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HEINRICH RICKERT
Der Gegenstand der Erkenntnis
(1892) - [ 2/3 ]

Vorwort
I. Der erkenntnistheoretische Zweifel
II. Gegensatz des Subjekts zum Objekt
III. Der Realismus
IV. Der Begriff des Bewußtseins
V. Der Begriff des Transzendenten
VI. Das Transzendente als Ursache
VII. Das Transzendente als Ergänzung
VIII. Das Transzendente und der Wille
IX. Bewußtsein und psychisches Sein
 
X. Erkennen als Vorstellen
XI. Vorstellen und Urteilen
XII. Erkennen als Anerkennen
XIII. Die Urteilsnotwendigkeit
XIV. Sein und Sollen
XV. Das transzendente Sollen
XVI. Der Relativismus
XVII. Das Bewußtsein überhaupt
XVIII. Schluß

"Der naive Realismus kennt weder ein transzendentes Sein noch das Subjekt der Erkenntnistheorie. Er ist überhaupt keine Theorie, die bekämpft werden könnte, sondern ein Komplex von undurchdachten und unbestimmten Meinungen, die zum Leben ausreichen und die man denen, die nur leben wollen, ruhig lassen kann."

IX. Bewußtseinsinhalt
und psychisches Sein

Bevor wir jedoch den Satz, daß alles Sein Bewußtseinsinhalt ist, endgültig als Bestandteil in die Erkenntnistheorie aufnehmen, müssen wir schließlich einigen immer noch möglichen Mißdeutungen vorbeugen.

Die oft ausgesprochene Verwunderung darüber, daß nach idealistischer Ansicht das  kleine  Subjekt das unendliche Weltall mit all seinen Sonnensystemen umfasse, brauchen wir wohl nicht mehr ausdrücklich zurückzuweisen. Auch wenn die Welt ein Gehirnphänomen genannt, oder gesagt wird, daß nach idealistischer Ansicht der Raum im Kopfe sei, so bedarf der Widersinn, daß die Welt Phänomen des lediglich als Phänomen existierenden Gehirns sein, oder der ganze Raum in einem Teil des Raumes sich befinden soll, keiner Widerlegung, und ebenso können wir uns über einige andere, oft gehörte "idealistische Konsequenzen" kurz fassen. Wer z. B. behauptet, daß der Idealismus das Leben zu einem  Traume  oder die Sinnenwelt zu einer Illusion mache, kann das tertium comparationis nur darin finden, daß für den Träumenden sowohl wie für den Idealisten die Dinge, von denen sich beiden umgeben glauben, nicht vorhanden sind. Dieser Vergleich würde aber nur dann berechtigt sein, wenn der Idealist behauptete, daß die Dinge außerhalb seines Leibes nicht existieren, daß vielmehr nur durch Erregungszustände der Nerven und des Gehirns der Schein entsteht, als ob außerhalb des körperlichen Ich noch andere Körper seien. Der Ausdruck Traumidealismus wäre also eine passende Bezeichnung nur für eine Art von physiologischem Idealismus, d. h. für die sonderbare Ansicht, daß dem eigenen Körper, vielleicht auch nur dem eigenen Zentralnervensystem eine andere Art des Seins zukäme, als der übrigen Welt im Raume. Allenfalls könnte dieser Terminus für eine spiritualistische Theorie gebraucht werden, welche die Sinnenwelt für Schein oder für das Produkt einer metaphysischen Seele erklärt, aber schon hier würde der Vergleich mit dem Traume nicht mehr stimmen. Wenn jemand träumt, fehlen ja nur die Dinge außerhalb des Leibes, von denen er sich umgeben glaubt, die Erregungszustände der eigenen Nerven und des Gehirns sind beim Träumen der Art nach ebenso vorhanden, wie beim Wachen. Das Leben mit einem Traum zu vergleichen, möge man den Poeten überlassen. Wissenschaftlich wird mn mehr Recht haben, mit RIEHL den Traum ein unvollkommenes, unzusammenhängendesf Wachen, als umgekehrt das wache Leben einen Traum zu nennen, und weg gar Bezeichnungen, wie "absoluter Illusionismus" (1) als passend für den erkenntnistheoretischen Idealismus ansieht, hat wohl noch nicht verstsanden, was ernsthafte Leute mit dieser Lehre gemeint. Die Wissenschaft muß derartige Spielereien als verwirrend entschieden zurückweisen.

Trotz alledem aber haftet an dem Satz, daß die Welt Bewußtseinsinhalt ist, gewiß auch für viele von denen, die ihn besser verstanden haben, oder sogar seine Unwiderleglichkeit einsehen, immer noch etwas, das es ihnen schwer macht, sich bedingungslos zu ihm zu bekennen. Die solide, feste  Körperwelt,  in der wir uns so sicher bewegen, scheint durch den Idealismus auf eine gewisse Art verflüchtigt zu werden. Die Welt ist Bewußtseinsinhalt. Heißt das nicht so viel, als die Welt ist etwas  Psychisches? 

Wenn die Verneinung dieser Frage nicht so selbstverständlich klingt, wie die Abweisung der eben erwähnten Konsequenzen, so liegt das weniger an der Sache, als an den Worten, in die wir die Frage kleiden müssen, insbesondere an der Vieldeutigkeit des Wortes Bewußtsein. Zunächst müssen wird daran erinnern, daß, wie bereits bemerkt, das Bewußtsein, als dessen Inhalt wir die Welt bezeichnen, nichts mit dem zu tun hat, wovon wir meinen, daß es als seelisches Leben im Verlauf der Entwicklung eines Organismus allmählich entsteht, und das selbstverständlich ein psychischer Vorgang ist. Wir wollen hier nicht entscheiden, ob man es in philosophischen Schriften nicht lieber vermeiden sollte, von einer "Entstehung des Bewußtseins" zu reden, wo es sich immer nur um die Entstehung von Bewußtseins inhalten  handeln kann. Jedenfalls meinen wir dies "Bewußtsein" hier nicht. Das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassende, erkenntnistheoretische Subjekt, auf das es ankommt, kann so wenig, wie das Sein selbst, entstehen oder vergehen.

Doch ist damit die Frage nach dem psychischen Charakter dieses Bewußtseins noch nicht erledigt, denn auch das Bewußtsein als Subjekt tritt in der erkenntnistheoretischen Untersuchung zuerst als  mein  Bewußtsein auf und muß da ebenfalls als etwas Psychisches angesehen werden. Der erste Schritt, den ich über den naiven Realismus hinaus tue, besteht ja darin, daß ich alles Gegebene als Bestandteil meines individuellen Ich auffasse. Die Körper werden dadurch in der Tat, wie der übrige Bewußtseinsinhalt, zu psychischen Vorgängen.

Aber dieser Schrittt ist doch eben nur der erste Schritt, der Solipsismus ist, wie wir gezeigt haben, nur eine Übergangsstadium. Sobald dann weiter die Scheidung des individuellen Subjekts in das erkenntnistheoretische Subjekt und das individuelle Ich-Objekt vorgenommen wir, muß, nachdem dem Bewußtsein das "mein" genommen ist, auch sein psychischer Charakter fortfallen. Das Bewußtsein überhaupt als Voraussetzung allen Seins kann nicht meh unter den Gesichtspunkt gestellt werden, ob es etwas Psychisches oder Physisches ist. Die durch den ersten Schritt "vergeistigte" Welt zerfällt, als "Bewußtseinsinhalt überhaupt", wieder wie vorher in psychische  und  physische Vorgänge. Nur "  mein  Bewußtsein" und sein Inhalt wäre etwas Psychisches. Wenn etwas als Inhalt des Bewußtseins überhaupt bezeichnet wird, so ist damit über seinen psychischen oder physischen Charakter noch gar nichts gesagt.

Das Sprachgefühl hat vielleicht gegen diese Terminologie etwas einzuwenden. Werden doch auch von der Wissenschaft die psychischen Vorgänge geradezu als Bewußtseinsinhalte definiert. Ja, das Sprachgefühl wird uns noch größeren Widerstand entgegensetzen, wenn wir, um auch die verschiedenen Bestandteile des Bewußtseinsinhaltes zu charakterisieren, sie ebenso bezeichnen, wie die Psychologie die verschiedenen Bestandteile des individuellen Ich-Objekts bezeichnet und dabei verlangen, daß auch unter diesen Bezeichnungen nicht etwas Psychisches verstanden werden soll. Aber auch dies ist sachlich unvermeidlich. Wir haben keine anderen Worte dafür, die verständlich wären. Die Sprache hat für den erkenntnistheoretischen Standpunkt keine Wort gebildet, und sie konnte es nicht. Die Ausdrücke, welche wir besitzen, um das unmittelbare Gegeben-Sein der Dinge zu bezeichnen, mußten unter den Voraussetzungen des naiven Dualismus zum Namen für alles werden, was  nicht  Körper ist. Dadurch entsteht die Schwierigkeit, und noch ein Umstand von größerer Bedeutung kommt hinzu. Das Tatsachenmaterial der Psychologie ist faktisch genau dasselbe, wie das der Erkenntnistheorie, es ist das unmittelbar Gegebene. Nur der Gesichtspunkt, unter dem es angesehen wird, ist ein anderer, und die Erkenntnistheorie ist dadurch im Nachteil, daß ihr Standpunkt der spätere ist: sie findet den Platz schon besetzt.

Wir würden also, um sprachliche Gewaltsamkeiten zu vermeiden, ganz neue Worte bilden müssen. Aber auch dies würde nicht viel helfen, da wir diese Worte doch nur durch das im Ich-Objekt als Tatsache vorgefundene unter dem Hinweis darauf, daß es sich um einen Inhalt des Bewußtseins überhaupt handeln solle, erläutern könnten. Vielleicht bilden sich einmal auch für die Erkenntnistheorie besondere Termini. Vorläufig ist sie dadurch, daß sie einerseits selbständige, von den psychologischen prinzipiell verschiedene Gesichtspunkte hat, andererseits aber ihr Material nur Tatsachen entnehmenkann, die stets mit psychologischen Bezeichnungen schon versehen sind, gezwungen, sich mit mehrdeutigen Ausdrücken zu behelfen und in zweifelhaften Fällen stets hinzuzufügen, ob der Terminus psychologische oder erkenntnistheoretische Bedeutung haben soll. Besonders das Wort  Vorstellung  können wir als erkenntnistheoretischen Terminus gar nicht entbehren, ohne in die größte sprachliche Umständlichkeit zu verfallen. So müssen wir uns denn schon entschließen, unter Vorstellung, wenn es sich dabei um einen Bewußtseinsinhalt handelt, eventuell einen Körper zu verstehen.

Wir erkennen also die sprachliche Bedenklichkeit unserer Sätze an, behaupten aber um so entschiedener ihre sachliche Notwendigkeit. Es muß ein Unterschied gemacht werden zwischen psychischem Sein und dem Bewußtseinsinhalt, dem immanenten Sein (2). Die Welt ist kein psychischer Vorgang, auch wenn sie Bewußtseinsinhalt ist. Der Begriff des Psychischen hat nur im Gegensatz zum Physischen seinen Sinn, wie man umgekehrt von einem Physischen nur reden kann, wenn man dabei an den Gegensatz zum Psychischen denkt. Die Behauptung, alles ist Seele, ist ebenso unberechtigt wie die Behauptung, alles ist Körper. Spiritualismus (respektive Solipsismus) und Materialismus sind gleich unbegründbare metaphysische Systeme. Die Scheidung der Welt in physische und psychische Vorgänge gewinnt eine Bedeutung erst, wenn die Welt lediglich als Objekt betrachtet wird, also für die Einzelwissenschaften. Wie diese Scheidung dort zu machen ist, fragen wir hier nicht. Nur das müssen wir festhalten, daß der erkenntnistheoretische Idealismus sie niemals aufheben kann. Das Körperliche ist ihm so "real" wie das Seelische, und nur das bestreitet er, daß "hinter" dem, was als Körper und Seele gegeben ist, noch eine transzendente Realität steckt.

