tb-1K. B.-R. AarsW. OstwaldG. SchillingE. CassirerB. Schmid     
 
HEINRICH RICKERT
Die Philosophie des Lebens
- Darstellung und Kritik der
philosophischen Modeströmungen unserer Zeit -

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    VorwortEinleitung
I. Das Leben als Modebegriff
II. Die modernen Lebensphilosophen
III. Die Prinzipienlosigkeit der intuitiven Lebensphilosophie
IV. Lebensform und Lebensinhalt
V. Das biologistische Prinzip
VI. Älterer und neuerer Biologismus
VII. Kritik des biologistischen Realitätsprinzips
VIII. Kritik des biologistischen Wertprinzips
IX. Der Kampf gegen das System
X. Leben und Kultur
XI. Das Recht der Lebensphilosophie

"Es genügt für die reine Betrachtung, zumal wenn sie wie in der Philosophie universal sein soll, nicht, daß man ein unübersehbares Material überhaupt  irgendwie  ordnet, sondern man muß als theoretischer Mensch die eine Ordnung für richtiger als die andere halten, und diese Überzeugung setzt voraus, daß es schließlich  eine  und  nur  eine Ordnung gibt, die uns zwar unbekannt sein mag, aber doch die wahre Ordnung ist, der sich allmählich anzunähern, das Ziel aller wissenschaftlichen Ordnungen bildet."

"Die Weltanschauungen von 'Müller und Schulze', die mit oder ohne Fühlung mit der wissenschaftlichen Philosophie sich aus persönlichen Erfahrungen bilden, kann man allenfalls wie Naturprodukte behandeln, welche mit ihren Trägern wachsen und wieder zugrunde gehen, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen und andere Weltanschauungen zu beeinflußen."

"Die biologistische Erkenntnistheorie bedeutet im Prinzip einen Rückfall in Barbarei. Sie ist auf theoretischem Gebiet die spezifisch-kulturfeindliche Richtung."



Neuntes Kapitel
Der Kampf gegen das System

  "Natürlichem genügt das Weltall kaum,
was künstlich ist, verlangt geschlossnen Raum."

        - Homunkulus -

Um noch einmal alles zusammen zu fassen, denken wir wieder an die verschiedenen Momente, die das Wesen der Philosophie im Unterschied von den Spezialwissenschaften kennzeichnen, und fragen, ob in einem der genannten vier Punkte die moderne Lebensauffassung ihren Anspruch, Philosophie zu sein, rechtfertigt.

Der  universalen  Tendenz des philosophischen Denkens wird sie nie gelingen. Sie bleibt entweder bei dem zwar umfassenden, aber nichtssagenden Begriff des Erlebnisses, oder sie beschränkt sich auf einen Teil der Welt, den sie nicht so zu denken vermag, daß er sich and die Stelle des Weltalls setzen läßt. Von einer sowohl begrifflich bestimmten, als auch wahrhaft umfassenden Weltanschauung kann also selbst dann keine Rede sein, wenn Welt nur das Weltobjekt heißt. Ferner erweist sie sich unfähig, die  Wertprobleme in Angriff zu nehmen und auf Grund einer Wertlehre den Sinn des menschlichen Lebens zu deuten. Lebensanschauung im engeren Sinn gibt sie demnach ebenfalls nicht. Ja, sie verkennt die Eigenart und den Eigenwert zumal der Kulturwerte, indem sie alle in Lebenswerte auflöst. Vollends kann sie nicht daran denken, das Problem des Verhältnisses von  Zeit  und  Ewigkeit  auch nur zu stellen, geschweige denn zu lösen. Es gibt hier für sie kein Problem. Sie haftet ihrem Wesen nach am endlichen, zeitlichen Sein, und das mit universalem Denken unverträglich. So zeigt diese angeblich philosophische Bewegung in jeder Hinsicht einen unphilosophischen Charakter.

