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FRANZ STAUDINGER
Der Streit um das Ding ansich

"So analysieren wir, mit der Fingerspitze hin- und hergleitend, die Formen einer Fläche und bringen uns dieselben als Zusammenhang des Gegenstands zu Bewußtsein. Wir vollziehen also, indem wir analysieren, schon in der sinnlichen Beobachtung gewissermaßen Abstraktionen, indem wir, von allen anderen Bestandteilen des Untergrunds absehend, bloß bestimmte Einzelheiten ins Auge fassen und diese bringen wir dann synthetisch untereinander in Beziehung."

Ein altes Gespenst geht wieder um, das man schon zuweilen gebannt glaubte. Das "Ding an sich", das jenseits der Erscheinung unerkennbar zu thronen pflegt, tritt wieder, gleich der weißen Frau im Hohernzollernschloß, in Erscheinung. Und diese Erscheinung des Dinges an sich findet heute statt in sozialistischen, bzw. marxistischen Kreisen. Ob Heil oder Unheil verkündend, das muß die Zukunft lehren; vorläufig hat es nur Streit erregt.

In diesem Streit stand auf der einen Seite der strenge Materialist alter Observanz GEORG PLECHANOW, bekannt durch seine "Beiträge zur Geschichte des Materialismus", worin er scharfe Ausfälle gegen die Kantianer, besonders gegen F. A. LANGE gemacht hat und auf der anderen Seite standen EDUARD BERNSTEIN sowie Dr. KONRAD SCHMIDT, die bei KANT eine Vertiefung ihrer Philosophie zu finden hoffen. (1)

Das Problem, das hier in Frage steht, ist von PLECHANOW dahin entwickelt worden, daß KANT sich widerspreche, indem er einerseits richt die Dinge an sich als  Ursache  unserer Empfindungen ansehe, andererseits aber behaupte, daß die Kategorie der Kausalität auf die Dinge an sich nicht anwendbar sei. (2) KONRAD SCHMIDT dagegen, dem Bernstein den Austrag des Streits zuschiebt, vertritt den Gedanken, daß KANTs Lehre wesentlich eine  Theorie der Erfahrung  sei, innerhalb deren überall streng kausale Verknüpfung der Erscheinungen stattfinde. Dieser Gedanke, den man auch Materialismus nennen könnte, sei aber grundverschieden von dem metaphysischen Materialismus, der "die Elemente der Erscheinungen für Dinge an sich erklärt". (3)

Es ist nicht zweifelhaft, daß hier beide Streiter aneinander vorbeireden. Was PLECHANOW betont wissen will, läßt KONRAD SCHMIDT völlig kalt und umgekehrt kennt PLECHANOW nicht die Probleme, welche KANT zur Trennung des Dings an sich von den Erscheinungen geführt haben und notwendig führen mußten. Er bäumt sich mit der Vehemenz und den Waffen des common sense gegen eine Schlußfolgerung, deren Prämissen er nicht erfaßt hat. Darum kann er natürlich auch bei seinem Gegner auf kein Verständnis desjenigen Einwands hoffen, der ihm am Herzen liegt und den wir allerdings als sehr berechtigt, wenn auch als falsch gefaßt, erkennen müssen.

So steht der Sachverhalt; - aber nicht etwa bloß in sozialistischen Kreisen. Der zwischen genannten Sozialisten ausgebrochene Streit spiegelt nur den Zustand wieder, in dem sich das Erkenntnisproblem noch heute überhaupt befindet. Die einen, auf dem Boden der Empirie und Psychologie stehend, verkennen, die erkenntnistheoretische Hauptleistung KANTs, die anderen, zum Verständnis dieser Errungenschaft vorgedrungen, vergessen darüber, eine empfindliche Lücke zu beachten, die KANT nicht nur offen gelassen hat, was nichts geschadet hätte, sondern die er durch eine widerspruchsvolle Annahme zu schließen suchte. Infolge dieses Lösungsversuchs von KANT selbst muß das "Ding an sich" immer wieder als Gespenst erscheinen und Verwirrung stiften.

Wir wollen den Versuch machen, diesen armen, irren Geist zur Ruhe im Orkus zu bringen. Dazu ist es nötig, daß wir uns kurz die wesentlichsten Erkenntnisfragen vor Augen führen, die bis zu KANT die Denker beschäftigt haben, sodann die wertvolle Entdeckung KANTs skizzieren, drittens das Problem offen legen, das auch danach noch zu lösen bleibt und endlich den Weg, der zu dessen Lösung führen möchte, andeuten.

Das geschichtlich erste Problem, welches die Philosophie beschäftigt hat, ist die Frage: Was ist das  eigentliche Sein  im Wechsel der Erscheinungen? Denn zum Selbstbewußtsein erwachenden Denken wohnt ja der Drang inne, in dem Vielen und Wechselnden  Einheit  zu suchen. Und diese Einheit fand z. B. ein THALES im Wasser, ein ANAXIMENES im Apeiron, ein PARMENIDES in der den Raum erfüllenden einheitlichen und ewigen Kugel etc. etc. Diese Naturforschung nach der  sachlichen  Grundlage des Seins wird heite, mit Ausnahme von einigen Metaphysikern, nicht mehr von den Philosophen betrieben. Die Naturwissenschaft, inbesondere die Physik und Chemie, sind an deren Stelle getreten und forschen auf Grund ihrer allmählich immer sichereren Methoden nach dem einheitlichen Zusammenhang dessen, was ist.

Alein indem man jene Forschung nach dem Seienden betrieb, mußte naturgemäß eine zweite Frage auftreten:  Wodurch  erkennen wir? Welches sind die Erkenntnismittel, durch die wir dem Seienden beizukommen, es in unsere Erkenntnis aufzunehmen vermögen? Diese Frage liegt schon der Eleatischen Philosophie zugrunde. Wenn PARMENIDES das als ewige Kugel vorhandene Seiende für das Denkbare und das Denkbare für wirklich erklärt, dem wechselnden Sinnenschein aber keine Wahrheit zugesteht, so hat er bereits den Schritt über die bloße Erforschung des Seins hinaus getan und Erkenntniskritik geübt. Er hat die Erkenntnismittel bereits in Sinneswahrnehmungen und Gedanken getrennt und unter Abweisung der ersteren für das Denken als allein adäquates Erkenntnismittel Partei ergriffen. Und umgekehrt liegt, wenn auch minder deutlich, der HERAKLITischen Lehre vom ewigen Fluß der Gedanke von der maßgebenden Bedeutung der den ewigen Wechsel vor Augen führenden Sinneswahrnehmungen zugrunde, ein Gedanke, der bei PROTAGORAS und seinen Schülern auf die Spitze getrieben wird. Die Objektivität der Dinge geht hier in der Subjektivität der Erscheinungen auf. Unsere modernen "Positivisten" kommen so ziemlich zu dieser Anschauung zurück.

Auf diesem Boden der  ständigen Vermengung von Erforschung des Seienden und Kritik der Erkenntnismittel  bewegt sich die Philosophie bis auf KANT. Als charakteristisch in dieser Denkentwicklung sei die Aufstellung LOCKEs hervorgehoben. Ohne weiteres gleitet dieser von der Trennung der  Erkenntnismittel  in Sensation und Reflexion hinüber zum Unterschied der sekundären  Eigenschaften  der Dinge, der Töne, Farben, etc. die keinem existierenden Ding ähnlich sind und der primären Eigenschaften, Größe, Zahl, Gestalt, die in den Körpern selber  wahrgenommen  werden. Eine kritische Untersuchung der Befugnis der Erkenntnismittel zu solchen Feststellungen fehlt.

Ein wirklicher Fortschritt war erst möglich, als man lernte, grundsätzlich zu fragen, ob nicht selbst diejenigen Begriffe, die man ohne weiteres zu verwirklichen oder scheinbaren  Eigenschaften der Dinge  gemacht hatte, zunächst einmal selbst als  Erkenntnismittel  zu betrachten und auf ihre Bedeutung in dieser Hinsicht zu untersuchen seien. Denn alle Vorstellungen,  durch welche  wir Objekte erkennen, sind, sofern sie das leisten,  Mittel  zur Erkenntnis.