Wer also das immanente Objekt, genannt individuelles Ich, das im Gegensatze zu anderen immanenten Objekten, genannt Körper, als etwas Psychisches bezeichnet werden muß, von dem Subjekt unterscheidet, das als Bewußtsein überhaupt Voraussetzung alles Seins ist und nichts Psychisches sein kann, für den muß der Idealismus frei sein von jedem absurden Beigeschmack. Es ergibt sich hieraus auch mit voller Klarheit, wie wenig der Idealismus gegen den  naiven  Realismus gerichtet ist. Der naive Realismus kennt weder ein transzendentes Sein noch das Subjekt der Erkenntnistheorie. Er ist überhaupt keine  Theorie,  die bekämpft werden könnte, sondern ein Komplex von undurchdachten und unbestimmten Meinungen, die zum Leben ausreichen und die man denen, die nur leben wollen, ruhig lassen kann. Auch gegen den Realismus der  Einzelwissenschaften  kämpft der Idealismus nicht. Auch sie kennen keine absolute Realität im Sinnes eines transzendenten Seins, sondern kümmern sich nur um immanente Objekte, also Bewußtseinsinhalte. Und wenn sie ihre Objekte in den meisten Fällen auch nicht so  nennen,  so braucht man doch um Namen mit ihnen nicht zu streiten. Nur gegen einen  erkenntnistheoretischen  Realismus wenden wir uns, d. h. gegen einen Realismus, der eingesehen hat, daß die Welt, soweit sie gegeben, Bewußtseinsinhalt ist, und der dennoch ausdrücklich die Existenz einer anderen Wirklichkeit behauptet. Wir wenden uns, um es ganz allgemein auszudrücken, gegen jede Ansicht, welche die Sinnenwelt als "Erscheinung" einer metaphysischen Realität auffasst, und wir können auch vor der Metaphysik nicht stehen bleiben, welche, im Anschluß an einige in der KANTischen Philosophie nicht überwundene dogmatische Reste, das transzendente Sein zu einem absolut unbestimmbaren X macht, zu einem Begriff, der lediglich als Negation in unser Denken einzugehen vermag.

So kommen wir schließlich durch konsequente Entwicklung einer Ansicht, die dem naiven Menschen zuerst als größte Paradoxie erscheint, zu der nichts weniger als paradoxen Behauptung, daß die uns allen bekannte, räumlich-zeitliche Sinnenwelt die einzige Wirklichkeit ist, von der zu reden wir ein Recht haben. Nur darin weichen wir von der dem naiven Menschen geläufigen Meinung ab, daß wir hinzufügen: das Sein jeder Wirklichkeit muß als ein Sein im Bewußtsein angesehen werden.


X. Erkennen als Vorstellen

Ist demnach das Transzendente überhaupt noch ein Problem? Wenn der erkenntnistheoretische Idealismus so verstanden wird, wie wir soeben auseinandergesetzt haben, dann ist dadurch an den gewohnten Ansichten doch eigentlich nichts von Bedeutung geändert. Nur einige  Bezeichnungen  sind nicht mehr dieselben. Die Wirklichkeit wird Bewußtseinsinhalt genannt, sie bleibt aber nach wie vor die bekannte Welt, die aus körperlichen und geistigen Vorgängen besteht. Das individuelle Ich ist es nicht, von dem die Welt abhängig gemacht wird, es heißt Ich-Objekt und behält als solches die Stellung, die es immer hatte. Es ist ein kleiner Teil der Welt, der mit dem weltumfassenden Bewußtsein nichts zu tun hat. Das unpersönliche Bewußtsein ist zwar ein der naiven Meinung unbekannter Begriff, aber im Grunde auch nichts anderes, als ein neuer Name für das Sein. Der erkenntnistheoretische Idealismus erscheint demnach als eine vielleicht richtige, aber ziemlich bedeutungslose Theorie, die weiter keine Konsequenzen hat. Jedenfalls steht auch nach idealistischer Ansicht das individuelle Subjekt einer von ihm unabhängigen Welt gegenüber, wenn auch diese Welt keine transzendente ist.

Gewiß, so ist es, aber trotzdem ist die Frage, von der wir bei dieser Untersuchung ausgegangen sind, nicht beantwortet. Der vom Subjekt unabhängige Gegenstand der Erkenntnis ist nicht gefunden. Das Ich läßt sich nicht so in ein Objekt verwandeln, daß es auch als  erkennendes  Ich einer von ihm unabhängigen Welt gegenüberstände. Da bleibt es ein Subjekt, das zwar alles Individuelle als Objekt erkennt, aber niemals selbst zum erkannten Objekt werden kann. Wenn also auch die Bewußtseinswelt dem wollenden, handelnden und fühlenden Menschen genügt, so erscheint die Bedeutung des Erkennens durch den unwiderlegten Zweifel an einer transzendenten Welt völlig erschüttert. Man will, wenn man erkennt, immer  etwas  erkennen, und zwar etwas, das auch vom rein theoretischen Subjekte unabhängig sein muß, um einen Maßstab zu bilden, nach dem man sich richten kann. Was sollen denn die Vorstellungen bezeichnen oder abbilden, wenn es nichts außer den Vorstellungen gibt, wenn also das Original fehlt, mit dem das Bild übereinstimmt? "Die Bedeutung alles Erkennens beruth auf der Überzeugung, daß wir durch dasselbe eine  an sich vorhandene Ordnung der Dinge  entdecken können. Gäbe es keine Sonne und keine Planeten außer in der Vorstellung des menschlichen Geistes, so hätte sich der Streit für und wider den KOPERNIKANische Standpunkt der Weltbetrachtung um eine verhältnismäßig untergeordnete Sache: die  bequemere  Anordnung der astronomischen Gleichungen gedreht" (3).

In der Tat: wenn die Erkenntnis der Dinge in einer mehr oder weniger genauen Übereinstimmung der Dinge mit den Vorstellungen besteht, dann muß es, falls es Erkenntnisse geben soll, auch eine Welt transzendenter Dinge geben, nach denen die Vorstellungen sich richten. Sonst haben alle Vorstellungen, die heute andere sind, als sie gestern waren, gleichen Wert, und es hat keinen Sinn mehr, von Erkenntnis zu reden. Es erscheintn ur konsequent, daß, wer einmal an der Realität transzendenter Dinge zweifelhaft geworden ist, sich der Welt gegenüber nicht mehr auf den rein theoretischen Standpunkt stellen will. Die Vorstellungen besitzen dann nur noch insofern Bedeutung, als sie mit Gefühlen der Lust oder Unlust verbunden sind und das Individuum zum Wollen und Handeln veranlassen. Im Handeln allein bekommt dann die Welt einen Sinn. Die Wissenschaft wird nur insoweit Wert behalten, als man hoffen darf, aus ihr für das Leben Nutzen zu ziehen.

Ist dies das letzte Wort der Erkenntnistheorie? Es scheint fast so, da eine absolut unbezweifelbare Widerlegung der Ansicht, welche transzendente Dinge leugnet, nicht möglich ist. Das wird auch von Denkern zugestanden, die sich für berechtigt halten, an eine Welt transzendenter Dinge zu  glauben  (4). Zum Glauben können wir aber auf keinen Fall unsere Zuflucht nehmen, weil wir ja unsere Aufgabe so gestellt haben, daß wir sehen wollen, wie weit das absolut unbezweifelbare  Wissen  reicht. Wir werden daher, wenn wir eine positive Antwort auf die Frage nach dem Gegenstande der Erkenntnis zu geben versuchen, nicht mehr darauf ausgehen, eine vom Bewußtsein unabhängige Welt von Dingen nachzuweisen, sondern zusehen, worauf eigentlich das Bedürfnis nach einer Welt von Dingen als dem Gegenstand der Erkenntnis beruht, ob nicht vielleicht durch eine  Umbildung des Erkenntnisbegriffes  dies Bedürfnis fortzuschaffen und dadurch das Problem zu lösen ist.

Noch haben wir den Gegensatz zwischen  Sein  und  vorstellendem  Bewußtsein vorausgesetzt, auf dem der gewohnte Erkenntnisbegriff aufgebaut ist. Auch hiergegen müssen wir unseren Zweifel richten. Daran halten wir fest, daß die Bedeutung des Erkennens auf der Überzeugung beruht, daß wir eine an sich vorhandene Ordnung zu entdecken vermögen, denn wenn das Erkennen einen Sinn habenn soll, so müssen wir etwas auch vom theoretischen Subjekt Unabhängiges dabei erfassen. Insofern liegt allen Versuchen, die Annahme einer transzendenten Welt zu rechtfertigen, ein richtiger Gedanke zu Grunde. Aber muß die "Ordnung", die wir entdecken, eine Ordnung von  Dingen,  eine Wirklichkeit sein? Selbstverständlich ist dies nur unter der Voraussetzung, daß es die Vorstellungen sind, mit denen wir erkennen. Ein vorstellendes Erkennen bedarf einer absoluten Wirklichkeit, weil wir mit Vorstellungen nur dadurch ein vom erkennenden Subjekt Unabhängiges zu erfassen vermögen, daß sie Abbilder oder Zeichen einer Wirklichkeit sind. Welche Gründe aber haben wir dafür, daß das Erkennen durch Vorstellungen eine Wirklichkeit abbildet, und daß überhaupt in den  Vorstellungen  die Erkenntnis steckt?

Stellen wir uns wieder, um hierüber Klarheit zu gewinnen, auf den Standpunkt, den wir alle einnehmen, bevor wir erkenntnistheoretisch reflektieren. Meine Aufmerksamkeit ist nach Außen gerichtet auf die Dinge, die mich umgeben. Ich sehe in der Sinnenwelt den Menschen als ein Ding räumlich getrennt von anderen Dingen, die ich die Gegenstände seiner Erkenntnis nenne. Die Existenz dieser Gegenstände ist natürlich vom Menschen völlig unabhängig. Ich nehme eine Wirkung von den Gegenständen auf den erkennenden Menschen an, denn ich würde ohne ein kausales Band, welches die Erkenntnis vom Objekt zum Subjekt trägt, mir die Möglichkeit einer Beziehung zwischen diesen beiden Körpern nicht denken können. Und was ist das  Resultat  diese Wirkung? Hier läßt mich meine Beobachtung, so weit sie sich auf die  fremden  Menschen bezieht, völlig im Stich, aber ich ergänze die Lücke durch Beobachtungen, die ich an mir selbst gemacht habe. Ich habe Vorstellungen. Durch die Wirkung der Dinge auf den fremden Körper werden also wohl auch Vorstellungen  in  dem Körper entstehen. Dann gehe ich wieder zur Beobachtung der fremden Subjekte über und schließe aus ihren Äußerungen, daß sie wissen, wie die Dinge beschaffen sind, die ich in ihrer Umgebung wahrnehme. So komme ich zu der Ansicht, daß die Erkenntnis aus Vorstellungen besteht, die  in  den Menschen durch Einwirken der Dinge hervorgebracht sind und mit den Dingen übereinstimmen. Da ich die fremden Menschen als völlig mit mir gleichartig betrachte, so wirkt die Meinung von ihrem Erkennen zurück auf die von meinen eigenen. Ich nun auch meine Vorstellungen als ein Abbild meiner Umgebung auf, und selbstverständlich sehe ich die Umgebung als etwas auch von meinen Vorstellungen völlig Verschiedenes und Unabhängiges an. Die Vorstellungen sind, wie ich das bei fremden Subjekten beobachten kann,  in  mir, die Dinge  außer  mir. Es entsteht eine Verdoppelung der Welt, eine Spaltung des Seins in eine Wirklichkeit und eine Vorstellungswelt als deren Abbild.

