelmäßigkeit und Symmetrie überhaupt verständlich werden.

Die Unhaltbarkeit dieser Annahme VISCHERs findet sich bereits bei VOLKELT aufgezeigt. "Die Schönheit einer wellenförmigen Hügelreihe beruth nicht auf der Tatsache, daß auch unser Körper ähnliche Erhebungen und Vertiefungen aufweist, vielmehr darauf, daß ich vermittels der Phantasie das wellenförmige Auf und Nieder mit dem ganzen Körper mitmache und wohlige Empfindung dieses sanften Auf- und Niederschwebens genieße." (7) So bleibt auch hier das innere Nacherleben die Hauptsache.

Indessen nur die Anwendungen waren antastbar, die Behauptung behält ihren Wert: der ganze Leibmensch wird ergriffen. Anders ausgedrückt: es bestehen - aus welchen Gründen ist hier noch nicht die Frage - Beziehungen zwischen optischen Bildern, anderen Sinnessphären und schließlich unserer "allgemeinen Vitalempfindung." (8)

Von den Elementen unseres Selbst, die hier in Frage kommen, sind für VISCHER die wichtigsten die Bewegungs- (und Lage-)Empfindungen. Zur Art, wie sie zur Geltung gelangen, wendet sich seine weitere Untersuchung. Sie führen nur in seltenen Fällen zur wirklichen Bewegung. Meist hat es sein Bewenden bei der betreffenden Bewegungsvorstellung. Vorstellung aber ist VISCHER "ein geistiger Akt, durch den wir ein Etwas, das vorher dunkler Inhalt unserer Empfindung war, uns in unserem Inneren gegenüberstellen und markieren und zwar in anschaulich sinnlicher Form." (9) Wir können auf das erkenntnistheoretische Problem, das hiermit berührt wird, nicht eingehen. Nur das sei betont, daß die Theorie jenes Gegenüberstellens die Ich-Vorstellung als Begleiterscheinung jeder möglichen Vorstellung überhaupt ansehen müßte. Diese Theorie stößt nun aber auf eine eigentümliche Schwierigkeit, wenn sie den Zustand der ästhetischen Betrachtung erklären will. Denn in diesem Zustand ist der oben behauptete Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt verschwunden. Folgerichtig erhebt sich danach für den Anhänger jener Theorie die Frage: wo steckt während des Zustandes der ästhetischen Betrachtung mein Ich? Sehen wir zu, wie sich VISCHER mit dieser für ihn unumgänglichen Frage abfindet. "Es gibt Vorstellungen einer anderen und Vorstellungen meiner eigenen (Leib-)Form (Selbstvorstellung)" (10) ... "Bewußt wird erst die Selbstvorstellung, wenn sie ... sich zu einem Objekt oder zu einer Objektsvorstellung in Beziehung setzt." (11)

VISCHER erläutert diesen Satz an Erscheinungen des Traumlebens. Bei der Traumbildung nämlich werden oft "die von einer Erregung betroffenen Glieder (bzw. Nerven, Muskeln) nach Analogie ihrer Gestaltung nachgeahmt mit Hilfe eines nur annähernd ähnlichen Objekts." (12) So wählt sich der Traum etwa "das Dachgebälk des Hauses, um das Faserwerk der erregten Netzhaut darzustellen." (13) Auf diese Weise kommt die Erregung dann selbst zu Bewußtsein. Analog verhalte es sich bei der ästhetischen Erregung. Nur ist hier die Reihenfolge des Gegebenen umgekehrt: im Traum war die Empfindung das Frühere, die Objektvorstellung tritt hinzu, im ästhetischen Verhalten ist diese das Frühere, die entsprechende Empfindung, die "Selbstvorstellung" tritt hinzu und wird uns dann wie im Traum doch wieder erst durch die Objektvorstellung bewußt.

In solcher Weise führt das Dasein eines ästhetisch betrachteten Objekts in meinem Bewußtsein zum Dasein von Bewegungs- bzw. Lage-Empfindungen und damit zum Dasein von entsprechenden Selbstvorstellungen. "So wird die Art, wie die Erscheinung sich aufbaut, zu einer Analogie meines eigenen Aufbaus", "ich hülle mich in die Grenzen derselben wie in ein Kleid" - oder ich bewege mich, "von einer motorischen Vorstellung geleitet, an der Erstreckung einer Hügelkette hin." "Wir bewegen uns in und an den Formen." (14) Ist der ästhetische Eindruck bis zu dieser Tiefe gelangt, so repräsentiert er die VISCHERsche Einempfindung, deren Verwandtschaft mit dem LOTZEschen Gedankenkreis nach dem Vorgegangenen unverkennbar ist.

Die Frage ist nun, wie kann sich die Einempfindung zum Gefühl vertiefen? Nach VISCHER kann ein Gefühl im tieferen Sinne einer wirklichen Gemütserregung nur einem Menschlichen gegenüber zustandekommen. Wie kommt aber das Menschliche in das Objekt? Antwort: durch die Selbstvorstellung. Sie verleiht dem Objekt, indem sie in dasselbe hinüberwandert, den Schein der Beseeltheit. Und nachdem es diesen gewonnen hat, kann es für uns zum Erreger sympathetischer Gefühle werden. Sind diese entstanden, so ist die  Einfühlung  vollzogen.