Diese, bekanntlich auf DAVID HUMEs Forschungen ruhende  Problemstellung  und sodann die  Feststellung der zur Konstruktion der Erfahrung notwendigen Erkenntnismittel  ist die  grundlegende Leistung Kants . Darin allein besteht die Kopernikanische Bedeutung seiner Lehre. Er selbst stellt diese freilich in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik anders dar: "Wenn die Anschauung [oder der Begriff] sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori davon etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, [bzw. nach den Regeln des Verstandes, dich  in mir,  nocht ehe mir Gegenstände gegeben werden, a priori voraussetzen muß"], so kann ich mir diese Möglichkeit sehr wohl vorstellen". (4) In dieser Darstellung fließen somit zwei verschiedene Gesichtspunkte zusammen, erstens die Untersuchung der Erkenntnismittel, der Anschauungsformen und Verstandesbegriffe, sofern sie als  Erkenntnismittel  bei der Bildung der Erfahrung  fungieren,  zweitens die Voraussetzung, daß diese Erkenntnismittel nichts als "Beschaffenheit  unseres  Anschauungsvermögens" und Regeln des Verstandes  in uns sind.  Das heißt aber: Die  erkenntniskritische Frage  nach der  Funktion  der Erkenntnismittel fließt bei KANT zwar nicht mit der alten Frage nach dem Sein, aber doch ohne weiteres mit der sorgsam davon zu trennenden Frage nach der  Herkunft  dieser Erkenntnismittel zusammen.

Dies läßt sich an dem Begriff des a priori leicht deutlich machen.  Die erkenntniskritische Bedeutung  des a priori liegt ganz einfach in den folgenden beiden Tatsachen beschlossen.

Erstens:  Ich kann keine Vorstellung haben außer in  zeitlicher  Folge; ich kann keine Gegenstände vorstellen außer im  Raum;  ich kann keine Veränderungen dieser Gegenstände vorstellen, außer mittels des Begriffs der  Ursache  usw. Raum, Zeit, Kausalität etc. liegen also all meinem besonderen Erkennen zugrunde, sie sind die  notwendigen Grundlagen  aller Erfahrung. Das heißt: Während sich z. B. der Begriff des Vulkans, einer Sonnenfinsternis, einer Tiergattung erst  nach  Aufbau des Weltbildes und  nach  Erkenntnis vieler Einzelheiten der Erfahrung herausstellt, kann die Erfahrung selbst, der Aufbau des Weltbildes im einzelnen wie im ganzen gar nicht ohne Anwendung der apriorischen Formen zu  stande kommen. 

Zweitens:  Von allen nach der Erfahrung gebildeten, bzw. aus der Erfahrung geschöpften Begriffen kann ich niemals  bindende  Schlüsse auf weitere Erfahrung ziehen. Ich kann daraus, daß heute Vulkane speien, niemals folgern, daß sie immer speien werden und kann daraus, daß mir heute ein bestimmter Knochenbau für eine Tierart charakteristisch erscheint, niemals mit Bestimmtheit schließen, es könne nicht etwa eine andere, mir unbekannte Tierart denselben Knochenbau besessen haben. Ganz anders ist die bei Schlüssen, die auf Grund der apriorischen Formen gezogen werden. Da kann ich, wenn ich einmal bewiesen haben, daß ah2 den Inhalt des Dreiecks ausmacht, nicht im mindesten zweifeln, daß dieser Satz für jedes mir vorkommende Dreieck gilt; und wenn ich r2p als Formel des Kreises bestimmt habe, so bin ich außer Zweifel, daß diese Formel für keine andere Figur gilt. Dieser  Geltungswert  charakterisiert das a priori und macht sein wissenschaftliche Bedeutung aus.

Diesem Geltungswert aber steht der Empirist ratlos gegenüber. "Warum ist in manchen Fällen ein einziges Beispiel zu einer vollständigen Induktion hinreichend, während in anderen Fällen Myriaden übereinstimmender Fälle ohne eine einzige bekannte oder nur vermutete Ausnahme einen so kleinen Schritt zur Festsetzung eines allgemeinen Urteils tun?" So fragt JOHN STUART MILL; und er hat keine Ahnung davon, daß die Antwort auf diese Frage mehr als ein halbes Jahrhundert vor ihm bereits gegeben worden ist. Er meint: "Wer diese Frage beantworten kann, versteht mehr von der Philosophie der Logik, als der erste Weise des Altertums; er hätte das große Problem der Induktion gelöst." (5) Das muß ja wohl sein, daß KANT von dieser Frage mehr verstanden hat, als der erste Weise des Altertums, denn jedenfalls hat er sie gelöst.

Da diese Seite der Kantischen Philosohie über empirischen und psychologischen Einzelerwägungen noch immer von vielen verkannt wird, so sei die Art, wie sich unsere Erfahrung konstituiert, an ein paar elementaren Beispielen illustriert. Wir haben z. B die Wahrnehmung einer Orange. Woraus besteht diese? Aus einer Summe von Gesichts- und eventuelle Tast- und Geruchsempfindungen, denen sich wohl Erinnerungen von Geschmacksempfindungen zugesellen mögen. Aber es ist nicht die einfache  Summe  dieser Empfindungen, sondern der an einer bestimmten Raumstelle vorgestellte  Komplex  derselben, der die Wahrnehmung ausmacht. Und diesen Komplex stellen wird, ebendamit, daß wir ihn wahrnehmen, als ein materielles Etwas, als eine  Substanz  vor. Substanz! Die sehen und fühlen und schmecken wir nicht; was wir sehen und fühlen und schmecken, sind sinnliche Empfindungen. Aber wir haben keine Wahl; wir  müssen  diesen Empfindungen jenen Gedanken einer Substanz unterlegen und erst damit, daß wir dies tun,  nehmen  wir die Orange als Ding  wahr.  Täten wir es nicht, so würde sie uns als ein Sinnentrug erscheinen. In dieser  Tatsache,  daß wir nur da, wo wir den Substanzgedanken zufügen, von  Dingen  reden können, oder umgekehrt ausgedrückt, daß wir nur dann  wirkliche  Dinge  wahrnehmen,  wenn der Substanzgedanke untergelegt ist, liegt die Bedeutung des Substanzgedankens als  Erkenntnismittel  und zwar als eines für  alle dingliche Wahrnehmung  notwendigen Erkenntnismittels. Die besondere Frage, unter welchen besonderen Umständen wir den Substanzgedanken zutun, unter welch anderen Umständen wir von Sinnentrug rede, berührt obige Frage nicht; das ist eine Frage der Einzelforschung.

Die Entdeckung KANTs, daß erst der zutretende Gedanke eine Wahrnehmung zur objektiven Wahrnehmung mache, ist jedoch nicht bloß "transzendental", d. h. als notwendige  Voraussetzung  möglicher Erfahrung zu erweisen; man kann die Probe bei einiger Aufmerksamkeit selber machen, nicht bloß in Bezug auf den Substanzgedanken, sondern auch in anderen Fällen, bei wahren wie bei irrtümlichen Wahrnehmungen; ja man kann das Experiment willkürlich machen. Bekanntlich nimmt man oft wahr, daß der eigene Zug abfährt, während der neben uns stehende stillsteht und muß nach einem Blick auf die übrige Umgebung den Sachverhalt umgekehrt denken. Aber sobald diese Korrektur in Gedanken da ist, ist auch meist die Wahrnehmung umgekehrt. bei einiger Übung nun, freilich nicht immer gleich, gelingt es, daß man,  ohne das Auge zu wenden,  durch bloße Umschaltung des Gedankens auch die effektive Wahrnehmung umschalten kann, zwei-, drei-, viermal während des langsamen Vorbeifahrens eines Zuges.