Es muß hervorgehoben werden, daß diese Erkenntnistheorie aus Beobachtungen entstanden ist, die ich zum größten Teil an meinen Mitmenschen gemacht habe. Aus den Beobachtungen an mir selbst stammt nur das, was ich von dem  Resultat  des Prozesses weiß: ich habe Vorstellungen. Was aber den Weg betrifft, auf dem dieses Resultat zu Stande gekommen ist, und was die Bedeutung betrifft, welche dieses Resultat als Abbild einer Wirklichkeit hat, kann nur verständlich werden, wenn ich dabei an einen fremden Menschen im Raume denke, oder wenigstens mich selbst so betrachte, als wäre ich auch als erkennendes Subjekt ein  Objekt,  und zwar ein von den Gegenständen der Erkenntnis räumlich getrennter Körper. Wenn ich den Erkenntnisbegriff auf Beobachtungen gegründet hätte, die sich auf mein eigenes Erkennen beziehen, und dabei daran gedacht hätte, daß nicht nur die fremden Leiber, sondern auch der meine ein Objekt ist, würde ich dann darauf verfallen sein, die Vorstellungswelt in meinen Körper hinein zu versetzen und sie für etwas anderes als die Dinge außerhalb meine Körpers zu halten? Hätte ich dann meine Vorstellungen als Abbilder meiner Umgebung ansehen können?

So einfach, wie wir es dargestellt haben, sind die Ansichten vom Erkennen als einem Abbilden durch Vorstellungen allerdings heute nicht mehr. Man meint vielleicht, noch andere als die angegebenen Gründe zu haben, welche die Spaltung des Seins in Dinge und Vorstellungen notwendig machen, aber wenn man dabei nicht mit ganz willkürlichen metaphysischen Annahmen operiert, muß man doch immer die Vorstellungen an einen anderen  Ort  als die Dinge versetzen. Durch Überlegungen mannigfacher Art glaubt man auch zu wissen, daß das Abbild der Dinge kein adäquates sein kann, oder man nimmt sonst noch Variationen mit der Abbildtheorie vor. Im Prinzip wird aber dadurch an ihr nichts geändert. Daß sie, sobald die einfachsten erkenntnistheoretischen Überlegungen hinzutreten, problematisch werden muß, ist nicht schwer zu zeigen. Wer sich klar macht, daß der  Raum  selbst ein Bewußtseinsinhalt ist, kann, um nur diesen einen Punkt hervorzuheben, das erkennende Subjekt nicht mehr für ein Ding im Raume halten, und damit muß die Scheidung der Welt in Abbild und Original fallen gelassen werden. Dann kann das Erkennen kein Abbilden mehr sein, denn ein Abbild muß von seinem Original räumlich getrennt sein, wenn das Wort abbilden nicht seinen Sinn verlieren soll. Schon mit der Einsicht, daß die Vorstellungen nicht in einem körperlichen Subjekte, ist die auf Beobachtungen an fremden Menschen gestützte Theorie prinzipiell unverträglich.

Vor Kurzem hat RICHARD AVENARIUS (5) von anderen Gesichtspunkten aus die "Introjektion" oder die "Einlegung" der Erkenntnis in den Menschen als Variation des "natürlichen" Weltbegriffs bekämpft und ihre "Ausschaltung" verlangt. Wir stimmen mit 'AVENARIUS in diesem Punkte völlig überein, meinen aber, daß er den Begriff der Introjektion viel zu weit gefaßt und damit eine andere "Variation" des Weltbegriffes vorgenommen hat, durch die er einen Mangel der meisten erkenntnistheoretischen Untersuchungen geradezu zum Prinzip der Erkenntnistheorie erhebt. Durch eine Anknüpfung an seinen Standpunkt läßt sich vielleicht am Leichtesten zeigen, worin der prinzipielle Irrtum jeder Erkenntnistheorie besteht, welche in den Vorstellungen Erkenntnis sieht. AVENARIUS hält auch unsern Satz, daß alles Sein Bewußtseinsinhalt ist, für eine Art Introjektion. Hier scheinen doch nur wegen des sprachlichen Ausdrucks Bewußtseins inhalt  zwei Dinge zusammengebracht, die gar nichts miteinander zu tun haben. Der erkenntnistheoretische Idealismus, wie wir ihn verstehen, wird durch die Bekämpfung der Introjektion so wenig getroffen, daß er vielmehr das einzige Mittel ist, um die Spaltung des Seins in Vorstellungen und Dinge und deren Verteilung auf zwei verschiedene Raumteile gründlich zu beseitigen, ohne dabei die Möglichkeit einer wirklichen  Erkenntnis  aufzugeben. AVENARIUS nämlich schaltet nicht nur die "Introjektion", sondern auch das erkennende Subjekt einfach aus und betrachtet die Welt lediglich als Objekt. Daß dies ein "natürlicher" Weltbegriff ist, müssen wir entschieden bestreiten. Es ist dies lediglich die einseitige Betrachtungsweise der Einzelwissenschaften, die gerade von der Erkenntnistheorie ihre Ergänzung verlangt. Gewiß ist auch das "Ich-Bezeichnete" ein "Vorgefundenes", also ein Objekt, wenigstens in dem Sinne, wie wir das oben gezeigt haben, aber vorgefunden von  wem?  Ohne ein erkennendes Subjekt gibt es Erkenntnis ebensowenig, wie ohne Gegenstand. Die Aufgabe gerade der Erkenntnistheorie wird es sein, vom  Subjekt  auszugehen, um zu begreifen, was Erkenntnis ist, im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften, welche sich um diese Frage nicht kümmern und daher nur die Objekte berücksichtigen.

Wenn wir dies festhalten, so sehen wir, warum es nicht die Vorstellungen sein können, in denen wir Erkenntnis besitzen. So lange man die Erkenntnis in Vorstellungen sieht, kommt auch das erkennende Subjekt in dem Erkenntnisbegriff noch gar nicht vor, denn Vorstellungen sind wie die Dinge, die wir durch sie erkennen sollen,  Objekte.  Die Ansicht vom vorstellenden Erkennen hat es also nicht mit dem Verhältnis des Subjekts zum Objekte, sondern mit dem Verhältnis zweier Objekte miteinander zu tun (6). Selbst wenn man meinen sollte, daß auch ohne räumliche Trennung es einen Sinn habe, von einem Abbild des Dinges durch eine Vorstellung zu sprechen, so wäre die Vorstellung auch dann noch keine Erkenntnis. Es würde immer noch ein Subjekt nötig sein, um die Übereinstimmung zu erkennen, und diese Erkenntnis könnte nicht wieder eine Vorstellung sein, weil dann eine neue Übereinstimmung erkannt werden müßte usw. bis ins Unendliche. Das Erkennen kann also nicht Vorstellen sein.

Es war nun auch bereits ARISTOTELES bekannt, daß Wahrheit nicht eigentlich in den Vorstellungen, sondern immer nur in  Urteilen  enthalten ist, und wir hätten daher von vornherein sagen können, daß es Urteile sein müssen, in denen wir Erkenntnis besitzen. Dies ändert jedoch an der Sache wenig und vermag jedenfalls das Bedürfnis nach einer absoluten Wirklichkeit als Gegenstand der Erkenntnis nicht hinweg zu schaffen, so lange man meint, daß die Urteile nur durch Verknüpfung oder Zerlegung der Vorstellungen das Vorgestellte "aussagen". Denn dann kommt es schließlich beim Erkennen doch immer auf die Vorstellungen an, und es bleibt also alles beim Alten. Das Problem ist nur zurückgeschoben: die Urteile bilden gewissermaßen die Vorstellungen ab. Damit aber können wir uns nicht begnügen, denn was gibt den abgebildeten Vorstellungen ihre Bedeutung als Erkenntnis? Auch die Urteile, so scheint es, müssen sich wenigsten indirekt nach einem transzendenten Sein richten, um Erkenntnis zu liefern.

Sollte aber vielleicht die Ansicht, wonach die Urteile lediglich in anderer Form denselben Gedanken wie die Vorstellungen ausdrücken, irrig sein? Sollte es möglich sein, das Urteil als einen Vorgang von einer selbständigen Bedeutung zu erweisen? Dies würde unserer Untersuchung einen neuen Weg zeigen. Wenn wir auf eine vom  vorstellenden  Subjekt unabhängige Welt verzichten müssen, so läßt sich vielleicht ein Nachweis für ein vom  urteilenden  Subjekt Unabhängiges führen, das, wenn es auch kein transzendente  Wirklichkeit  ist, doch genügt, um einen über den Bewußtseinsinhalt hinaus reichenden Maßstab für das Erkennen zu bilden. Ein solcher Nachweis wäre eine Antwort auf die Frage nach dem Gegenstande der Erkenntnis.

Eine Schwierigkeit liegt allerdings bereits in dieser Fragestellung. Wir identifizierten früher das rein theoretische Subjekt mit dem unpersönlichen Bewußtsein überhaupt. Das war, wie wir gezeigt haben, notwendig, so lange wir das theoretische Subjekt nur als vorstellendes Subjekt betrachteten. Kann auch das urteilende Subjekt als ein unpersönliches Bewußtsein betrachtet werden? Ist das urteilende Subjekt nicht immer Ich, und ist das Ich nicht immer individuell? Wir wollen diese Frage an dieser Stelle nicht beantworten, sondern das Verhältnis des urteilenden Subjekts zum individuellen Ich-Objekt zunächst unbestimmt lassen. Schon der sprachlichen Einfachheit wegen werden wir das Wort Ich gebrauchen, auch wenn vom rein erkennenden Subjekt die Rede ist. Wir sehen vorläufig nur, was jedes Individuum für sich konstatieren kann, und untersuchen dann erst, ob die gewonnenen Resultate gültig bleiben, wenn wir auch das über den unpersönlichen Charakter des erkennenden Subjekts Gesagte ausdrücklich in Betracht ziehen. Wir wollen jetzt nur wissen, was vorgeht, wenn wir urteilen.

Das Wort Urteil gebrauchen wir natürlich nur für Denkgebilde, auf welche die Prädikate wahr oder falsch angewendet werden können. Die HUMEsche Trennung der Aussagen über relations of ideas, von denen über matters of fact dagegen, die neuerdings RIEHL (7) als Unterscheidung der "begrifflichen Sätze" von den  eigentlichen  Urteilen, und von KRIESkries1.html (8) (mit glücklicherer Terminologie als die der "Beziehungs-" von den "Realurteilen") für die Logik und die Erkenntnistheorie verwertet haben, berücksichtigen wir hier nicht. Es kommt für uns darauf an festzustellen, was  überall  vorliegt, wo etwas als wahr behauptet wird, und wir können daher nur auf einen ganz allgemeinen Begriff des Urteils ausgehen, der das enthält, was in jeder Erkenntnis, wovon sie auch handeln möge, steckt. Ja, es muß sich sogar, wenn unser Problem gelöst sein soll, ergeben, daß der prinzipielle Gegensatz zwischen Urteilen, die "nur" die Beziehung unserer Vorstellungen betreffen, und denen, die etwas über die "Wirklichkeit" aussagen, unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten als ein ursprünglicher gar nicht vorhanden ist, sondern als ein abgeleiteter erst bei spezielleren Fragen eine Bedeutung gewinnen kann.