Es bleibt nur der vierte Punkt noch zu erörtern, den wir hervorhoben: die Tendenz, jedes  System  als starr und unlebendig abzulehnen. Von ihr wird die Lebensphilosophie unserer Zeit durch die Darlegung, daß sie die philosophischen Hauptprobleme zu lösen unfähig ist, nicht abzubringen sein. Im Gegenteil! Gerade dem Hinweis auf ihre Prinzipienlosigkeit und der Forderung nach einem festen Fundament von zusammenhängenden Begriffen wird sie vielmehr den Satz entgegenstellen, es dürfe von ihr, weil sie lebendige Philosophie sein wolle, ein starres System nicht erwartet werden, und dann kann sie weiter gehen und behaupten: deswegen sei sie auch nicht verpflichtet, philosophische Probleme im alten, üblichen Sinne zu stellen oder zu lösen. Sie sei eben die  neue  Philosophie, lebendig wie das Leben selbst, und daher abhold jedem starren Prinzip und jeder versteinernden Festlegung.

So wehren sich in der Tat die Lebensphilosophen oft: die gegen sie gerichtete Kritik bedeute eine petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp]. Sie gehe mit Unrecht von den Voraussetzungen aus, welche ein intuitives und lebendiges Denken nicht anerkenne.

Damit scheint sich noch einmal die Frage zu erheben, ob die Lebensphilosophie nicht doch vielleicht im Recht ist, und zwar spitzt sich jetzt alles darauf zu, ob die Philosophie, um wahrhaft philosophisch zu sein, die Form des Systems braucht, in welches das Weltall eingeht, oder ob sie ohne System auskommt. Will man kein System des philosophischen Denkens, dann kann man sich vielleicht auch mit der intuitiven oder der biologistischen Behandlung der Probleme als einer philosophischen zufrieden geben.

Gewiß kann man das. Wer vermag zu bestimmen, was Philosophie sein soll? Man kann jede beliebige Kundgebung der Liebe zum Leben "Philosophie" nennen und dann ein System der Lebensphilosophie als unlebendig von sich weisen.

Aber ist dann nicht zugleich jedes  universale  Denken abzulehnen, und zwar sowohl mit Rücksicht auf das Weltobjekt, als auch mit Rücksicht auf den Menschen und seine Stellung zur Welt? Für uns ergab sich die Notwendigkeit des Systems aus dem philosophischen Universalismus. Wenn mit dem System auch der Universalismus fällt, was bleibt dann von der Philosophie noch übrig?

Die Frage ist umso wichtiger, als zweifellos der Kampf gegen das System der modernen Lebensphilosophie viele Anhänger verschafft hat. Manchem ist das systematische Denken in hohem Grade unsympathisch, und es lassen sich dagegen die verschiedensten Motive geltend machen. Wir sind daher genötigt, auch die Stellung der modernen Lebensbewegung zum philosophischen System grundsätzlich zu erörtern. Damit erst ist ihre Kritik zum Abschluß zu bringen.

Um jedem Mißverständnis vorzubeugen, sei zunächst bemerkt, daß der Kampf gegen das System unwiderleglich wird, sobald man ihn von einem außerwissenschaftlichen Standpunkt führt. Wir vertreten keinen einseitigen Intellektualismus, d. h. wir sind weit davon entfernt, den Menschen herabzusetzen, der die Welt überhaupt nicht in ihrer Totalität wissenschaftlich denken will. Bekämpft jemand also das System, wie z. B. KIERKEGAARD die Philosophie HEGELs um der "Existenz" des Denkers oder um seiner unsterblichen Seele willen, so läßt sich dagegen mit logischen Gründen nichts machen. Dann wertet er religiös, und dem Theoretiker bleibt nichts übrig, als diese Wertung aus den ihr zugrunde liegenden religiösen Werten zu verstehen, Eine Widerlegung wird sinnlos. Auch wenn die Liebe zur Schönheit den Kampf gegen das unanschauliche System leitet, ist er unanfechtbar. Bedenklicher wird es schon, wenn NIETZSCHE den Willen zum System als Mangel an Rechtschaffenheit bezeichnet. Gegen solche enge moralfanatische Intoleranz wird der wissenschaftliche Mensch sich wehren dürfen. Aber auch das mag hingehen.

