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HEINRICH RICKERT
Die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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Einleitung
Erstes Kapitel - Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt
Zweites Kapitel - Natur und Geist
Drittes Kapitel - Natur und Geschichte
I. Begriffsbildung und empirische Wirklichkeit
II. Der Begriff des Historischen
III. Historische Bestandteile in den Naturwissenschaften
IV. Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft
Viertes Kapitel - Die historische Begriffsbildung
Fünftes Kapitel - Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie

"Gibt man die Abbildtheorie auf, so liegt die Sache völlig anders. Es ist dann gar nicht einzusehen, warum es eine Bearbeitung und Umformung der gegebenen Wirklichkeit durch die Wissenschaft nur unter einem Gesichtspunkt und in einer Richtung geben soll. Mit dem Nachweis, daß die Naturwissenschaft die Wirklichkeit nicht abbildet, ist zunächst die Möglichkeit einer völlig anders verfahrenden Wissenschaft gegeben."

"Die Wirklichkeit in ihrer anschaulichen und individuellen Gestaltung geht in keine Wissenschaft ein."

"Alles empirische Sein ist auch ein Werden und Geschehen, denn jeder wirkliche Vorgang verändert sich langsamer oder schneller, und dieses Sein der empirischen Objekte geht in die Begriffe nicht ein."


Drittes Kapitel
Natur und Geschichte

II. Der Begriff des Historischen

Wenn wir fragen, was aus den bisherigen Ausführungen sich für eine andere als die naturwissenschaftliche Methode ergibt, so sehen wir, daß zunächst die Einsicht in das Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung für diese andere Methode gewissermaßen das Feld frei gemacht hat. So lange man es nämlich für die Aufgabe des Erkennens hält, ein Abbild der Wirklichkeit zu liefern, muß die Behauptung, daß es zwei einander entgegengesetzte wissenschaftliche Darstellungen geben könnte, als unannehmbar erscheinen. Hat die Wissenschaft abzubilden, so kann, weil nur ein Abbild richtig ist, jede wissenschaftliche Methode nur ein und dasselbe Ziel verfolgen. Die methodologischen Unterschiede sind dann imer nur aus sachlichen Eigentümlichkeiten des Materials herzuleiten, das der Erforschung hier diese, dort jene Schwierigkeit entgegenstellt. Gibt man aber die Abbildtheorie auf, so liegt die Sache völlig anders. Es ist dann gar nicht einzusehen, warum es eine Bearbeitung und Umformung der gegebenen Wirklichkeit durch die Wissenschaft nur unter einem Gesichtspunkt und in einer Richtung geben soll. Mit dem Nachweis, daß die Naturwissenschaft die Wirklichkeit nicht abbildet, ist zunächst die Möglichkeit einer völlig anders verfahrenden Wissenschaft gegeben.

