tb-1K. B.-R. AarsW. OstwaldG. SchillingE. CassirerB. Schmid     
 
HEINRICH RICKERT
Die Philosophie des Lebens
- Darstellung und Kritik der
philosophischen Modeströmungen unserer Zeit -

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    VorwortEinleitung
I. Das Leben als Modebegriff
II. Die modernen Lebensphilosophen
III. Die Prinzipienlosigkeit der intuitiven Lebensphilosophie
IV. Lebensform und Lebensinhalt
V. Das biologistische Prinzip
VI. Älterer und neuerer Biologismus
VII. Kritik des biologistischen Realitätsprinzips
VIII. Kritik des biologistischen Wertprinzips
IX. Der Kampf gegen das System
X. Leben und Kultur
XI. Das Recht der Lebensphilosophie

"Leben als bloßes Leben bleibt unter philosophischen Gesichtspunkten ein Chaos."

"Zumal die Naturwissenschaft arbeitet nicht nach Maß und sie kann es nicht. Da es zu ihrem Wesen gehört, daß sie  allgemeine  Begriffe bildet, in deren Inhalt das Einmalige, Besondere, Individuelle fortfällt, führt sie uns an die immer neue und überall originelle, unvergleichbare Realität nirgends heran."



Elftes Kapitel
Das Recht der Lebensphilosophie

  "Wie herrlich leuchtet mir die Natur!"
       - Mailied -

"Ach, und nun machtest du wieder dein Auge auf,
oh geliebtes Leben! Und ins Unergründliche schien
ich mir wieder zu sinken."

       - Also sang Zarathustra -

Ist die Lebensphilosophie unserer Zeit ohne jede positive Bedeutung für die Wissenschaft? Das braucht man nicht zu glauben, selbst wenn man alle hier gegen sie erhobenen Einwände für zutreffend hält. Um auch ihre andere Seite zu würdigen, bringen wir sie zunächst in einen umfassenderen Zusammenhang, d. h. begreifen sie als besonderen Fall eines allgemeinen philosophischen Typus. Ein Schema für den Ablauf geistiger Bewegungen sei zu diesem Zweck angedeutet.

Die wissenschaftliche Arbeit der Philosophie verliert ihren Sinn, falls es nicht möglich ist, aus dem Chaos der Erlebnisse theoretisch einen Kosmos herauszuarbeiten und das setzt voraus: unabhängig von unserer Setzung gilt für die Welt ein System von Urteilen und Begriffen, das wir auffinden können. Der Weg jedoch, der vom Chaos zum Kosmos führt,, ist für uns Menschen nicht der kürzeste. Wir sind geschichtlich bedingte Wesen und nur auf mannigfach verschlungenen Umwegen nähern wir uns allmählich dem Ziel der Wissenschaft, ohne es jemals ganz zu erreichen. Für die Stadien dieses Weges läßt sich hie und da eine Art Rhythmus verfolgen, der ein Auf und Nieder bedeutet. Immer von Neuem wird der Versuch gemacht, das Ganze der Welt begrifflich zu erfassen und immer von Neuem zeigt die Kritik, daß der Versuch unvollständig war, also noch einmal unternommen werden muß. So bauen wir in der Tat Systeme und zerstören sie wieder. Wer die Geschichte der Philosophie philosophisch zu verstehen vermag, kann darin kein sinnloses Spiel erblicken. Die Systematiker lernen von ihren Vorgängern und kommen trotz mancher Umwege weiter. Die Menschheit hat eben Gedächtnis, soweit sie Kulturmenschheit ist. Davon war schon die Rede.

Doch dies verfolgen wir hier nicht weiter. Etwas anderes ist uns wichtig an dem Weg, der zur Wahrheit führt. Außer den schöpferischen Philosophen gibt es Scharen kleiner Geister, die auf der Meister Worte schwören, auch dann, wenn deren Systeme in ihrer Totalität sich nicht mehr halten lassen, weil sie von der Entwicklung bereits überwundene Vorstufen bedeuten. So entsteht ein mit Recht starr zu nennender Dogmenglaube, der etwas völlig anderes ist, als "lebendige" Überzeugung von selbst errungener Weltanschauung. Ihn mag man tot schelten, weil er wissenschaftlich unfruchtbar bleibt. Ja, er schädigt die voranschreitende Philosophie. Indem seine Anhänger gedankenlos wiederholen, was bereits vorliegt, stehen sie der Gewinnung einer umfassenderen Ansicht vom Weltall im Wege.

Dann kommt es leicht zur Auflehnung gegen jedes System überhaupt. Derselbe Verstand, der Systeme schafft, wendet sich nun der Aufgabe zu, sie wieder zu zerstöre, um die Menschen vor veralteten Denkgewohnheiten zu befreien. Man kann diese Richtung als "Aufklärung" bezeichnen und dabei nicht nur eine Bewegung des 18. Jahrhunderts, sondern einen sich öfter wiederholenden Vorgang meinen.

Die Verstandesaufklärung aber ist bisweilen in derselben Gefahr, wie der starre Dogmatismus. Sie hat nicht allein skeptische Tendenzen, sondern sucht nur ihrerseits alles mit dem Verstand, den sie gegen Autorität und Glauben als Waffe braucht, positiv zu beherrschen. So droht sie, in einen neuen "Dogmatismus" umzuschlagen, der nur noch für Verstandesmäßiges Sinn hat.

Das ruft dann leicht eine neue Reaktion hervor, die nicht schon die Form eines neuen Systems anzunehmen braucht. Es sind vielmehr zwei andere Möglichkeiten zu beachten. Gegen die Aufklärung setzt man entweder Mächte des geschichtlichen Lebens, was hier nicht weiter in Betracht kommt. Oder man weist auf das Ursprüngliche, Elementare, Natürliche hin, das jedem Verstand unzugänglich bleibt und damit sind wir zu dem allgemeinen Typus einer geistigen Bewegung gekommen, der für eine Würdigung der Lebensphilosophie unserer Zeit wichtig ist.

Vergegenwärtigen wir uns das Schema einer Abfolge von Scholastik, Verstandesaufklärung und naturalistischer Reaktion gegen sie, das selbstverständlich nur Schema ist und in das lediglich Durchschnittserscheinungen hineinpassen, zunächst noch etwas genauer an den Strömungen des 18. Jahrhunderts.

Zumal in Deutschland suchte damals die Aufklärung nicht allein veraltete Schulmeinungen zu bekämpfen, sondern zugleich alles verstandesmäßig zu regeln und zwr sowohl im Gebiet der Wissenschaft, wo das einen guten Sinn hat, als auch im sittlichen, künstlerischen und religiösen Leben, das andere als verstandesmäßige Seiten zeigt. Man wollte sich über alles "vernünftige Gedanken" machen und was vor der abstrakten Vernunft nicht bestand, besaß nach der Meinung der Aufklärer überhaupt kein Recht. So geriet das irrationale "Leben" in Gefahr. Der Verstand drohte, es zu "töten".

Die Aufklärung hat eine Reihe von geistigen Reaktionen hervorgerufen, bei den Vertretern des Humanitätsideals, der Romantik, der historischen Schule. Von ihnen sehen wir ab. Die erste der geistigen Bewegungen, die sich radikal und erfolgreich gegen die Alleinherrschaft des Verstandes wendete, war der sogenannte Sturm und Drang. Er bedeutete die Auflehnung besonders der unmittelbaren Anschauung und des elementaren Gefühls- und Willenslebens gegen das rationale Denken und das Schlagwort, mit dem man den Kampf führte, lautete: Natur.