Ebenso kann man bekanntlich ein regelmäßig geordnetes Tapetenmuster je nach Belieben aus kreuzweisen Reihen, aus Dreiecken, aus Rhomben, eventuell auch aus Quadraten bestehend nicht nur denken, sondern auch  wahrnehmen.  Mit einiger Mühe bringt man es an geeigneten Punkten sogar fertig, daß man icht die Sonne hinter dem Bergrand untergehen, sondern den Bergrand sich vor die Sonne heben sieht, also die der Kopernikanischen Tatsache entsprechende Wahrnehmung erhält; und das geschieht offenbar vermöge bloßen Hineinlegens des Gedankens. Wenn dieses Verhalten des Geistes einerseits dazu führt, daß wir auf natürlichem wie auf geistigem Gebiet oft irrigerweise etwas unmittelbar wahrzunehmen, was erst durch unseren Gedanken, den wir ohne Wissen hereingelegt haben, zur Wahrnehmung geworden ist, so belegt es doch auf der anderen Seite die Tatsache, daß unsere Vorstellungen erst durch die Denkzutat zu gegenständlichen Wahrnehmungen werden.

Aber wenn wir das festgestellt haben, so bleibt uns noch übrig, eine Beobachtung zu betonen, die KANT wohl gemacht hat, aber in ihrer Konsequenz nicht beachtet hat. Sie bezieht sich auf die Frage: Was drücken wir durch die Anwendung des Substanzgedankens als Erkenntnismittel aus? Darauf lautet die Antwort: Sobald wir den Substanzgedanken hinzutun, wird uns der betreffende Vorstellungskomplex unweigerlich von der zufälligen Einzelwahrnehmung  existierenden  Dings. Die Wahrnehmung sagt mittels des in ihr liegenden Substanzgedankens aus, daß das wahrgenommene Ding unabhängig von ihr  dauere.  Denn Substanz heißt ja das Beharrliche in der Zeit, darauf verschiedene Einzelwahrnemungen einheitlich als auf  dasselbe  Ding bezogen werden.

Durch den in der Wahrnehmung liegenden Substanzgedanken wird, ohne daß wir das merken, dem subjektiven und wieder verschwindenden Empfindungsgehalt der Gegenstand selbst als der Subjektivität entrückt untergelegt. Diese Art der Objektivität besteht allen Ausflüchten zum Trotz als  notwendige  Bedingung aller Erfahrung. Und hieraus ergibt sich, wie bodenlos es ist, wenn sogar HELMHOLTZ behaupten kann, ein idealistisches Weltbild sei konsequent durchführbar, wenn es auch eine praktisch sehr zweifelhafte Hypothese sei. Ein Weltbild ist vielmehr gar nicht möglich ohne Wahrnehmung und wenn in der Wahrnehmung  notwendig  der Gedanke eines außerhalb der Wahrnehmung  Beharrenden  steckt, so kann dieses Beharrende nicht in die Subjektivität zurückbezogen werden, ohne die Wahrnehmung selbst und damit jedes Weltbild aufzuheben.

Ganz dasselbe zeigt sich, wenn wir den objektiven Kausalgedanken betrachten.

Nehmen wir wahr, daß das schöne runde, gelbe Orangenbild verschwindet und nur ein Häufchen Schalen und Scheiben vor uns liegt! In diesem Fall haben wir  zunächst  nichts als eine Reihenfolge  subjektiver  Empfindungen, bzw.  einzelner  verschiedener Wahrnehmungen. Aber damit begnügen wir uns nicht. Wir sagen vielmehr, die Orange ist geschält und zerteilt worden. Wir beziehen somit die Reihe verschiedener Empfindungen bzw. Wahrnehmungen auf einen einheitlichen, außer uns stattfindenden  Vorgang.  Wir behalten trotz der verschiedenen Inhalte die identische Beziehung auf  denselben Gegenstand  bei und konstatieren: Der Gegenstand ist  anders  geworden. Überall da aber, wo wir solche  Veränderung an demselben  Gegenstand konstatieren, denk wir,  ebendamit daß wir dies tun, einen neuen Gedanken hinzu, den nämlich, daß der Zeitreihe der geänderten Empfindungen eine Änderung im Gegenstand selbst  entspricht. Aber wie können wir behaupten, wir hätten  denselben  Gegenstand vor uns, während doch die Empfindungsinhalte ganz anders sind? Nur dadurch, daß wir  hinzudenken,  es sei eine  gegenständliche  Beziehung vorhanden, welche die Änderung an demselben Gegenstand bedingt. Diese gegenständliche Beziehung aber nennen wir  Ursache.  Nur  vermöge des Hinzudenkens des Ursachgedankens  ist es somit möglich, eine Veränderung von Wahrnehmungen als gegenständliche Veränderung von Dingen aufzufassen; und hieraus stammt die unausweichliche Nötigung, nunmehr nach den bestimmten Ursachen der bestimmten Änderungen zu fragen. Der Kausalgedanke kommt also nicht etwa erst zur Wahrnehmung eines  Geschehens  nachträglich  hinzu  (6), sondern die Wahrnehmung des Geschehens selbst als eines gegenständlichen Geschehens ist nur auf Grund des Kausalgedankens möglich. Der Kausalgedanke selbst ist in seinem Kern nicht als die Festhaltung der identischen Beziehung trotz der Verschiedenheit der Inhalte.

Darum müssen wir auch hier konstatieren: Damit, daß wir eine Reihe wechselnder Empfindungen als Wechse in der Wahrnehmung desselben Dings, also als  Veränderung  des Dinges selbst auffassen, sagen wir, daß diese Veränderung sich  wirklich  außer uns und unabhängig von unserer zufälligen Wahrnehmung dieser Veränderung vollzogen habe. Und auch hier ist diese Feststellung von der anderen Frage zu trennen, ob wir da vielleicht im einzelnen geirrt und vielleicht etwas als Veränderung eines Dinges angesehen haben, was vielleicht nur eine Veränderung an einem subjektiven Medium der Beobachtung war.

Diese und die dem Gesagten analogen tatsächlichen, für das Verständnis der Erfahrung grundlegenden und maßgebenden Feststellungen müssen wir festhalten, denn sie führen allein aus dem Irrlichtelieren phantastischer Spekulation, die schon KANT selbst in der Kritik der Paralogismen und Gottesbeweise abgefertigt hat, auf den klaren und sicheren Boden wissenschaftlichen Denkens und Forschens. Sie geben die Lösung eines Problems, um das die Jahrtausende gerungen haben.

Daß aber diese Lösung keinen allgemeinen Anklang gefunden hat, ja noch heute von weiten Kreisen nicht gewürdigt wird, hat seinen Grund in dem oben erwähnten Umstand, daß KANT die Frage nach seiner  Herkunft  zu trennen vermag und letztere Frage voreilig und widerspruchsvoll entscheidet. Nachdem er z. B. in durchaus exakter Weise in der sogenannten "metaphysischen Erörterung" des Raums erwiesen hat, daß der Raum nicht erst nachträglich, d. h. als "empirischer Begriff" von äußeren Erfahrungen abgezogen sei, sondern diesen Erfahrungen zugrunde liege und nachdem erdaraus in der "transzendentalen Erörterung" die Möglichkeit, apriorische Schlüsse von allgemeiner Geltung zu ziehen, also die Möglichkeit der  Geometrie  als Wissenschaft begründet hat, springt er ohne weiteres zu folgenden "Schlüssen" über: "Der Raum stellt keine Eigenschaften (oder Verhältnisse) irgendwelcher Dinge an sich vor", sondern ist "nichts anderes, als die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die  subjektive Bedingung der Sinnlichkeit,  unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist". Ganz ebenso verfährt er, in Bezug auf die Zeit, nachdem er sie ganz vortrefflich als eine  allen,  nicht bloß allen  äußeren  Anschauungen notwendige Grundlage dargelegt und betont hat, daß die Wissenschaft der Bewegungslehre nur auf Grundlage der Zeitvorstellung apriorische Schlüsse ziehen kann. Und dasselbe Spiel wiederholt sich betreffs der Kategorien. Der richtige Gedanke, daß die Kategorien  Bedingungen  a priori sind, die der Bildung der Erfahrung zugrunde liegen, als  Bedingungen  möglicher Erfahrung sind, führt sofort zu dem voreiligen Schluß, daß sie in "der Natur unseres Gemütes" als "subjektive Gründe" (7) der Einheit liegen.