Diese Möglichkeit verwandelt sich aber in eine Notwendigkeit, sobald wir dann ferner nicht nur das Wesen sondern auch die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung kennen und auf Fragen hinzuweisen imstande sind, die zu beantworten der Naturwissenschaft für alle Zeiten versagt sein muß. Um welche Fragen es sich dabei handelt, welche Lücke die Naturwissenschaft, auch wenn wir das Wort in dem angegebenen denkbar weitesten Sinne nehmen, für immer in unserem Wissen lassen muß, versteht sich jetzt von selbst. Es gibt eine Fülle von Dingen und Vorgängen, die uns nicht nur mit Rücksicht darauf interessieren, in welchem Verhältnis sie zu einem allgemeinen Begriff oder einem System von Begriffen stehen, sondern die uns als anschauliche und individuelle Gestaltungen, d. h. als Wirklichkeiten von Bedeutung sind. Überall aber, wo dieses Interesse vorhanden ist, können wir mit der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung gar nichts anfangen. Das soll nicht etwa, wie wir immer hervorheben müssen, den Wert der Naturwissenschaft herabsetzen, sondern nur die Eigenart und damit allerdings auch die Einseitigkeit ihres Verfahrens deutlich machen. Es soll nur zum Bewußtsein bringen, daß eine Wissenschaft von dem, das sich an keinem bestimmten Ort und an keine bestimmte Zeit knüpft sondern überall und für immer gilt, so wertvoll sie auch sein mag, gar nichts darüber sagen kann, was an bestimmten Stellen des Raumes und der Zeit wirklich existiert und nur einmal hier oder dort, jetzt oder dann vorgekommen ist. Was geschieht wirklich, und was ist früher in der Welt geschehen? Was war, und wie ist das Seiende geworden? Auch das sind Fragen, die wir stellen können. Die Antwort auf sie aber vermag niemals die Naturwissenschaft zu geben, weil alles wirkliche Geschehen in seiner anschaulichen und individuellen Gestaltung ihren Begriffen eine Grenze setzt, sondern, wenn es überhaupt eine Antwort auf diese Fragen geben soll, so kann sie nur von einer Wissenschaft erteilt werden, die in der Form ihrer Darstellung von der Naturwissenschaft in allen wesentlichen Punkten abweicht. Die logische Struktur dieser Wissenschaft, insbesondere die Methode ihrer Darstellung kennenzulernen, sie gegen die Naturwissenschaft abzugrenzen und dadurch das Prinzip für eine logische Gliederung der empirischen Wissenschaft zu gewinnen ist von jetzt ab unsere Aufgabe.

Welchen Namen diese Wissenschaft wird führen müssen, kann auch keinen Zweifel mehr unterliegen: die Sprache bietet uns dafür nur ein einziges Wort. Alles, was uns vom Geschehen an bestimmten Stellen des Raumes und der Zeit berichtet, nennen wir Geschichte, und wenn es daher eine Wissenschaft von diesem Geschehen geben soll, so wird sie Geschichtswissenschaft heißen müssen. An die Geschichte wenden wir uns überall, wo unser Interesse durch die Naturwissenschaft nicht befriedigt wird, weil es am Anschaulichen und Individuellen, d. h. an dem Wirklichen selbst haftet. Sie allein kann die Lücke ausfüllen, welche die Naturwissenschaft in unserem Wissen lassen muß. Sie betrachtet die Wirklichkeit unter einem völlig anderen Gesichtspunkt und bedient sich einer völlig anderen Methode. Worin diese Methode im Einzelnen besteht, werden wir später sehen. Daß ihr allgemeinster Gesichtspunkt von dem der Naturwissenschaften abweichen, ja ihm entgegengesetzt sein muß, läßt sich schon jetzt feststellen. Die Geschichte kann die Wirklichkeit nicht mit Rücksicht auf das Allgemeine sondern nur mit Rücksicht auf das Besondere darzustellen versuchen, denn das Besondere allein ist das, was wirklich geschieht.

Viel scheint allerdings hierdurch nach dem, was wir früher ausgeführt haben, für die logische Grundlegung der Geschichte als einer besonderen Wissenschaft nicht gewonnen zu sein. Die Anhänger der naturwissenschaftlichen Methode werden vielleicht sagen, daß gegen diese Begriffsbestimmungen nichts einzuwenden sei, daß aber durch sie der Geschichte der Charakter der Wissenschaft von vorneherein entzogen werde. Wohl sei die Betrachtung der Wirklichkeit als Natur, d. h. mit Rücksicht auf das Allgemeine einseitig. In dieser Einseitigkeit bestehe aber gerade das Wesen der Wissenschaft, und darauf komme es an, diese einseitige Methode auch auf die Gegenstände anzuwenden, die man bisher "nur" historisch behandelt hat. Wir meinen jedoch nicht, daß dieser Einwand eine wesentliche Bedeutung besitzt. Sollte man ihn für berechtigt halten, so müßte man zugleich auch behaupten, daß es in keiner Weise möglich ist, Geschichte als Wissenschaft gelten zu lassen. Von dieser Frage aber sehen wir ab und beschränken uns zunächst, darauf hinzuweisen, daß der Name Geschichte jedenfalls nur für eine Wissenschaft verwendet werden darf, die uns von dem berichtet, was wirklich geschehen ist. Alle Geschichte hat sich diese Aufgabe gestellt. Nachdem wir die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung kennen, wissen wir, daß die Naturwissenschaft dieser Aufgabe nicht gewachsen ist, und dies genügt uns. Irgendeinen Teil der Naturwissenschaft als Geschichte zu bezeichnen, erscheint uns als willkürliche Terminologie. Wir setzen hier voraus, daß Geschichte getrieben werden soll als Wissenschaft vom wirklichen Geschehen, weil eben nicht nur das Allgemeine, sondern auch das Besondere ein Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses ist. Wir leben im Einzelnen, und wir sind wirklich nur als Einzelne. Der Beweis, daß das Interesse am Besonderen unberechtigt sei, müßte erst geführt werden. So lange das nicht geschehen ist, haben Behauptungen wie die, daß allein das Allgemeine Gegenstand einer wissenschaftlichen Darstellung sein dürfe, gar keine Bedeutung sondern enthalten nur eine petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] schlimmster Art, der man in den Schriften der naturwissenschaftlichen "Historiker" allerdings recht häufig begegnet.