Man braucht nur an den jungen GOETHE zu denken, wie er in Straßburg am Münster, an SHAKESPEARE, am deutschen Volkslied, lauter höchst "unverständigen" Erscheinungen, und wie HERDER im Verkehr mit dem "natürlichen" Landkind FRIEDERIKE zum Stürmer und Dränger wurde. Man versteht dann sofort die positive Bedeutung, welche das Ausspielen der anschaulichen und lebendigen "Natur" gegen die abstrakte und tote Verstandeskultur besitzt.

Freilich würde der Sturm und Drang uns wohl in weniger leuchtendem Glanz erscheinen, wenn unter seinen Vertretern nicht der eine GOETHE gewesen wäre, welcher der Aufklärung noch anderes entgegensetzte, als bloße "Natur" im Sinne des Ursprünglichen. GOETHE hat dem Schlagwort eine Bedeutung verliehen, die nicht allein im schroffen Gegensatz zum "systéme de la nature" steht, das ihn abstieß, sondern sich auch nicht mit der des  nur  Elementaren und Unmittelbaren deckt. Aber es ist kein Zweifel, daß die "Rückkehr zur Natur" bei ihm wie bei ROUSSEAU unter anderem  auch  die Berufung auf das Ursprüngliche bedeutet und daß diese Tendenz nicht fortzudenken ist aus den für die Kulturentwicklung entscheidenden Bewegungen.

Das, was er "wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären" konnte, stellte GOETHE als "Natur" in den Vordergrund. Auf das "Charakteristische" kam es ihm an. Was "geschnürt und geziert" oder "kerkermäßig ängstlich" ist, lehnte er ab. Das waren ihm "lästige Fesseln unserer Einbildungskraft". "Ich rufe Natur, Natur. Nichts so Natur als SHAKESPEAREs Menschen", und SHAKESPEAREs Stücke "drehen sich alle um den geheimen Punkt, in dem das Eigentümliche unsere Ich ... mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt". "Indivduum est ineffabile" wird ein Wort, das GOETHE gern zitiert. Die französischen Trauerspiele waren ihm "Parodien von sich selbst". "Wie das so regelmäßig zugeht und daß sie einander ähnlich sind, wie die Schuhe." Auch er wollte also wie BERGSON von Konfektionskleidern nichts wissen.

In solchen und verwandten Begriffen, wie sie des jungen GOETHEs Denken seit Straßburg beherrschen, haben wir das allgemeine Prinzip von Sturm und Drang, das sich von GOETHEs Persönlichkeit und seinem dichterischen Genie ablösen läßt (1).

Die kurzen Andeutungen müssen genügen, um klar zu machen, was hier wichtig ist. Nicht nur in den Zeiten von Sturm und Drang, sondern auch früher schon und später wieder hat man das Elementare und Unmittelbare gegen einseitig verstandesmäßige Weltanschauungen ausgespielt und, um auf unsere Zeit zurückzukommen: was man in Sturm und Drang "Natur" nannte, und was auch jetzt noch oft so heißt, nennt man heute mit Vorliebe "das Leben". Der Ausdruck wurde gelegentlich übrigens schon früher in demselben Sinn gebraucht, z. B. vom jungen HEGEL, den man nicht ohne Grund mit der Lebensphilosophie in Verbindung bringt.

Jedenfalls wird sich von hier aus die positive Bedeutung der modernen Geistesströmungen am besten verstehen lassen, und unter diesem Gesichtspunkt kann man den Einfluß, den sie gewonnen haben, begrüßen. Wo die Philosophie nicht allein glaubt, mit dem Verstand die Welt denken zu müssen, was berechtigt ist, sondern wo sie alles so zu denken sucht, daß sie dabei nicht mehr die Welt, sondern nur noch das Denken denkt oder den Verstand versteht, da sind die Philosophen des Lebens in vollem Recht, wenn sie sagen: die Welt ist unendlich viel mehr als das, was restlos in die Begriffe des Verstandes eingeht.

Zwar wird die Philosophie niemals auf die Herrschaft des Logischen oder Rationalen über die Welt verzichten, d. h. stets versuchen, alles unter Begriffe zu bringen, denn ein anderes Mittel, die Welt zu erkennen, steht ihr nicht zur Verfügung. Aber sie wird sich ebenso von Panlogismus oder Rationalismus hüten, d. h. vor dem Glauben, das Logische oder Rationale sei selber die "Substanz" der Welt, also nicht nur das, womit man die Welt denkt. Wo daher das Streben nach rationaler, wissenschaftlicher Auffassung des Ganzen dazu führt, das All der Welt in eine bloß rationale, bloß wissenschaftliche Welt zu verwandeln, da hat der Hinweis auf das lebendige Leben, das stets irrational und, wenn man will, überverständig ist, in der Tat unantastbare Bedeutung.

Auch darf gewiß nicht bezweifelt werden, daß in unserer Zeit die Aufklärung des 18. Jahrhunderts noch immer nicht "tot" ist, und insofern vermag die Lebensphilosophie uns vielleicht im Prinzip dieselben Dienste zu leisten wie der Sturm und Drang im 18. Jahrhundert, wobei wir selbstverständlich nicht allein von dem jungen GOETHE, sondern auch von den anderen Männern absehen, die innerhalb der Sturm- und Drangbewegung zugleich mehr als Stürmer und Dränger waren.

Mit Nachdruck also heben wir hervor, was schon gelegentlich angedeutet wurde: die Besinnung auf die anschauliche und lebendige Unmittelbarkeit des Lebens oder auf die elementaren Erlebnisse und ein daraus erwachsender Irrationalismus, d. h. die Einsicht in die Grenzen des Verstandeswissens gegenüber der ursprünglich gegebenen, jeder begrifflichen Beherrschung spottenden Fülle und Mannigfaltigkeit ist gewiß nicht überflüssig, sondern kann im Interesse universaler Betrachtung dringend notwendig sein, wo man die Welt mit der Verstandeswelt gleichsetzt. Insofern haben sowohl Denker wie DILTHEY oder SIMMEL als auch Biologisten wie NIETZSCHE oder BERGSON oder JAMES, selbst wenn wir von ihrer allgemeinen Kulturbedeutung absehen, große Verdienste für die wissenschaftliche Philosophie. Ihre Kritik mancher angeblich naturwissenschaftlicher, in Wahrheit rationalistisch-metaphysischer Dogmen, an denen viele noch mit Zähigkeit festhalten, war eine befreiende Tat. Sie hat unseren Horizont erweitert. Die Welt, die uns Probleme stellt, ist dadurch größer geworden. Neues Material tritt zutage, das der Rationalismus nicht sah, ja verdeckte.

Mit dem biologistischen Prinzip hat das freilich wenig zu tun. Hier kommt mehr die intuitive Richtung in Betracht. Aber besonders NIETZSCHE und BERGSON sollten ja dadurch, daß wir sie Biologisten nannten, nicht in ihrer Totalität charakterisiert werden. Der Intuitionismus ist in ihnen mindestens ebenso stark. Die Kritik ihres Biologismus berührt daher ihre mit der Sturm- und Drangbewegung vergleichbare positive Bedeutung nicht. Ihre Gedanken stellen gegenüber dem einseitigen Rationalismus, der noch von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zehrt, einen großen Fortschritt in universaler, also philosophischer Richtung dar.

BERGSON ist allen denen zu empfehlen, die "monistisch" zu philosophieren glauben, wenn sie sich, wie einst das  systéme de la nature,  an einem Komplex physikalischer Begriffe orientieren und damit das Weltall zu erfassen suchen, gleichviel ob sie dabei NEWTON oder EINSTEIN zugrunde legen. So klein und arm, wie sie meinen, ist die Welt nicht. BERGSON hat ihre andere, der Berechnung zugängliche Seite gesehen.