Freilich diese Schlußfolgerung liegt nahe genug. Wenn man einmal erkannt hat , daß die Erfahrung nicht fertig in uns hereinfließt, sondern von uns geschaffen werden muß, so scheint es ohne weiteres, als müßten die Erkenntnismittel, durch die wir die Erfahrung schaffen, auch in uns ihren  Ursprung nehmen,  also vom "Gemüt" aus sich heraus hinzugegeben werden.

Und es ist leider Tatsache, daß gerade dieser Schluß in der Geschichte der Philosophie eine weit bedeutsamere Rolle spielt, als KANTs wertvollere methodische Untersuchung, hinter der er sich als Verlegenheitsauskunft aufbaut. Sowohl bei den Fortbildnern KANTs von FICHTE bis HEGEL als auch bei Gegnern des Mannes bildet gerade diese Schlußfolgeung den Angel, um den sich die Haupterörterung dreht.

Aber dieser Schluß ist erstens an sich nicht  notwendig,  und zweitens  führt  er zu Widersprüchen, die unlösbar bleiben, wenn man ihn festhält.

Der Erweis, daß der Schluß nicht notwendig ist, ist am besten dadurch zu erbringen, daß man eine andere Möglichkeit der Erklärung, bzw. der Herkunft obiger Begriffe zeigt. Um aber dazu zu gelangen, eine solche anderweitige Erklärung aufzusuchen, muß man die Widersprüche aufdecken, die sich infolge jener Annahme ergeben. Diese sind nun allerdings in der Hauptsache seit langem empfunden, aber meist in falscher Weise geltend gemacht worden. Man hat gesagt, daß eine Objektivität, die durch unser Denken  geschaffen  werde, doch keine Objektivität der Dinge selbst sei, daß also die "Erscheinung" im Grunde Schein sei. Mit diesem Einwand aber macht man KANTs fehlerhafte Schlußfolgerung selbst mit, supponiert also mit ihm, daß die Denkformen, durch die wir Erfahrung  schaffen,  auch im Subjekt  entspringen  müssen. Gegen solche Formulierung des Einwands hat darum der Kantianer leichtes Spiel. Er braucht bloß auf die von KANT festgestellte objektive Gesetzmäßigkeit hinzuweisen, die nur unter genannter Voraussetzung möglich ist und die wahrscheinlich kein sein ist. Er kann sagen: Wir können doch nie hoffen und beanspruchen, daß die Dinge, wie sie an sich, d. h. unabhängig von unserer Erkenntnis sind, in uns hereinspazieren. Im Gegenteil, gerade dann, wenn dies wäre, so wären sie Schein und nicht außer uns befindliche wirkliche Dinge. Daß aber die Erkenntnisbestimmungen derselben nur in uns und nirgends anders sein können, ist so selbstverständlich, daß darüber kein Wort zu verlieren ist. Und hiergegen bringt obiger Einwnd nur eine Behauptung und keinen Beweis. - Wenn also PLECHANOW meint, KANT damit zu widerlegen, daß er ihm sagt: "The proof of the pudding is the eating"! so trifft er ihn an ganz falscher Stell. Das leugnet ja KANT in keiner Weise; gerade er betont ja, daß Empfindung "die wirkliche Gegenwart des Dinges" anzeige. Und gerade er hat ja die phantastischen Versuche, mit Umgehung der Bedingungen der Sinnlichkeit zu "Dingen an sich" zu gelangen, mit aller Energie bekämpft und hat die Wirklichkeit der Dinge in der ersten ebenso wie in der zweiten Auflage festgehalten. (8)

Der Widerspruch, den sich KANT zuschulden kommen läßt, besteht nicht darin, daß er einerseits subjektive Vorstellungen, andererseits Dinge annähme, die davon unabhängig sind. Der Widerspruch besteht nur darin, daß er den  Ursprung nicht nur derjenigen Vorstellungen, welche die Möglichkeit,  Notwendigkeit, Bejahung, Verneinung etc. bei der  Bildung  der Dingvorstellungen notwendig sind, aus der "Subjektivität des Gemüts" als ihrem "Quell" herleitet, sondern daß er mit diesen Vorstellungen eine ganz andere Reihe von Vorstellungen unterschiedslos zusammenwirft, nämlich diejenigen. welche als  Bestimmungen  der Naturerfahrung verwendet werden. Wenn wir sagen, ein Ding ist "möglicherweise" vorhanden, so geben wir damit kein Prädikat eines Dinges, sondern nur ein Verhalten unseres Erkenntnisvermögens an. Wenn wir aber urteilen: "Das Ding beharrt in der Zeit", oder "das Ding verändert sich", so geben wir Aussagen über die Dinge selbst; und wenn diese Aussagen ebenfalls "in der Subjektivität unseres Gemüts" ihren Ursprung hätten, so wären sie nicht möglich. Sobald wir sagen  müssen,  ein Flecken, den wir am Objekt sehen, gehöre dem Objekt selbst an, können wir nicht sagen, er stamme aus der Natur der Brille, durch die wir sehen. Und ebenso umgekehrt. Hier, in der  Erkenntnisbeziehung,  nicht im Gegensatz Ding-Vorstellung liegt der Widerspruch. Das verkennt PLECHANOW, wenn er seinen Einwand z. B. so formuliert: "Bei KANT haben die Gesetze a priori keinen objektiven Wert oder mit anderen Worten, sie besitzen nur Geltung für die Phänomene, nicht für die Dinge an sich." (9) Der Kantianer muß denken: Ist denn der Mann nicht klug, "der einem KANT gerade das vor der Nase wegleugnet, was dieser zuerst klar bewiesen hat, den objektiven Geltungswert der Gesetze a priori?" - Und was soll erkenntniskritisch bedeuten "Dinge an sich?": Das wären Dinge, die erfaßt werden sollen, abgesehen von Bedingungen unseres Erkennens; und gerade dieses spekulative Suchen nach dem Stein der Weisen haben ja KANTs Forschungen unmöglich gemacht. - Also, PLECHANOWs Einwand ist für einen Menschen, der KANT versteht, nirgends zu fassen. Hätte er gemerkt, daß KANT selbst jenen metaphysischen Gegensatz im Auge hat zwischen einem Ding, das wir natürlich erkennen und einem Ding, das wir hinter unseren Erkenntnisbedingungen herum (durch bloßen Verstand) erkennen wollen, so hätte er seinen Einwand anders formuliert. Er müßte nach dem Gesagten lauten: "Kant zeigt, als welchen Komponenten das objektiv gültige, auf Naturdinge angewandte Urteil geistig zustande kommt, aber er übersieht, daß Aussagen, die vom Ding selbst gelten sollen, unmöglich ihren Quell rein in der Subjektivität des Gemüts haben können." Gewiß will PLECHANOW in der Sache nicht anderes als dies behaupten; wenn er vom "Ding an sich" spricht, meiner er eben das Naturding; aber seine Verkennung der positiven Leistung KANTs veranlaßt ihn zu Formulierungen, die gerade diese Leistung in Frage stellen und er macht dadurch seine Einwände wirkungslos.

Sind wir uns aber darüber klar geworden, daß KANT in seiner Kategorientafel von vornherein nicht zwischen solchen Verstandesformen scheidet, welche bloß  unser Verhalten bei Bildung der Erfahrung  angehen und solchen, welche  zu Prädikaten der Natur selber  werden, sondern beide unterschiedslos durcheinander wirft, dann stellt uns diese Unterscheidung vor ein  neues  Problem. Wir fragen nicht mehr metaphysisch, wie wir von Dingen an sich zu Erscheinungen kommen oder umgekehrt, sondern wir fragen erkenntniskritisch nach dem Unterschied von  zwei ganz verschiedenen Arten objektiver Gültigkeit. 