Bedeutsam und wichtig an diesen Ausführungen VISCHERs ist der Hinweis auf die Tatsache, daß wir uns ästhetisch nur da verhalten, wo wir das Betrachtete wie etwas menschlich Beseeltes ansehen. Insofern es dies bedeuten soll, hat das Wort "Einfühlung" seinen guten Sinn. Hingegen ist mit diesem Wort mißverständlich und wenig glücklich gesagt, wie das ästhetisch Betrachtete für unsere Vorstellung zu seinem menschlichen Gehalt kommt. Wir müssen hierauf eingehen, weil man gerade im  Wort  "Einfühlung" ein nicht weiter zurückführbares Erklärungsprinzip für die ästhetische Betrachtung gefunden zu haben glaubte.

Zunächst ist allgemein zu bemerken, daß es wissenschaftlich nicht angeht, ohne Vorbehalt und ohne Betonung der Bildlichkeit des gewählten Ausdrucks das "Ich" oder "Gefühle" oder die "Selbstvorstellung" als etwas  räumlich Übertragbares  zu behandeln, wie es durch den Terminus "Ein"-Fühlung in der Tat geschieht.

Ein anderes tiefer greifendes Bedenken betrifft die Tatsache, daß mein Ich, bzw. Selbst, während es in das ästhetisch betrachtete Objekt hineingefühlt wird, sich unter der Hand ändert, daß es eben erst im Einfühlungsakt selber zu demjenigen Ich wird, welches sich als das schließlich hineingefühlte bezeichnen läßt. Es ist höchst mißverständlich zu sagen, wir supponieren dem Betrachteten "unsere Persönlichkeit" (15) Freilich supponieren wir dem Betrachteten etwas unserer Persönlichkeit Gleichartiges. Niemals aber "unsere" Persönlichkeit im strengen Sinn. Vielmehr entschwand uns gerade dieselbe in der ästhetischen Betrachtung. VISCHER selbst spricht von einer "Verflüchtigung des Selbstgefühls"! (16)

So zeigt sich der Terminus "Einfühlung", wenn wir nach wissenschaftlicher Schärfe suchen, wenig glücklich gewählt. Vielmehr zeigt er ganz das schillernde und paradoxe Gepräge der Schlagwörter und alles spricht dafür, daß wir uns als Psychologen nicht bei demselben beruhigen dürfen.

Auch den Versuch VISCHERs, die Einfühlung als etwas metaphysisch Gefordertes hinzustellen, kann uns an dieser Ansicht nicht irre machen. Nichts anderes nämlich soll hier zugrunde liegen als der pantheistische Drang zur Vereinigung mit der Welt. (17) Indessen an Erklärung ist hiermit nichts gewonnen. Der ästhetische Pantheismus, auf den ROBERT VISCHER sich beruft, ist ja selbst nur das Ergebnis eines Einfühlungsaktes, d. h. eben unserer Einfühlung in die Welt als Ganzes. Unsere Frage wäre wiederum die, wie ist diese Einfühlung in die Welt als Ganzes und allgemein, wie ist Einfühlung überhaupt psychologisch zu erklären.

Und weiter sehen wir nicht, wie der Drang zur Vereinigung mit der Welt als Ganzem - seine Befriedigung finden könnte durch unsere ästhetische "Vereinigung" mit einer einzelnen Erscheinnung  in  der Welt. Denn durch eine solche würde ja jene Vereinigung mit der Welt als Ganzem, worauf es dem Pantheisten einzig ankommen könnte, gerade  nicht  erreicht sein!

Hinsichtlich der ersten unserer anfänglich aufgestellten drei Fragen - wie kommen wir zu dem seelischen Gehalt, mit dem wir die Erscheinungsformen beleihen - haben wir also bei ROBERT VISCHER keine völlig befriedigende Auskunft gefunden.

Dagegen dürfen wir uns ihm hinsichtlich der zweiten anschließen.

War LOTZE nicht darüber hinausgekommen, das ästhetische Objekt als Symbol eines eigentümlichen Genusses zu bezeichnen, ohne endgültigen Bescheid darüber zu geben, ob dieser Genuß denn nun zu unserem eigenen werde oder nicht, so finden wir bei VISCHER diese Frage deutlich bejaht:
    "Ich fühle, um zu fühlen." (18)
Auch die dritte Frage, für die wir schon bei Lotze eine Auskunft suchten und fanden, hat VISCHER berührt. Auch ihm liegt der Wert der ästhetischen Erregung im Bereich der Ethik; aber es wird bei ihm nicht klar, wie dieser Wert uns zu Bewußtsein kommt.