Von größerer Bedeutung dagegen ist ein anderer naheliegender Einwand. Kommen wir, wenn die Geschichte als Darstellung des wirklichen Geschehens eine Wissenschaft sein soll, damit nicht zum Begriff einer Aufgabe, der gerade nach unseren früheren Ausführungen logisch widerspruchsvoll ist? Die Wirklichkeit in ihrer anschaulichen und individuellen Gestaltung geht ja, wie wir ausführlich gezeigt haben, in keine Wissenschaft ein. Aus diesem Satze haben wir die Notwendigkeit und Besonderheit der naturwissenschaftlichen Methode herleiten können. Jedenfalls ist doch die extensive Mannigfaltigkeit der Welt nur der Naturwissenschaft zugänglich, denn eine Wissenschaft, die nicht Gesetze sucht, vermag diese Unübersehbarkeit nicht zu überwinden. Es kann, wo die Aufgabe besteht, das Ganze der empirischen Wirklichkeit kennenzulernen, nur naturwissenschaftlich verfahren werden, und daraus folgt zunächst, daß eine empirische Wissenschaft, die nicht Naturwissenschaft ist, höchstens einen kleinen Teil der Welt zu ihrem Gegenstande machen darf.

Ferner: auch wenn wir von der extensiven Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit absehen und die Geschichte auf einen Teil der Welt einschränken, ist der Begriff einer anderen als der naturwissenschaftlichen Methode noch immer nicht ohne Bedenken. Wir wissen ja, daß die intensive Unübersehbarkeit jedes einzelnen Vorganges ebenfalls einer Erkenntnis, welche die Wirklichkeit, so wie sie ist, darstellen will, unüberwindliche Schranken entgegensetzt, und daraus folgt, daß auch die nicht-naturwissenschaftlichen oder geschichtlichen Disziplinen eine Umformung und Bearbeitung der ihnen gegebenen Wirklichkeit vornehmen müssen. Ja, kann die Richtung dieser Bearbeitung nicht ebenfalls nur auf eine Vereinfachung gehen, und bleibt somit der Begriff der Geschichte nicht durchaus problematisch?