Diesen Unterschied wollen wir uns noch an einigen Beispielen anschaulich machen. Wenn wir die Höhe und Breite eines Steines messen und daraus den Kubikinhalt berechnen oder dergleichen, so sind die verschiedenen Verfahren, die wir dabei anwenden,  objektiv  gültig, aber eben nur objektiv notwendig für das  Verfahren selbst.  Dagegen nur das Resultat ist gültig für den  Naturgegenstand:  den Stein. Addition, Multiplikation, Potenzierung, Wurzelausziehen etc. sind notwendige und objektiv gültige Operationen für das Verfahren, aber sie sind in keiner Weise objektiv gültig für Naturgegenstände. Was soll [Wurzel aus -1] auf Natur bezogen bedeuten? Nichts, reinen Unsinn! Daraus ergibt sich, daß wir bei unseren notwendigen und objektiven Begriffen nicht bloß den  Geltungswert  festzustellen haben und nicht etwa bloß, wie KANT tut, zwischen Sinnlichkeit und Verstand zu scheiden haben, sondern daß wir weiterhin prüfen müssen, für  welche Art von Objektivität  die betreffenden gültig sind. Es muß also neben der Beziehungsart auch der  Beziehungsort  eines Begriffs erkenntniskritisch untersucht werden. Wenn sich also herausgestellt hat, daß Möglichkeit, Notwendigkeit, Bejahung, Verneinung etc. nur unser  Verfahren  in Bezug auf Gegenstände, Raum, Zeit, Kausalität, Substanzialität aber die äußere Natur selbst zu Beziehungsorten haben, so muß die Befugnis, von solchen Beziehungsarten zu prädizieren, besonders untersucht werden.

Dazu reicht aber KANTs Untersuchung nicht aus. Er begründet die objektive Geltung aus der sogenannten transzendentalen Einheit der Apperzeption, d. i. daraus, daß alle Begriffe in notwendigem Zusammenhang zum "Ich denke" in demselben Subjekt stehen müssen. Darin hat er insoweit vollkommen recht, als er zeigt, daß nur der notwendige, einheitliche Zusammenhang aller Erkenntnisse uns Wahrheit verbürgt, daß wir also Irrtümer stets nur daraus erkennen können, daß irgendwelche Denkbestimmungen sich widersprechen. Aber genannten Unterschied kann er damit nicht begreiflich machen. Es bleibt schon ein Rätsel, wie neben der  notwendigen  Beziehung auf das "Ich denke" noch eine  empirische  Apperzeption mit ihren vielfachen Irrtümern möglich ist. Es bleibt daher aber vor allem der Grund unbegreiflich, warum einige der apriorischen Denkbestimmungen  konstitutive,  andere, wenn wir so sagen dürfen, bloß  konstruktive  Erkenntnismittel sind.

Das hieraus entspringende Problem läßt sich durch kein Dekret über den Ursprung lösen oder aus der Welt schaffen. Das Dekret, sie seien im Subjekt entsprungen, schafft einen fast noch größeren Widerspruch, als das Dekret, sie stammten aus der Erfahrung. Letzteres enthält für den, der KANT durchdacht hat, freilich einen unausgleichbaren Widerspruch. Denn wie können diejenigen Elemente erst Erzeugnis der Erfahrung sein, durch welche Erfahrung ihrerseits erzeugt werden muß. Ersteres aber führt zu ganz haltlosen Versuchen, der Subjektivität durch ungeheuerliche Annahmen zu entgehen. Dahin gehören das Dekret, daß der Quell dieser Formen nicht im Subjekt, sondern in einem generellen Ich, wie FICHTE annimmt oder in einem "Bewußtsein überhaupt", wie LAAS es nennt, zu finden sei. (10) Doch diese Ausflucht fruchtet nichts. In der Erfahrung erscheint das Subjekt als Teil in der Kette der Erscheinungen und zwar als recht kleiner Teil. Als das die Erfahrung gestaltende Subjekt hat es aber die ganze Natur in sich. Hat es nun die Elemente zur Gestaltung der Erfahrung aus sich genommen, als seine Erzeugnisse, so müßte seine Subjektivität einerseits die gesamte Objektivität tatsächlich umfassen, andererseits nur ein Teil darin sein. Das Bewußtsein überhaupt oder das allgemeine Ich löst diesen Widerspruch nur durch Flucht aus der Dämmerung ins Dunkel und läßt das Problem im Nebel eines mysteriösen Wortes verschwinden.

Auch das Verfahren COHENs und seiner engeren Anhänger genügt hier nicht. So sehr wir diese Forscher gerade darin schätzen müssen, daß sie das eigentlich wissenschaftliche Fundament des Kantianismus, die Untersuchung der Erkenntnismittel ausgegraben und der zerfahrenden Philosohie der Gegenwart gegenüber mit zäher Energie endlich mehr und mehr zur Geltung gebracht haben, so wenig können wir es billigen, daß sie das in Frage kommende Problem geradezu ausschließen wollen. Wenn freilich COHEN (11) das Ding an sich für den Inbegriff aller wissenschaftlichen Erkenntnisse, bzw. als "Aufgabe" bezeichnet, so haben wir an sich gar nichts gegen eine solche Definition einzuwenden. Aber - sie bezeichnet weder KANTs Ding an sich, noch löst sie das durch ihn offen gelassene Problem. Sie ist eine Bestimmung, die  nach  Lösung des Problems ganz vortrefflich ist,  vor  dessen Lösung angewandt aber einen spanischen Wand gleicht, die es verdecken soll. Und dabei ist dieser Verdeckungsversuch umsonst. Auch bei COHEN erscheint das Bewußtsein als "Quell der Erfahrung", aber um dem Schein des Subjektiven zu entwischen, meint er den "Inbegriff der Mittel und Methoden," welche wissenschaftliche Erkenntnis ausmachen. (12) Er geht also um den Fragepunkt herum und behält die Subjektivität im Grunde bei, ohne es Wort haben zu wollen. Ebenso sagt NATORP in seinem neuesten Buch: (13) Die Bestimmungen, in denen man das Gegebene zu fassen versucht, "stellen sich bei näherer Betrachtung als Denkbestimmungen heraus, die als solche nicht Gegebenes, sondern  eigene Gestaltungen des Denkens  sind." Auch er sieht also da kein Problem, sondern läßt ganz ruhig die notwendigen Bedinungen objektiver Erfahrung ohne Unterschied eigene Gestaltungen des Denkens sein.

Alle diese Aufstellungen verkennen oder umgehen somit das Problem, um das es sich handelt. Das Problem haben wir erst gelöst, wenn wir zeigen können,  daß wir Bewußtseinsvorgänge haben, die wir als wirkliche Relationen zwischen uns und den Dingen ansehen müssen und daß die konstitutiv apriorischen Formen ohne Schädigung ihres Geltungswerts von ihnen abgeleitet gedacht werden können.  Dann können wir begreiflicherweise dadurch, daß wir Bestimmungen, die aus diesen Relationen abgeleitet sind, auf die Dinge untereinander übertragen, gültige Urteile über diese Dinge selber fällen. Das ist dann genau so verständlich, wie es verständlich ist, daß wir die Höhe eines uns unzugänglichen Turmes aus den Winkeln, die er mit einer uns zugänglichen Wegstrecke bildet, berechnen können.

Um eine derartige Lösung des Problems vorzubereiten, müssen wir zunächst einige besondere Funktionen unseres Bewußtseins ins Auge fassen, die KANT bereits betont hat, die  Analyse  und die  Synthese.  Wenn wir die Erfahrung, wie sie uns jeweils vorliegt, betrachten, so finden wir, daß jeder Fortschritt in ihr geschaffen wird mittels Analyse irgendeiner besonderen Einzelheit aus einem bisher noch ununterschiedenen Boden und durch Beziehung dieser Einzelheit auf einen Zusammenhang, in den sie sich einheitlich einfügen läßt. So erscheint eine Landschaft zunächst in ganz allgemeinen Zügen vor unserem Auge. Erst aufmerksame Beobachtung läßt besondere Einzelheiten hervortreten und diese fixieren wir dann oft nicht ohne Mühe und Irrungen neben- und hintereinander, so daß uns endlich statt des Bewußtseins der verworrenen Fläche ein mehr oder minder gegliederter und geordneter Zusammenhang vor Augen steht.