XI. Vorstellen und Urteilen

Es ist eine der wertvollsten Einsichten neuerer logischer und psychologischer Untersuchungen, daß überall da, wo es sich um wahr oder falsch handelt, es mit einem bloßen Beziehen, Ineinssetzen, Verknüpfen der Vorstellungen nicht getan ist, sondern daß im Urteil zu den Vorstellungen oder den Vorstellungsverbindungen noch ein Element hinzutritt, das nicht als ein vorstellungsmäßiges angesehen werden kann. Von verschiedenen Seiten ist in neuerer Zeit für dies übrigen durchaus nicht neue, aber fast vergessene und jedenfalls in seiner Tragweite nicht gewürdigte Faktum der Nachweis in überzeugender Weise geführt.

Nehmen wir, um uns zunächst die psychologischen Tatsachen zu vergegenwärtigen (9), ein bestimmtes, möglichst einfaches Beispiel. Ich höre Musik und suche mich ganz in sie zu versenken. Dann kann es vorkommen, daß durch einen Zeitraum hindurch Töne in meinem Bewußtsein aufeinander folgen, ohne daß ich auch nur einmal das Urteil zu fällen brauche, daß die Töne aufeinander folgern. Andererseits aber kann ich, während ich Töne höre, zu jeder Zeit, wenn es mir gerade einfällt, auch ein Urteil darüber bilden. Das bloße Hören von Tönen und ein Urteil über die Töne sind offenbar zwei völlig verschiedene psychische Zustände. Der Unterschied liegt aber nicht in den gehörten Tönen selbst, so daß etwa im Urteil die Töne mit größerer Klarheit und Schärfe vorgestellt würden. Es kann beim Anhören eines Musikstückes mein ganzes Bestreben darauf gerichtet sein, von den Tönen auch nicht das Geringste zu verlieren, und doch braucht dabei niemals ein Urteil über die Töne vorzukommen. Der beurteilte Inhalt wird vielleicht sogar, wenn ich urteile, an Klarheit und Schärfe eine Einbuße erleiden, weil meine Aufmerksamkeit dann auch auf das Urteil und nicht nur auf die Töne gerichtet ist. Es kann auch über ganz unbestimmte und schwache Geräusche ebenso geurteilt werden, wie über starke, bestimmte und klare Töne. Jedenfalls kann ich, wenn ich urteile, daß zwei Töne aufeinander folgen, genau dieselben Töne und dieselbe Beziehung zwischen ihnen vorstellen, wie wenn ich die Töne nur nacheinander höre, ohne zu urteilen. Diese Tatsache genügt, um zu zeigen, daß zu den vorgestellten Tönen noch etwas hinzutreten muß, was aus den Vorstellungen ein Urteil macht.

Auch von logischen Gesichtspunkten aus ergibt sich, daß das Urteil nicht als ein rein vorstellungsmäßiges Gebilde betrachtet werden kann. SIGWART erkannte (10), daß in den  negativen  Urteilen es sich nicht um die bloß vorgestellte Beziehung eines Subjekts zu einem verneinenden Prädikate handele, sondern daß die Verneinung in der Abweisung der "Zumutung" bestehe, Subjekt und Prädikat miteinander zu verknüpfen. Subjekt und Prädikat würden im verneinenden Urteil ganz in derselben Weise gedacht wie im positiven, jedes Urteil bestehe aus Subjekt, Prädikat und dem Gedanken ihrer Einheit. Im verneinenden Urteil komme zu diesen drei Elementen ein viertes hinzu, "welches dem Versuche wehrt, jene Synthese als eine gültige zu vollziehen, dem ganzen Satze ihr Nein! entgegenhält" (11). Diese Einsicht ist allerdings von SIGWART auch neuerdings auf das negative Urteil beschränkt worden. Im positiven Urteil soll es kein dem Nein zu koordinierendes Ja, sondern nur die drei vorstellungsmäßigen Elemente geben.

Einen Schritt weiter geht LOTZE (12). Nach ihm werden über die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat zwei entgegengesetzte "Nebenurteile" gefällt, welche entweder die Gültigkeit oder die Ungültigkeit dieser Beziehung aussagen. Hiermit ist auch für das positive Urteil das Vorhandensein eines Elementes behauptet, das zu der bloßen Vorstellungsbeziehung noch hinzukommt, und das nicht vorstellungsmäßiger Natur sein kann, weil, wenn das Nebenurteil wiederum nur eine vorgestellte Beziehung enthalten würde, ein neues Nebenurteil nötig wäre, um seine Gültigkeit auszusagen, und dadurch eine unendliche Reihe von Nebenurteilen entstehen müßte. Allerdings sieht LOTZE in der rein vorstellungsmäßigen Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat noch den wesentlichen Bestandteil des Urteils. Erst BERGMANN (13) behandelte Bejahung und Verneinung nicht als Nebenurteile, sondern als das "kritische Verhalten", das die bloß vorgestellte Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat überhaupt erst zum Urteil macht. Und aus dieser Einsicht zog er die Konsequenz, daß das Urteil nicht lediglich als ein "theoretisches " Verhalten angesehen werden dürfe, sondern als "eine Äußerung der Seele, an welcher ihre  praktische  Natur, das Begehrungsvermögen, beteiligt" sei.

Die durchsichtigste und zugleich umfassendste Gestalt ist endlich dieser Auffassung des Urteils von WINDELBAND (14) gegeben worden. Er unterscheidet zwischen  Urteil  und  Beurteilung.  Die Urteile sind die rein theoretischen Vorstellungsverbindungen, welche erst durch eine Beurteilung für wahr oder falsch erklärt werden. Soweit unser Denken auf Erkenntnis, d. h. auf Wahrheit gerichtet ist, unterliegen alle unsere Urteile einer Beurteilung, welche in der Bejahung, weil die Tendenz wahr zu sein, selbstverständlich ist, keinen eigenen sprachlichen Ausdruck findet, in der Verneinung auch sprachlich besonders bezeichnet wird. "Alles Sätze der Erkenntnis enthalten somit bereits eine Kombination des Urteils mit der Beurteilung: sie sind Vorstellungsverbindungen, über deren Wahrheitswert durch die Affirmation oder Negation entschieden wird."

Den Satz, daß jedes Urteil, auch das positive, nicht nur aus vorstellungsmäßigen Bestandteilen zusammengesetzt ist (15), müssen wir auch SIGWART gegenüber, der mit seiner Lehre vom negativen Urteil diesen Gedanken die Bahn gebrochen hat, aufrecht erhalten. Der Unterschied zwischen dem negativen und dem positiven Urteil, der nach ihm besteht, ist vorhanden, aber er ist nur ein  psychologischer.  Das positive Urteil ist neben dem negativen das ursprünglichere. Wenn ich z. B. sage: die Sonne leuchtet, so kann allerdings keine Rede davon sein, daß hier das Bewußtsein über die Gültigkeit, also das Bejahen, dem bloßen Beziehen der Vorstellungen auf einander erst zeitlich nachkomme, aber daraus folgt durchaus nicht, daß hier ein Ja neben den vorstellungsmäßigen Bestandteilen überhaußt nicht vorhanden ist. Das Ja kann und muß in manchen Fällen, psychologisch betrachtet, mit den Vorstellungen völlig verschmolzen auftreten und kann trotzdem in logischer Hinsicht sich als ein dem Nein im negativen Urteile zu koordinierendes, selbständiges Element des positiven Urteils ergeben.

Eines kann man jedenfalls mit Sicherheit behaupten: Jedes positive Urteil läßt sich, ohne den Sinn des darin Ausgesagten irgendwie zu verändern, so darstellen, daß eine Bejahung, abgesondert von den vorstellungsmäßigen Bestandteilen, darin deutlich hervortritt. SIGWART selbst gibt die Möglichkeit einer solchen Umwandlung zu (16), und damit schon ist die Frage, soweit sie für uns in Betracht kommt, eigentlich entschieden. Man braucht nur am hellen Mittag zu fragen: scheint die Sonne wirklich? und sofort wird mit einem energischen Ja dieser Zweifel abgewehrt werden. Damit ist nur gewissermaßen das Urteil verstärkt oder intensiver geworden. Diese Verstärkung kann aber weder die Vorstellung des Scheinens, noch die der Sonne, noch die Beziehung beider aufeinander, sondern nur das Ja betreffen, das nicht erst durch die Umwandlung als etwas ganz neues hinzugekommen ist, sondern schon vorher als "viertes Element" in dem Urteil gesteckt hat, denn nur als psychische Zustände angesehen sind die beiden Urteile "die Sonne scheint" und "ja! die Sonne scheint" von einander verschieden, logisch d. h. auf das hin angesehen, was sie als wahr aussagen, sind sie völlig identisch. Wenn das Ja nicht in dem ersten Urteile steckte, so wäre ferner auch gar nicht zu sehen, wie die Frage, ob die Sonne scheint, von dem Urteilef, daß sie scheint, unterschieden werden sollte, denn die vorstellungsmäßigen Bestandteile sind ja in beiden Fällen dieselben. SIGWART sagt allerdings: ich kann nicht fragen, ob die Sonne scheint, und das ist in dem Sinne richtige, daß, wenn ich die Sonne sehe, ich nicht wirklich im Zustande der Ungewißheit sein kann, ob sie scheint. Wohl aber ist die Frage: "scheint die Sonne?" ein Gedanke, den ich verstehe, auch wenn die Sonne scheint, und in diesem Gedanken habe ich die vorstellungsmäßigen Bestandteile des Urteils nicht nur begrifflich, sondern auch faktisch von der hinzukommenden Bejahung getrennt im Bewußtsein. Wäre das nicht möglich, so würde ich die Frage, die etwa ein Blinder an mich richtet, am hellen Tage nicht verstehen können.

Allerdings können wir die Bejahung niemals als einen isolierten Akt im Bewußtsein haben. Aber das ist mit der Verneinung ebenso. Auch sie kann nur zusammen mit den vorstellungsmäßigen Bestandteilen im Bewußtsein sein. Nur der Umstand, daß die Verneinung einem Bejahungsversuche zeitlich folgt, während die Bejahung in sehr vielen Urteilen mit den vorstellungsmäßigen Bestandteilen zugleich auftritt, läßt es begreiflich erscheinen, warum die eigentümliche, von allem Vorstellen so ganz verschiedene Natur des Urteils bei den negativen Urteilen deutlicher hervortritt. Das kann aber die Logik, welche die Urteile unter dem Gesichtspunkte ihrer Wahrheit betrachtet, nicht darin hindern, auch die Bejahung als ein nichtvorstellungsmäßiges Element im positiven Urteil anzuerkennen.

Gibt es nun aber neben der Bejahung und der Verneinung nicht noch eine dritte Klasse von Urteilen, die weder bejahend noch verneinend sein, und in denen daher das nichtvorstellungsmäßige Element nicht nachzuweisen wäre? LOTZE (17) hat die Frage der Bejahung und Verneinung koordinieren wollen, und das ist von dem Standpunkt aus, der in der bloß vorgestellten Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat das dem Urteil Wesentliche erblickt, ganz konsequent. Die Frage enthält genau dieselben vorstellungsmäßigen Bestandteile wie das Urteil. Aber da sie weder wahr noch unwahr sein kann, können wir sie nicht als ein Urteil betrachten.