Sein pantheistischer Standpunkt verleitet ihn dazu, durchweg mehr die Erkenntnis eines eigentümlichen Lebens in den Dingen zu betonen, als die Tatsache, daß es unsere eigenen Lebenszustände sind, die sich uns als ästhetische und zwar gleichzeitig als mehr oder minder wertvolle Erregungen darstellen. So läßt er denn unser Bewußtsein von jenem Wert dadurch entstehen, daß wir an "Jedes und Alles den Kanon der Liebe und friedlichen Ordnung, tückischer Wut und gehässiger Zerstörung halten." (19) Jene Wertung erscheint bei ihm somit fast im Licht einer Reflexion.

Haben wir uns aber einmal dazu entschlossen, die bei der ästhetischen Betrachtung auftretenden Erregungszustände, die wir allerdings, wo es sich um künstlerische Beschreibung und Mitteilung handelt, den Objekten zusprechen, doch eben nur als unsere eigenen anzusehen, so müssen wir auch die Gründe der ästhetischen Billigung in jenen unseren eigenen Erregungszuständen selbst suchen. Nun kann ich mich überhaupt in keinem Zustand befinden, ohne daß der ethische Wert desselben unter den für ihn Lust oder Unlust bestimmenden Faktoren enthalten wäre. Ich erlebe sozusagen alles, was ich erlebe, mit mehr oder weniger gutem Gewissen. Jedes Gefühl erhöhter Kraft, leichter, gelingender Betätigung, überhaupt jedes Gefühl, das in seinem Zusammenhang an mir Fähigkeiten voraussetzt, die mich selbst in irgendeiner Weise wertvoll machen, kurz jedes Selbstwertgefühl ist eo ipso [versteht sich von selbst - wp] ein gehobenes; auch dann, wenn das bewußte gedankliche Urteil hierüber meinem Zustand völlig fehlt. Das Eintreten solcher Selbstwertgefühle ist nun das Charakteristische des ästhetischen Genusses und die Vorbedingung der ästhetischen Billigung.

Man könnte hier fragen, wie es dann möglich sei, daß wir die Figuren eines RICHARD III. oder einer Lady MACBETH ästhetisch genießen; aber der hierin liegende Einwand läßt sich heben.

Zwei Fälle müssen wir unterscheiden: sie entsprechen dem ethischen Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Sympathie. Entweder diese Figuren bleiben uns wirklich abstoßend; dann fühlen wir überhaupt nicht mit ihnen, sondern mit denen, die unter ihnen zu leiden haben: der Fall bei Lady MACBETH. Vor ihr ergreift uns der Schauder, der MACBETH ergreifen muß, wenn er sich der dämonischen Macht bewußt wird, die aus diesem Weib heraus seinen Weg bestimmt.

Oder - und das ist der Fall bei RICHARD III. - wir werden zu Mitgenießern ihrer Gefühle. Aber wie ist das möglich? Es läßt sich begreifen, wenn man bedenkt, daß schlechte Gesinnungen und Taten nur insofern schlecht sind , als sie Rücksichten  nicht  nehmen, welche wir im praktischen Leben verlangen müssen. Tadelnswert ist niemals so sehr das Dasein dieser oder jener Gesinnung, als das Fehlen der korrigierenden Rücksicht, das Negative an der handelnden Persönlichkeit.

Jede Gesinnung und Handlung aber, sofern sich in ihr wie bei RICHARD III. Intensität des Gemüts, Stärke und Leidenschaftlichkeit der Tatkraft ausdrückt, ist ansich als positive Kundgebung menschlicher Eigenart wertvoll. Insofern sie es ist, kann sie dem nacherlebenden ästhetischen Genießer ethischen Stolz als höchsten Lustquell erschließen.

Kein Genuß höherer Art ist denkbar ohne gleichzeitig gehobenes Selbstgefühl. Alle künstlerischen und speziell die tragischen Genüsse aber gehören gewissermaßen zu den Maximalständen und Festen des Selbstgefühls. Umgekehrt, je reicher und reiner ein Mensch in seinem Selbstgefühl ist, um so leichter und intensiver wird er ästhetisch reagieren.

Hiermit scheiden wir auch von der dritten Frage, um unser ganzes Interesse wieder der ersten zuzuwenden, die es mit der Herkunft des symbolisch angeknüpften Inhaltes zu tun hatte.


Kapitel IV
Die Gestaltung des Gewonnenen
bei Groos, Siebeck, Fr. Vischer, Biese

Wir haben dargetan, daß und inwiefern ROBERT VISCHER jene erste Frage nicht ausreichend beantwortet hatte. Stellen wir uns nun aber auf den Standpunkt des Historikers, so müssen wir ihm doch eine positive Leistung zugestehen und seine nachhaltige Wirkung auf die Späteren anerkennen. Nur wurde leider durch diese Wirkung nicht das wirklich Wertvolle seiner Arbeit erhalten; vielmehr ein von Haus aus falscher Satz, der dank der energischen Vertretung, die er fand, bis heute unwiderlegt geblieben ist.