So analysiert das Ohr aus dem Tongewirr eines Orchesters die Töne eines Instrumentes und bringt diese als geordnete Melodie zum Bewußtsein. So analysieren wir, mit der Fingerspitze hin- und hergleitende, die Formen einer Fläche und bringen uns dieselben als Zusammenhang des Gegenstandes zum Bewußtsein. Wir vollziehen also, indem wir analysieren, schon in der sinnlichen Beobachtung gewissermaßen Abstraktionen, indem wir, von allen anderen Bestandteilen des Untergrunds absehend, bloß bestimmte Einzelheiten ins Auge fassen und diese bringen wir dann synthetisch untereinander in Beziehung.

Dabei ist uns folglich jedesmal nur diejenige Einzelheit, bzw. die Reihe der Einzelheiten deutlich bewußt, die wir gerade analysieren; diese Reihe wissen wir, aber wir beobachten dabei oft nicht einmal,  daß  wir das tun, geschweige denn,  wie  wir das tun. So ergibt sich uns bekanntlich das objektive Nebeneinanderbestehen bestimmter Dinge daraus, daß wir mit dem Auge oder dem Tastorgan nach Belieben wechselweise zwischen dem einen und dem anderen hin- und hergehen. Die Synthese "nebeneinander" vollzieht sich aufgrund der wechselseitigen Analyse. Wo wir diese nicht wechselseitig vollziehen können, wo vielmehr die Wahrnehmungen bloß zeitlich folgen, da reden wir nicht von nebeneinander bestehenden Dingen, sondern von Vorgängen, die "nacheinander" folgen. Das tun wir jederzeit unmittelbar und meist blitzartig schnell; aber das Bewußtsein,  daß  wir das so tun, steigt vielen Menschen ihr Lebenlang nicht auf. Dieses Tun könnten wir, um es vom eigentlich unbewußten zu unterscheiden, "unterbewußt" nennen. Bewußt wird es erst dann, wenn wir gelernt haben, die bei Analysierung und Verknüpfung der objektiven Begriffe ausgeübte eigene Tätigkeit zu untersuchen und ihrerseits begrifflich zu machen; (14) das heißt, wenn wir nicht mehr Naturphilosophie und Metaphysik des Seins treiben, sondern Erkenntniskritik üben.

Nach diesen Vorbemerkungen kommen wir zum Problem zurück, das wir aufgestellt haben und fragen, ob wir unter unseren Erkenntnisfunktionen solche haben, die von vornherein Beziehungen von Dingen zu uns enthalten oder genauer, ob Beziehungen in uns vorhanden sind, die wir notwendigerweise als Beziehungen von etwas Fremdem zu uns deuten müssen und ob wir hiervon Bestimmungen abzuleiten vermögen, die wir nachher als auf Beziehungen der Dinge untereinander übertragen auffassen müssen. Können wir das leisten, dann ist der Schluß gegeben, daß letztere Beziehungen auf dem Wege der ursprünglichen unterbewußten analytischen und synthetischen Tätigkeit abstrahiert und verknüpft worden sind.

Solche Beziehungen aber, wie wir sie suchen, kennen wir seit langem - in unseren  Empfindungsvorgängen.  Diese gelten uns stets als unmittelbare Affektionen, als passive Veränderungen unseres Zustandes als Beziehung von etwas Fremdem zu uns. Freilich, das muß betont werden, nur im lebendien Empfindungsvorgang  als einem Geschehen, kann solche Beziehung liegen, nicht bloß in dem nach Qualität und Intensität bestimmten  Inhalt  dieses Vorgangs. Der gesamte Empfindungsvorgang enthält weit mehr als diese, bereits durch Analyse aus ihm gewonnenen Elemente. Darauf weist schon KANT selbst. "Sinnliche Anschauungen", so sagt er, "enthält die Art, wie wir von Gegenständen  affiziert  werden." Damit sagt er, daß das Grundelement der sinnlichen Anschauung, die Empfindung, die ja "die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes voraussetzt", (15) als passives Affiziertwerden zum Bewußtsein kommt. "Affiziert werden" heißt aber, Einwirkungen verspüren, führt also den Kausalgedanken mit sich.

Es kann sich da höchsten um das Bedenken handeln, ob dieser Kausalgedanke  erst nachträglich zum Empfinden hinzugedacht  wird oder ob er ursprünglich  in ihm selber liegt  und erst durch Analyse von ihm abgesondert wird.

Da wir nicht bei unserem ursprünglichen Bewußtsein, d. h. bei unserer ersten Empfindung Nachfrage halten können, so ist diese Frage empirisch nicht zu entscheiden. Die Analyse unseres heutigen Empfindens kann uns da keine volle Gewißheit geben. Denn es bliebe, sobald wir sagen wollten, der Kausalgedanke sei aus der Empfindung abgeleitet, dennoch der Verdacht bestehen, dies könne eine Täuschung sein, indem diese neuerdings vorgenommene Analyse auf einer für uns nicht mehr kontrollierbaren ursprünglichen  Synthese  ruhe.

Um dieses Dilemma zu lösen, kommt uns aber KANTs eigene Methode vortrefflich zu statten. Die "transzendentale" Frage, die er stets als methodischen Entscheidungsgrund stellt, lautet: Ergibt sich eine gemachte Voraussetzung als Bedingung möglicher Erfahrung? Ist das der Fall, so lautet die Folgerung: Was sich als Bedingung möglicher Erfahrung herausstellt, wird ebendamit zur  notwendigen  Bedingung  wirklicher  Erfahrung.

Nun haben wir bereits gesehen, daß gewisse apriorische Formen notwendige Bestandteile der Erfahrung sind; und wir haben dargetan, daß mit diesem tatsächlichen Geltungswert die Annahme nicht stimmt, daß sie aus der reinen Subjektivität des "Gemüts" stammen. Stammen sie aus nicht aus dem "Gemüt" und müssen sie dennoch apriorisch sein, so bleibt nur die Wahl, daß sie von einem ursprünglichen Erfahrungselement abgeleitet sind. Da wir nun  kein anderes Erfahrungselement haben, von dem sie abgeleitet zu denken wären, als den Empfindungsvorgang, so ergibt sich, daß die konstitutiv-apriorischen Formen ursprünglich in ihr liegen und erst aus ihr abstrahiert sein müssen. 

Es wäre denn doch auch allzu seltsam, daß wir nur in späterer Erfahrung, falls wir einen ungewohnten Ton hören, einen unerwarteten Lichteindruck haben, eine plötzliche Tastempfindung verspüren, sofort fragen sollten, woher das kommt, wenn nicht der Empfindungsvorgang selbst durch eine in ihm liegende Eigenart diese Frage an die Hand gäbe. - Und ferner: Falls das Kausalbewußtsein im Empfinden liegt und von ihm abstrahiert ist, so ist es sehr begreiflich, daß wir überall da, wo wir Veränderungen wahrnehmen, a priori eine Ursache postulieren müssen, während umgekehrt, wenn die Empfindung nicht selber das Kausalbewußtsein enthält,  gar kein Grund  abzusehen ist,  warum  wir sie durch Zudenken des Kausalgedankens zum Bewußtsein eines Affiziertwerdens, d. h. zu einem Vorgang, der eine Ursache fordert, machen müßten oder auch nur machen könnten.

Wir müssen daher zum Schluß kommen, daß die konstitutiv-apriorischen Formen aus dem Empfindungsvorgang abgeleitet werden müssen, daß also die apriorisch-synthetischen Urteile über Dinge - bzw. die Bildung der Erfahrung - auf einer Übertragugn ursprünglich unterbewußter Abstraktionen auf das Verhältnis zwischen Dingen beruhen.

Die Frage, wie dies geschehen möge, ist nun von besonderer, im einzelnen nicht mehr "transzendentaler" d. h. erkenntniskritischer, sondern psychologischer, bzw. psychologisch-physiologischer Art. Aber dennoch ist es gut, wenigsten einige allgemeine Gesichtspunkte zu geben. Denn die Möglichkeit, sich die Erfahrung in dieser Weise aufgebaut zu denken, bildet gleichsam die praktische Probe auf obige Schlußfolgerung.