Dagegen hat WINDELBAND (18) gemeint, wenn jemand den Versuch macht, eine Frage zu beantworten, und eingesehen habe, daß diese Frae nicht entschieden werden könne, dann suspendiere er die Beurteilung, urteile aber doch und zwar  problematisch.  Den Zustand, aus dem heraus ein solches problematisches Urteil gefällt wird, nennt WINDELBAND "kritische Indifferenz" im Gegensatz zur "totalen Indifferenz" als demjenigen Zustande, in dem wir uns den Vorstellungen gegenüber überhaupt nicht urteilend verhalten. In dieser Weise kritisch indifferent verhalten wir uns danach, wenn wir z. B. behaupten, daß die Annahme eines Dinges an sich weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Es ist hier nicht der Ort zu entscheiden, ob man gut tun würde, ein solches problematisches Verhalten ein Urteil über das Ding an sich zu nennen, wir müssen nur das Eine feststellen, worauf es für uns hier ankommt, daß jedenfalls kein "problematisches Urteil" gefällt werden kann, wenn nicht bejahende oder verneinende Urteile vorangegangen sind, auf denen die Wahrheit des problematischen Urteils beruht. Das zeigt schon der Ausdruck "kritische Indifferenz", der streng genommen eine contradictio in adjecto ist. Total indifferent verhalte ich mich einer Vorstellungsbeziehung gegenüber, wenn ich, wie in dem oben gebrauchten Beispiel, Töne höre, ohne zu urteilen. Kritisch indifferent verhalte ich mich einer Vorstellungsbeziehung gegenüber, die in einer Frage an mich herantritt, nur dann, wenn ich das  negative  Urteil gefällt habe, daß ich diese Frage nicht entscheiden kann. Jedenfalls beruht also auch der Satz, daß das Sein transzendenter Dinge problematisch ist, wenn er den Anspruch macht, wahr zu sein, auf einer Bejahung oder Verneinung; und darauf allein kommt es an.

Wir können also behaupten, daß es nicht möglich ist zu urteilen, ohne zu bejahen oder zu verneinen, oder wenigstens vorher bejaht oder verneint zu haben, und wir werden daher die rein vorstellungsmäßigen Bestandteile des Urteils, die z. B. in der Vorstellung der scheinenden Sonne, in der Frage: "scheint die Sonne?" und in den Urteilen: "die Sonne scheint" und: "die Sonne scheint nicht" genau dieselben sind, als bloße Vorstellungsbeziehung von einem wirklichen Urteil trennen, in dem erst durch Bejahung oder Verneinung die Vorstellungsbeziehung zu etwas gemacht ist, worauf die Prädikate wahr oder unwahr Anwendung finden können.


XII. Das Erkennen als Anerkennen

Die Untersuchung hat uns in Gebiete geführt, welche scheinbar von dem Ziel abliegen, dem wir zustreben. Doch nur scheinbar. Es war uns so lange nicht gelungen, einen Gegenstand der Erkenntnis zu finden, als wir dabei vom lediglich vorstellenden Subjekt ausgingen. Wir mußten dies, weil das theoretische Subjekt als vorstellendes Subjekt gilt, und ja nur etwas, das vom theoretischen Subjekt unabhängig ist, Gegenstand der Erkenntnis sein kann. Wie aber, wenn sich zeigen läßt, daß auch das rein theoretisch erkennende Subjekt weit davon entfernt ist, nur vorzustellen?

Jede Erkenntnis beginnt mit Urteilen, schreitet in Urteilen fort und kann nur in Urteilen bestehen. Damit erweist sich das Erkennen als ein Prozeß, von dem ein Bejahen oder Verneinen unabtrennbar ist, oder der seinem Wesen nach geradezu als ein Bejahen oder Verneinen aufgefaßt werden muß, denn erst durch Bejahen oder Verneinen wird ja aus den Vorstellungen etwas Wahres oder Falsches, d. h. Erkenntnis. Es zeigt sich also auch unter diesem Gesichtspunkt, daß die Vorstellungen keine selbständige Bedeutung für das Erkennen haben.  Erkennen ist Bejahen oder Verneinen.  Wir wollen versuchen, die Konsequenzen hieraus kennen zu lernen.

Es ist die Aufgabe der Psychologie, das Verhältnis des Urteils zu den anderen Bestandteilen des Seelenlebens allseitig festzustellen. Wir heben hier nur einen Punkt hervor, um das Urteil, daß wir bisher nur negativ als nicht vorstellungsmäßig bezeichnet haben, näher zu charakterisieren. Wir müssen vorher jedoch, um unsere Untersuchung von allen psychologischen Theorien unabhängig zu machen, einen kleinen Vorbehalt vorausschicken. Wenn wir das Urteil als ein nicht vorstellungsmäßiges Verhalten bezeichnen, so soll das nicht heißen, daß wir darin etwa mit 'BRENTANO eine Art der Beziehung des Bewußtseins zu seinem Objekte sehen, als wie sie im Vorstellen vorliegt. Diese Behauptung wäre für uns viel zu voraussetzungsvoll. Es wäre ja möglich, daß das Urteil sich vom Vorstellen nur dadurch unterscheidet, daß im Urteile, ebenso wie wir das schon für das Wollen bemerkten, Elemente in das Bewußtsein treten, die zwar nicht ausdrücklich von uns als vorstellungsmäßig bemerkt werden, sich einer genaueren psychologischen Analyse aber doch als vorstellungsmäßig ergeben. Es könnten das ja, um an neueste Theorien zu erinnern, Spannungsempfindungen in unseren Muskeln sein, die dem ungeübten Beobachter nicht als das, wie sie wirklich sind, erscheinen (19). Jede Psychologie, welche rein sensualistisch sein will, wird zeigen müssen, daß auch das Urteil, als psychischer Zustand betrachtet, nichts anderes als ein Empfindungskomplex ist. Aber sie wird dies auch von unseren Willensakten und von unseren Gefühlen nachweisen wollen, und daher brauchen wir uns um diese Theorie hier nicht zu kümmern, wo wir nur untersuchen, zu welcher Gattung von psychischen Vorgängen das Urteil gehört, wenn wir solche Zustände, in denen wir uns teilnahmslos betrachtend verhalten, von solchen unterscheiden, in denen wir an unserem Bewußtseinsinhalt, als einem für uns wertvollen, Anteil nehmen, oder - vorsichtiger ausgedrückt - zu nehmen scheinen. Wir wollen lediglich eine Tatsache feststellen, welche auch eine rein sensualistische Theorie nicht bestreiten kann.

Wenn wir wollen, so begehren wir entweder etwas, oder wir verabscheuen es. Wenn wir fühlen, so fühlen wir entweder Lust, die uns angenehm, oder Schmerz, der uns unangenehm ist. Es handelt sich also beim Wollen und Fühlen um ein entweder-oder, das nicht vorhanden ist, wenn wir nur vorstellen. Dies entweder-oder liegt auch beim Urteilen vor. Das Urteil geht nicht auf in einem teilnahmslosen Betrachten, sondern es kommt in dem Bejahen oder Verneinen ein Billigen oder Mißbilligen zum Ausdruck. So lange die Vorstellungen nur vorgestellt werden, kommen und gehen sie, ohne daß wir uns um sie kümmern. Aber wie wir sie als angenehm oder unangenehm fühlen, wie wir sie begehren oder verabscheuen, wenn wir wollen, so stimmen wir ihnen zu oder weisen sie ab, wenn wir urteilen. Während also die geläufige Ansicht im Denken und Erkennen das Vorstellen und Urteilen als zusammengehörig faßt und dem Fühlen und Wollen gegenüberstellt, so meinen wir, daß, wenn eine solche Einteilung der psychischen Vorgänge gemacht werden soll, das Vorstellen in die eine Klasse, und das Urteilen, Fühlen und Wollen als zusammengehörig in die andere gebracht werden muß. Es steckt auch im Urteil, und zwar als das Wesentliche, ein "praktisches" Verhalten, das in der Bejahung etwas billigt oder anerkennt, in der Verneinung etwas verwirft.

Weil nun, was für das Urteil gilt, auch für das Erkennen gelten muß, so ergibt sich aus der Verwandtschaft, die das Urteil mit dem Wollen und dem Fühlen hat, daß es sich auch beim rein theoretischen Erkennen um ein Stellungnehmen zu einem Werte handelt. Nur Werten gegenüber hat das alternative Verhalten des Billigens oder Mißbilligens einen Sinn. Was ich bejahe, muß mir gefallen, was ich verneine, muß mein Mißfallen erregen. Das Erkennen also ist ein Vorgang, der bestimmt wird durch  Gefühle,  d. h. durch Lust oder Unlust. So fremdartig dies klingen mag, so ist es doch nur die unbezweifelbare Konsequenz der Lehre, daß im Urteil zu den Vorstellungen eine Beurteilung hinzutritt, durch welche aus den Vorstellungen überhaupt erst Erkenntnis wird. Es ist psychologisch nicht denkbar, daß etwas anderes, als ein Gefühl zur Zustimmung oder Abweisung veranlassen könnte. Das muß auch von denen zugegeben werden, die Erkenntnis in der Übereinstimmung der Vorstellungen mit ihrem Gegenstande sehen. Sie werden nicht behaupten können, daß die Übereinstimmung für sie jemals zu einem Kriterium der Wahrheit werden kann. Nicht nur, weil die Dinge selbst niemals mit den Vorstellungen verglichen werden, wird auch für sie ein unmittelbares Gefühl das Kriterium sein, mit Hilfe dessen sie entscheiden, ob ihr Erkennen seine Aufgabe erfüllt hat, sondern auch wenn die Dinge zum Vergleich mit den Vorstellungen herangezogen werden könnten, würde das Erkennen doch nicht über das gefühlsmäßige Kriterium hinaus zu einem anderen gelangen, weil ja das Urteil, daß die Dinge mit den Vorstellungen übereinstimmen, auch nur dann bejaht werden könnte, wenn es sich durch ein Gefühl der Anerkennung, der Bejahung aufdrängt.

Auf welchen erkenntnistheoretischen Standpunkt man also auch stehen mag, dies bleibt stets sicher: auf einem Gefühl muß schließlich jede Überzeugung, erkannt zu haben, beruhen. Gefühle sind es also, welche unsere Erkenntnis leiten. Der Erkenntnisakt selbst kann nur in der Anerkennung des Wertes der Gefühle bestehen.  Erkennen  ist Anerkennen oder Verwerfen. Das kann nur übersehen werden, wenn man das Urteil für ein Zerlegen oder Verknüpfen von Vorstellungen hält und nicht darauf achtet, daß der eigentliche Kern des Urteils, das Bejahen und Verneinen, ein Billigen oder Mißbilligen ist.

Um das Charakteristische dieses Erkenntnisbegriffs hervorzuheben, weisen wir noch einmal auf die Gedanken hin, mit denen DILTHEY die Frage nach der Realität der Außenwelt zu lösen versucht hat. Er verlangt, daß nicht von einem rein vorstellenden Bewußtsein bei diesem Probleme ausgegangen werden soll, und er hat auch früher an anderer Stelle (20) ganz im Allgemeinen der Erkenntnistheorie vorgeworfen, daß sie die Erkenntnis aus einem dem bloßen Vorstellen angehörigen Tatbestand erklärt. Diesem Vorwurf stimmen wir jetzt unbedingt zu. Erkennen ist nicht Vorstellen. Dagegen können wir noch immer nicht zugeben, daß nicht nur der erkennende, sondern der  ganze  Mensch in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte der Untersuchung der Erkenntnis und ihrer Begriffe zu Grunde gelegt werden muß. Es mag zwar dagegen nichts einzuwenden sein, so lange es sich nur um die psychologische Genesis dieser Begriffe handelt. Sobald aber in der Erkenntnistheorie die Gültigkeit der Begriffe in Frage kommt, ist es durchaus notwendig, das erkennende Subjekt zu isolieren und abgesondert zu betrachten. Es schadet nichts, wenn in seinen Adern nicht "wirkliches Blut", sondern nur "der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit" rinnt. Wir wollen ja nur die Leistungen des Denkes kennen lernen. Nicht in der  einseitig intellektualistischen  Auffassung, sondern in der  falschen  Auffassung des Intellekts und der Erkenntnis liegt der Fehler. Das Faktum gilt es hervorzuheben, daß die Vernunft, die Denktätigkeit selbst, auch wenn sie völlig isoliert betrachtet wir, weit davon entfernt ist, nur Vorstellen zu sein.

