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PAUL STERN
Einfühlung und Assoziation
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    Kapitel I - Der Einfühlungsgedanke in der Romantik
Kapitel II - Übergang vom Symbolbegriff zum Einfühlungsbegriff
Kapitel III - Die psychologische Tendenz bei Robert Vischer
Kapitel IV - Die Gestaltung des Gewonnenen
Kapitel V - Die Formulierung der Einwände gegen die Psychologie
Kapitel VI - Warum die Assoziation nicht ein bewußtes ...
Kapitel VII - Wie Assoziation und Gefühl zusammenhängt.
Kapitel VIII - Warum Assoziation nicht nur einen rein zufälligen ...
Kapitel IX - Zusammenfassung

"Der Zuschauer will und soll sich in allem Schönen wiederfinden. In die unbelebte Natur fühlt sich der Mensch, fühlt uns der Künstler und Dichter hinein durch das mehrerwähnte innige Symbolisieren."


E I N L E I T U N G
Kapitel I
Der Einfühlungsgedanke in der Romantik

"Die Subjektivität des ästhetischen Urteils mit unerbittlicher Deutlichkeit hervorgehoben zu haben, halte ich für eines der wesentlichsten Verdienste, welche KANTs eindringliche Kritik sich erworben hat." (1) Mit diesen Worten bezeichnet LOTZE seinen ästhetischen Standpunkt sowohl gegenüber KANT, als gegenüber der formalistischen Schule HERBARTs und ZIMMERMANNs . Die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Ästhetik hat dieser Wertung recht gegeben. Das kantische Prinzip ist Grundlage und Ausgangspunkt der ästhetischen Untersuchungen geblieben.

Wohl ließen sich verschiedene Wege von ihm aus einschlagen. Den einen beschritten die auf KANT folgenden deutschen Philosophen. Ihnen galt es, die Möglichkeit des ästhetischen Genießens, den metaphysischen Sinn des Schönen im Zusammenhang eines umfassenden Systems zu begreifen und der ästhetische Zustand wurde geradezu zum Schlüssel für die letzten Probleme.

Daneben aber begann sich eine zweite Richtung zu entwickeln, die zwar nicht sofort im wissenschaftlichen Denken zur Geltung gelangte, dafür aber mit künstlerischer Intuition die Grundanschauung der heutigen Ästhetik vorweg nahm. Hier handelte es sich darum, die eigentümlichen Veränderungen, die mit uns im Moment des ästhetischen Schauens vorgehen, aufzuzeigen und zu erklären; zugleich zu untersuchen, inwiefern damit eine Veränderung im Inhalt der Vorstellung, die wir von den Dingen haben, gegeben sei. Man begann den ästhetischen Genuß als psychologisches Phänomen zu betrachten; freilich ohne darum jener metaphysischen Spekulation ganz zu vergessen.

Von den Männern, die hier in Frage kommen, sind SCHILLER und HERDER längst in ihrer Bedeutung für die Analyse des künstlerischen Schauens und Schaffens gewürdigt. Speziell LOTZE hat ihnen größere Abschnitte seiner "Geschichte der Ästhetik in Deutschland" gewidmet und die Fruchtbarkeit ihrer Thesen zu erweisen gesucht. In neuester Zeit ist NOVALIS , dem Dichter der Lehrlinge von Sais, eine größere Aufmerksamkeit zugewendet worden. THEOBALD ZIEGLER (2) war es, der auf die Übereinstimmung der Grundprinzipien desselben mit den unsrigen hinwies. Neben NOVALIS verdienen A. W. von SCHLEGEL und JEAN PAUL FRIEDRICH RICHTER im gleichen Maße unser Interesse. Wir gehen auf ihre Gedanken ein nicht nur um ihrer selbst willen, sondern vor allem, um an ihnen die Gesichtspunkte aufzuzeigen, welche die Wissenschaft in einer Theorie des ästhetischen Eindrucks zu berücksichtigen hat.