ROBERT VISCHER hatte, wie wir gesehen haben, in seinen Ausführungen Verzicht geleistet auf den von LOTZE und FECHNER herangezogenen Begriff der Assoziation. Indessen in irgendeiner Weise mußte er ihm gegenüber Stellung nehmen. In der Tat grenzte er die Einfühlung von der Assoziation ab. Auch diese, "die rein nach dem Gesichtspunkt eines Realzusammenhanges - die Ähnlichkeits-Assoziation wird ignoriert - andere, nicht gegenwärtige Bildvorstellungen, Gedanken und Lebensgefühle anknüpfe," (20) wirke in jedem ästhetischen Genuß notwendig mit. Aber, so dürfen wir seinen Gedankengang ergänzen, da sie auch anderwärts mitwirkt, macht nicht  sie  den Vorgang zu einem ästhetischen; das tut erst die Einfühlung.

VISCHER hat es vermieden, sich hier auf eine Polemik einzulassen. Diese wurde gewissermaßen erst dann unvermeidlich, als sich durch das Erscheinen zweier größerer, von assoziationspsychologischer Tendenz getragener Schriften der Gegensatz verschärft hatte. Es ist das erstens die Schrift SIEBECKs über das Wesen der ästhetischen Anschauung (Berlin 1875) und zweitens die FECHNERsche Vorschule der Ästhetik, welche neben vielem Neuen die alten Gedanken des Vortrags aus dem Jahr 1864 in vertiefter und breiterer Fassung darbot. Ehe wir auf diese Polemik eingehen, müssen wir gerechterweise jene positive Leistung, von der wir sprachen, aufzeigen und ihre Schicksale bei den Späteren beleuchten.

Wir haben bereits in der Einleitung darauf hingewiesen, daß man bei dem Wort "Einfühlung" an begrifflich trennbare, wenn auch demselben großen Zusammenhang angehörende, psychologische Momente denken konnte. Es war das erstens der Akt der Phantasie, mittels dessen wir uns in die äußere Situation der Objekte unserer ästhetischen Betrachtung hineinversetzen und durch den wir überhaupt erst zu ästhetischen Gefühlen gelangen. Es war das zweitens die Übertragung des so gewonnenen Gefühls auf die Objekte, wodurch dieselben den Charakter der Persönlichkeit zu gewinnen schienen.

Noch LOTZE hatte, wie gewiesen wurde, diesen Unterschied nicht genügend beachtet; das Resultat davon war gewesen, daß er an verschiedenen Orten zwei verschiedene Erklärungen der Einfühlung vertrat. Die Einfühlung als inneres Nacherleben führte er bei den einfachen Formen richtig auf die Vorstellung von Kräften, bzw. des in ihrem Widerstreit sich manifestierenden Wollens zurück. Auf die Übertragung unserer Gefühle und die aus ihr resultierende scheinbare Beseeltheit der ästhetisch betrachteten Dinge zielte der Satz von ihrer äußeren Ähnlichkeit mit mimischem menschlichen Ausdruck. Schon bei LOTZE selbst fanden wir den systematischen Einwand gegen diesen Gedanken: die Minderwertigkeit der rein individuellen Assoziationen. Auch den sachlichen VOLKELTs erwähnten wir schon; wir wiederholen denselben hier in etwas anderer Beleuchtung.

Es ist klar, daß die Form einer Vase ästhetisch berechtigterweise als Äußerung anmutig spielender Kräfte gefaßt werden und dabei doch sehr wohl der "Erinnerungshypothese" gemäß in ihren Linien an bestimmte einzelne Haltungen des menschlichen Körpers gemahnen könnte, die höchst verzweifelte Kraftäußerungen darstellen. Wir brauchten nur an die Rückenlinien von Athleten zu denken, die starke Lasten mit ihren Armen bezwingen. Jene beiden verschiedenen Begründungen gehen also nicht zusammen und man ersieht aus dem Gesagten leicht, daß die zweite gesucht und falsch ist: die Vase ist anmutig  trotz  ihrer Ähnlichkeit mit der Linie des Athletenkörpers. Wo sich eine derartige äußere Ähnlichkeit wirklich findet, da ist sie nur ein ästhetisch unwesentlicher und zufälliger Nebenerfolg der analogen Verhaltensweise im Sinne der Kräftetheorie.

ROBERT VISCHERs Verdienst nun ist es, jene beiden begrifflich auseinanderzuhaltenden Seiten des Einfühlungsaktes, die Einsfühlung oder Identifizierung mit dem Objekt und die Einfühlung unserer aus ihr resultierenden Gefühle in die Objekte, die Anthropomorphisierung im engeren Sinne, wissentlich getrennt zu haben. Zwar fand sich auch bei ihm ein Nachklang jener LOTZEschen Erinnerungshypothese; aber dieselbe beanspruchte in seinen Entwicklungen keinen systematischen Wert. Und war auch der Versuch, jene Einsfühlung von der physiologischen Erregung aus zu motivieren und die Gefühlsübertragung auf die Übertragung der "Selbstvorstellung" zurückzuführen als mißlungen zu bezeichnen, so lag doch darin, daß er die Einempfindung von der Vermenschlichung des Objekts begrifflich trennte, ein bedeutender Fortschritt.