Auch dazu kann dieser Denker beitragen, alle Versuche endgültig zu überwinden, die darauf ausgehen, den Menschen und das Menschliche so niedrig einzuschätzen wie möglich. Vergleichen wir seine Metaphysik mit der älteren Richtung des Biologismus, bei der alles auf berechenbare Nützlichkeit, Denkökonomie, Energieersparnis, Massenproduktion von Kindern und ähnliche "Weltziele" herauskommt, so steht er sehr hoch. Er sucht nach einer umfassenden, das "Unverständige" einschließenden Weltanschauung. Hier ist Hoffnung, während man dort alle Hoffnung fahren lassen muß.

Bei ihm sind ferner noch Spuren von dem Großen, das das 19. Jahrhundert gebracht hat, besonders von seiner Willenslehre und seinem Entwicklungsgedanken, die es dem Rationalismus und dem Stabilitätsprinzip des 18. Jahrhunderts entgegenstellte. Freilich war der Voluntarismus der deutschen Philosophie mehr an der autonomen Persönlichkeit als am "Instinkt" und ihr Evolutionismus mehr an den Mächten der Geschichte, als am "élan vital" orientiert. besonders für das historische Leben zeigt die Lebensphilosophie BERGSONs auffallend wenig Verständnis, und insofern darf man in dieser Modeströmung mit ihrem sich entwickelnden Lebenswillen nur von Spuren und Resten der klassischen deutschen Philosophie reden. Aber vielleicht geben sie Ansatzpunkte für eine vollere Entfaltung dieser Gedanken, und dann wäre es erfreulich, daß zunächst einmal wenigsten der Voluntarismus und Evolutionismus BERGSONs Mode geworden ist.

Am höchsten jedoch ist BERGSONs erstes Werk über die unmittelbaren Gegebenheiten zu stellen, das schon 1889 herauskam und leider durch längere Zeit so gut wie keine Beachtung fand. Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung sind hier unter eigenartigen Gesichtspunkten überzeugend aufgezeigt. Es wird besonders dargetan, wie wenig die mathematische Physik imstande ist, das zu erfassen, was wir als "Wirklichkeit" bezeichnen müssen. Das wird BERGSONs Hauptverdienst bleiben. Was im unendlichen Raum vorgeht und auf ihn bezogen werden kann, ist nur ein Teil des Weltganzen. Mit der Lebensphilosophie im engeren Sinn, die auf dem biologistischen Prinzip ruht, hat freilich dieses Buch BERGSONs noch so gut wie nichts zu tun, aber der Intuitionismus wird darin in der glücklichsten Weise zur Kritik rationalistischer Dogmen verwendet. Ihre Mission, das Feld frei zu machen für einen umfassenderen Weltbegriff, erfüllt die Lebensphilosophie im Prinzip hier ebenso, wie die Neuentdeckung der anschauichen und lebendigen "Natur" es in den Zeiten von Sturm und Drang getan hat. Sie lehrt das Unberechenbare sehen, das es doch auch gibt. Das ist der positive Sinn des Intuitionismus.

Auch bei NIETZSCHE finden wir tiefe Einblicke in die Ursprünglichkeit des Lebendigen gegenüber dem bloß gedachten Leben. Vor allem hat er wieder mit unvergleichlicher Sprachgewalt die Stimmung zum Ausdruck gebracht, die jeden Denkenden überkommen muß bei der Ohnmacht, die Fülle der lebendigen Welt zu erfassen, und gerade die  außerwissenschaftliche  Sprachgewalt ist hier entscheidend. Das Unbegreifliche, das man heute "Leben" nennt, geht ja in keine theoretische oder wissenschaftliche Wortbdeutung ein und seine Bezeichnung als Leben wäre daher ebenso unzureichend, wie jede andere Namengebung, hätte NIETZSCHE es nicht vermocht, dem Wort Leben einen Sinn zu verleihen, der überwissenschaftlich zum Bewußtsein bringt, worauf es ankommt: die ungeheure atheoretische Wichtigkeit dessen, was sich in keinen Begriff bringen läßt. Man  fühlt  sie bei NIETZSCHE unmittelbar, auch ohne daß man sie logisch versteht. Das ist zwar nicht selbst schon Wissenschaft, aber wissenschaftlich bedeutsam, weil es auf die Grenzen des wissenschaftlichen Denkens hinweist. Deshalb kann jeder, der die Begriffe mit der Wirklichkeit des Lebens verwechselt, auch philosophisch von NIETZSCHE viel lernen.

Daß andere Denker schon vor ihm Ähnliches gedacht haben wie er, ändert an seiner Bedeutung nichts. Der Hinweis auf die "Natur" oder auf das "Leben" ist immer wieder, wie man das Gemeinte auch nennen mag, von Neuem nötig. Was für unsere Generationi und für unsere Ohren verständlich zu sagen war, hat NIETZSCHE schön und eindringlich zum Ausdruck gebracht, und jede Zeit muß in ihrer Weise das finden un in ihrer Sprache das sagen, was ihr not tut (2).

So werden wir es also zwar nach wie vor ablehnen, die Welt und das Leben intuitiv oder gar biologistisch in ihrer Lebendigkeit zu erkennen, denn alle Erkenntnis braucht Begriffe, die unlebendig sind, und die Begriffe der Biologie sind nicht einmal universal. Aber das können wir in der Tat gerade von der Lebensphilosophie lernen, wenn wir sie besser verstehen, als sie sich selbst versteht: wir dürfen nie glauben, in die Begriffe der Philosophie lebendiges Leben selbst eingefangen zu haben, sondern können als Philosophen uns nur die Aufgabe stellen, dem Leben so nahe zu kommen, wie sich das mit dem Wesen des begrifflichen Philosophieren verträgt.

Vor allem wird die Philosophie des Lebens uns jedoch mahnen, auch in der Philosophie das Leben, das sie "töten" muß, nicht zu vergessen. Über das Leben, das wir alle leben, gilt es, zu philosophieren, ja wir werden recht tun, wenn wir es in den Mittelpunkt stellen, um von ihm aus zum Weltganzen vorzudringen. Den lebendigen Menschen in seiner Totalität haben wir zuerst zu verstehen und im Zusammenhang mit ihm dann die Welt, in der er lebt. Besonders darf die Philosophie nicht nur über das Denken denken und als Logizismus dem vollen Leben feindlich werden, wie alle die anderen einseitigen Richtungen, welche Begriffe von Spezialwissenschaften zu Weltallbegriffen erweitern, mögen sie das in Form des Materialismus oder des Psychologismus, des Biologismus oder des Historismus tun.

In diesem Sinn haben also auch wir aus dem vollen Leben heraus zu philosophieren, ja insofern können wir uns sogar auf NIETZSCHEs  Liebe  zum Leben berufen. Seien wir jedem dankbar, der, wie einst Sturm und Drang den Menschen die "Natur", uns jetzt das  Leben  lieben lehrt in seinem Reichtum und in seiner unerschöpflichen Lebendigkeit. Wohl uns, denen nicht nur wie dem jungen GOETHE die Natur herrlich leuchtet, sondern die auch mit dem alten GOETHE, trotz aller schweren Erlebnisse, sagen können: "Wie es auch sei, das Leben, es ist gut." Zu solcher Haltung dem Leben gegenüber mag heute NIETZSCHE uns verhelfen, falls wir der Hilfe dazu bedürfen.

Freilich ist seine Liebe zum Leben noch keine Philosophie, ja als leidenschaftliche Parteinahme steht sie im Gegensatz zur Wissenschaft. Als Lebensstimmung jedoch kann sie trotzdem auch auf die Entwicklung einer echten Lebensphilosophie günstig wirken, wo sie nicht dazu führt, das Denken zu verachten. Liebevoll wollen wir auch beim Denken und Philosophieren dem Leben ins Auge schauen, nach dem "Gold" suchen, das darin blinkt, um darüber zur Klarheit zu kommen und es soweit zu bewahren, wie sich das mit dem Denken irgend vereinigen läßt.