Gewiß, mehr als ein Problem haben wir bisher noch nicht gewonnen, aber – und darauf kommt es an – wenn wir die Geschichtswissenschaft auf einen Teil der Wirklichkeit einschränken, so ist ihre Aufgabe nicht mehr widerspruchsvoll. Nur wo die extensive und die intensive Mannigfaltigkeit der Welt zugleich zu überwinden waren, mußte das Naturgesetz als das einzige logisch vollkommene Mittel zur Lösung dieser Aufgabe erscheinen, und konnte das Ziel aller wissenschaftlichen Arbeit nur in der Bildung allgemeiner Begriffe bestehen. Wo aber die extensive Unübersehbarkeit nicht in Betracht kommt, ist es zumindest nicht ausgeschlossen, daß es eine Art der wissenschaftlichen Bearbeitung gibt, die in einem ganz anderen, so zu sagen näheren Verhältnis zur empirischen Wirklichkeit steht als die Naturwissenschaft, und die, wenn sie auch die ganze intensive Mannigfaltigkeit ihres Materials nicht erfassen kann, doch auch niemals darauf auszugehen braucht, sich immer mehr von der empirischen Wirklichkeit zu entfernen. Diese Bearbeitung kann eventuell dann etwas leisten, das für uns die Bedeutung besitzt, als sei dadurch die Wirklichkeit selbst dargestellt. Wir brauchen, um anzudeuten, in welcher Richtung das z. B. möglich wäre, nur an die früher besprochene nicht-naturwissenschaftliche Art der Beschreibung zu erinnern, und können es im Übrigen zunächst bei dem Begriffe der Geschichtswissenschaft als dem eines notwendigen Problems der Wissenschaftslehre bewenden lassen. Es genügt uns vorläufig, daß dieser Begriff keinen logischen Widerspruch enthält. Genauer werden wir ihn erst im vierten Kapitel entwickeln. Wir wollen hier nur, um einen Gegensatz zur Naturwissenschaft zu erhalten, ein Interesse aufzeigen, dem die Begriffe der Naturwissenschaft nicht genügen können, und zunächst wenigstens, ohne über ihre logische Struktur etwas Näheres zu sagen, auf eine Darstellung der Wirklichkeit hinweisen, die geeignet ist, dieses Interesse am wirklichen Geschehen zu befriedigen.

Wir gewinnen also im unmittelbaren Anschluß an die Feststellung des Wesens und der Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung den Begriff der Geschichte, und wenn es auch nur ein Problem ist, zu dem wir gekommen sind, so steht der Gegensatz der Geschichte zur Naturwissenschaft doch bereits im Allgemeinen fest. Die Geschichte kann niemals versuchen, ihr Material in ein System von allgemeinen Begriffen zu bringen, das um so vollkommener ist, je weniger es von der empirischen Wirklichkeit enthält, sondern sie sucht sich einer Darstellung der Wirklichkeit selbst zmindest anzunähern. Sie kann deshalb im Vergleich zur Naturwissenschaft, die vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Wirklichen zum Geltenden strebt, auch als die eigentliche Wirklichkeitswissenschaft bezeichnet werden. Der Gegensatz, um den es sich handelt, läßt sich am besten vielleicht so formulieren, daß wir sagen: alle empirische Wirklichkeit kann noch unter einen anderen logischen Gesichtspunkt gebracht werden als unter den, daß sie eine Natur ist. Sie wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere. Von der unmittelbar erfahrenen Wirklichkeit geht jede empirische Wissenschaft aus. Der allgemeinste Unterschied der Methode ist allein in dem zu suchen, was die verschiedenen Wissenschaften mit dieser Wirklichkeit vornehmen, d. h. es kommt darauf an, ob sie das Allgemeine und Unwirkliche im Begriff, oder das Wirkliche im Besondern und Einzelnen suchen. Der Naturwissenschaft fällt die eine, der Geschichtswissenschaft die andere Aufgabe zu.

Wie sich von selbst versteht, nehmen wir den Begriff der Geschichte hier in der denkbar weitesten und rein logischen Bedeutung, und dem entsprechend wollen wir auch den Begriff des "Historischen" verwenden. So können wir den Gegenstand der Geschichte nennen, wo die Zweideutigkeit dieses Wortes einen Zweifel darüber läßt, ob wir die Wissenschaft oder ihr Objekt meinen. Dieser Begriff des Historischen umfaßt natürlich durchaus nicht nur den Teil der Wirklichkeit, der Objekt der Geschichtswissenschaften im üblichen Sinne des Wortes ist, sondern er ist in seiner rein logischen Gestalt anwendbar auf jeden beliebigen Teil der gesamten empirischen Wirklichkeit, insofern wir daran denken, daß sie überall aus anschaulichen und individuellen Gebilden besteht. Ja, die Gesammtwirklichkeit selbst ist unter diesem Gesichtspunkt ein historischer Prozeß, wenn es auch keine Gesamtgeschichte davon geben kann. Mit welchem Teil dieses Historischen die Geschichte sich beschäftigt, und was daher das Historische im engeren Sinne ist, kann sich erst bei genauerer Bestimmung des Begriffs der historischen Wissenschaften ergeben. Hier aber sehen wir bereits, daß, womit auch die Geschichte sich beschäftigen, und wie man ihren Begriff genauer bestimmen mag, der Begriff des Historischen in seiner allgemeinsten Bedeutung ganz unabhängig von allen sachlichen Unterschieden wie z. B. dem von Natur und Geist ist. Wir kümmern uns bei seiner Bestimmung überhaupt nicht um irgend welche Eigenschaften, die nur ein Teil der empirischen Wirklichkeit besitzt, denn nur ein solcher rein logischer Begriff kann uns dazu dienen, die empirischen Wissenschaften in ihren methodologischen Eigentümlichkeiten zu verstehen.