Leider wurde derselbe alsbald wieder aufgegeben. Auf der einen Seite wurde das in der Theorie des inneren Nacherlebens unbestimmt enthaltene Moment der Wiederholung eines objektiv Vorhandenen im Subjekt für die Theorie verhängnisvoll; schon R. VISCHER hatte gelegentlich, wie gewiesen wurde, von "innerer Nachahmung" gesprochen, GROOS machte mit diesem Gedanken in dogmatischer Weise Ernst. Auf der anderen Seite, wie in FR. VISCHERs später erschienenen Schrift das Symbol und bei SIEBECK finden wir wieder die Behauptung von der Wirksamkeit auftauchender Erinnerungen an äußerlich ähnliche menschliche Ausdrucksformen im Mittelpunkt.

Bei GROOS ist die innere Nachahmung zunächst der Vorgang, durch den wir überhaupt zur Kenntnis der Außenwelt kommen. Die Empfindung gibt uns nur ein beziehungsloses Mannigfaltiges, ein blindes Gewirr von Eindrücken. (21) In der inneren Nachahmung bilden wir das hier gegebene mit besonderer Rücksicht auf die wichtigeren Bestandteile ab - denn alles nachzubilden hindert uns die Begrenztheit der seelischen Kraft - und lösen auf diese Weise vom Gegebenen ein Bild ab, das dank der hierbei in Tätigkeit tretenden "  Einbildungs -Kraft" in das Subjekt verpflanzt wird. Das so entstandene innere Bild ist nun zwar nicht selbst Wirklichkeit, sondern nur ein Schein, aber eben das, was es uns ermöglicht, uns in der Welt zurecht zu finden. Wir erkennen kurz gesagt die inneren Dinge dadurch, daß wir den von ihnen durch die "innere Nachahmung" losgelösten Schein in uns "hineinbilden".

Wie wir etwas nachahmen sollen, was wir noch nicht kennen, um dann doch nur durch die Nachahmung zur Kenntnis davon zu gelangen, ist freilich unerfindlich, ebenso das Recht, sich zur Erhärtung dieser erkenntnistheoretischen Doktrin auf KANT zu berufen, wie GROOS es verschiedentlich unternimmt. (22)

Wir kommen zu der psychologischen Seite der GROOSschen Lehre im engeren Sinne. Mit der Ablösung des Scheines trennt sich für mein Bewußtsein der Akt des Empfindens vom Gegenstand des Empfindens. Im praktischen Leben, so erfahren wir, konzentriert sich mein Bewußtsein alsbald auf den Gegenstand, im ästhetischen konzentriert es sich auf den Akt. Dieser war aber charakterisiert als innere Nachahmung; worin besteht also der Inhalt des Bewußtseins bei der ästhetischen Betrachtung? Er besteht "eben in diesem inneren Nachahmen selbst, in dieser sukzessive sich entwickelnden lebendigen Tätigkeit, die mit all den Vorstellungen und Gefühlen sozusagen getränkt ist, welche einen so subjektiven Vorgang begleiten müssen. Dasjenige, dessen ich mir dabei bewußt bin, ist nicht ein starres und totes Etwas außer mir, sondern die bewegende und beseelende Verwandlung, die an diesem Etwas durch innere Nachahmung vollzogen wird." (23)

Der Schluß ist hier so haltlos, wie die Prämissen. Zunächst hat noch kein Mensch den Akt des Empfindens neben seinen Inhalten als etwas besonderes wahrgenommen. Die Empfindung wird uns zu einem Akt erst dadurch, daß wir ihr aufgrund unseres kausalen Denkens ein reales Etwas, ein empfindendes Subjekt, eine im Dasein, Kommen und Gehen der Empfindungs inhalte  sich betätigende Persönlichkeit zugrunde legen. Der  Akt  der Empfindung ist die kausale Beziehung des Empfindungsinhaltes zu dieser Persönlichkeit oder diesem "hinzugedachten realen Etwas." (24) Nur als Begriff, als Gegenstand des Denkens kann uns also dieser "Akt" zu Bewußtsein kommen; die innere Wahrnehmung verhüllt uns dergleichen völlig. Noch nie hat sich jemand dabei angetroffen,  wie  er es fertig brachte, aufgrund einer für ihn durch nichts qualifizierten Anregung einen bestimmten Empfindungsinhalt zu produzieren.

Allerdings würden wir diese kausale Beziehung des Empfindungsinhaltes auf das empfindende Subjekt nicht vollziehen, wenn wir nicht beim Kommen und Gehen von Empfindungsinhalten ein Gefühl der Tätigkeit, der größeren oder geringeren Bemühung hätten. Bildet etwa dieses Gefühl, das doch nach GROOS mit dem Gefühl der inneren Nachahmung identisch sein müßte, das Objekt des ästhetischen Genusses? Leicht fließende, graziöse Linien werden von uns vielleicht, weil sie halb verlöscht sind, recht schwer, grobe, eckige, schwerfällige Linien, weil sie derb und in greller Farbe heraustreten, sehr leicht und spielend aufgefaßt oder "innerlich nachgeahmt." Scheinen darum jene ihrem Charakter nach schwer, diese leicht? Man sieht ohne weiteres, das Gefühl der Tätigkeit der inneren Nachahmung hätte mit ästhetischer Betrachtung gar nichts zu tun. Es gilt von ihm genau dasselbe, wie von den Augenbewegungen.