Ja, sogar wo um des lebendigen Lebens willen das System bekämpft wird, kann man dafür Verständnis haben. Man wird dann zwar vom theoretischen Standpunkt darauf hinweisen dürfen, daß die Liebe zum Leben um des bloßen Lebens willen, d. h. die Liebe zum Vegetieren, etwas sinnloses ist, weil nur Werte, die mehr als Lebenswerte sind, dem Leben Wert verleihen, und daß der Prophet des bloßen Lebens sich selbst nicht versteht, falls er glaubt, das Leben um des Lebens willen über alles zu stellen. Doch man kann schon das Einnehmen eines theoretischen Standpunktes als petitio principii bezeichnen, und so lange der Kampf gegen das System keine wissenschaftlichen Gründe ins Feld führt, bleibt er stets unwiderleglich. Nur soll der Mensch, der ihn führt und das für "Philosophie" hält, auch wissen, daß er damit auf dem Boden einer theoretisch nie zu begründenden Weltanschauung steht.

Im übrigen hat diese Art der Antisystematik für die Wissenschaft kein Interesse. Die Philosophie wendet sich an theoretische Menschen und kann sie allein überzeugen wollen.

Zugleich ergibt sich daraus, daß die Situation sich prinzipiell ändert, sobald der Kampf gegen das System sich auf theoretische Gründe stützt. Diesen Fall haben wir allein im Auge. Nur er ist für die Frage nach der Möglichkeit der Lebensphilosophie von Bedeutung. Einen solchen Kampf aber führt der Biologismus in der Tat. Er muß ihn führen, denn wenn ihm schon der Begriff als einzelner Begriff um seiner Starrheit willen verwerflich erscheint, so wird er sich vollends gegen ein System von Begriffen, die in festen Verhältnissen zu einander stehen, als gegen etwas im höchsten Maße Starres und Unlebendiges wehren.

Wir wollen das Recht hierzu nun nicht im Anschluß an einen der Lebensphilosophen besprechen, bei dem es zweifelhaft ist, ob er mit seinen Gedanken nur Wissenschaft geben will. Wir wollen es aber auch nicht nur im allgemeinen, sondern an einem besonderen Fall erörtern und wir wählen zu diesem Zweck als Beispiel ein Werk, das gar nicht beabsichtigt, Lebensphilosophie zu lehren, sich vielmehr auf einen rein theoretischen oder betrachtenden Standpunkt stellt, um alle Philosophie im alten Sinne, die sich mit Weltanschauungsproblemen beschäftigt, als "prophetisch" abzulehnen (1). Dabei wird sich der Einfluß der philosophischen Modeströmungen besonders deutlich zeigen, und weil der Kampf gegen das System hier von einem, der Absicht nach, rein theoretisch Denkenden geführt wird, kann man sich theoretisch am besten mit ihm auseinandersetzen. Wir halten uns an Gedanken, denen, der Absicht nach, unsere petitio principii zugrunde liegt.

In seiner "Psychologie der Weltanschauungen" verwirft JASPERS jedes starre System und glaubt, gerade dadurch der rein betrachtenden Wissenschaft zu dienen. Daß der Forscher nicht ohne Begriffe auskommt, weiß er genau. Ja, es geht sogar nicht ohne Begriffssystematik. Die bloße Aufzählung führt ins Endlose. Wir brauchen Schemata der Auffassung. Aber wir werden, um der Mannigfaltigkeit des Stoffes gerecht zu werden, möglichst viele Gesichtspunkte suchen und uns hüten, alles unter dasselbe Schema zu bringen. Damit ist nicht etwa nur der Anfang der Untersuchung gemeint, wogegen nichts zu sagen wäre, sondern bei dem Wechsel der Schemata soll es in der Wissenschaft bleiben. Jede Systematik wird etwas anderes deutlicher zeigen: jede hat irgendwie recht und unrecht, sobald sie sich für die allein berechtigte ausgibt.

So wird die Systematik dem System entgegengestellt. Systematik ist unentbehrlich, das System aber ist zu bekämpfen. Es besteht die Aufgabe, immerfort systematisch zu sein und doch zu versuchen, kein System zur Herrschaft kommen zu lassen. Es besteht die Tendenz, mit der Systematik wieder das System zu vernichten, Man sucht die Gesichtspunkte lebendig und beweglich zu machen und das Bewußtsein zu wecken, daß es auch anders geht. Jede Vollendung muß Verdacht erwecken. Starrheit darf nicht an die Stelle der Beweglichkeit treten.