Um unseren Begriff des Historischen völlig deutlich zu machen, müssen wir uns noch darüber klar werden, daß die angeführten Gründe die einzigen wirklich entscheidenden sind, die uns hindern, Geschichte nach naturwissenschaftlicher Methode zu betreiben. Nicht selten wird nämlich gesagt, das "geschichtliche Leben", d. h. die Wirklichkeit, mit der Geschichte im engeren Sinne sich beschäftigt, sei aus irgend welchen Gründen nicht in derselben Weise gleichförmig wie die Natur, und deshalb sei es nicht möglich, es unter Gesetzesbegriffe zu bringen. So meint z. B. auch SIGWART, daß wir bei den Gegenständen der historischen Forschung "nicht zum Voraus eine ähnliche Regelmäßigkeit vermuten können, wie im Gebiete der Natur" (1). Das ist wohl insofern richtig, als Gesetze für die Wirklichkeit zu finden, mit der meist die Geschichte sich beschäftigt, viel schwieriger sein mag als für die, mit der es die Naturwissenschaften, insbesondere die Körperwissenschaften zu tun haben. Aber niemals wird es möglich sein, auf diesen Umstand einen prinzipiellen Gegensatz von Natur und Geschichte zu gründen, und die logische Bedeutung des Historischen festzustellen. Im Gegenteil, solchen Argumenten gegenüber wird die Ansicht immer im Rechte bleiben, welche sagt, es sei das geschichtliche Leben ein Teil der Wirklichkeit ebenso wie alles Andere, und wenn es auch vielleicht schwieriger ist, seine Gesetze zu finden, so liegt doch nicht der mindeste Grund vor, die Lösung dieser Aufgabe als für alle Zeiten unmöglich anzusehen. Je schwieriger die Aufgabe sei, um so größer müsse vielmehr der Anreiz sein, sich an ihre Lösung zu wagen.

Dem gegenüber müssen wir hervorheben, daß Erörterungen über die größere oder geringere Schwierigkeit einer Gesetzeswissenschaft mit dem, was wir hier feststellen wollen, garnichts zu tun haben. Gewiß ist das "historische Leben" ein Stück der Wirklichkeit wie jedes andere, aber das hat in diesem Zusammenhange deshalb keine Bedeutung, weil eben alle Wirklichkeit geschichtlich in unserem Sinne ist. Gewiß kann man ferner für alle Wirklichkeit die Gesetze zu finden versuchen, und unter Begriffe läßt jedenfalls auch die Wirklichkeit sich bringen, mit der es die Geschichte zu tun hat. Nur wird das, was bei dieser Begriffsbildung herauskommt, niemals Geschichte sein können. Wo die Wirklichkeit in ihrer Individualität und Besonderheit erfaßt werden soll, da ist es widersinnig, sie unter allgemeine Begriffe zu bringen oder Gesetze des Historischen aufzustellen, die, wie wir wissen, nichts als Allgemeinbegriffe von unbedingter Geltung sind. Diese Gesetzesbegriffe würden uns wie alle Begriffe ja immer nur das geben, was niemals wirklich geschieht, und es wäre daher der Zweck der Geschichtswissenschaften umso sicherer verfehlt, je mehr es gelänge, die Gesetze der Wirklichkeit zu finden, deren Geschichte man kennen lernen will. Es ist nicht etwa mehr oder weniger schwierig, die Gesetze der Geschichte zu finden, sondern der Begriff des "historischen Gesetzes" ist eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp], d. h. Geschichtswissenschaft und Gesetzeswissenschaft schließen einander begrifflich aus.