Die Anschauung, die sich von ihrem Standpunkt aus entwickelte, bezeichnet den Akt der ästhetischen Betrachtung als eine Einfühlung unser selbst in die Dinge. Am besten verdeutlicht den Sinn dieser Worte folgende Stelle aus HARDENBERGs Lehrlingens von Sais, wo von der Auffassung der Natur im Sinne einer vom Ästhetischen ausgehenden Naturphilosohie die Rede ist.
    "Es ist umsonst, die Natur lehren und predigen zu wollen, ein blind Geborener lernt nicht sehen und wenn man ihm noch soviel von Farben, Lichtern und fernen Gestalten erzählen wollte. So wird auch keiner die Natur begreifen, der kein Naturorgan, kein inneres naturerzeugendes und absonderndes Werkzeug hat, der nicht, wie von selbst, überall die Natur an allem erkennt und unterscheidet und mit angeborener Zeugungslust, in inniger mannigfaltiger Verwandtschaft mit allen Körpern, sich durch das Medium der Empfindung in allen Naturwesen vermischt, sich gleichsam in sie hineinfühlt." (3)
Diese Anschauung enthält implizit eine Reihe weiterer Gedanken. Einmal über den Zustand des Ich, während des ästhetischen Anschauens; jeder Gedanke an ein empirisches Ich, der Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich entschwindet dem Bewußtsein. So spricht HARDENBERG von der künstlerischen Ergriffenheit, wo der Mensch "bebend in süßer Angst in den dunklen lockenden Schoß der Natur versinkt, die arme Persönlichkeit in den überschlagenden Wogen der Lust sich verzehrt." (4)

Zu dieser negativen Bestimmung tritt eine positive: unser Gefühl wird erregt; die Poesie - man gedenke der erweiterten Bedeutung dieses Wortes in der Romantik - wird NOVALIS zur "Gemütserregungskunst" (5). Die Einheitlichkeit dieser Gemütserregung, die Tiefe, in der der ganze Mensch ergriffen ist, war ihm bekannt; in den Lehrlingen von Sais heißt es vom Künstler: "Er hörte, sah, tastete und dachte zugleich." (6)

Um sich jenes Untergehen der Persönlichkeit zu deuten, rekurrierte NOVALIS auf die Metaphysik: "Ich gleich Nicht-Ich - der höchste Satz aller Wissenschaft und Kunst." (7) Wie er sich weiter die Poesie als Gemütserregungskunst psychologisch erklärbar dachte, erhellt der beachtenswerte Ausspruch: "Die ganze Poesie beruth auf tätiger Ideenassoziation." (8) Man hat, wie wir später sehen werden, versucht, Einfühlung und Assoziation als grundverschiedene psychische Phänomene hinzustellen; um so berücksichtigenswerter ist es, daß gerade NOVALIS , der jenen Terminus prägte, an ihrer Vereinbarkeit nicht zweifelte.

Auch das Objekt wird für uns durch Einfühlung verändert. Vor allem erscheint es beseelt, vermenschlicht, zugleich als Träger eines charakteristischen Ausdrucks. Auch dieser Gedanke findet sich schon bei NOVALIS : "Drückt nicht die ganze Natur, so gut wie das Gesicht und die Gebärden, der Puls und die Farben den Zustand eines jeden der höheren wunderbaren Wesen aus, die wir Menschen nennen." (9) JEAN PAUL sagt in der Vorschule der Ästhetik (10): "Dieselbe unbekannte Gewalt, welche mit Flammen zwei so spröde Wesen, wie Leib und Geist, in ein Leben verschmelzte, wiederholt in und außer uns dieses Veredeln und Vermischen, indem sie uns nötigt, ohne Schluß und Übergang aus der schweren Materie das leichte Feuer des Geistes zu entbinden: aus dem Laut den Gedanken, aus Teilen und Zügen des Gesichts Kräfte und Bewegungen eines Geistes und so überall aus äußerer Bewegung innere." Und im "Quintus Fixlein" heißt es: Durch Physiognomik und Pathgnomik beseelen wir erstlich alle Leiber, - später alle unorganisierten Körper. Dem Baum, dem Kirchturm, dem Milchtopf teilen wir eine ferne Menschenbildung zu und mit dieser den Geist. Die Schönheit des Gesichts putzt sich nicht mit der Schönheit der Linien an, sondern umgekehrt, ist alle Linien- und Farbenschönheit nur ein übertragener Widerschein der menschlichen."