Das ist der Standpunkt der modernen Lebensphilosophie. NIETZSCHE würde unbedingt zustimmen, wohl auch JAMES und manche andere Lebensphilosophen. Hier aber tritt der Kampf gegen das System als Ergebnis reiner Betrachtung auf.

Ist das ein theoretischer Standpunkt? Ist das reine Betrachtung? Warum in aller Welt soll denn alles lebendig sein? Warum ist Beweglichkeit mehr wert als Starrheit? Der Lebensprophet  mag das für selbstverständlich halten. Dem Forscher, der nur  betrachten  will, steht solche Parteinahme nicht an. Ja, widerspricht sie nicht seinem Wesen? Aus der Scheu vor Festlegung kann gewiß unter Umständen auch der "Gewissenhafte des Geistes", also der theoretische Mensch reden. Aber darf diese Gewissenhaftigkeit bis zur Ablehnung  jedes  Systems gehen, ohne daß damit zugleich die Möglichkeit einer reinen Theorie aufgehoben und die Gewissenhaftigkeit im theoretischen Interesse sinnlos wird?

Es genügt für die reine Betrachtung, zumal wenn sie wie in der Philosophie universal sein soll, nicht, daß man ein unübersehbares Material überhaupt  irgendwie  ordnet, sondern man muß als theoretischer Mensch die eine Ordnung für richtiger als die andere halten, und diese Überzeugung setzt voraus, daß es schließlich  eine  und  nur  eine Ordnung gibt, die uns zwar unbekannt sein mag, aber doch die wahre Ordnung ist, der sich allmählich anzunähern, das Ziel aller wissenschaftlichen Ordnungen bildet. Der Gegensatz zwischen Systematik und System ist undurchführbar. Die Systematik muß im Dienst der Systembildung stehen. Ohne diese Voraussetzung verliert sie wie die reine Betrachtung überhaupt jeden theoretischen Sinn.

Insbesondere wer von einer "Vergewaltigung" der Lebensinhalte durch das System redet, kann das nur vom Standpunkt einer außerwissenschaftlichen Weltanschauung, d. h. zugunsten irgendwelcher atheoretischen Werte und Güter tun. In den Mund des rein betrachtenden Menschen gehört das Wort nicht. Wer theoretische Vergewaltigung des Lebens für möglich hält, für den gibt es eine vom erkennenden Subjekt unabhängige, nach anderen, als theoretischen Gesichtspunkten geordnete Welt, die er sich nicht durch die Wissenschaft zerstören lassen will. Für den theoretischen Menschen, der sich von allen außerwissenschaftlichen Wertungen freihält, ist die Welt beim Beginn seiner Untersuchung, also unabhängig von jeder Auffassung, noch gar keine "Welt" im Sinne eines Kosmos, eines geordneten Ganzen, sondern ein Chaos, dessen Wiedergabe faktisch unmöglich und, wie wir gesehen haben, im theoretischen Interesse auch nie anzustreben ist, weil sie keine Erkenntnisbedeutung besäße, selbst wenn wir sie vollziehen könnten. Erst durch Formen des logischen oder rationalen Denkens bringen wir unsere Anschauungen in die theoretische Sphäre. Nicht das Chaos oder das "Gewühl", das uns auffassungslos gegeben ist, sondern nur ein Kosmos, d. h. ein Geformtes oder Geordnetes, also etwas vom Standpunkte des Chaos schon Vergewaltigtes, kann durch die theoretische Auffassung vergewaltigt werden, und diese angebliche Vergewaltigung durch das System bedeutet lediglich die theoretisch notwendige Ersetzung der außerwissenschaftlichen Formung der Welt durch die Wissenschaft, die Umwandlung einer ästhetischen oder ethischen oder religiösen oder "lebendigen" Welt in den theoretisch begriffenen und geformten Kosmos.