Ist die Empfindung schon ursprünglich Bewußtsein eines Affiziertwerdens, also Relation eines Fremden zu uns, so muß die Reaktion des Bewußtseins darin bestehen, daß dieses Fremde bestimmt werde. Allein zu seiner Bestimmung haben wir zunächst - wenn wir davon absehen, daß Empfindungsvorgänge wohl schon ursprünglich eine unterbewußte Größe haben mögen - nur Qualität und Intensität der Empfindung. Also kann das Fremde zunächst als bloß durch diesen Inhalt bestimmt gedacht werden. Es ist dem Bewußtsein nichts als das in dieser Weise  Affizierende:  so können wir den Tatbestand der ursprünglichen Synthese bezeichnen.

Nun kommen weitere Affektionen. Nehmen wir zunächst der Einfachheit halber solche von gleicher Qualität und Intensität. Sie werden notwendig auf  dasselbe  Fremde, als  identisch  bezogen. Und diese identische Beziehung besagt: es ist  dieselbe  gegenständlich beharrende Ursache, die auf uns verschiedenemale die gleiche Wirkung ausübt. Dieses und nichts anderes ist der Substanzgedanke. Dieser Gedanke ist somit nicht etwa vom Kausalgedanken verschieden; die dauernde oder gleichartig wiederkehrende Wirkung auf uns stellt uns vielmehr durch ihn eine  gleichartige und dauernde Ursache  dieser Wirkung vor das Bewußtsein.

Muß das Bewußtsein ursprünglich die gleichartig wiederkehrende Empfindung notwendig auf dasselbe beharrende Etwas, d. h. dieselbe Substanz beziehen, so muß es andererseits eine andersartige Empfindung  ursprünglich  auf eine  andere  Substanz beziehen. Und wenn nun die Beobachtung von dem einen zum andern Ding unterschiedslos hin- und hergehen kann, dann wird, wie erwähnt, unmittelbar die ursprüngliche Beziehung eines Fremden, eines "außer uns"  auf das Verhältnis der beiden Substanzen übertragen.  Sie werden  außereinander  bestimmt. Damit aber treten sie in gegenseitige Bezieung in einer außer uns vorgestellten Einheit - dem  Raum. 

Damit befinden wir uns sofort auf gewohntem Erfahrungsboden.

Sobald viele derartige Beziehungen auf verschiedene außereinander befindliche Substanzen fixiert sind, gewinnt der Raum seine Ausfüllung und seine Bestimmtheit. Oben und unten, neben, vorn und hinten, Größe und Maß treten ins Bewußtsein. Und nun kann die Auswertung immer weiter gehen, indem jeder neue Inhalt, der neben oder hinter den bereits fixierten Stellen bezogen wird, immer wieder in dieselbe Relation des Außenseins zu den bereits fixierten Substanzen tritt. Endlich kann bei entwickeltem Bewußtsein diese Fixation neuer Raumstellen ohne Empfindungsgrundlage bloß in Gedanken weiter gehen und führt so zur Vorstellung von der Endlosigkeit des Raums.

Ist dann, beiläufig bemerkt, der Raum einigermaßen derart bestimmt und ausgefüllt, so können die neuen Empfindungen nicht mehr allesamt an verschiedenen Raumstellen fixiert werden. Ursprünglich ist es denkbar, daß z. B. eine Gesichtsempfindung an einer Substanz, eine Tastempfindung an einer anderen Substanz fixiert wird. Mit der zunehmenden Ausfüllung des Raums geht das nicht mehr. Die Empfindungen verschiedener Sinne müssen an denselben Raumstellen verbunden fixiert werden; die Vorstellung von Substanzen mit mehreren Eigenschaften, d. h. von Ursachskomplexen, die mehrere Empfindungsarten bewirkt haben, tritt ein. In steter Korrektur und Umordnung wird so das Weltbild geschaffen.

Eine andere Art der Beziehung schiebt sich von Anfang an herein, wo Empfindungsreihen in der Weise hervortreten, daß wir nicht von der einen zur anderen abwechselnd übergehen können. Jetzt besteht, wie wir gesehen haben, die Notwendigkeit, objektive  Vorgänge,  gegenständliche Veränderungen zu statuieren. (16) Diese Notwendigkeit aber setzt voraus, daß das unmittelbare und subjektive Bewußtsein der Folge von Empfindungen, vermöge dessen allein schon die Zusammenfassung früherer und jetziger Empfindungen im Gedanken der Substanz möglich war, als objektive Folge von Vorgängen, also als objektiv zeitliches  Geschehen  aufgefaßt wird. Die Zeit also, ursprünglich unterbewußte Form der ursprünglichen Relation der Empfindungsvorgänge, wird jetzt gegenständlich. Und damit ist, wie wir gesehen haben, eine Identität des substanziellen Zusammenhangs trotz gleichzeitiger Nichtidentität bestimmt, ein Widerspruch, der seine Lösung in der Nachfrage nach der  Ursache  der Änderung findet. Aber diese Ursache kann nicht im Vorgang selber liegen, sondern geradeso, wie wir die eigene Affektion im Empfinden auf etwas außer uns beziehen müssen, so müssen wir die Affektion des außer uns bestimmten Dings in einem erst außer demselben bestimmten oder zu bestimmenden suchen. Wir übertragen also wiederum eine Besonderheit der ursprünglichen Relation des Empfindungsvorgangs auf die Relation zwischen äußeren Dingen, bzw. Vorgängen.

Und hierdurch ensteht der Gedanke des  Kausalzusammenhangs,  der später, zu wissenschaftlicher Klarheit erhoben, die Aufgabe stellt, daß jede Veränderung, welcher Art sie auch sei, nach Maß, Richtung und Eigenart zureichend zu bestimmen sei.

Wie sich nun diese Analysen und Synthesen im einzelnen vollziehen, das zu erörtern, müssen wir uns versagen. Die physiologische Psychologie zeigt, daß der Erwerb schon des dürftigsten Weltbildes ein sehr komplizierter Vorgang sein muß, daß tausendfache irrige Beziehungen und irrige Übertragungen vorkommen. Das Kind greift nach dem Mond, hält die verschiedensten Dinge für identisch etc. und wir Erwachsenen irren uns noch oft, wenn es gilt, auszumachen, woher ein Ton kam, ob ein Berg hinter oder neben dem andern ist und dergleichen. Die Korrektur erfolgt da stets erst dann, wenn irgendwelche Widersprüche zu Bewußtsein kommen. Das Auftauchen des Widerspruchs ist in dieser Hinsicht eine vorwärtstreibende Instanz.

Die gegebenen Andeutungen dürften für den vorliegenden Zweck genügen. Es lag uns ja nur ob, die Möglichkeit zu zeigen, daß die apriorischen Funktionen, wenn wir sie als analytische Abstraktionen aus dem Empfindungsvorgang als der ursprünglichen Relation zwischen uns und der Außenwelt auffassen, zu synthetisch apriorischer Verwendung für den Aufbau des Erfahrungsganzen genau ebenso geeignet sind, als wenn wir sie als Bestimmungen der Subjektivität ansehen.

Das sind sie aber in jeder Weise. Der Raum liegt bei unserer Auffassung allem äußeren, die Zeit allem inneren und äußeren Sein und Geschehen ebenso zugrunde, wie bei KANT. Darum sind auch die Schlüsse, die sich aus diesen Bedingungen der Erfahrung a priori ziehen lassen, ebenso bindend für alle Erfahrung, wie sie es nach KANTs Annahme sind. Die apriorischen Folgerungen der reinen Geometrie, der reinen Mathematik, der reinen Naturwissenschaft sind, wenn sie auf den genannten Bedingungen und nicht , wie die Metamathematik auf einer Auswahl dieser Bedingungen, z. B. als Geometrie ohne Parallelensatz aufgebaut sind, (17) ebenso anwendbar auf Erfahrung, wie sie es bei KANTs Voraussetzungen nur sein können.

In anderer Hinsicht dagegen ist unsere Ableitung, wie wir glauben, beträchtlich verständlicher und mehr zur Erklärung geeignet, als diejenige KANTs.