Hier ist auch SCHLEGEL zu erwähnen. Seine Berliner Vorlesungen basieren auf dem Satz, daß alle Schönheit eine symbolische Darstellung sei; besonders charakteristisch ist eine Stelle aus seiner Kritik über WINKELMANN : "Die Natur schafft durchaus sinnbildlich, sie offenbart immer das Innere durch das Äußere; jedes Ding hat seine Physiognomie und das gilt von den leblosesten Erzeugnisse, den geometrisch begrenzten Körpern an durch Pflanzen- und Tierwelt bis zu den beseeltesten Geschöpfen hinauf." (11)

So zeigte sich der Gedanke der Einfühlung von Anfang an verbunden mit dem Gedanken, daß das Objekt derselben durch sie zum Symbole werde. Der eigentliche Grundgedanke gab dadurch zu zwei verschiedenen Fragen Anlaß, je nachdem man mehr an das sich einfühlende Subjekt oder an das von ihm beseelte und zum Symbol gemachte Objekt dachte. Dachte man an das Subjekt, so wandte man sich die Untersuchung mit Recht auf die Verkettung der psychologischen Vorgänge, welche die ästhetische Anschauung ausmachen. Die Frage war, durch welche Vorgänge in unserer Phantasie gelangen wir dazu, uns in das Objekt  hinein  zu fühlen, genauer gesagt, es als in einer Situation befindlich aufzufassen und zugleich uns so zu fühlen als ob wir uns in derselben befänden, sie innerlich nachzuerleben. Die Einfühlung repräsentierte sich von dieser Seite aus gewissermaßen als  Eins fühlung mit dem Objekt.

Dachte man aber mehr an das in der ästhetischen Anschauung zum Symbol gewordene Objekt, so lag ein anderer Fortgang der Untersuchung nahe. Man konnte ja auch fragen, was ist die symbolische Bedeutung, die jenem Objekt zuteil wird. Die Antwort lautete dann: ein menschliches Gefühl oder vielleicht allgemeiner etwas Geistiges überhaupt. Fragte man nun weiter, woher stammt dasselbe und wie kann das Objekt zu solcher Bereicherung kommen, so stieß man erst jetzt auf die ästhetisch betrachtende Persönlichkeit: diese nämlich übertrage ihr Gefühl auf die Objekte. In diesem Zusammenhang wird die Einfühlung mehr zu einer Einfühlung unserer Gefühle in den Gegenstand.

Vielleicht ließ sich von hier aus noch immer der Rückweg zur psychologischen Betrachtungsweise finden. Man konnte wie oben fragen, durch welche psychologischen Vorgänge der ästhetisch Genießende zu dem zu übertragenden Gefühl gelange. Man konnte ferner, um über das Metaphorische hinauszukommen, das im Ausdruck Gefühls- Übertragung  liegt, danach fragen, was denn Gefühls-Übertragung psychologisch genommen bedeute und welches die allgemeinen Bedingungen seien, unter denen der so bezeichnete Vorgang sich einstelle.