In dieser Hinsicht können wir ganz mit der Zeitströmung, ja mit der Mode gehen, die unter NIETZSCHEs Einfluß steht. Daß der lebendige Mensch das Leben liebt, aus dem seine Freuden und Schmerzen stammen, ist nur in der Ordnung und daß er nach einer Philosophie strebt, die ihm Wesen und Sinn des Lebens erschließt, soweit das Denken das vermag, dagegen läßt sich vollends nicht das Geringste einwenden. Jede wahrhaft umfassende Philosophie muß Philosophie des uns alle umfassenden Lebens sein. Was wir nicht irgendwie "leben", darüber können wir auch nicht denken und über alles Leben haben wir in der Philosophie zu denken.

Nur das ist andererseits ebenso immer wieder zu betonen und festzuhalten, damit die Lebensstimmung uns nicht auf die Irrwege des Intuitionismus und des Biologismus führt: die Kluft zwischen Denken und Leben läßt sich nie überbrücken. Falls daher im Kampf des Lebens mit dem Denken das Leben siegt, unterliegt zugleich die Philosophie. Leben als bloßes Leben bleibt unter philosophischen Gesichtspunkten ein Chaos. Ja, je lebendiger, d. h. je vitaler es lebt, um so chaotischer muß es den Denker anmuten, falls er es wirklich in seiner Lebendigkeit erlebt. Wer das nicht "erlebt" hat, steht dem Leben noch sehr fern. Freilich, auch das mag richtig sein, was ZARATHUSTRA sagt: Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Aber das Chaos ist noch nicht der tanzende Stern. Der muß aus ihm erst geboren werden und ohne begriffliche Beherrschung des Lebenschaos durch das Denken kommen wir zu keinem Stern, geschweige denn zu einem Kosmos, zu einer Welt von Sternen, die diesen Namen verdient.

Das zeigt einerseits gewiß, wie recht die haben, welche auf den Reichtum des Lebens hinweisen, auf seine unerschöpfliche Mannigfaltigkeit, die in jeder wachen Minute uns umgibt oder in uns emporwächst und die man so oft über den Begriffen der Wissenschaft vergißt. Es zeigt aber andererseits nicht minder deutlich, daß der theoretische Mensch die konkrete lebendige Fülle des Wirklichen niemals erfassen wird, wenn er irgendwie Wissenschaft treibt. Nur die  eine  Seite zu sehen, ist der Fehler des Rationalismus und Intellektualismus. Der Antirationalismus und Anti-Intellektualismus der modernen Lebensphilosophie ist nicht minder einseitig in der entgegengesetzten Richtung. Man darf aus dem Umstand, daß die Produkte des Denkes arm erscheinen, sobald man sie mit dem Leben selbst vergleicht, keine Anklage gegen die Wissenschaft machen. Man sollte vielmehr zu verstehen suchen, worin trotz der Unlebendigkeit seines Inhalts die unvergleichliche positive Bedeutung des wissenschaftlichen Begriffes besteht. Vielleicht versteht man, daß gerade in seiner Grenze seine Größe liegt, sobald man sich von dem Modevorurteil befreit hat, daß  alles  lebendig sein soll.

So bleibt der positive theoretische Wert der Lebensphilosophie für den wissenschaftlichen Menschen in der Hauptsache doch darauf beschränkt, daß sie ihm neues  Material  zur begrifflichen Bearbeitung zum Bewußtsein bringt und den Philosophen mahnt, nicht zu schnell mit dem Leben "fertig" zu werden. Doch auch das darf man wahrlich nicht unterschätzen. Besonders kann die Lebensphilosophie uns zeigen, wie das Leben in seiner Unmittelbarkeit überall ein Gepräge trägt, das unwiederholbar und einzigartig, also unersetzlich ist. Gerade darüber täuschen die Begriffs- und Wortnetze, mit denen wir in der Wissenschaft die Individualität und Besonderheit des Realen überspinnen  müssen,  leicht hinweg. BERGSONs Wort von den Konfektionskleidern besteht in dieser Hinsicht ebenso zu Recht, wie GOETHEs Sturm und Drang-Klage über die einander ähnlichen Schuhe. Zumal die Naturwissenschaft arbeitet nicht nach Maß und sie kann es nicht. Da es zu ihrem Wesen gehört, daß sie  allgemeine  Begriffe bildet, in deren Inhalt das Einmalige, Besondere, Individuelle fortfällt, führt sie uns an die immer neue und überall originelle, unvergleichbare Realität nirgends heran.

Auffallend ist, wie schon gesagt, daß BERGSON, der Wissenschaft und Naturwissenschaft nach französischem Sprachgebrauch (science) identifiziert, kein Verständnis für die geschichtlichen Disziplinen zu haben scheint, die doch auch zur Wissenschaft gehören, trotzdem jedoch das Leben nicht generalisierend auffassen, sondern es in seiner unwiederholbaren Einmaligkeit verfolgen und damit dem Lebendigen als dem Individuellen zum mindesten näher kommen als die verallgemeinernde Begriffsbildung der Naturwissenschaften. Dafür haben in dieser Hinsicht andere Lebensphilosophen wie NIETSCHE, DILTHEY und SIMMEL um so tiefer gesehen und das alte Problem vom Verhältnis des Allgemeinen zum Besondern in ein interessantes Licht gebracht. Ihnen werden wir zumal überall dort zustimmen, wo sie für die Unersetzlichkeit der Persönlichkeit oder der Einzelseele und ihr "individuelles Gesetz" eintreten, ebenso wie dort, wo sie die Anschaulichkeit, Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit der Erlebnisinhalte betonen. Beides finden wir schon bei GOETHE in Sturm und Drang vereint, und beides fließt hier aus derselben Quelle des lebendigen Lebens, die keine Philosophie vergessen darf, selbst wenn sie eingesehen hat, daß es nicht ihre Aufgabe sein kann, die lebendige Ströme selber in ihre Begriffe aufzufangen. Sie muß genau auch über das Bescheid wissen, was sie  nicht  vermag. So allein kommt sie zu einer wahrhaft umfassenden Weltanschauung.

Im Anschluß hieran ließen sich noch manche Punkte nennen, in denen wir ebenfalls mit der Lebensphilosophie der Zeit zu gehen haben. Mit Recht tritt sie ein für die fortschreitende Entwicklung des lebendigen Lebens gegenüber dem konservativen Prinzip der Stabilität, welches das mathematisch-physikalische Denken kennzeichnet, für das rastlose Werden und das schöpferische Aufblühen gegenüber dem starren Sein und dem unfruchtbaren Beharren, für die Einsicht, daß das Wesen der wirklichen Welt Bewegung und Anderswerden, nicht Ruhe und Gleichbleiben ist. Ebenso legt sie im Unterschied von der Vorstellungspsychologie mit guten Gründen Gewicht auf den Willen und die Tat, die zu jedem lebendigen Leben gehören, da dieses nicht nur passiv aufnehmen und dulden will, sondern sich überall, wo es wahrhaft lebendig ist, formend und gestaltend der Welt entgegenstellt. Kurz, um Schlagworte zu nennen, Evolutionismus, Voluntarismus und Aktivismus haben ihr Recht gegenüber Statik, Intellektualismus und Rezeptivität und überall handelt es sich darum, daß dabei Zeugen des lebendigen Lebens zu Wort kommen. Das bleibt bestehen, wenn es auch nicht weniger gewiß daneben Unwandelbares, Unvergängliches, Ewiges gibt, das die Philosophie ebenfalls nicht vernachlässigen darf.

Weitere Einzelheiten zu nennen, ist nicht mehr nötig, denn das allgemeine Prinzip, worauf die positive Bedeutung besonders der  intuitiven  Lebensphilosophie beruth, muß schon jetzt zutage treten. Sie löst zwar keine Probleme, aber sie stellt das Denken vor neue Aufgaben und das will schon viel sagen.