Die weiteren Ausführungen des GROOSschen Buches, wie die, daß die innere Nachahmung ein Spiel, daß die ästhetische Betrachtung somit eine Befriedigung des Spieltriebes und als solche erfreulich sei, bedürfen danach keiner besonderen Kritik.

Unter den Vertretern der LOTZEschen Erinnerungshypothese kommt zunächst SIEBECK in Betracht. Seine Ausführungen sind besonders darum so interessant, weil sich an ihnen ersehen läßt, wie die LOTZEsche Erinnerungshypothese den aufmerksamen Betrachter gleichsam von selbst dazu drängt, sie in die Theorie des inneren Nacherlebens aufzulösen.

SIEBECK tritt als Psychologe an die Frage heran. Er basiert im wesentlichen auf HERBART. Er sucht zu zeigen, wie aus der Wirksamkeit der Assoziationen die Apperzeption verständlich werde, wie diese selbst nichts weiter ist, als eine besondere Art jener Wirksamkeit und wie weiter die ästhetische Anschauung nichts anderes ist, als eine besondere Art der Apperzeption.

Ehe wir auf diese Art näher eingehen, sei hervorgehoben, daß SIEBECK sich anläßlich seines Apperzeptionsbegriffes dagegen verwahrt, als halte er die Apperzeption für etwas, was zu der vorangegangenen Perzeption wie etwas Neues hinzukomme. Er wahrt sich damit gegen den gefährlichen Irrtum, als könnten Vorstellungen zunächst selbständig, sozusagen auf eigene Kosten, in mir vorhanden sein und es ruhig abwarten, in welchem Licht ich sie betrachten, in welchem Zusammenhang ich sie vorlassen will. Ausdrücklich zitiert er den STEINTHALschen Satz, nach welchem keine Perzeption ohne Apperzeption zustande kommen kann. (25)

Die Hauptabsicht seines Werkes war nun, diejenige Art der Apperzeption zu charakterisieren, welcher die Objekte unserer ästhetischen Anschauung unterliegen. Hatte VISCHER auf das Problem des inneren Nacherlebens abzielend mit einer gewissen Einseitigkeit die körperlichen Folgeerscheinungen des ungestört sich vertiefenden Sinneseindruckes in den Vordergrund gestellt, um dann die Gesamterregung auf sie zurückzuführen, so ging SIEBECK, ganz der LOTZEschen Erinnerungshypothese gemäß, aus von unseren Beobachtungen an anderen Menschen, bzw. dem, was wir aus ihr gelernt haben. Er setzt voraus, daß wir für die geistige Bedeutung des  menschlichen  Äußeren bereits Verständnis uns Urteil gewonnen haben. Von da geht er weiter. "Das unbeseelte Sinnliche kann nämlich in Formen der Erscheinung spielen, welche an Ausdrucksformen der erscheinenden Persönlichkeit erinnern." Dadurch soll ein Schein von Beseelung auf das Objekt fallen, "d. h. der Betrachter wird das gegebene Objekt unwillkürlich nach Maßgabe der Vorstellung des Eindrucks der erscheinenden Persönlichkeit anzuschauen suchen und demgemäß dem Gegebenen diejenigen Merkmale leihen, welche er gewohnt ist, als Ausdruck des im Sinnlichen erscheinenden Geistes anzusehen." (26)