Versuchte man aber, wie wir hier voraussetzten, durchweg den Schein der Beseeltheit, den ästhetisch betrachtete Dinge tragen, statt von innen und vom Subjekt aus, von außen und vom Objekt her zu motivieren, so ergaben sich andere Gedankengänge. Entweder man begnügte sich damit, jenen Schein der Beseeltheit darauf zurückzuführen, daß das Objekt in seiner äußeren Erscheinungsweise an Ausdrucksformen der menschlichen Gestalt oder ihrer Teile erinnere - eine Meinung, der wir häufig begegnen werden -, oder man betrachtete den erhöhten Zustand ästhetischer Ergriffenheit selbst gewissermaßen als ein von den Objekten bescherte Gabe: als die dem Künstler allein gewährte metaphysische Offenbarung ihres wahren tieferen Wesens; dieses nämlich scheine nicht nur, sondern sei beseelt. Und für manche schrumpfte schließlich diese Offenbarung des Weltgeheimnisses zur Mitteilung einer geheimnisvollen und dem Philosophen allein verständlichen Wahrheit zusammen. Ein Objekt wurde für sie erst dadurch zum ästhetischen Symbol, daß es, wie STREITER (12) mit Bezug auf die mehr religiöse Symbolik HEGEL treffend sagt, die "ahnungsvoll andeutende Verkörperung einer außerhalb des Kunstwerks zu denkenden metaphysischen Idee" bildet. So bezeichnete z. B. SCHLEGEL als den erforderlichen Gehalt jeder symbolischen Darstellung das Absolute im SCHELLINGschen Sinne. (13) In mehr poetischer Weise zeigt sich diese Hinneigung zur Metaphysik bei JEAN PAUL (14): "Sowie es kein absolutes Zeichen gibt - denn jedes ist auch eine Sache -, so gibt es im Endlichen keine absolute Sache, sondern jede bedeutet und bezeichnet wie im Menschen das göttliche Ebenbild, so in der Natur das menschliche. Der Mensch wohnt hier auf einer Geisterinsel, nichts ist leblos und unbedeutend, Stimmen ohne Gestalten, Gestalten, welche schweigen, gehören vielleicht zusammen und wir sollen ahnen; denn alles zeigt über die Geisterinsel hinüber in ein fremdes Meer hinaus."

Vorsichtiger ist NOVALIS : "Es scheint die Zufälligkeit der Natur sich wie von selbst an die Idee menschlicher Persönlichkeit anzuschließen und letztere am willigsten als menschliches Wesen verständlich zu werden." (15)

Zugleich ist er sich des wichtigsten unter den Einwänden bewußt, der allen jene metaphysischen Betrachtungen den Boden entzieht, der Vieldeutigkeit der in Frage stehenden Symbolik:
    "Die Natur ist jedem ein anderes; dem Kinde kindlich, dem Gotte göttlich." (16)
Und im "Heinrich von Ofterdingen" heißt es:
    "Wie veränderlich ist die Natur, so unwandelbar auch ihre Oberfläche zu sein scheint, wie anders ist sie, wenn ein Engel, wenn ein kräftiger Geist neben uns ist, als wenn ein Notleidender vor uns klagt oder ein Bauer uns erzählt, wie ungünstig ihm die Witterung sei und wie nötig er düstere Regentage für seine Saat brauche." (17)
Und sogar JEAN PAUL ist sich in anderer Verknüpfung sehr wohl dieses Unterschiedes bewußt:
    "Alles lebt den Lebendigen und es gibt im Universum nur Scheinleichen, nicht Scheinleben. Allein das ist eben der prosaische und poetische Unterschied oder die Frage, welche Seele die Natur beseele, ob ein Sklavenkapitän oder ein HOMER ." (18)
Was diese Stelle noch besonders bedeutsam macht, ist der unverkennbare Hinweis auf den tiefen Zusammenhang, der die ästhetischen mit den ethischen Werten verbindet.


Erster Abschnitt
Kapitel II
Übergang vom Symbolbegriff zum Einfühlungsbegriff
bei Friedrich Vischer und Lotze

Wir haben gesehen, wie die Auffassung der Objekte als Symbole geistigen Lebens dazu führen konnte, die psychologische Betrachtungsweise der ästhetischen Grundphänomene mit der metaphysischen zu vertauschen. Umgekehrt war es die eingehende Versenkung in die Frage nach der Symbolik, die die Rückkehr der idealistischen Ästhetiker zur psychologischen Betrachtungsweise anbahnte; eine eingehendere Untersuchung jener Symbolik mußte notwendig zur Frage nach den subjektiven Bedingungen führen, unter denen ein Objekt symbolische Bedeutung gewinnt.