Solcher Umwandlung hat der betrachtende Mensch, der nur forschen will, sich freiwillig zu beugen. Das heterogene Kontinuum des bloßen Erlebnisstroms, dem die moderne Lebensphilosophie sich anvertrauen möchte, verdient keine Schonung. Es ist für den wissenschaftlichen Philosophen nur etwas, das überwunden werden soll, damit ein theoretisch geordnetes Reich von Begriffen, d. h. ein System der Philosophie entsteht. So müssen wir bei der Forderung, die wir im ersten Kapitel an die universal denkende Philosophie gestellt haben, aus theoretischen Gründen stehen bleiben. Sie hat die Welt in ihrer Totalität als Kosmos zu erfassen, und nur durch das System kommt sie vom theoretischen Chaos zum theoretisch begriffenefn Kosmos. Der aber bildet das unvermeidliche Ziel jeder universalen Wissenschaft. So ist gerade mit der reinen Betrachtung der "Wille zum System" notwendig verknüpft.

Wohl kann auch aus theoretischen Motiven Abneigung gegen eine gewisse  Art  von Systemen entstehen. Der Philosoph wird sich vor jeder voreiligen Festlegung hüten, weil er darin Gefahren für die Vollständigkeit seines Denkens fürchtet. Doch bedeutet das nur die Bekämpfung eines unzureichenden Systems zugunsten eines möglichst umfassenden und vollständigen, und daher hat die Vorsicht gegenüber einem Gedankengebilde, daß sich zu früh abschließt, mit dem Kampf gegen das System überhaupt nicht das Geringste gemein. Es bleibt vielmehr unentbehrliche Voraussetzung jedes rein wissenschaftlich philosophischen Denkens, daß irgend ein geordnetes Ganzes von Begriffen und Urteilen unbedingt gilt für den Inbegriff der Lebensinhalte, den wir als Welt wissenschaftlich bearbeiten, und dazu kommt ferner die Voraussetzung, daß wir als theoretische Menschen auch imstande sind, den Gehalt dieses Ganzen von Begriffen und Urteilen oder das System immer mehr zu erfassen und in sinnvollen Sätzen niederzulegen. Gibt es für uns einen solchen Weg vom Chaos der bloßen Lebensinhalte zum Kosmos der im System geformten Lebensinhalte nicht, so verliert die wissenschaftliche Tätigkeit des Philosophen jeden theoretischen Eigenwert. Sie ist dann nur noch als Mittel zur Realisierung außerwissenschaftlicher Ziele zu verstehen, also entweder in den Dienst der Lebenserhaltung oder irgend eines anderen atheoretischen Zweckes zu stellen. Der Glaube darain aber bedeutet eine antitheoretische Weltanschauung, die mit dem Ideal einer rein betrachtenden Philosophie sich nicht verträgt.

So ist mit dem Willen zum theoretischen Verhalten gegenüber der Welt eine Überzeugung notwendig verknüpft, die sich gegen das Ideal der All-Lebendigkeit richtet. Der nur betrachtende Forscher muß die Form des Systems, das unabhängig von ihm gilt, als etwas Festes oder Starres denken im Gegensatz zum kontinuierlichen Fluß und zur Beweglichkeit der Lebensinhalte. Auch deshalb kann er nicht so für das Bewegliche Partei nehmen, daß er  alles  Starre um seiner Starrheit willen bekämpft. Damit kommen wir zu demselben Ergebnis, zu dem uns schon die Kritik SIMMELs geführt hatte. Nur ist es jetzt über den einzelnen Begriff oder die einzelne Form hinaus auf das System von Begriffen oder Formen erweitert.

Doch der Biologismus wird seine Waffen noch immer nicht strecken, sondern den Willen zum System, der das notwendige a priori jedes theoretischen Nachdenkens heraus zu erklären suchen und ihn damit zugleich ablehnen oder ihm wenigstens nur eine relative Berechtigung zusprechen, die gegenüber der absoluten Berechtigung des Lebensstandpunktes zurückzutreten habe. Auch diese biologistische Theorie wird von JASPERS vertreten, der von NIETZSCHE und ebenso von KIERKEGAARD nur betrachtende Psychologie zu entnehmen glaubt, mit seinem Kampf gegen das System aber völlig unter dem Einfluß von NIETZSCHEs biologistisch orientierter Weltanschauung steht. Da sie bei ihm als reine Theorie auftritt, können wir an der Hand seiner Gedanken schließlich auch zu ihr kritisch Stellung nehmen.