Nur so lange also der Intellekt als reines Vorstellen angesehen wird, ist bei intellektualistischer Deutung des "Satzes der Phänomenalität" eine Lösung des Transzendenzproblems unmöglich. Rechnet man aber zum Intellekt das Urteil, so gewinnt auch bei intellektualistischer Deutung unsere Frage nach dem Gegenstande der Erkenntnis ein anderes Ansehen. Das Bedürfnis nach einer transzendenten Wirklichkeit, deren Zeichen oder Abbilder die Vorstellungen sein sollen, ist dann nicht mehr vorhanden. Das erkennende Subjekt kann nicht durch Vorstellungen, sondern nur durch Bejahen oder Verneinen das in seinen Besitz bringen, was es beim Erkennen sucht. Der Weg, den wir einzuschlagen haben, um den Gegenstand der Erkenntnis zu finden, ist damit vorgezeichnet. Es kommt darauf an festzustellen, was bejaht oder verneint, d. h. was im Urteile anerkannt oder verworfen wird. Wir müssen das Gefühl, auf welchem die Erkenntnis beruht, und welches sie leitet, näher kennen lernen. Wir haben bis jetzt nur die Verwandtschaft hervorgehoben, welche das Erkennen mit dem Wollen und Fühlen hat, um die gewohnte Ansicht, welche im Erkennen einen aus Vorstellungen bestehenden Vorgang sieht, möglichst gründlich zu zerstören. Wir werden nuch auch den Unterschied zwischen den beiden Vorgängen hervorheben müssen.


XIII. Die Urteilsnotwendigkeit

In jeder Erkenntnis, so haben wir gesehen, wird ein Wert anerkannt. Wie unterscheiden wir diesen Wert von den anderen Gefühlen, denen gegenüber wir uns zustimmend verhalten? Wir sprechen hier nur von dem, was wir alle tun, und lassen die Frage nach dem Rechte dazu vorläufig beiseite.

Einem sinnlichen Lustgefühl legen wir eine Bedeutung nur so lange bei, als wir es fühlen. Wir fragen nicht danach, ob das Gefühl uns immer wertvoller sein wird, oder wenn wir fragen, werden wir in den meisten Fällen überzeugt sein, daß dies nicht der Fall ist. Wir können uns sehr wohl denken, daß unter anderen Bedingungen das Gefühl gar keinen Wert für uns besitzt. Die hedonische Beurteilung gilt also nur für das individuelle Ich an der Stelle des Raumes und in dem Punkte der Zeit, wo das Individuum das Lustgefühl gerade hat. Bei dem Werte dagegen, den wir im Urteil anerkennen, liegt die Sache anders. Wir konstatieren hier auch ein Lustgefühl, in dem der Trieb nach Erkenntnis zur Ruhe kommt, und wir nennen es  Gewißheit.  Bei allen unmittelbar gewissen Urteilen sprechen wir von Evidenz, und auch die Urteile, die nicht unmittelbar evident sind, müssen sich auf Evidenz zurückführen lassen, wenn wir völlig befriedigt sein sollen. Wenn nun aber der Bewußtseinsinhalt, der das Lustgefühl der Gewißheit mit sich führt, auch ein ganz vorübergehender ist, so legen wir doch dem Gefühle eine besondere Bedeutung bei. Wir sind fest davon überzeugt, daß das Urteil, zu dem es uns veranlaßte, überall und für alle Zeit wertvoll sein wird. Vorstellungen, z. B. eine Reihe von Tönen, kommen und gehen, das Urteil aber, daß ich sie gehört habe, hat, auch wenn die Töne die gleichgültigste Sache von der Welt sind, eine über sie hinausgehende dauernde Bedeutung insofern, als es nicht denkbar ist, daß ich jemals sagen könnte: nein, ich habe die Töne nicht gehört. Bei jedem Urteil weiß ich in dem Augenblick, in dem ich urteile, daß ich etwas anerkenne, was  zeitlos gilt.  Das ist es, was die Eigentümlichkeit der logischen Beurteilung, wie wir die Bejahung oder Verneinung nennen können, der hedonischen Beurteilung gegenüber ausmacht.

Die Evidenz also ist psychologisch betrachtet ein Lustgefühl, verbunden mit der Eigentümlichkeit, daß sie einem Urteil eine zeitlose Geltung verleiht und ihm damit einen Wert gibt, wie er durch kein Lustgefühl sonst hervorgebracht wird. Der Wert ist, weil zeitlos, unabhängig von jedem Bewußtseinsinhalte. Wir können aber noch mehr sagen. Wir legen dem Gefühle, dem wir im Urteil zustimmen, nicht nur eine von uns unabhängige Bedeutung bei, sondern wir erleben darin etwas, wovon wir abhängig sind. Ich bin, wenn ich urteilen will, durch das Gefühl der Evidenz  gebunden,  ich kann nicht willkürlich bejahen oder verneinen. Ich fühle mich von einer Macht bestimmt, der ich mich unterordne, und nach der ich mich richte. Die Macht ist bei jedem Urteil, das ich fälle, vorhanden. Sie kann von niemandem geleugnet werden, der zugibt, daß es niemals gleichgültig ist, ob er auf eine Frage mit nein oder mit ja antwortet. Das eine oder das andere Urteil ist immer notwendig. Wenn ich Töne höre und überhaupt urteilen will, so bin ich genötigt zu urteilen, daß ich Töne höre. Ohne eine solche Notwendigkeit befinde ich mich im Zustande der Ungewißheit und urteile überhaupt nicht. Das Gefühl also, das ich im Urteil bejahe, gibt meinem Urteil den Charakter der  Notwendigkeit. 

Die Notwendigkeit ist unter dem Namen der "Denknotwendigkeit" ein der Logik und Erkenntnistheorie geläufiger Begriff. Man sieht wohl in ihr ein besonderes Gewißheitsprinzip, das man der Gewißheit, welche die Erfahrung besitzt, gegenüberstellt. Es braucht auch kaum ausdrücklich erwähnt zu werden, daß in diesem Sinne das Wort hier nicht gemeint sein kann. Die Notwendigkeit, von der wir sprechen, hat  jedes  Urteil, das gewiß ist, also auch jede Erfahrung. Ja, es kommt uns sogar darauf an, hervorzuheben, daß es sich auch bei der einfachen Konstatierung einer Tatsache des Bewußtseins immer nur um die Anerkennung der Notwendigkeit, so und nicht anders zu urteilen, handeln kann. Wir wollen daher diese Notwendigkeit, welche die Grundlage aller Urteile bildet, um ihren Sinn deutlicher hervortreten zu lassen, als  Urteilsnotwendigkeit  bezeichnen.

Wir ziehen den Ausdruck dem Wort Denknotwendigkeit schon deshalb vor, weil das Wort  denken  sowohl ein Vorstellen, als ein Urteilen bezeichnen kann, und unsere Notwendigkeit durchaus nicht eine Notwendigkeit des Vorstellens bedeuten soll. Das sorgfältige Auseinanderhalten von Urteilen und Vorstellen ist für die Erkenntnistheorie von allergrößter Bedeutung. Wenn man nämlich darauf achtet, daß nur eine Notwendigkeit des Urteilens vorhanden ist, so ergibt sich für das Gefühl schließlich noch eine Bestimmung, die vor allem dazu beitragen wird, daß wir die Natur des Erkennens besser verstehen. Die Notwendigkeit, um die es sich beim Urteilen handelt, ist nicht eine Notwendigkeit des  Müssens.  Sie kann es nicht sein, denn wenn wir uns auch bestimmt fühlen von einer Macht, die von uns unabhängig ist, so besteht das Urteil doch immer in einer  Anerkennung,  und anerkennen kann man nur einen  Wert.  Daher kann es sich beim Urteilen niemals um einen naturgesetzlichen Zwang handeln, der die Bejahung hervorbringt. Die Urteilsnotwendigkeit hat nichts mit  kausaler  Notwendigkeit zu tun. Zwar kann ihr Auftreten im Bewußtsein auch mit psychologischer Notwendigkeit ein Urteil hervorrufen, aber diese Tatsache ist hier ohne Bedeutung, denn um den psychologischen "Mechanismus" des Erkennens bekümmern wir uns nicht. Da wir sehen, daß die Urteilsnotwendigkeit als Richtschnur des Urteilens uns bindet, dadurch, daß sie einen Wert hat, so drücken wir dies am besten aus, wenn wir sie als eine Notwendigkeit des  Sollens  bezeichnen. Sie tritt auf als ein Imperativ, dessen Berechtigung wir anerkennen und den wir gewissermaßen in unseren Willen aufnehmen. Was also mein Urteilen und damit mein Erkennen leitet, ist das Gefühl, daß ich so und nicht anders urteilen  soll. 

Damit ist das Gefühl, welches wir beim Urteilen anerkennen, für unseren Zweck ausreichend charakterisiert. Wenn wir nur das aussagen, was wir wirklich wissen, so werden wir folgendes zugeben müssen. Wir wissen nicht von einem Sein, das wir mit Vorstellungen abbilden, für unser Vorstellen gibt es überhaupt nichts, wonach es sich richten könnte. Dagegen tritt ein Sollen sofort Richtung gebend auf, wenn wir urteilen wollen. Der Satz, dan dem wir uns dies zum Bewußtsein bringen können: wenn ich Töne höre und darüber urteilen will, so bin ich  genötigt  zu urteilen, daß ich Töne höre, erscheint vielleicht manchem so selbstverständlich, daß er nicht ausdrücklich behauptet zu werden brauchte, und selbstverständlich d. h. schlechthin unbezweifelbar ist er in der Tat, sonst könnten wir ihn nicht zur Grundlage unserer Untersuchung machen. Sollte er aber nicht nur selbstverständlich, sondern auch tautologisch erscheinen, so müssen wir hervorheben, daß dies nicht richtig ist. Wenn ich Töne höre, so bin ich genötigt, so zu urteilen, sagt, daß mir mit den Tönen eine Sollen gegeben ist, das von einem eventuellen Urteil Zustimmung fordert und Zustimmung erhält. Diese selbstverständliche, aber nicht immer beachtete Tatsache gilt es ausdrücklich festzustellen.


XIV. Sein und Sollen

Wenn nun das in der Urteilsnotwendigkeit unmittelbar erfahrene Sollen es ist, wonach allein unsere Urteile sich richten, so ist damit zugleich gesagt, daß die Anerkennung des Sollens den Urteilen das verleiht, was wir ihre Wahrheit nennen. Wahrheit ist nichts anderes, als der Inbegriff der als wertvoll anerkannten Urteile. Wertvoll zu sein ist daher kein abgeleitetes Merkmal des wahren Urteils, das ihm deswegen zukommt, weil es wahr ist, sondern die Wahrheit kann nur als der eigentümliche Wert, den Urteile haben, definiert werden. Da dies von allen Urteilen gilt, so sind selbstverständlich auch die Urteile, von denen man sagt, daß sie Erkenntnis der Wirklichkeit enthalten, hiervon nicht ausgenommen. Auch ihr Wert ist nicht aus ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit abgeleitet, d. h. sie sind nicht deswegen war, weil sie aussagen, was wirklich ist, sondern das  nennen  wir wirklich, was von Urteilen anerkannt werden soll. So wird das Wirkliche unter diesem Gesichtspunkte zu einer Art des Wahren, und die Wahrheit ist wiederum nichts anderes, als ein Wert. Das wahre Urteil ist das Urteil, welches gefällt werden soll. Wer Wahrheit will, kann also, auch wenn er erkennen will, was wirklich ist, nur bejahen, wo das Gefühl der Urteilsnotwendigkeit ihm entgegentritt. Hat er das Sollen anerkannt, so hat er sich einen der Werte zueigen gemacht, die in ihrer Gesamtheit die Erkenntnis der Wirklichkeit bilden. Die "Realurteile" sind insofern nur eine besondere Klasse der "Beziehungsurteile".