Zuerst waren es LOTZE und FRIEDRICH VISCHER , die sich diese Frage vorlegten. In berechtigter Gegnerschaft gegen den ZIMMERMANNschen Formalismus, der jede Schönheit auf objektiv fixierbare Vorstellungsverhältnisse zurückführen wollte, hatten sie nach einer, dem schönen Objekt anhaftenden Eigentümlichkeit gesucht, die sich, abgesehen von solchen formalen Verhältnissen, als notwendige Bedingung ästhetischer Wirkung erwiese. Sie fanden dieselbe in der Tatsache, daß jede Form für den ästhetischen Betrachter zum Ausdruck innerer Belebtheit wird, daß sie symbolisch wirkt.

Für VISCHER war damit eine Änderung des Symbolbegriffs, wie er ihn früher aufgefaßt hatte, sowie der Anwendungssphäre gegeben, die er ihm zugesprochen hatte. Symbolisch im engeren Sinne d. h. abgesehen von konventionellen Symbolen hatte VISCHER in seiner Ästhetik genannt, was für die Anschauung unmittelbar einen tieferen Sinn repräsentierte, als ihm seiner sonstigen Natur nach zukam. Es lag darin, daß der Sinn nicht etwa gedanklich bewußt sein dürfe. Vielmehr sollte derselbe mit dem ihn vergegenwärtigenden Bild ein unentwirrtes Zusammen darstellen. Dieses Gewirr verdankten wir einem Akt "der unbewußt verwechselnden Phantasie", (19) die aber trotzdem vom Gefühl der Inkongruenz nicht frei sei. Das Symbol erschien ihm überhaupt als ein Akt verworrener  Erkenntnis,  wie die in den Naturreligionen fixierte Anschauung der Welt sie darstelle -, als die "Nothilfe einer unklaren Ahnung", eben darum aber nicht als Moment für das Entstehen der Schönheit.

Die Bedeutung dieser richtig charakterisierten Art der Symbolisierung für das Verständnis der ästhetischen Phänomene war es nun, die VISCHER (20)in seiner späteren Entwicklung an jener Betrachtung der reinen Formen aufging. Er entwickelte dieselbe eingehend in seinen kritischen Gängen. Das Symbol gewinnt dadurch für ihn den Charakter einer "bleibenden, im Wesen der Phantasie allgemein menschlich begründeten, psychisch notwendigen Form." (21)

Es gilt ihm also jetzt nicht mehr als eine "Nothilfe" der Erkenntnis, sondern gewinnt als ermöglichende Bedingung der Kunst einen höheren Wert. Er definiert Symbolisierung ausführlicher als:
    "Das dunkle, aber innige, unwillkürliche und doch nicht religiös gebundene, sondern ästhetisch freie Leihen, wodurch wir, einer inneren Notwendigkeit der Natur unserer Seele folgend, abstrakten Erscheinungsformen eine Seelenstimmung unterlegen, so daß unser eigenes inneres Leben uns aus ihnen entgegen zu kommen scheint." (22)
Und an anderer Stelle heißt es:
    "Der Zuschauer will und soll sich in allem Schönen wiederfinden. In die unbelebte Natur fühlt sich der Mensch, fühlt uns der Künstler und Dichter hinein durch das mehrerwähnte innige Symbolisieren." (23)
In der Frage nach der Herkunft dieses Aktes ist freilich VISCHER noch ganz Metaphysiker. Nur unter Annahme des Pantheismus scheint erh ihm möglich, seine Existenz beweise somit für den letzteren:
    "Der Mensch ist das gelöste Geheimnis der Welt." (24)
Stellen wir uns nun aber auf den Standpunkt der Psychologie, so sind es zunächst drei Fragen, die sich mit Notwendigkeit an jene Bestimmung des Symbolbegriffs knüpfen:
    1) Wie kommen wir zu dem seelischen Gehalt, mit dem wir die Erscheinungsformen beleihen?

    2) In welcher Form ist uns derselbe gegeben?