Freilich, Vorsicht bleibt den Modeströmungen gegenüber immer am Platz. Es fehlt ihnen an prinzipieller Klarheit gerade über das Wichtigste, das sie in sich tragen und deshalb werden sie leicht dazu neigen, ihr Bestes allzu einseitig in den Vordergrund zu stellen. So hat man von einem "neuen Idealismus" gesprochen, der an die Stellen von "Vernunft, Humanität, Gesetz", die den Idealismus von 1800 kennzeichneten, "Leben, Liebe, Kraft" setzen wolle und als seine Vertreter neben STEFAN GEORGE, DILTHEY und BERGSON auch den Verfasser dieses Buches und seine Schüler genannt. (3) Dagegen sind denn doch Bedenken zu erheben, besonders falls es so gemeint wäre, als schlössen die beiden Arten des Idealismus einander aus. Sagt doch ein klassischer Vertreter des alten Idealismus, FICHTE im Jahre 1800 in seiner Bestimmung des Menschen: "Die tote, lastende Masse, die nur den Raum ausstopfte, ist verschwunden und an ihrer Stelle fließet und woget und rauschet der ewige Strom vom Leben und Kraft und Tat, vom ursprünglichen Leben."

Da wir haben Leben und Kraft (ja zugleich BERGSON in nuce) auch bei einem "alten" Idealisten und die Liebe fehlt bei FICHTE ebenfalls nicht. Schon das sollte uns hindern, an einen Gegensatz des Neuen zum Alten in dieser Hinsicht zu glauben und außerdem dürften wir Vernunft, Humanität und Gesetz selbst dann nicht preisgeben, wenn wir sie für unvereinbar mit dem Leben, der Liebe und der Kraft hielten. In Wahrheit lassen sich beide Richtungen in der Philosophie wohl miteinander verbinden. Genauer, es ist überhaupt nicht Aufgabe der Wissenschaft, für dies oder jenes atheoretische Ideal einzutreten. Sie wird zur Klarheit über  alle  Lebensziele zu kommen suchen und dann jede Einseitigkeit des entweder-oder, das verarmt, vermeiden zugunsten einer Allseitigkeit der Synthese, die reich macht.

Das führt jedoch zugleich noch zu einem letzten Punkt, mit Rücksicht auf den die Lebensphilosophie unserer Zeit auch  positive  Bedeutung besitzt. Ideale gibt es allein auf Grund der Setzung von  Werten  und man braucht nur an NIETZSCHE zu denken, so sieht man sofort: die philosophischen Strömungen unserer Zeit haben nicht bloß den Begriff des Lebens, sondern auch den des Wertes in den Vordergrund des Interesses gebracht. Beides hängt eng miteinander zusammen. Lebendiges Leben wird immer zugleich wertendes Leben sein. Daher führt das Lebensproblem notwendig zum Wertproblem und damit zu der Frage der Philosophie, die als die wichtigste von allen in unserer Zeit gestellten gelten kann. Auch deswegen, daß sie die Aufmerksamkeit auf die Wertprobleme gelenkt hat, müssen wir die Tendenzen der philosophischen Mode begrüßen.

Freilich ist hier wieder vor einer Überspannung zu warnen. Eine "Umwertung aller Werte", wie NIETZSCHE sie anstrebte, kann nicht die Aufgabe der Wissenschaft sein. Noch mehr: lassen sich Werte als Werte überhaupt umwerten? Menschliche Wertungen und Stellungnahmen  zu  Werten, die nicht mit den Werten selbst verwechselt werden sollten, sind zu beeinflußen. Man mag also bewirken, daß der eine Wert an die Stelle des anderen tritt und gewertet wird. Die Werte selber werden dabei nicht "umgewertet". Die bleiben, was sie sind. Werte als Werte können sich nicht ändern. Nur unsere Stellungnahme zu ihnen ist dem Wandel unterworfen. Es fehlt bei NIETZSCHE ein klarer Wertbegriff. Doch auch, wenn wir hiervon absehen, hat die Philosophie als Wissenschaft wie überall so auch den Werten gegenüber sich nicht praktisch wertend zu verhalten, sondern ihren Gegenstand rein theoretisch zu erfassen und deswegen fällt das "Umwerten", falls man davon überhaupt reden will, nicht in ihr Gebiet.

Andererseits ist nicht zu leugnen: die Werte gehören als Werte genau so gut zur "Welt", wie das wertfreie Wirkliche und sie sind daher von der Philosophie als der universalen Wissenschaft auch zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Es bedeutet ein durch nichts gerechtfertigtes Vorurteil, daß der theoretische Mensch sich auf die Erforschung dessen zu beschränken habe, was wirklich ist. Werte sind als Werte nicht wirklich und lassen sich trotzdem nicht weniger theoretisch auffassen wie die wertfreie Realität. Ja, gerade wenn man betont, daß die Philosophie als Wissenschaft nicht zu werten, sondern zu erkennen habe, muß es als eine notwendige Aufgabe erscheinen, daß sie auch erkennt, wie weit das Gebiet der Werte sich in der Welt erstreckt. Nur dann wird sie das Werten der Werte in ihrer Sphäre mit Sicherheit vermeiden, falls sie genau weiß, wo sie es mit Werten zu tun hat und welcher Art diese Werte sind.

Mit Rücksicht auf diese Probleme ist die Philosophie, die außerhalb der Zeitströmungen liegt, besonders die akademische, heute von einer auffallenden Zaghaftigkeit. Dem Wertproblem geht sie fast ängstlich aus dem Weg oder genauer: sie behandelt es nur implizite und nennt es nicht beim Namen, was zu mancherlei Unklarheiten führt. Da könnten viele von der Modephilosophie lernen.

Beispiele machen das deutlich. LOTZE wollte die Welt nicht nur "berechnen", sondern "verstehen". Vom Verstehen spricht man auch heute viel und stellt es dem Beschreiben wie dem Erklären entgegen. Was aber heißt verstehen, wenn das Wort seine prägnante Bedeutung behalten soll und sich vom Berechnen oder Erklären oder Beschreiben prinzipiell unterscheiden? Bloß Wirkliches bleibt stets unverständlich. Verstehen kann man nur den "Sinn" oder die "Bedeutung" einer Sache und Sinn und Bedeutung hat etwas allein mit Rücksicht auf einen Wert. Das in jeder Hinsicht wertfreie Sein ist zugleich sinn- oder bedeutungsfrei. Wo man daher "verstehen" will, darf man die Werte nicht ignorieren. Sonst weiß man nicht,  was  man versteht.

Auch vom "Gelten" ist seit LOTZE in der Philosophie die Rede, ja der Ausdruck ist fast schon Mode geworden. Die Beschäftigung mit Werten hält man trotzdem für "unwissenschaftlich". Als ob etwas anderes als ein Wert gelten könnte! Was heißt denn gelten, wenn das Wort nicht eine Wertbedeutung hat? Das bloß Seiende gilt nie, ebenso wie es unverständlich ist. Man sagt zwar: eine Tatsache gilt. Aber das ist ungenau. Nicht die Tatsache, sondern der  Satz,  daß etwas Tatsache ist, gilt, und er gilt nur insofern, als einen  wahren Sinn  hat. Wahrheit aber ist ihrem Wesen nach ein Wert. Sie wendet sich an unser Interesse. Wir nehmen wertend zu ihr Stellung. Es ist unbegreiflich, daß man das leugnet. (4) In dieser Hinsicht besitzt sogar die biologistische Erkenntnistheorie des Pragmatismus ein Verdienst. Zwar geht sie in die Irre, wenn sie glaubt, den theoretischen Wert auf den "Nutzen" oder irgend ein anderes atheoretisches Gut zurückführen zu können. Darin liegt eine grobe Verwechslung von zwei grundverschiedenen Wertbegriffen. Doch das behauptet sie mit vollem Recht, daß die Wahrheit ihrem Wesen nach werthaft ist und daß auch der erkennende Mensch als wertendes Subjekt verstanden werden muß.