Wir wollen dies allgemeine Prinzip noch auf einen speziellen Fall anwenden, in dem es von besonderer Bedeutung ist. Nicht selten kann man hören, die einzelnen Persönlichkeiten der Geschichte könnten allerdings von der Naturwissenschaft nicht begriffen werden, weil sie zu kompliziert sind, um vollständig übersehen zu werden, die körperlichen Vorgänge dagegen böten ihrer Einfachheit wegen solche Schwierigkeiten nicht dar. Auch diese Meinung ist auf das Allerentscheidenste zurückzuweisen, und wie falsch sie ist, muß uns, abgesehen von den bereits angegebenen Gründen, sofort klar werden, wenn wir uns auf das besinnen, was wir über den Begriff des Individuums festgestellt haben. Jedes Blatt am Baum, jedes Stück Schwefel, das der Chemiker in seine Retorte tut, ist ein Individuum und geht als Individuum eben so wenig in einen Begriff ein wie irgend eine große Persönlichkeit der Geschichte. Wenn wir Blätter oder Schwefel vor uns haben, so setzen wir allerdings unwillkürlich die einzelnen vorliegenden Individuen in Begriffe um, d. h. wir achten nicht auf das, was sie zu Individuen macht, und wir müssen das tun, denn so allein erhalten wir erst "Schwefel" oder "Blätter" im Sinne der Naturwissenschaft. Weil uns die Individuen hier überhaupt nicht interessieren, so vergessen wir ferner, was wir getan haben, und machen daher gar keinen Unterschied zwischen einem Blatt im Sinne der Naturwissenschaft und diesem bestimmten Blatt als einem historischen Faktum. Bei anderen Individuen dagegen, insbesondere bei Persönlichkeiten, ist es schwer, ja unmöglich, diesen Unterschied zu übersehen. Setzen wir ein Individuum wie GOETHE in einen Begriff um, so müssen wir das sofort merken, denn dann behalten wir nur noch einen Dichter, einen Minister, einen Menschen und nicht mehr GOETHE. Aber dieser Unterschied darf uns nicht darüber täuschen, daß der Prozeß, durch den wir an die Stelle dieses Blattes und dieses Schwefels "ein Blatt" oder "Schwefel" im Sinne der Naturwissenschaft gesetzt haben, logisch ganz genau derselbe ist wie der, durch den wir an die Stelle von GOETHE einen Dichter setzen.