    3) Wieso sind die mit ihm beseelten Formen für uns wertvoll, spezieller: Haftet dieser Welt nunmehr an den Formen oder an jenem seelischen Gehalt und worauf gründet er sich?
Alle diese Fragen finden wir bei LOTZE berührt. Und zwar steht bei ihm, wie bei allen folgenden, das Problem der einfachsten Formen im Brennpunkt des Interesses, seine Lösung bildete und bildet auch jetzt noch den Prüfstein aller ästhetischen Theorien. Es wird im folgenden auch uns durchweg in erster Linie beschäftigen. Jenen seelischen Gehalt nun, den wir den einfachen Formen leihen, gewinnen wir nach LOTZE , indem wir uns in sie hineinversetzen. Das viel zitierte "Keine Form ist so spröde, in die unsere Phantasie sich nicht mitlebend zu versetzen wüßte", (25) charakterisiert diese Auffassung. Psychologisch genommen ist es ihm die allgemeine Erinnerung an unsere menschlichen Formen und Bewegungen, welche die Bedeutung dieser letzteren zur Deutung für jene anderen Formen verwertet. Er betont, wie sich diese Deutung selbst gegenüber den abstraktesten formalen Gebilden mit Notwendigkeit in die Auffassung einmischt. Er setzt genauer auseinander, wie er diesen Deutungsprozeß bedingt glaubt. (26)

Räumliche Verhältnisse und Formen erinnern uns an Bewegung und Wirkung von Kräften. Die Linie erscheint als der Weg einer Bewegung, die geschlossene Form als die Begrenzung einer gerade so sich behauptenden Kraft. Daß wir in allem Räumlichen Kräfte zu sehen glauben, ist die Folge unserer am eigenen Leib gemachten Erfahrungen, die uns gelehrt haben, daß zu jedem Sich-Bewegen oder Verharren ein größerer oder geringerer Aufwand von Kraft, respektive Willen gehört. Einen solchen Aufwand glauben wir auch allem sonstigen Räumlichen je nach seiner Beschaffenheit zutrauen zu müssen. "Wir sehen Bewegungen nicht nur entstehen, sondern bringen auch selbsttätig solche hervor." Hierbei folgt die Reihe der begleitenden Lage-Empfindungen so leicht beweglich jeder kleinsten Zunahme der in der Bewegung liegenden Spannung oder Erschlaffung, "daß wir in diesem Spiegelbild seiner hervorgebrachten Erfolge unmittelbar den Willen in seiner Arbeit zu fühlen und in alle Wandlungen seines Anschwellens und seiner Mäßigung zu begleiten glauben. Er so lernen wir Bewegungen verstehen und schätzen, was es mit ihnen auf sich hat." (27) So lernen wir ferner jede beliebige Form "als eine Art der Organisation oder als einen Schauplatz aufzufassen, worin uns das hin und her bewegen mit namenlosen Kräften als ein nachfühlbares charakteristisches Glück erscheint." (28)

Oder um noch ein anderes Wort LOTZEs zu zitieren:
    "Wer sich nicht selbst bewegen könnte, dem würde alle Bewegung ästhetisch indifferent sein. Denn er würde nie dahinter kommen, wie eigentümlich wohl oder wehe dem Bewegten zumute ist. Was hier von den Raumformen erwähnt wurde, gilt ebenso von rhythmischen Zeitformen, überhaupt von jeder Kombinationsweise irgendeines Mannigfaltigen." (29)
Wir dürfen hinzufügen, es gilt verallgemeinert von allem, was überhaupt ästhetische Bedeutung gewinnen kann. Stets muß  die  Situation und Verhaltensweise des Betrachteten Eigentümlichkeiten aufweisen, deren Sinn uns an früherem eigenen Erleben zu Bewußtsein gekommen ist. Denn hierin liegt die Bedingung dafür, daß wir uns mit einem Objekt, wie wir oben sagten, eins fühlen, uns an seine Stelle setzen können. Wir werden diese Theorie im folgenden als "Theorie des inneren Nacherlebens" oder wo es sich um geometrische Formen handelt, als "Kräftetheorie" bezeichnen.