Das Wahrheitsproblem wird als Wirklichkeitsproblem sich nie lösen lassen. Die Einsicht ist freilich nicht gerade neu. Sie sollte, zumal seit KANT, niemandem mehr verborgen geblieben sein. Auch die moderne Lebensphilosophie aber hat sie in wirksamer Weise von neuem zum Ausdruck gebracht und damit viele darauf hingewiesen, daß der theoretische Forscher als wertendes Wesen in eine Reihe zu stellen ist mit dem sittlichen, dem künstlerischen und dem religiösen Menschen. Nicht so liegt es, daß der atheoretische Mensch allein wertet und der erkennende wertfrei bleibt, sondern beide werten und lediglich die Arten der Werte, die sie leiten und dementsprechend die Arten des Wertens sind prinzipiell voneinander verschieden.

Daß diese richtige Einsicht in der Modephilosophie vermischt mit unhaltbaren Bestandteilen auftritt, ändert an ihrer Bedeutung nicht allzu viel. Sie wird sich leicht davon befreien lassen und dann in ihrer Tragweite für den Aufbau einer wissenschaftlich begründeten Welt- und Lebensanschauung zutage kommen. Erst dadurch, daß wir auch das wissenschaftlich lebende Subjekt als die Wahrheit wertend und dementsprechen seine Erkenntnis als theoretisches Gut verstehen, an dem der Wert der Wahrheit haftet, ist es möglich, das menschliche Leben sowohl in seiner  Mannigfaltigkeit  als auch in seiner  Einheit  zu erfassen. Die Erkenntnis, die bei KANT sich als Lehre vom "Primat der menschlichen Vernunft" anbahnt, findet sich, obwohl zum Teil in recht verzerrter Gestalt, bei Denkern wie NIETZSCHE und BERGSON, DILTHEY und JAMES wieder und ihre Gedanken können daher ebenfalls wenigstens zu wichtigen Ansatzpunkten für eine fruchtbare Weiterentwicklung der Philosophie werden. Es kommt nur darauf an, daß wir den theoretischen Wert der Wahrheit, nachdem er als Wert erkannt ist, in seiner Eigenart kennzeichnen und dann die wissenschaftliche "Welt" in der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Ausgestaltungen als die Welt der theoretischen Sinn- und Wertgebilde ausdrücklich ins Bewußtsein heben. So allein wird man ihre Bedeutung im Ganzen des Lebens zu würdigen in der Lage sein.

Die Einsicht in das Wesen der Wahrheit als eines Wertes ist in mehrfacher Hinsicht gerade für die Philosophie des  Lebens  von Wichtigkeit. Hier sei besonders darauf hingewiesen, daß sie uns einen Fingerzeig gibt, wo wir das  Andere  des Lebens zu suchen haben, von dem schon wiederholt die Rede war. Wer über das Leben philosophiert, kann gerade als rein Erkennender nicht daran zweifeln, daß die Wahrheit über das Leben als Wert unabhängig vom Leben gilt, denn sonst wäre sie keine Wahrheit, die sich erkennen ließe und wenn er das eingesehen hat, muß er sie zugleich grundsätzlich dem wertenden Leben, das in der Zeit verläuft,  entgegenstellen.  Es gibt keine Philosophie des Lebens, die nicht Wahrheit  über  das Leben als gültig voraussetzt und nach ihr sucht und diese Wahrheit über das Leben läßt sich nur als etwas verstehen, das  mehr  als Leben ist. So wird in den geltenden Lebenswahrheiten ein Anderes des Lebens in seiner Selbständigkeit über jeden Zweifel gestellt.

Gerade der Philosoph des Lebens kann an diesem Anderen nicht rütteln, ohne sein eigenes Philosophieren damit für sinnlos zu erklären. Gestaltet sich also die Lebensphilosophie zur Wertlehre aus und versteht sie das Wesen der zeitlosen theoretischen Wertgeltung, so muß sie damit zugleich das Prinzip der reinen Lebensimmanenz durchbrechen. Das ist der philosophisch bedeutsame Punkt in der Verbindung des Lebensproblems mit dem Wertproblem. So gewiß die Lebensphilosophie Wertphilosophie ist, so gewiß kann sie als Philosophie des theoretischen Wahrheitswertes nicht Philosopie des bloßen Lebens sein.

Doch wird sie bei dem theoretischen Wert allein nicht stehen bleiben, sondern zu einer Theorie  aller  Werte sich erweitern und auf dieser Basis ist dann eine umfassende Philosophe alles Lebens zu gewinnen. Haben wir uns nämlich am theoretischen Wertgebiet theoretisch orientiert, dann können wir an ihm die anderen Werte in ihrer atheoretischen Bedeutung theoretisch würdigen.

Der Philosoph ist als theoretischer Mensch auch wertend, aber lediglich theoretisch. Er hat daher die atheoretischen Werte  nicht  zu werten, sondern theoretisch zu verstehen. Jedes Wertprophetentum muß er meiden und überall den Schritt zum Wertverständnis machen. Diese Trennung wird leider in der Lebens- und Wertphilosophie unserer Tage fast niemals durchgeführt. Insofern können wir bei der Mode nicht stehen bleiben. Beschränken wir uns jedoch auf theoretisches Verständnis der Werte und bilden es so aus, daß es allseitig wird, dann kommen wir gerade dadurch zu einer allseitigen Lebensanschauung.

Vom Begriff des Wertes aus wird sich auch der vieldeutige Begriff des Lebens so bestimmen lassen, daß sein  philosophisches  Problem zutage tritt. Lebendig in dem von der Lebensphilosophie wohl fast immer gemeinten, wenn auch nicht klar erkannten Sinne können wir die Lebewesen nennen, deren Leben zugleich wertendes Leben ist und der "lebendige" Mensch, dessen Lebenssinn die Philosophie deuten will, wird für sie stets der  wertende  Mensch sein. Versteht man aber unter dem Leben alles wertende Leben, dann eröffnet sich die Möglichkeit, aufgrund eines allseitigen Wertverständnisses auch zu einer umfassenden Philosophie des Lebens zu kommen.

Jedenfalls wollen wir den Sinn des Lebens deuten, so müssen wir die Werte kennen, die ihm zugrunde liegen. So hängen die Begriffe des Lebens und des Wertes nicht nur im Problem der theoretischen Wahrheit über das Leben, sondern ganz allgemein bei  allen  Lebensproblemen notwendig zusammen und auch in dieser Hinsicht können wir an die Lebensphilosophie der Zeit anknüpfen, die beide vereint in den Vordergrund stellt.

Über die Ausgestaltung einer richtig verstandenen Lebens- und Wertphilosophie sind hier nur flüchtige Andeutungen möglich. Zunächst wird sie die einseitigen Lebensanschauungen, wie sie sich innerhalb und außerhalb der Wissenschaft entwickeln, zu  verstehen  suchen, d. h. nach den Wertungen fragen, die ihnen zugrunde liegen und zu diesem Zweck muß sie die Werte kennen, die die Wertungen leiten. Ist das gelungen, dann läßt sich als letztes Ziel eine  allseitige  Lebensanschauung aufstellen, in welcher die Gesamtheit der Werte gleichmäßig zum Bewußtsein kommt.