Das klingt noch sehr unbestimmt und unverfänglich. Nur ist eben der Terminus an Ausdrucksformen erinnern so allgemein gehalten, daß eine genauere Analyse erst hier den eigentlich schwierigen Teil ihrer Aufgabe zu lösen fände. Indessen lehrt uns SIEBECK den Sinn seiner Worte besser verstehen.
    "Wenn der Effekt eines Sees innerhalb einer waldigen Landschaft dem seelischen Ausdruck des Auges nahe kommt, so ist damit nicht notwendig bedingt, daß die Vorstellung des Sees wirklich die Vorstellung des Auges im Antlitz hervorruft, sondern der Grad des Gegensatzes, in welchem seine Vorstellung zu der der Umgebung steht, reproduziert die Stimmung, welche der nämliche oder ähnliche Grad des Gegensatzes hervorbringt, in welchem sich die Vorstellung des Auges zu der seiner unmittelbaren Umgebung befindet. Diese Stimmung war aber  V = G : S  ( das Merkmal der Anwesenheit des Geistes im Stoff, § 66, Seite 62) von ihr aus wird dann der Eindruck der Persönlichkeit maßgebend für die Gesamtanschauung des Objekts." (27)
Nun müssen wir uns wiederum dagegen wehren, als resultiere die Stimmung, die uns angesichts einer Landschaft erfaßt, lediglich aus äußeren Gegensätzlichkeiten des Gesehenen als solchen und ihrer Ähnlichkeit mit formalen Bestimmtheiten des menschlichen Äußeren. Es ist für die künstlerische Wirkung der Landschaft nicht gleichgültig, ob die Glut der Sonne mich zu träumerischer Ruhe prädisponiert, ob der würzige Duft des Waldes mir einzig erquickende Anregung zuweht; denn alles in ihr scheint unseren Genuß zu teilen. SIEBECK aber vernachlässigt in seiner Deduktion diese sehr wichtigen Erfahrungen. Indem er es tut, räumt er unseren äußeren Beobachtungen an anderen, gegenüber unseren sonstigen Erfahrungen und den Erlebnissen an uns selber, eine über Gebühr wichtige Stelle ein. Indessen für einen Anhänger der LOTZEschen Erinnerungshypothese war diese Stellungnahme nur konsequent. Eigentümlich ist es nun aber, zu sehen, wie der Begriff "Ausdrucksformen der erscheinenden Persönlichkeit" doch schließlich eine höchst unbestimmte und jedenfalls viel allgemeinere Bedeutung gewinnt, als SIEBECK ihm in jenen grundlegenden Auseinandersetzungen zuzugestehen scheint. So heißt es im Kapitel über Phantasie und Idealisierung:
    "Die Idealisierung bringt nach alledem das gegebene Objekt unter die Apperzeption bzw. Jllusion der Vorstellung eines sich in der Erscheinung manifestierenden geistigen Lebensprinzips und vertieft dadurch die Erscheinung der Oberfläche, die gegeben ist, durch das Hineintragen eines in und durch die erscheinende Form ausgesprochenen Inneren. Dieser Schein des Lebens wird für jedes ästhetische Objekt gemäß seiner eigentlichen Beschaffenheit ein individuell verschiedener sein: Leben ist ein anderes in der Darstellung des olympischen ZEUS, ein anderes in der des DISKOBOLOS, .... Ebenso ist es, wenngleich wieder in individueller Eigentümlichkeit, vorhanden in einem "Stillleben", nicht minder in der Darstellung etwa eines Volksfestes. Leben im angeführten Sinn ist aber auch im Aufquellen von Formen aus Formen, wie es  die Arabeske,  und nicht minder an ein bestimmtes Grundverhältnis von Kraft und Last gebunden, die Architektur eigentümlich hat. - Da ist überall am sichtbaren und schaubaren Objekt das rein äußerliche Erscheinen zum Schein eines Inneren, zum Ausdruck eines die Vielheit seiner Formen unsichtbar und doch sichtbar (anschaulich) beherrschenden Gesetzes geworden." (28)
Damit können wir uns nun zwar in sachlicher Hinsicht völlig einverstanden erklären. Wie lassen sich aber damit die früheren Sätze SIEBECKs vereinigen? Was kann es in Ansehung der Arabeske oder des Stilllebens heißen, daß sie in Formen der Erscheinung spielen, welche an Ausdrucks"formen" der erscheinenden Persönlichkeit erinnern? Das hat uns SIEBECK nicht gesagt. Und weiter vermissen wir nun die Antwort auf die Frage, auf die es doch gerade ankam: wodurch nämlich das ästhetisch Betrachtete den geistigen Gehalt, mit dem wir es beleihen, in seiner Eigenart von sich aus bestimmt, genauer gefragt, durch welche, mit der ästhetischen Betrachtung eines bestimmten Objektes gegebenen, psychischen Tatbestände ich als der ästhetische Betrachter zur  spezifisch bestimmten  Beseelung dieses Objektes in der Vorstellung genötigt bin?

Trotz aller Schwierigkeiten, in die sich die "Erinnerungshypothese" wieder und wieder verwickelte, erhielt sie sich bis auf unsere Tage, bis auf FRIEDRICH VISCHER (in seiner jüngsten Schrift das Symbol) und BIESE (Assoziationsprinzip und Anthropomorphismus in der Ästhetik). Allerdings ist auch ihnen der Rekurs auf die Theorie der innerlich nacherlebten Kräfte nicht unbekannt. So finden wir bei VISCHER den Satz, die symbolische Bedeutung des ästhetisch betrachteten Objekts "enthalte ein Geschehen durch eine Kraft." (29) Dieses Geschehen werden nun "Wille, Zweck, Handeln und Leiden."

Am Schluß aber liegt das Band, welches dem Objekt zu seiner symbolischen Bedeutung verhilft, doch wieder in der "mimischen Ähnlichkeit des Gesehenen mit mimischem menschlichen Ausdruck", (30) und die Beispiele lassen keinen Zweifel, daß VISCHER ganz auf Seiten der "Erinnerungshypothese" steht. So heißt es: "Bewölkter Himmel gemahnt an Stirnrunzeln", "Regen an Tränen" (!) "Blitz an schiessenden Zornesblick."! (31) Wie wenig sich FRIEDRICH VISCHER des Unterschiedes der beiden Hypothesen und damit dern beiden Momente des Einfühlungsbegriffes bewußt war, geht auch daraus hervor, daß er den ganzen von ROBERT VISCHER mühsam in seine Teile zerlegten Akt doch wieder als Ganzes mit dem Terminus "Einfühlung" zu bezeichnen vorschlug, selbst aber durchweg die Gefühlsübertragung als das eigentliche Rätsel der Einfühlung hinstellte.