JASPERS sucht die Weltanschauungen als "Geistestypen" unter verschiedene Klassen zu bringen. Er fragt, wo der Mensch seinen "Halt" habe, und dabei ergeben sich drei Möglichkeiten. Entweder fehlt es an jedem Halt, dann entsteht der Typus des Skeptizismus und Nihilismus. Oder der Mensch hat einen Halt, dann findet er ihn entweder im Begrenzten oder im Unendlichen. Das Unendliche, das ist das "Lebendige". Der Halt im Begrenzten, das ist das starre System, und das nennt JASPERS echt biologistisch das "Gehäuse". Er sieht in ihm die Form, die das Leben zwar hervorbringen muß, von der es sich aber wieder zu befreien hat.

Die psychologische Betrachtung weiß, daß wir nur in Gehäusen leben können. Es bleibt dem Menschen nichts anderes übrig, als Systeme zu bilden. "Wie der Stengel der Pflanze, um leben zu können, einer gewissen gerüstbildenden Verholzung bedarf, so bedarf das Leben des Rationalen." Dann jedoch erfahren wir: "wie aber die Verholzung schließlich dem Stengel das Leben nimmt, und (ihn) zum bloßen Apparat macht, so hat das Rationale die Tendenz, die Seele zu verholzen."

Da haben wir die biologistische Ableitung für die Notwendigkeit des philosophischen Systems in reinster Gestalt und zugleich die Herabsetzung der Systeme zu toten Schalen oder Häuten, die wieder abgeworfen werden müssen. Die Schlange, die sich nicht häuten kann, geht zugrunde, sagt NIETZSCHE. Bisweilen erfolgt die Sprengung des Gehäuses nach JASPERS plötzlich. In einem Moment fliegt der Schmetterling aus der Puppe. In anderen Fällen wird die Puppe durchlöchert, der Weg gesehen, aber ruhig gewartet, bis das positive Leben von selbst und ohne Gewaltsamkeit die allerletzten Reste des früheren Gehäuses verschwinden läßt.

Das Prinzip dieser Deutung des Systems der Philosophie, auf Grund deren jedes System aus theoretischen Motiven abgelehnt wird, erinnert an den Gedanken von SIMMEL, der uns beschäftigt hat. Das Leben schafft immer von neuem Formen, um sie wieder zu zerstören. Aber SIMMEL weiß, daß er damit Metaphysik treibt. Bei JASPERS tragen diese Lehren ein biologistisches Gepräge, und insofern kommen sie hier von neuem in Betracht. Die Systeme werden zu verstehen gesucht auf Grund ihrer biologischen Funktionen. Das ist das Prinzip des biologistischen Pragmatismus und erinnert an JAMES. Systeme stellen sich dementsprechend als eine  Not  des  Lebens  dar, aus der unter keinen Umständenm eine Tugen des "lebendigen" Menschen gemacht werden darf. Man kann sie leider nicht entbehren, aber jedes ist wieder abzuwerfen, damit es einem neuen Platz macht. So will es die Lebendigkeit des Lebens, und der Standpunkt des Lebens erweist sich jedem Standpunkt eines Systems als übergeordnet. Das scheint die theoretische Rechtfertigung der antisystematischen Lebensphilosophie durch das biologistische Prinzip.

Wieder müssen wir fragen: ist das ein wissenschaftlicher Standpunkt? Der Forscher, der den Eigenwert wahrer Gedanken voraussetzt und nur dadurch zum theoretischen Forscher wird, daß er es tut, wird die biologistische Erklärung, für die das System Schale oder Muschel oder Schlangenhaut ist, nie mitmachen können. Zunächst muß er sich vor der darin liegenden Verwechslung hüten, die geschaffene  Kulturerzeugnisse, deren Bedeutung gerade in ihrer Festigkeit und Dauer besteht, mit abgestorbenen  Naturprodukten gleichsetzt, die wieder abzuwerfen sind. Der Mensch, der Weltanschauung hat und über sie zur wissenschaftlichen Klarheit zu kommen sucht, ist ein soziales und geschichtliches Wesen. Die Menschheit hat für ihre Weltanschauungen "Gedächtnis", und ein Teil dieses Gedächtnisses ist die wissenschaftliche Philosophie. Der Kulturmensch lebt nicht wie das einzelne, bloß "natürliche" Lebewesen, dem das Gehäuse von selbst wächst, und das es wieder abwirft. Er findet eine Weltanschauung als Erbe seiner Väter vor, nimmt sie auf, bleibt entweder bei ihr stehen oder bildet sie um, und wenn die Weltanschauungen sich auch von Generation zu Generation ändern, so werden sie doch dabei zugleich weiter ausgestaltet und jedenfalls in ihrer Totalität niemals so abgeworfen wie eine Schlangenhaut.