Auch hier müssen wir uns nur wieder vor der Überspannung hüten, daß Philosophieren zugleich Leben sein soll. Die Philosophie bleibt  Theorie  des Lebens und wenn der Philosoph über das wertende Leben nachdenkt, kann er nicht selber das Ganze dieses Lebens in sich realisieren wollen. Er muß sich vielmehr darauf beschränken, als Philosoph lediglich theoretisch wertend zu leben. Aber als Theoretiker  alles  wertenden Lebens vermag er sich zugleich die höchsten Ziele zu stecken, die er als Vertreter der universalen Wissenschaft anzustreben hat und damit wenigstens ungefähr deutlich wird, was wir damit meinen, sei noch einmal ausdrücklich auf die vier verschiedenen Kennzeichen hingewiesen, welche die Philosophie von den Spezialwissenschaften unterscheidet.

Wir sahen, daß eine Philosophie des bloßen Lebens den Anforderungen, die an eine universale Wissenschaft zu stellen sind, in keiner Hinsicht zu genügen vermag. Verbindet sich dagegen die Lebensphilosophie mit einer Wertlehre und hört damit auf, Philosophie des bloßen Lebens zu sein, dann entstehen andere Möglichkeiten und auch das wolen wir zum Schluß noch ausdrücklich für jeden der vier angedeuteten Punkte gesondert hervorheben.

Am schwersten zu verstehen wird es sein, wie eine auf die Wertlehre gestützte Philosophie des Lebens zugleich das  Ganze  der Welt zu ihrem Gegenstand macht, also zur umfassenden  Weltanschauung  wird. Es ist dabei jedoch zu berücksichtigen, daß die Wirklichkeit heute in allen ihren Teilen von Einzelwissenschaften als Material der Forschung beansprucht wird und daß die Philosophie daher keine Teilprobleme der realen Welt mehr in Angriff zu nehmen hat. Die Erkenntnis der Wirklichkeitstotalität ist für sie eine Aufgabe an der die Einzelwissenschaften in ihrer Gesamthit dauernd zu arbeiten haben. Die kann sie nicht mit einem Schlage zu Ende führen wollen. Das wäre ein sinnloses Unternehmen. Universale Wirklichkeitserkenntnis kann sie nur in dem Sinne noch anstreben, daß sie über die letzten  Ziele  alles Wirklichkeitserkennens Klarheit zu schaffen sucht.

Zu diesem Zweck muß sie das Erkennen der Wirklichkeitstotalität als ein Werten des theoretischen Wertes verstehen, der an dem Inbegriff der Wirklichkeitserkenntnisse haftet, wenn man aus ihnen ein Ganzes macht. So verwandeln sich die universalen  Seinsprobleme in theoretische  Wertfragen. Damit erfaß die theoretische Philosophie in ihrer Weise den Begriff des Wirklichkeitsganzen als  Erkenntnisaufgabe  und sie tut es als Wissenschaft von den theoretischen Werten auf dem einzigen Wege, der nach der Aufteilung des Realen an die Spezialwissenschaften ihr noch bleibt, falls sie dabei nicht mit diesen in Konflikt kommen will. Die Erkenntnis des Wirklichen in allen seinen Teilen muß sie den Einzelforschern überlassen und universal wird sie allein dadurch, daß sie diese Erkenntnis in ihrem theoretischen Sinn und in ihren letzten umfassendsten Zielen als ein einheitliches Ganzes zu deuten unternimmt. Sie versteht dadurch, wie im theoretischen Leben des Menschen die Erkenntnis der Wirklichkeit als eine stets zu erstrebende und nie ganz zu erreichende Totalität sich darstellt und sie begreift damit das Wirklichkeitsganze selbst, soweit die Wissenschaft es als Ganzes überhaupt zu erfassen vermag.

Wie sie andere Wertprobleme in Angriff nimmt, haben wir gesehen, und daher ist in bezug auf den zweiten Punkt, der die  Lebensanschauung  betrifft, nur noch ausdrücklich ihr  universaler  Charakter zu betonen. Sie wird sich nicht auf das theoretische Leben beschränken, sondern das wertende Leben des  ganzen  Menschen nach allen seinen verschiedenen Richtungen sich zum Bewußtsein zu bringen suchen, das weit über das Erkennen hinausgeht. Überall sind es Werte, die dem Leben sinnvolle "Lebendigkeit" verleihen und es damit zu etwas anderm als zum bloßen Leben oder zum Vegetieren machen. Um der Werte willen, die in ihm zum Ausdruck kommen, lieben wir das Leben als Ganzes, ja es ist nicht einzusehen, wie wir es lieben sollten, wenn es keine Werte verkörperte. So gibt die Philosophie als Wertlehre uns ein Wissen von unserer Lebensanschauung, indem sie uns über die Gesamtheit der Werte aufklärt, um derentwillen uns das Leben lieb ist. Mehr als eine solche theoretische Klarheit kann sie uns als Wissenschaft nicht geben und mehr darf man daher von ihr auch nicht verlangen.

Den dritten Punkt, der die Frage nach dem Verhältnis des  Zeitlichen  zum  Zeitlosen  betrifft, haben wir ebenfalls schon gestreift. Die Werte, die gelten, sind nicht nur das Andere des Lebens, insofern sie das Leben zu mehr als bloßem Leben machen, sondern sie liegen als Werte in ihrer Geltung zugleich über aller Zeit. Für die theoretischen Werte läßt sich die zeitlose Geltung nicht bezweifeln und schon damit ist das allgemeine Prinzip klar.

Wie es mit der Zeitlosigkeit der atheoretischen Werte steht, ist hier im einzelnen nicht zu fragen. Da liegen die schwierigsten Probleme einer Theorie der Werte, die Theorie bleiben will. Bei einer Bestimmung des allgemeinsten Begriffes einer Lebensphilosophie kommt es aber darauf nicht an. Es genügt, wenn wir verstehen, daß allein auf Grund einer Wertlehre die Lebensphilosophie überhaupt in der Lage ist, das  Problem  vom Verhältnis des zeitlichen zum ewigen Leben in Angriff zu nehmen. Zeitlich ist alles Leben, so weit es nur lebt. Ewig wird es, insofern es in dem lebt, was als Wert zeitlos gilt. So eist das Ewigkeitsproblem als Wertproblem zu stellen. Dann zeigt sich zugleich, wie die "Starrheit" der zeitlosen Geltung sich mit der "Beweglichkeit" des lebendigen zeitlichen Lebens verträgt. Das Eine, das zeitlose Gelten, schließt das Andere, das zeitliche Leben, nicht nur nicht aus, sondern im  sinnvollen  Leben ist beides miteinander verbunden und nur die philosophische Reflektion muß darin trennen, um zu begreifen.

Was endlich die Frage des  Systems  der Philosophie betrifft, so bedarf sie keiner längeren Erörterung mehr. Überall bilden die Werte die Basis der richtig verstandenen Lebensphilosophie und deren systematische Gliederung hängt daher von der systematischen Ordnung der Werte ab. Ein System der Philosophie des Lebens läßt sich daher nur auf Grund eines  Systems der Werte  errichten.

Wie die Systematik zustande kommt und in welchem Sinne sie vollständig sein kann, haben wir hier nicht zu fragen. Es gilt überall nur, zu zeigen, wo in den Modeströmungen der Zeit die  Ansatzpunkte  liegen, an welche die Philosophie anknüpfen kann, um sich zu einer Philosophie des Lebens auszugestalten, die in Wahrheit  Philosophie  des Lebens ist. Mehr als solche Ansatzpunkte freilich kann die Zeit uns nicht geben. So lange wir uns auf sie beschränken, bleiben wir bei der Zeitanschauung stehen. Es gilt, über sie hinaus, durch die "Lebensanschauung" hindurch, zur umfassenden "Weltanschauung" zu kommen. Wie das in einzelnen möglich ist, überschreitet vollends den Rahmen dieser Erörterung.