Wie kommt es, daß wir dies, das doch im Grunde selbstverständlich ist, so leicht übersehen? Es liegt in den meisten Fällen an einem ganz äußerlichen Umstand. Es gibt Individuen, die nur Gattungsnamen führen. Haben wir daher aus ihnen einen Begriff gebildet, so bleibt der Name für den Begriff derselbe wie für das Individuum. Bei Individuen dagegen, die Eigennamen haben, wechselt der Name, und dieser Umstand muß uns sofort auf das aufmerksam machen, was wir getan haben. Dieser Namenwechsel aber ist mit Rücksicht auf das, worauf es uns hier ankommt, ganz zufällig. Ob wir statt von diesem Stück Schwefel von Schwefel im Allgemeinen, oder statt Goethe von einem Menschen oder einem Dichter im Allgemeinen reden, macht rein logisch gar keinen Unterschied. Es ist daher ganz und gar irreführend, wenn gesagt wird, eine bedeutende historische Persönlichkeit sei zu kompliziert, um in die Begriffe der Naturwissenschaft eingehen zu können, ein körperlicher Vorgang dagegen nicht. Das würde ja die Möglichkeit eines späteren Begreifens auch der Persönlichkeiten nicht ausschließen und die Behauptung eines Unterschiedes zwischen den Individuen der Geschichte im engeren Sinne und den anderen Dingen, die ebenfalls historische Individuen in der allgemeinsten Bedeutung des Wortes sind, einschließen. Gerade diese Meinung aber bekämpfen wir hier. Nicht als komplizirte Persönlichkeit, sondern als Individuum ist ein Mann der Geschichte unbegreiflich, d. h. er teilt diese Unbegreiflichkeit mit allem Wirklichen. Etwas "Einfacheres" als ein Stück Schwefel kann es doch nicht geben, und trotzdem ist jedes Stück Schwefel, das wir nicht auf die Natur des Schwefels, sondern auf seine individuellen Besonderheiten ansehen, eine unübersehbare Mannigfaltigkeit und daher ganz genau so unbegreiflich wie etwa GOETHE oder KANT. Die Unbegreiflichkeit haftet also überhaupt niemals irgendwelchen besonderen Dingen, wie z. B. den Persönlichkeiten in höherem Maß an, sondern eine naturwissenschaftliche Behandlung kann uns von aller Wirklichkeit immer nur das geben, was den Historiker nicht mehr interessiert. NIETZSCHE sagt einmal: "Wenn erst die Individuen beseitigt sind, dann ist der Gang der Geschichte zu erraten, denn der einzige irrationale Faktor ist beseitigt" (2). Dieser Satz ist falsch, da NIETZSCHE mit den Individuen natürlich die bedeutenden Persönlichkeiten meint. Diese sind aber durchaus nicht der einzige irrationale Faktor, sondern alle Wirklichkeit und in Folge dessen alles Historische ist "irrational" wie die Persönlichkeiten.

Unsere Begriffsbestimmung des Historischen müssen wir schließlich nicht nur von allen Ansichten unterscheiden, die das Wesen der geschichtlichen Wissenschaften aus der Eigenart eines besonderen Materials, etwa der Menschheit oder dergleichen, verstehen wollen, sondern wir müssen auch noch zu einer vielfach vertretenen Auffassung kurz Stellung nehmen, die einen wirklich logischen Begriff des Historischen zu gewinnen sucht. "Wenn wir, sagt z. B. BERNHEIM (3), die verschiedenen Wissenschaften überblicken, bemerken wir, daß es drei verschiedene Arten gibt, wie eine Wissenschaft ihre Objekte betrachtet, je nach dem, was sie von diesen wissen will:
    1. wie die Objekte an sich sind und sich verhalten, ihr Sein;

    2. wie sie zu dem geworden sind, bzw. werden, was sie sind, ihre Entwickelung;

    3. was sie im Zusammenhang miteinander, im Zusammenhang der Welt bedeuten.
Naturwissenschaftliche, geschichtliche, philosophische Betrachtungsart scheiden sich danach."

Zweifellos ist unter logischen Gesichtspunkten von den üblichen Unterscheidungen zwischen Naturwissenschaft und Geschichte die hier gegebene die beste, weil sie eben auf die Methode und nicht auf das Material reflektiert, aber im strengen Sinne können wir diesen Gegensatz von Sein und Werden für die Objekte der empirischen Wirklichkeit nicht anerkennen. Alles empirische Sein ist auch ein Werden und Geschehen, denn jeder wirkliche Vorgang verändert sich langsamer oder schneller, und dieses Sein der empirischen Objekte geht in die Begriffe nicht ein. Sollte die eben genannte Begriffsbestimmung von Geschichte und Naturwissenschaft im strengen Sinne aufrechterhalten werden, so könnte sie nur bedeuten, daß die Naturwissenschaft von der empirischen Welt des Werdens und Geschehens zu einer unerfahrbaren Welt des dauernden Seins vorzudringen hat, während die Geschichte bei dem empirischen Sein bleibt. Diese Deutung aber schließt, wie wir gesehen haben, erhebliche Bedenken ein, und sie ist offenbar auch nicht gemeint, wo der Naturwissenschaft das Sein, der Geschichte das Werden und Geschehen als Objekt zuerteilt wird.