Sie läßt uns den Zusammenhang von Natur und Leben weit unmittelbarer und einheitlicher begreifen; und vor allem beseitigt sie die ganze Reihe von Rätseln und Widersprüchen, die bei KANTs Annahme unvermeidlich sind und die, wie sich gezeigt hat, veranlaßt haben, daß man an der bedeutsamen wissenschaftlichen Leistung KANTs allzu achtlos vorübergegangen ist.

Zunächst beseitigt sie die bei KANTs Annahme unerklärbare Schwierigkeit, daß einige der apriorisch notwendigen Denkfunktionen bloß konstruktiver Natur sind, d. h. bloß als Gerüste und Hilfswerkzeuge beim Aufbau der Erfahrung gelten, während andere Denkfunktionen sich als konstitutiv, d. h. als Bausteine der Gegenstände selber herausstellen. Und damit wird auch das Rätsel gelöst, daß neben der transzendenten Apperzeption, welche die objektiv gültige Einheit enthält, noch eine empirische Apperzeption vorhanden sein kann, in der Irrtümer vorzukommen vermögen.

Damit ist aber die Kluft zwischen Ding an sich und Erscheinung, die Cohen durch Umgehung nur scheinbar beseitigt hat, wirklich beseitigt. Der Materialismus, der die Beziehung der Vorstellungen auf wirkliche Dinge einfach postuliert, ohne anderen Beweis als den common sense, der Empirismus eines LOCKE, der die primären Eigenschaften der Dinge "wahrnimmt", der positive Phänomenalismus, der alles mit der denkenden Verarbeitung von gegebenen Empfindungsinhalten abmacht und zu keinen wirklichen Dingen kommt, der materiale Idealismus, der die Welt aus dem absoluten Geist hervorzauber, der materiale Rationalismus, der den Knoten durchhaut und wie VOLKELT den Verstand die Transsubjektivität gewährleisten läßt, endlich der Skeptizismus, der wie bei HELMHOLTZ (18), die idealistischen Konzeptionen für unwiderlegbar, wenn auch für praktisch ungeeignet hält: sie alle sind, wenn anders unsere Ableitung probehaltig ist, widerlegt. Ebenso werden die Hilfskonstruktionen von einem "Bewußtsein überhaupt" gegenstandslos und die nächtliche Ungeheuerlichkeit, daß das Subjekt als Quell der apriorischen Formen die ganze Gesetzlichkeit in die Natur hereinlegt, nachher aber, wenn es sich gegenständlich betrachtet, als kleiner Teil dieser gesetzlichen Natur erscheint, löst sich in verständlichster Weise im Tageslicht auf.

Das Ding an sich schrumpft also damit in den wirklichen Gegenstand der Erfahrung zusammen, wie Scrooges Phantom in den Bettpfosten. Was wir apriori von den Dingen aussagen können, gilt für die Dinge selbst, nicht bloß für Vorstellungen von Dingen. Nun erst ist man in der Tat berechtigt, COHENs Urteil zu fällen, das "Ding an sich" bezeichne nichts, als den Inbegriff aller Erkenntnisse, bzw. die unendliche Aufgabe der Erkenntnis. Es ist jetzt nicht mehr das  X  eines fragwürdigen Rätsels, sondern in der Tat das  x  einer unendlichen Gleichung, die wir in immer weiter schreitender Forschung zu lösen haben. Wenn dem so ist, so sollte man, nachdem das Gespenst des Dinges an sich vom Zauber erlöst ist auch den Namen nicht mehr im Bereich der Erkenntnis anwenden. Die unendliche Aufgabe, die wir theoretisch wie praktisch haben, bedarf beider nicht.
LITERATUR - Franz Staudinger, Der Streit um das Ding ansich und seine Erneuerung im sozialistischen Lager, Kant-Studien 4, Berlin 1900
    Anmerkungen
    1) Die einschlägigen Arbeiten sind: - Georg Plechanow, Beiträge zur Geschichte des Materialismus, Stuttgart 1896 - Konrad Schmidt, Kritik zu vorgenanntem Buch im "Sozialistischen Akademiker", Juli- und Augustheft, 1896
    - K. Schmidt, Über Kronenbergs Buch "Kant - sein Leben und seine Lehre", Vorwärts, 17. Oktober 1897, 3. Beilage
    - Eduard Bernstein, Das realistische und ideologische Element im Sozialismus, in "Die neue Zeit, Heft 34 und 39, Stuttgart 1897/98
    - G. Plechanow, Bernstein und der Materialismus, ebenda Heft 14
    - G. Plechanow, Konrad Schmidt gegen Karl Marx und Friedrich Engels, ebenda, Heft 5, 1898/99
    - K. Schmidt, Einige Bemerkungen über Plechanow, ebenda Heft 11
    - G. Plechanow, Materialismus oder Kantianismus, ebenda Heft 19 und 20
    - Dr. Ch. Schitlowsky, die Polemik Plechanow contra Stern und Konrad Schmidt, "Sozialistische Monatshefte, Juni / Juli 1899
    2) "Die Neue Zeit", Heft 5, 1898/99, Seite 136
    3) "Die Neue Zeit", ebenda Seite 326
    4) Kant, Kritik der reinen Vernunft, editiert von Kehrbach, Seite 18
    5) Mill, System der deduktiven und induktiven Logik, übersetzt von Schiel, 3. deutsche Auflage I, Seite 371
    6) Hier gilt es den Ausdruck "Wahrnehmung der Veränderung" beachten. KANT sagt (KEHRBACH Seite 181) Begriff der Veränderung liege nicht in der Wahrnehmung  verschiedener  Zustände, sondern werde  hinzugedacht.  Das ist keineswegs ein Widerspruch zu dem eben Gesagten. Denn die Wahrnehmung  verschiedener  Zustände ist eben noch nicht die Wahrnehmung als eines  einzigen  objektiven  Vorgangs. 
    7) KANT, Kritik der reinen Vernunft, KEHRBACH-Edition Seite 134
    8) Wenn PLECHANOW den alten Gedanken wieder aufwärmt, in der 1. Auflage stelle sich KANT zu den "Dingen an sich" anders, als in der zweiten, so verwechselt er eine bloße Frontveränderung der Polemik mit einer sachlichen Veränderung. In der 1. Auflage streitet KANT bloß wider diejenigen, welche aus bloßer Vernunft an die Dinge gelangen wollen, in der 2. Auflage auch wider die, welche behauptet haben, er sei materialer Idealist. Die Stelle (KEHRBACH 283) aus der 1. Auflage (Seite 251) daß aus dem Begriff einer Erscheinung folge, daß ihr etwas  entspreche,  was nicht Erscheinung sei, zeigt aufs deutlichste, daß er auch hier durchaus keine material-idealistische Position eingenommen hat.
    9) Neue Zeit, 1898/99; Nummer 20, Seite 629
    10) EMIL LAAS, Kants Analogien der Erfahrung, Seite 94 ff. Als ich diesen Passus seiner Zeit zu lesen begann, hielt ich ihn für bittere Ironie, aber leider zeigte sich, daß LAAS blutigen Ernst machte.
    11) HERMANN COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, 2. Auflage, Seite 519
    12) COHEN, ebenda Seite 141f
    13) PAUL NATORP, Sozialpädagogik, Seite 25
    14) KANT, ed. KEHRBACH, Seite 95 "Die Synthesis auf Begriffe bringen."
    15) KANT, ebenda, Seite 76
    16) Daß sehr wahrscheinlich zuerst das Bewegte, nicht das Ruhende die Aufmerksamkeit erregt, ficht obige Darstellung nicht an. Diese will nur schematisch die Grundbeziehungen in ihrer Möglichkeit erörtern.
    17) Systeme, die nicht die Gesamtheit der Erfahrungsbedingunen zugrunde legen, mögen in sich selber äußerst konsequent sein; aber sie haben nichts mit Erfahrung zu tun. Sie sind eine mathematische Metaphysik, ganz analog der ehemaligen Vernunftmetaphysik, die ja auch, wenn konsequent durchgeführt, in sich einheitliche Systeme, oft wahre logische Kunstwerke ergibt, die nur leider, auf Naturerfahrung bezogen, versagen.
    18) HERMANN HELMHOLTZ, Die Tatsachen in der Wahrnehmung, Seite 34 f