Sollte es jedoch gelingen, aus der Lebens- und Wertphilosophie unserer Tage eine umfassende  Philosophie des wertenden Lebens  herauszuarbeiten, zu dem das Erkennen ebenso gehört, wie die anderen Arten der Kontemplation und das private Leben ebenso, wie das in Gesellschaft und Staat, dann muß klar werden, inwiefern die Modeströmungen trotz ihrer Prinzipienlosigkeit mit Freuden zu begrüßen sind. Zunächst haben sie uns jedenfalls die Fragwürdigkeit des Lebens und der Werte gezeigt und das bedeutet für die Philosophie schon sehr viel.

Theorie freilich und nur Theorie, als "grau", wird auch die umfassendste Philosophie des Lebens bleiben und sich insofern immer vom goldenen Baum des grünen, vitalen Lebens unterscheiden. Doch sogar falls man das beklagt, kann man es nicht ändern wollen, sobald man die Notwendigkeit erkannt hat. Und man sollte es nicht beklagen. Gerade wer das Leben liebt, muß als Philosoph lernen, daß Erkennen und Leben zu trennen sind. Je besser er nämlich sich so in seinem Wesen selbst versteht, um so weniger ist er der Gefahr ausgesetzt, als Theoretiker des Lebens dem Leben feindlich zu werden. Nur dort, wo man dem Denken über das Leben die nie zu lösende Aufgabe stellt, das lebendige Leben in sich aufzunehmen und dadurch selbst lebendiges Leben zu werden, wird man aus der Enttäuschung darüber, daß dies nicht gelingt, die Philosophie als lebensfeindlich anklagen.

Man sollte es endlich aufgeben, im Philosophieren über das Leben ein bloßes Wiederholen des Lebens zu sehen und dann den Wert des Philosophierens an seiner Lebendigkeit zu messen. Philosophieren heißt Schaffen und die Einsicht in den Abstand des Geschaffenen vom bloß gelebten Leben, zu welcher auch die Lebensphilosophie unserer Tage, trotz ihrer unwissenschaftlichen Lebensprophetie und der sich aus ihr ergebenden antitheoretischen Verschiebung des Wertakzents, in ihrer Weise viel beigetragen hat, muß dann sowohl dem Leben, als auch der Philosophie zum Segen gereichen. Nur wer verstanden hat, daß das Leben des Lebens und das Erkennen des Lebens auseinanderfallen, kann ein Philosoph des Lebens werden, der sowohl das Leben liebt, als auch über das Leben nachdenkt.

Warum muß, wie in ZARATHUSTRAs Tanzlied, das Leben auf die Weisheit "eifersüchtig" sein? Nie wird das Leben weise und nie wird die Weisheit lebendig werden. Gerade deshalb aber, weil sie stets in verschiedenen Sphären bleiben, sollten sie sich gut miteinander vertragen können. Auch zur "Lebensweisheit" wollen wir sie nicht zu vereinigen suchen, denn an "Weisheit" glauben wir moderne Menschen doch nicht mehr. Jedenfalls ist Weisheit etwas, das sich nicht lernen und daher auch wohl nicht lehren läßt. Wir beschränken uns auf ein lern- und lehrbares  Wissen  vom Leben und gerade wenn wir dieses Wissen in seiner notwendigen "Unlebendigkeit" verstanden haben, werden wir in dem heute so verdächtigen sokratischen Menschen keine Gefahr für das lebendige Leben sehen. Von den echten Nachfolgern des SOKRATES gilt das Wort, das schon HÖLDERLIN von SOKRATES sprach:
    "Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste."
Sollte man meinen, dies sei im Grunde auch die Ansicht NIETZSCHEs und der anderen Lebensphilosophen - um so besser. Nur sind sie von den Vielen nicht immer so verstanden worden und deshalb mußte dieses kleine Buch über die philosophischen Modeströmungen unserer Zeit geschrieben werden. Daß es nur von weitverbreiteten Gedanken, nicht von einzelnen Denkerpersönlichkeiten handeln wollte, sei noch einmal hervorgehoben.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens - Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920
    Anmerkungen
    1) Wer weitere Einzelheiten wünscht, ist auf das Werk: Der junge Goethe, Neue Ausgabe in sechs Bänden, besorgt von MAX MORRIS, 1909-1912, zu verweisen. Es gibt vielleicht kein "moderneres" Buch. Von GOETHEs Dichtungen habe ich im Text abgesehen. Auch sie, besonders der Urfaust, sind selbstverständlich voll von Sturm- und Drangzeichen. Man wird in ihnen Prägungen für fast alles finden, was damals und heute Weltanschauung weiter Kreise war und ist. Doch enthalten sie zugleich so unendlich viel mehr, als theoretisch formulierbare Weltanschauung, daß das allgemeine  Prinzip  hier schwerer in seiner Abstraktheit erkennbar ist und deshalb empfiehlt es sich, zuerst an Kundgebungen GOETHEs zu denken, in denen er selber sich theoretisch äußert. Es kommt hier nicht auf Anschauung, sondern auf Gedanken über Anschauung an.
    2) Auf das unreife Gerede derer, die, ohne gründliche Kenntnisse zu besitzen, NIETZSCHE in eine Reihe mit Denkern wie PLATON, ARISTOTELES, PLOTIN, AUGUSTIN, DESCARTES, SPINOZA, LEIBNIZ, KANT, HEGEL stellen, gehe ich nicht ein. Man tut NIETZSCHE Unrecht, wenn man ihn mit diesen Männern vergleicht. Mit Kulturerscheinungen wie ROUSSEAU mag man ihn zusammenstellen, obwohl auch da Vorsicht am Platz ist. NIETZSCHEs Bedeutung für die allgemeine Kultur kann man noch nicht übersehen. Ist er ein "europäisches Ereignis?" Darüber haben wir kein Urteil. Zweifellos gehört er zu den geistreichsten Schriftstellern, die Deutschland besitzt. Dessen wollen wir uns freuen. Aber zu den "großen Philosophen"? Wer würde es  wagen,  PLATON oder KANT geistreich zu nennen? Eine persönliche Bemerkung sei mir gestattet. Ich habe als junger Student im Sommer 1886 die drei ersten Teile des Zarathustra mit glühender Begeisterung gelesen, zu einer Zeit, da NIETZSCHE völlig unbekannt war und von da ab jede Zeile von ihm, die mir zugänglich wurde. Oft habe ich früher hören müssen, daß ich ihn überschätze, und noch jetzt greife ich immer wieder nach seinen Werken. Aber für "einen großen Philosophen" werde ich ihn erst halten, wenn man mir zeigt, daß er einem der  zeitlosen  Probleme der Philosophie, die seit PLATON das europäische Denken beherrschen, eine wesentlich neue Seite abgewonnen hat und ein solcher Versuch ist bisher nicht gemacht. Ja, NIETZSCHE bleibt in einigen fundamentalen Fragen weit hinter dem zurück, was wissenschaftlich längst klar gestellt war, als er zu philosophieren begann.
    3) GERTRUD BÄUMER, Weit hinter den Schützengräben, Aufsätze aus dem Weltkrieg, 1916
    4) Eine ausführliche Begründung dieser Ansicht habe ich in meinem Buch über den "Gegenstand der Erkenntnis" zu geben versucht. Dritte Auflage 1915. Das ist die philosophische Pointe dieser "Einführung in die Transzendentalphilosophie". Den ersten Band eines Systems der Philosophie, das auf dieser erkenntnistheoretischen Basis errichtet ist, hoffe ich in absehbarer Zeit veröffentlichen zu können. Hier muß ich mich auf Andeutungen beschränken, die nur auf den Zusammenhang hinweisen sollen, den die Kritik der Zeitphilosophie mit der positiven Ausgestaltung einer Philosophie des Lebens hat.