Man wird vielleicht der Ansicht sein, daß diese Auseinandersetzung sich in einem Zirkel bewege. Das wahre Urteil, welches aussagt, was wirklich ist, wird das Urteil genannt, das gefällt werden soll, und fragt man, warum denn das Urteil gefällt werden soll, so kann man darauf nur antworten, weil es eben das wahre Urteil ist. In der Tat, so liegt die Sache, aber wenn man dies einen Zirkel nennen will, so müssen wir bekennen, daß es gerade das Vorhandensein dieses "Zirkels" ist, das wir feststellen wollen. Es kann dies nur den nicht befriedigen, der sich von der Voraussetzung nicht loszumachen vermag, daß die Erkenntnis das Abbild einer Wirklichkeit sein soll, und es also für möglich hält, daß Urteile sich nach einem Seienden richten. Man vergißt dabei nur, daß, wer seine Urteile in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit bringen wollte, immer schon im Besitz des Urteils, was wirklich ist, sein müßte. Man versuche für die Wahrheit des Urteils, daß ich jetzt Buchstaben sehe, irgend einen anderen Grund zu finden, als das unmittelbare Gefühl des Sollens, der Notwendigkeit, so zu urteilen. Man kann das Sollen nicht davon ableiten, daß das Urteil aussagen soll, was  ist,  denn um zu wissen, was ist, muß man doch schon geurteilt haben, und um dies zu können, kommt man wieder auf das unmittelbare Gefühl des Sollens zurück. Ist das ein Zirkel, so ist es einer, aus dem man niemals herauskommen kann.

Aber es ist kein Zirkel. Die andere Ansicht vielmehr, welche auf die Frage, warum kein Urteil wahr ist, damit antwortet, daß es das aussagt, was wirklich ist, bewegt sich in einem Zirkel, und wenn dies nicht offen zu Tage tritt, so liegt das nur an folgendem: Weil, wie wir gezeigt haben, jeder Bewußtseinsinhalt die Notwendigkeit mit sich führt, ihn als "seiend" zu beurteilen, so entsteht bei nicht genauer Analyse der Vorgänge die Ansicht, es habe einen Sinn zu sagen, daß etwas als seiend  vorgestellt  werden, und dann könnte man allerding das Urteil für ein Abbild des Seienden halten. Dies aber ist ein Irrtum. Was heißt es, daß ich etwas als seiend vorstelle? Farben, Töne usw. kann ich vorstellen, und wenn ich sie als seiend beurteilt habe, so kann ich zu ihnen  sprachlich  auch das Wort seiend hinzufügen, aber die vorgestellte  seiende  Farbe und die vorgestellte Farbe sind absolut identisch. Das Wort  sein  hat also als Vorstellung gar keine Bedeutung, oder es ist als Vorstellung gleich dem Nichts, und erst als Bestandteil eines Urteils gewinnt es überhaupt einen Sinn. Daher ist es auch unmöglich, das Sein eines Dinges von dem Sein seiner Eigenschaften zu trennen. Als reines Sein behielte man das reine Nichts. Das "Seiende" oder die "Wirklichkeit" sind lediglich zusammenfassende Namen für das als so oder so seiend Beurteilte. Nicht so liegt die Sache, daß uns ein Seiendes gegeben wäre, welches im Urteile durch eine Eigenschaft bestimmt würde, sondern gegeben ist nur ein  bestimmter  Bewußtseinsinhalt, den wir im Urteil als seiend anerkennen. Das Sein ist daher, wie man auch sagen kann, nie etwas, über das geurteilt wird, sondern es ist immer nur das,  was  ausgesagt wird, und es ist nichts, wenn es nicht Bestandteil eines Urteils ist.

Hieraus muß sich ergeben, daß es keinen Sinn hat, zu sagen, das Urteil richte sich nach dem Seienden. Um sich beim Urteilen nach dem Seienden richten zu können, müßte man schon wissen, was ist, also geurteilt haben, und dann bräuchte man kein Urteil mehr. Erst muß man urteilen, dann weiß man, was ist und nicht umgekehrt. Die Urteilsnotwendigkeit allein sagt, was als seiend beurteilt werden soll. Macht man sich dies klar, so kann man in unseren Ausführungen über den Zusammenhang von Wirklichkeit, Wahrheit und Wert keinen Zirkel mehr erblicken.

Wegen der entscheidenden Wichtigkeit, welche dieser Punkt für unseren Gedankengang hat, wollen wir ihn an noch einem Beispiel erläutern. Ich stelle einen grünen Baum vor und fälle das Urteil: der Baum  ist  grün. Da meint die von uns bekämpfte Ansicht, das Wesen dieser Erkenntnis bestehe darin, daß ich den Baum grün vorstelle und daß das Urteil deshalb wahr ist, weil der Baum grün vorgestellt wird. Diese Auffassung stimmt überein mit der Lehre, nach der das Urteil die Zerlegung oder Zusammenfügung der beiden Vorstellungen Baum und grün ist. Ich urteile, daß der Baum grün ist, wenn ich ihn als grün seiend vorstelle. Das Urteil gibt in der Form der "prädikativen Verbindung" denselben Gedanken, den ich durch die Wahrnehmung bereits in der Form der "attributiven Verbindung" erhalten hatte (21). Der Unterschied zwischen Vorstellung und Urteil wäre demnach ein rein formaler. - Bei einer Einsicht in die wahre Natur des Urteils ist diese Auffassung unhaltbar. Ich stelle niemals einen Baum als grün  seiend  vor, sondern ich stelle nur einen grünen Baum vor. Als grün seiend beurteile ich den Baum und dieses Urteil ensteht nicht durch Auseinanderlegen oder Zusammensetzen der Vorstellungen, sondern durch Anerkennung der Forderung, die vorgestellte Beziehung von Baum und grün zu bejahen. Nur aus dem Sollen also und nicht aus dem Sein kann ich die Wahrheit des Urteils ableiten.


XV. Das transzendente Sollen

Was ist nun hiernach der Gegenstand der Erkenntnis, den wir suchen?

Wenn wir als Gegenstand das bezeichnen wollen wonach das Erkennen sich richtet, so kann nur das Sollen, das im Urteile anerkannt wir, der Gegenstand der Erkenntnis sein. Ein anderer Gegenstand ist nicht aufzufinden, und das Erkennen bedarf seiner nicht, weil für das Anerkennen ein Wert, ein Sollen als Maßstab völlig genügt. Wir verhehlen uns nicht, daß die Bezeichnung des Sollens als eines Gegenstandes etwas paradox klingt, aber wir wählen sie deshalb, weil tatsächlich die Überzeugung, es gäbe eine vom erkennenden Subjekt völlig unabhängige Welt von Dingen als Gegenständen der Erkenntnis, nur auf der falschen Deutung des Gefühls von Notwendigkeit beruth, welches unsere Urteile haben. Wer die Dinge als Vorstellungen ansieht, für den kann der Begriff des Dinges nur noch insofern eine über dem Bewußtseinsinhalt hinausgehende Bedeutung besitzen, als das "Ding" Genannte eine gewisse Gruppe von Vorstellungen zusammenfaßt, deren Bestandteile in diesen oder jenen als notwendig zu beurteilenden Beziehungen zu einander stehen. Die vom erkennenden Subjekt unabhängig Bedeutung des Dinges als eines Gegenstandes der Erkenntnis löst sich von unserem Standpunkte also vollständig in Urteilsnotwendigkeiten auf.

Allerdings besteht der Gegenstand der Erkenntnis, wie wir ihn fassen, durchaus nicht immer nur in  den  Urteilsnotwendigkeiten, welche die Bedeutung des Dingbegriffes ausmachen. Ja, man kann geradezu behaupten, daß es das Streben insbesondere der Naturwissenschaften ist, den Dingbegriff möglichst weit zurückzuschieben und alle "Dinge" als Vorgänge zu begreifen, die Spezialfälle eines allgemeinen  Gesetzes  sind. Aber der Gegenstand der Erkenntnis ist, wo dies gelungen, auch für den Realisten nicht mehr ein Ding, und gerade da, wo es sich um Ermittelung von Gesetzen handelt, dürfte es vielleicht am wenigsten unangemessen sein, als Gegenstand der Erkenntnis ein durch Urteilsnotwendigkeit verkündetes Sollen zu bezeichnen. Auf die "Notwendigkeit" der Naturgesetze könnte vielleicht unter diesem Gesichtspunkte neues Licht fallen. Nur wird die Wissenschaftslehre sich erhebnlich mehr noch als bisher von der Dinghaftigkeit der 'ARISTOTELischen Metaphysik befreien müssen, wenn sie diese Fragen und die aufs Engste damit zusammenhängende Lehre von dem Verhältnis des Urteils zum Begriff erfolgreich behandeln will.

Doch können wir diese Frage hier nicht weit verfolgen. Die Andeutung sollte nur rechtfertigen, daß wir den Namen des Gegenstandes, für das die Erkenntnis bestimmende Sollen beibehalten. Dies Sollen leistet der Erkenntnis genau das, was die realistischen Ansichten für eine Leistung der aus Dingen bestehenden Wirklichkeit halten. Im Übrigen kommt es uns hier nur darauf an, festzustellen, was aller Erkenntnis gemeinsam ist und zusammenfassend können wir dies sagen: Der Gegensatz zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Gegenstande, auf den sich die Erkenntnis richtet, ist nicht derjenige zwischen dem vorstellenden Bewußtsein und einer davon unabhängigen Wirklichkeit, sondern es ist der zwischen dem urteilenden Subjekt und dem Sollen, welches in den Urteilen anerkannt wird. Wenn ich Dinge erkennen will und mir klar gemacht habe, was Wahrheit allein heißen kann, so werde ich nicht Dinge durch meine Vorstellungen abbilden wollen. Es hat keinen Sinn, "hinter" den Vorstellungen noch Dinge anzunehmen. Ein Ding an sich würde niemals das leisten können, was der Vorstellungskomplex dem Bedürfnis nach Erkenntnis leistet. Es würde keine notwendigen Vorstellungsbeziehungen geben, die wir bejahen, wenn wir erkennen. Wer an das Erkennen noch andere Ansprüche stellt, verlangt etwas, was wir Menschen zu leisten schlechterdings nicht imstande sind und es liegt nicht der geringste Grund vor, dies zu verlangen. Gewiß, das Erkennen verliert seinen Sinn, wenn wir dabei nicht eine von uns unabhängige Ordnung entdecken. Aber es kann dies nicht eine Ordnung von Dingen sein. Wir können nichts anderes entdecken, als die Ordnung des Bewußtseinsinhaltes, d. h. die Beziehungen der Vorstellungen auf einander, welche sein sollen und daher zu bejahen sind. Wir brauchen uns als Erkennende gar nicht darum zu kümmern, ob es noch etwas anderes als notwendige Vorstellungsbeziehungen gibt.