Der Gegensatz zwischen dem, was die Dinge sind, und dem, was sie werden, ist ohne die Annahme eines unerfahrbaren Seins als des Gegenstandes der Naturwissenschaft eigentlich nur in den verschiedenen sprachlichen Ausdrücken vorhanden, in welche die Naturwissenschaften einerseits, die Geschichtswissenschaften andererseits ihre Urteile zu kleiden pflegen. Die begrifflichen Aussagen nehmen die Form an, daß dieses oder jenes so oder so ist, während ein historischer Bericht erzählt, daß dies oder jenes war. Das "Sein" im ersten Falle aber ist nur der Ausdruck für die zeitlose Geltung, und die Naturwissenschaft nicht die Wirklichkeit selbst meint, sondern Begriffe bildet, die sie dem wechselnden Sein als Dauernde und Feste gegenüberstellt. Allerdings ist ja die Täuschung, als handle die Naturwissenschaft von einem dauernden, sich gleichbleibenden Sein, sehr erklärlich. Wenn ihre Begriffe gelten, so findet sie in der Wirklichkeit Gebilde, die sich ihnen unterordnen lassen. Sie kommt dann leicht dazu, zu sagen, daß es Dinge und Vorgänge gibt, die immer sich gleichen und dauern, weil in der Tat das an ihnen, was den Inhalt der Begriffe bildet, an vielen Stellen des Raumes und der Zeit immer wieder vorkommt. Der Historiker dagegen, den nicht das interessiert, was mehreren Gestaltungen gemeinsam ist, findet Alles im Werden und im Wechsel, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß nur die Begriffe dauern, und daß diesen Begriffen durchaus nicht gleiche und dauernde Wirklichkeiten als historische Fakta entsprechen. "In der Chemie, sagt z. B. OSTWALD (4), werden solche Körper als gleich angesehen, deren Eigenschaften, abgesehen von der willkürlichen Menge und Form, vollkommen übereinstimmen". Gewiß, sie werden als gleich angesehen, aber tatsächlich gleicht kein Körper dem anderen, denn nur in "willkürlicher" Form und Menge ist er wirklich, und was dem Mann der Naturwissenschaft willkürlich scheint, kann für den Historiker gerade das sein, worauf es ihm ankommt.

Wird also die Geschichte von der Naturwissenschaft dadurch getrennt, daß die eine das Geschehen und Werden, die andere das Sein zu erforschen hat, so ist dieser Gegensatz zum Mindesten ungenau formulirt. Es steckt darin entweder noch ein Rest des platonischen Begriffsrealismus, der das niemals Wirkliche zum immer Seienden macht, und dessen Beseitigung eine der wesentlichsten Vorbedingungen für eine Klarlegung der wissenschaftlichen Methoden ist, oder die Formulierung ist dadurch veranlaßt, daß wir zum Ausdruck der zeitlos geltenden Sätze der Naturwissenschaft das Verbum "Sein" im Präsens verwenden, ein Umstand, aus dem natürlich erst recht nicht das logische Wesen der Naturwissenschaften abgeleitet werden darf. Nicht der Gegensatz von Sein und Werden, der zum mindesten mißverständlich ist, sondern nur der Gegensatz der dauernd gültigen Begriffe und der stets sich verändernden und werdenden Wirklichkeit ist der Unterscheidung von Naturwissenschaft und Geschichte zugrunde zu legen. Wenn wir das Wort Begriff in dem Sinne nehmen, wie wir es bisher ausschließlich gebraucht haben, und unter Wirklichkeit nur die erfahrbare Welt verstehen, so läßt sich der prinzipielle logische Gegensatz, den wir gefunden haben, auch als Gegensatz von Begriffswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft bezeichnen.

Dies möge genügen, um die Begriffe von Natur und Geschichte in ihrer allgemeinsten Bedeutung klarzulegen. Es kommt nun im Folgenden darauf an, zu zeigen, wie mit ihrer Hilfe eine logische Gliederung der empirischen Wissenschaften zu gewinnen ist.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften], Freiburg i. Br./Leipzig 1896