Es ist bemerkenswert, daß LOTZE mit dem Vorigen über eine andere, ebenfalls von ihm vertretene Theorie hinausgeht, wonach der Eindruck des Unbelebten bestimmt wird durch die Erinnerung an Ausdrucksformen, die wir an anderen menschlichen Persönlichkeiten gewahrt haben. Wir werden diese Meinung im folgenden kurz als "Erinnerungshypothese" bezeichnen. Sie findet sich zum Beispiel im Mikrokosmos:
    "Wer einmal eine teure Gestalt unter dem Gewicht des Grams in wehmütiger Ermattung sich beugen und sinken sah, dem wird der Umriss solchen Neigens und Beugens, dem inneren Auge vorschwebend, die Ausdeutung unendlicher räumlicher Gestalten vorausbestimmen und er wird sich fruchtlos besinnen, wie so einfache Züge der Zeichnung so innerliche Gefühle in ihm anregen konnten." (30)
Aber bei dieser Auffassung wäre die Eigenart des Eindrucks doch auf eine allzu äußerliche Ähnlichkeit des Betrachteten mit menschlichem Äußeren zurückgeführt. Vor allem aber würden wir nur dann räumliche Erscheinungen in diesem Sinne "ausdeuten" können, wenn uns gewissermaßen ein glücklicher Zufall früher einmal die ihnen entsprechenden menschlichen Ausdrucksformen an fremden Personen beobachten ließ und zum Verständnis brachte. Hierin liegt eine entscheidende Verurteilung dieser Theorie. LOTZE hat selbst mit Bezug hierauf betont (31), daß man auf derartige zufällige Erlebnisse zur Erklärung des ästhetischen Eindruckes nicht zurückgreifen dürfe. Es könne sich hier vielmehr nur um solche Nebenvorstellungen handeln, welche "die Form oder der Inhalt des Gegenstandes in jedem Gemüt anzuregen durch sich selbst geeignet ist." (32)

Was ist aber hiermit, genau genommen, angeregt? Oder, wie diese Frage bereits formuliert wurde, in welcher Form ist das so Angeregte uns gegeben?

Diese Frage ist für die psychologische Ästhetik von grundlegender Bedeutung. Ist es nur die rein als Tatsache der Vorstellung genommene Erinnerung an ein früher erlebtes Gefühl, die in die Anschauung bestimmend eingeht oder werden wir selbst wirklich gefühlsmäßig erregt?  Denken  wir angesichts der Säule nur an die Gefühle, die sich für uns mit einem so elastischen und leichten Tragen von wuchtenden Massen verbinden würden, wie wir es an der Säule sehen?  Erleben  wir nicht vielmehr, sofern wir ästhetisch erregt werden, unmittelbar dergleichen Gefühle?

LOTZE hat sich diese Alternative nicht gestellt: Formen wirken schön durch die Erinnerung an das Glück, welches wir als in ihnen genießbar kennen, (33) oder sie wirken als "allgemeine Symbole eines eigentümlichen Genusses." (34)

Fast scheint hierin der erste Teil der Alternative bevorzugt. Andererseits spricht er dann doch wieder von einem  "Mitgefühl  mit einem nacherlebbaren Glück" (35) oder nennt die Poesie eine "Offenbarung des Wertes der Dinge und des Glücks, das sie in sich selbst empfinden oder empfindenden Wesen verschaffen." (36) Neigte auch er hiermit zu jener ins Metaphysische spielenden Ansicht, nach der die Dinge, als im Grunde eindeutige Symbole, eine objektiv aufzeigbare geistige Wesenheit besäßen, so fiele doch für jene seine Auffassung ins Gewicht, daß das Gefühlsmäßige der ästhetischen Erregung in ihr zu seinem Recht käme.