Wir stimmen in einem Punkte also mit dem Positivismus oder dem subjektiven Bewußtseinsidealismus überein. Wir wollen die Aufgabe der Wissenschaft einschränken auf ein "Anordnen" des Bewußtseinsinhaltes. Wir stehen aber dem Positivismus dadurch sehr fern, daß wir wirklich von einem  Erkennen  durch die Wissenschaft und nicht nur von einer "bequemen" Anordnung des Bewußtseinsinhaltes reden, und zwar deshalb, weil für uns das "Denken" der Welt nicht ein bloßes Vorstellen, sondern ein Urteilen ist, und weil jedes Urteil sich als ein Anerkennen des durch das Gefühl von Urteilsnotwendigkeit verkündeten Sollens darstellt. Dies Sollen ist der Gegenstand der Erkenntnis und indem wir uns nach ihm richten, wird das Denken wieder zu einem Erkennen.

Dies Ergebnis scheint aber sehr wenig geeignet, uns dem Ziele, das wir anstreben, näher zu bringen. Zum Begriff des Erkennens gehört ein Gegenstand, der nur dann für das Erkennen eine Bedeutung besitzt, wenn er ein vom erkennenden Subjekt in jeder Hinsicht  unabhängiger  Gegenstand ist. Es muß also das Sollen, das wir als Gegenstand der Erkenntnis bezeichnet haben, ein in jeder Hinsicht vom Subjekt unabhängiges Sollen sein. Es muß sich, wenn wir das auch vom erkennenden Subjekt Unabhängige transzendent nennen, um ein  transzendentes Sollen  handeln. Haben wir zu dieser Annahme ein  Recht?  Durch den Nachweis, daß das Erkennen in der Anerkennung eines Wertes besteht, scheint nur die Subjektivität des Erkennens in noch höherem Maße hervorzutreten als früher. Das Billigen und Mißbilligen, das mit dem Wollen und Fühlen zusammengebracht wird, ist nicht nur, wie das vorstellende Erkennen, in die Grenzen des Bewußtseins eingeschlossen, sondern in noch ganz anderem Sinne vom Subjekte abhängig. Wir haben gesehen, daß lediglich durch das  Gefühl  der Urteilsnotwendigkeit sich uns das Sollen kundtut, und wie können Gefühle von Werten Kunde geben, welche eine transzendente Bedeutung haben? Man wird uns vielleicht zugeben, daß: ein Urteil wahr ist, ohne unbeweisbare metaphysische Voraussetzungen, nichts anderes heißen kann als: ein Urteil ist wertvoll, aber niemals wird man einem Gefühle eine mehr als subjektive Bedeutung zuschreiben. Kommt also nicht schließlich alles darauf hinaus, daß unser Wissen doch nur ein Glauben ist? Ist der durch Urteilsnotwendigkeit verkündete Wert als fester, Richtung gebender Gegenstand der Erkenntnis besser vor dem Zweifel geschützt, als die Dinge an sich? Stehen wir nicht vielmehr genau auf demselben Punkte, auf dem wir standen, als uns die Existenz transzendenter Dinge problematisch geworden war?

Auf die Beantwortung dieser Frage kommt in der Tat alles an. Wir müssen sie so stellen: ist es möglich, daran zu  zweifeln,  daß das Sollen, welches wir im Urteil anerkennen, eine über den Bewußtseinsinhalt hinausgehende, also eine transzendente Bedeutung hat? Eine Antwort wird sich nur dadurch geben lassen, daß wir untersuchen, ob die Leugnung des Sollens sich durchführen läßt, ohne daß man in Widersprüche kommt.

Wir haben gesehen, daß alle Urteile, welche sich auf ein transzendentes Sein zu beziehen schienen, sich so umwandeln ließen, daß sie lediglich Tatsachen des Bewußtseins aussagten, und nur in dieser Gestalt waren sie unbezweifelbar. Statt: die Sonne scheint, kann ich sagen: ich sehe die Sonne. Dann kommt ein transzendentes Sein in dem Urteil überhaupt nicht in Frage, und weil diese Umwandlung mit allen Urteilen vorgenommen werden kann, so vermag die Leugnung des transzendenten  Seins  niemals zu Widersprüchen zu führen. Wie aber steht es mit dem transzendenten Sollen? Ist es möglich, ein Urteil so umzuwandeln, daß es nicht mehr die Anerkennung dieses Sollens enthält? Offenbar nicht, da wir nachgewiesen haben, daß  jedes  Urteil in der Anerkennung der Urteils notwendigkeit  besteht. Ich mag die Urteile umwandeln, wie ich will, und alle Beziehungen auf eine transzendente Wirklichkeit daraus entfernen, so werde ich doch stets den  Wahrheitswert  als einen von mir unabhängigen Wert anerkennen. Das transzendente Sollen bleibt, so lange ich überhaupt urteile, völlig unangetastet, und es ist daher auch schlechthin unbezweifelbar. Wer es bezweifeln wollte, hat sich nicht klar gemacht, was zweifeln heißt. Zweifeln ist Fragen. Ist dies Urteil wahr, oder ist das entgegengesetzte Urteil wahr? Muß ich ja oder muß ich nein sagen? Gleichviel, ob ja oder nein, nur  eines  von beiden  kann,  aber eines  muß  auch wahr sein. Ohne diese Voraussetzung verliert die Frage und damit der Zweifel seinen Sinn. Man kann immer nur zweifeln. ob so oder so geurteilt werden soll. Am Sollen überhaupt zu zweifeln, führt zum Widerspruch.

Ja, wir können noch etwas mehr behaupten. Es gibt eine große Menge von Urteilen, die sich auch in Bezug auf ihren bestimmten  Inhalt  nicht bezweifeln lassen, die nämlich, welche nichts anderes als Tatsachen des Bewußtseins konstatieren. Mit Absicht haben wir die Beispiele, an denen wir die Natur des Urteilens und des Erkennens erläuterten, so gewählt, daß es sich dabei nur um absolut unbezweifelbare Urteile handelte, um Urteile, in denen der Imperativ für den, der Wahrheit will, ganz unwiderstehlich ist. Da konnten wir feststellen: wenn ich Töne höre, so bin ich genötigt zu urteilen, daß ich Töne höre. Dies ist von entscheidender Bedeutung. An diesem einfachen Urteil nämlich scheitert jeder Positivismus, der die Tatsache und ihre Konstatierung für das einzige und letzte ansieht, was den Menschen kümmert. Er übersieht, daß in jeder "Tatsache" noch ein  Problem  steckt. Ihre Konstatierung ist ein Urteil, jedes Urteil erkennt ein Sollen an, die Urteile, die Tatsachen konstatieren, sind unbezweifelbar, also ist auch die Urteilsnotwendigkeit vor jedem Zweifel geschützt. Insofern die Forderung, als seiend beurteilt zu werden, allen Bewußtseinsinhalten notwendig anhaftet, weisen alle Bewußtseinsinhalte, alle "Tatsachen" über sich hinaus ins Transzendente.

Aber auch  nur  insofern. Es soll hiermit durchaus nicht die Ansicht der Realisten bestätigt werden, nach der ich als erkennendes Subjekt beim Vorstellen mich so bestimmt fühle, daß ich an der Existenz eines mich bestimmenden Dinges nicht zweifeln könne, und sich mir die Notwendigkeit kundtue, etwas vorzustellen. Meine Vorstellungen enthalten nichts von Notwendigkeit, sie sind einfach da und gehen völlig darin auf, Bewußtseinsinhalt zu sein. Notwendigkeit, die über meinen Bewußtseinsinhalt hinausweist, haben nur die Urteile, und in ihnen ist keine Notwendigkeit des Seins, sondern nur die des Sollens, des Wertes, der anerkannt wird, sobald wir urteilen.

Hieraus ergibt sich nun wohl deutlich, daß wir einem Gegenstande der Erkenntnis, der ein durch Urteilsnotwendigkeit verkündetes Sollen ist, prinzipiell anders gegenüberstehen, als einem transzendenten Dinge, dem unsere Vorstellungen zu entsprechen haben. Das Ding ist problematisch, weil jedes Urteil nur in der Form unbezweifelbar ist, in der es über dieses Ding gar nichts mehr aussagt. Das Sollen dagegen ist deshalb vor jedem Zweifel geschützt, weil auch die schlechthin unbezweifelbaren Urteile es implizite anerkennen. Dies kann niemand bestreiten, der zugibt, daß Urteilen nicht bloß Vorstellen, sondern Bejahen oder Verneinen ist.

Wir sind hiermit auf dem voraussetzungslosesten Standpunkt angekommen, den man sich überhaupt zu denken vermag. Wir haben nun dasjenige ausdrücklich entwickelt, was Voraussetzung auch der absolut unbezweifelbaren Urteile ist und daher selbst nicht gut bezweifelt werden kann.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis - Ein Beitrag zum Problem der philosophischen Transzendenz, Freiburg i. B. 1892
    Anmerkungen

    1) Vergl. EDUARD von HARTMANN, Das Grundproblem der Erkenntnistheorie, Seite 57ff
    2) Die Scheidung dürfte auch für die Psychologie von Bedeutung sein, insbesondere für die Frage nach den "unbewußten" psychischen Vorgängen. Wenn nämlich die psychischen Vorgänge als Bewußtseinsinhalte definiert werden, dann ist allerdings das unbewußte Psychische ein Widerspruch. Unter dem oben angeführten Gesichtspunkt dagegen ist es für die Einzelwissenschaften ebensowenig ein Widerspruch wie ein unbewußter Körper.
    3) RIEHL, Kritizismus II, Seite 128
    4) VOLKELT, Erfahrung und Denken, Seite 61f
    5) Der menschliche Weltbegriff
    6) Wir dürfen uns nicht darüber wundern, wenn diese Erkenntnistheorie dort vollkommen scheitert und ein "Welträtsel" konstatiert, wo sie erklären soll, wie ein Objekt es anfängt, in einem andern Objekte ein Abbild von sich als Inhalt eines Bewußtseins hervorzubringen.
    7) Beiträge zur Logik
    8) Über Real- und Beziehungs-Urteile. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie XVI, 3., Seite 253ff
    9) Unter psychologischen Gesichtspunkten hat vor allem FRANZ BRENTANO in seiner "Psychologie vom empirischen Standpunkt", Seite 266ff jedenfalls das eine gezeigt, daß urteilen  nicht  vorstellen ist.
    10) Übrigens bereits vor BRENTANO in der ersten Aufl. seiner "Logik", I, Seite 119f
    11) SIGWART, Logik I, zweite Aufl. Seite 154
    12) System der Philosophie, I, Logik, zweite Aufl. Seite 61
    13) Allgemeine Logik I, Reine Logik, Seite 46, vgl. auch: Die Grundprobleme der Logik, Seite 11f
    14) Präludien Seite 29ff und: Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil (in den Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, Seite 169ff)
    15) Auch RIEHL hat neuerdings diese Ansicht vertreten in seinen Beiträgen zur Logik, Seite 15f "Sie (d. h. die Aussage) erweist sich jenen geistigen Akten verwandt, die wir mit dem allgemeinen Namen der  Beurteilung  bezeichnen". "Der eigentliche Akt des Urteilens tritt zu der Vorstellung, über die ergeht, hinzu."
    16) Die Impersonalien, Seite 59
    17) Logik, Seite 61
    18) Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil, Seite 185 ff
    19) Vergl. MÜNSTERBERG, Beiträge zur experimentellen Psychologie, Heft 30, Seite 30, 111f u. a.
    20) Einleitung in die Geisteswissenschaften
    21) Vergl. WUNDT, Logik I, Seite 53ff und 135ff