Gegenüber den geometrischen Formen ist VISCHER im Grunde ratlos. Er hilft sich mit der Behauptung, ihre Ähnlichkeit mit dem Menschen liege darin, daß auch sie, wie der Mensch, eine Einheit in einer Vielheit darstellen. Nach einem Kriterium darüber, wann denn eine Vielheit von Formen dem ästhetischen Betrachter zu einer Einheit gebunden erscheine, wird aber nicht gefragt.

Unterdessen darf nicht verkannt werden, daß gerade VISCHER nach wie vor die zentrale Stellung und die ausschlaggebende Bedeutung des Problems der einfachen Formen voll zu würdigen wußte. Seine alte Gegnerschaft gegen den Formalismus kommt hier zum Durchbruch. Die Harmonik, so verlangt er, soll auf symbolische Mimik zurückgeführt werden; (32) denn hier liegt die Entscheidung, ob der Formalismus recht habe oder nicht.

Naturgemäß zeigt sich auch hier, eben wegen jener Rätselhaftigkeit der Gefühlsübertragung, die "Erinnerungshypothese" wiederum verbunden mit metaphysischen Spekulationen über das Objekt. Im gleichen Sinne äußern VOLKELT und BIESE. Ohne die Annahme einer "nicht weiter ableitbaren immanenten Nötigung", (33) die uns zwingt, die Dinge für beseelt zu halten, sei die Gefühlsübertragung nicht erklärbar. Dieser immanenten Nötigung korrespondiert dann eine ebenfalls nicht weiter analysierbare "Beschaffenheit der Dinge." (34)

Indessen ist die Behauptung einer solchen immanenten Nötigung nicht sonderlich ersprießlich. Am Ende kann man jedes psychische Geschehen, sofern es Gesetzen unterliegt, auf eine solche zurückführen. Der Wissenschaft aber gilt es ja gerade, die scheinbar in einzelnen immanenten Nötigungen aus dem umfassenden Zusammenhang aller zu begreifen. Ebenso verlangt auch die "Beschaffenheit der Dinge" jene nähere Bestimmung, die wir z. B. bei den geometrischen Formen als ihre Abhängigkeit von allgemein und gesetzmäßig im Raume waltenden Kräften begriffen haben.

LITERATUR: Paul Stern, Einfühlung und Assoziation - ein Beitrag zur psychologischen Analyse der ästhetischen Anschauung, in "Beiträge zur Ästhetik", Bd. 5, herausgegeben von Theodor Lipps und Richard Maria Werner, Hamburg und Leipzig 1898
    Anmerkungen
    1) ROBERT VISCHER, Über das optische Formgefühl, 1873, Einleitung Seite VII
    2) R. VISCHER, ebenda Seite 2
    3) THEODOR LIPPS, Die Raumanschauung und die Augenbewegungen, Aufsatz in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. VIII, Seite 125. Vgl. auch derselbe, Psychologische Studien I, Seite 1
    4) ROBERT VISCHER, Über das optische Formgefühl, Seite 11
    5) R. VISCHER, ebenda Seite 10
    6) R. VISCHER ebenda Seite 8
    7) JOHANNES VOLKELT, Der Symbolbegriff in der neuesten Ästhetik 1876, Seite 61
    8) R. VISCHER, Über das optische Formgefühl, Seite 11
    9) R. VISCHER, ebenda Seite 12
    10) R. VISCHER, ebenda Seite 12
    11) R. VISCHER, ebenda Seite 13
    12) R. VISCHER, ebenda Seite 13
    13) R. VISCHER, ebenda Seite 13
    14) R. VISCHER, ebenda Seite 14
    15) R. VISCHER, ebenda Seite 20
    16) R. VISCHER, ebenda Seite 29
    17) R. VISCHER, ebenda Seite 28
    18) R. VISCHER, ebenda Seite 33
    19) R. VISCHER, ebenda Seite 32
    20) ROBERT VISCHER, ebenda, Seite 27
    21) GROOS, Einleitung in die Ästhetik, Giessen 1892, Seite 13
    22) GROOS, ebenda Seite 13f
    23) GROOS, ebenda Seite 94
    24) THEODOR LIPPS, Grundzüge der Logik, § 22
    25) SIEBECK, Das Wesen der ästhetischen Anschauung, § 41, Seite 34
    26) SIEBECK, ebenda Seite 66
    27) SIEBECK, ebenda § 73, Seite 67
    28) SIEBECK, ebenda Seite 116f
    29) FRIEDRICH VISCHER, Altes und Neues, Neue Folge, 1889, Seite 299
    30) FRIEDRICH VISCHER, ebenda Seite 330
    31) FRIEDRICH VISCHER, ebenda Seite 330
    32) FRIEDRICH VISCHER, ebenda Seite 337
    33) ALFRED BIESE, Das Assoziationsprinzip und der Anthropomorphismus in der Ästhetik, Seite 15
    34) BIESE, ebenda Seite 15