Bestimmter steht LOTZE zur dritten Frage, abgesehen allerdings von den Unklarheiten, die aus dem Schwanken in der vorigen für diese entspringen. Zunächst stand ihm folgendes fest: erwiesen sich die Objekte ästhetischer Anschauung als Symbole eines nacherlebbaren Glückes, so hing ihr ästhetischer Wert für jeden Einzelnen davon ab, was gerade  er  seiner Natur nach mit Lust nachzuerleben befähigt war. Gleichzeitig aber erkannte LOTZE , daß hiermit das Schöne in letzter Instanz leicht vor den Richterstuhl des persönlichen Geschmackes geraten konnte, daß jenes "Element der Verehrung", welches "nach deutschem Sprachgebrauch in den Namen der Schönheit durchaus eingeschlossen ist", (37) dabei übersehen und hiermit die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Ästhetik überhaupt geleugnet wäre. Für die Berechtigung der ästhetischen Billigung mußte es also ein Kriterium geben. LOTZE fand dasselbe im ethischen Wert des inneren Erlebnisses, zu dem die Dinge uns anregen oder um bei der LOTZEschen Terminologie zu bleiben, als dessen Symbol sich dieselben darstellen. Es versteht sich, daß "ethisch" hier im weitesten Sinne zu fassen ist. Doch findet sich hierüber bei LOTZE nichts Genaueres angegeben.

LITERATUR: Paul Stern, Einfühlung und Assoziation - ein Beitrag zur psychologischen Analyse der ästhetischen Anschauung, in "Beiträge zur Ästhetik", Bd. 5, herausgegeben von Theodor Lipps und Richard Maria Werner, Hamburg und Leipzig 1898
    Anmerkungen
    1) HERMANN LOTZE, Geschichte der Ästhetik in Deutschland, Seite 65
    2) THEOBALD ZIEGLER, Zeitschrift für vergleichende Litteratur-Geschichte, 1894
    3) NOVALIS, Gesammelte Schriften, Berlin 1837, Bd. II, Seite 99
    4) NOVALIS, ebenda Seite 96
    5) NOVALIS, ebenda, Seite 220
    6) NOVALIS, ebenda Seite 56
    7) NOVALIS, ebenda Seite 117
    8) NOVALIS, ebenda Seite 221
    9) NOVALIS, ebenda Seite 90
    10) JEAN PAUL, Vorschule der Ästhetik, Seite 193
    11) A. W. von SCHLEGELs Gesammelte Werke Bockingsche Ausgabe, Bd. XII, Seite 346
    12) STREITER, "Böttichers Tektonik der Hellenen, Seite 37
    13) Vgl. SCHLEGEL, Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst, Seiten 54f und 90
    14) JEAN PAUL, Vorschule der Ästhetik, Seite 193
    15) NOVALIS, Gesammelte Schriften, Berlin 1837, Bd. II, Seite 63
    16) NOVALIS, Gesammelte Schriften, Berlin 1837, Bd. II, Seite 64
    17) NOVALIS, Gesammelte Schriften, Berlin 1837, Bd. I, Seite 148
    18) JEAN PAUL, Vorschule der Ästhetik, Seite 32
    19) FRIEDRICH VISCHER, Ästhetik, § 426
    20) FRIEDRICH VISCHER, Ästhetik, § 432
    21) FRIEDRICH VISCHER, Kritische Gänge V, Seite 141
    22) FRIEDRICH VISCHER, Kritische Gänge VI, Seite 4
    23) FRIEDRICH VISCHER, Kritische Gänge V, Seite 95f
    24) FRIEDRICH VISCHER, Kritische Gänge V, Seite 96
    25) HERMANN LOTZE, Mikrokosmus Bd. II, Seite 192
    26) HERMANN LOTZE, Geschichte der Ästhetik, Seite 75f
    27) HERMANN LOTZE, Geschichte der Ästhetik, Seite 79
    28) HERMANN LOTZE, Geschichte der Ästhetik, Seite 80
    29) HERMANN LOTZE, Grundzüge der Ästhetik, Diktat aus den Vorlesungen, Seite 13
    30) LOTZE, Mikrokosmus, Bd. II, Seite 179
    31) LOTZE, Geschichte der Ästhetik, Seite 74
    32) LOTZE, ebenda Seite 74
    33) LOTZE, ebenda Seite 101
    34) LOTZE, ebenda Seite 81
    35) LOTZE, ebenda Seite 86
    36) LOTZE, ebenda Seite 592
    37) LOTZE, ebenda Seite 87