Das gilt nicht einmal von den außerwissenschaftlichen Weltanschauungen, und vollends wird die biologistische Erklärung sinnlos gegenüber den Bestrebungen der wissenschaftlichen Philosophie, die darauf ausgeht, über das Ganze der Welt zur theoretischen Klarheit zu kommen. Die Ansichtefn und Überzeugungen der wissenschaftlichen Philosophen von Welt und Leben sind Glieder eines geschichtlichen Zusammenhangs, der sich nahezu kontinuierlich durch zwei und ein halbes Jahrtausend hin erstreckt. Die Weltanschauungen von "Müller und Schulze", die mit oder ohne Fühlung mit der wissenschaftlichen Philosophie sich aus persönlichen Erfahrungen bilden, kann man allenfalls wie Naturprodukte behandeln, welche mit ihren Trägern wachsen und wieder zugrunde gehen, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen und andere Weltanschauungen zu beeinflussen. Von ihnen gibt es auch eine generalisierende Auffassung, die ihre Typen ordnet wie die Naturwissenschaft die Typen der Organismen, und bei der Darstellung solcher Weltanschauungen kann man vielleicht, wenn auch mit Vorsicht, biologische Analogien verwenden. Es mag vorkommen, daß jemand aus Lebensangst sich in ein fremdes System wie in ein Gehäuse verkriecht.

Die Weltanschauungen der großen, selbständigen, geschichtlich bedeutsamen Denker aber, die sie im bewußten Zusammenhang mit der Vergangenheit auf Grund der Lehren ihrer Vorgänger ausgestaltet haben, kann man nur insofern mit Naturprodukten wie Gehäusen vergleichen, als man dabei die unvereinbaren  Gegensätze  zwischen beiden hervorhebt. Der biologistische Naturalismus ist hier wie überall außerstande, Erscheinungen des geschichtlichen Kulturlebens in ihrem Werden und Vergehen zu begreifen. Ist SPINOZAs System ein "Gehäuse"? Hier redet sogar NIETZSCHE von "heiligem Land". Und KANTs Kritiker? Ihnen gegenüber merkt JASPERS selbst, daß seine Theorie nicht stimmen will. Er nennt sie "riesenhafte Fragmente". Wenn dies Wort hier passen soll, wer hat dann überhaupt noch ein System? Wir kommen ins Gebiet reiner Willkür. Die Gehäusetheorie widerlegt sich selbst.

Aber auch abgesehen davon darf man das von einem Denker erdachte Systefm nicht mit einem verknöcherten Gehäuse vergleichen. Auch der Biologist kann das nicht, ohne seine eigenen Theorien damit sinnlos zu machen. Das widerspricht dem "Geist" oder dem Sinn, aus dem heraus ein solches Gebilde entspringt, und muß daher sein inneres Wesen völlig verfehlen. Falls jemand nach Bildern sucht für die Weltanschauung, die er sich zurecht legt, wird er auf das Kulturleben blicken und von einem Haus reden, das er sich baut, um als theoretischer Mensch in ihm zu wohnen, das er braucht, um aus ihm hinauszuschauen auf die Welt, die er betrachten will, und das fest auf Prinzipien ruhen muß, wenn die Stürme des Lebens und der Leidenschaften es umbrausen. Er wird ein Haus bauen wollen, das so lange dauert wie möglich, und an dem die Nachwelt weiterbauen kann. Dazu braucht er Steine, die hart und rechtwinklig behauen sind, d. h. fest bestimmte Begriffe, mit denen er der schwankenden Erscheinung, die die bloße Anschauung bietet, Herr wird. Er kann theoretisch nicht "leben" ohne festes Fundament und sichere Prinzipien.

Wollte er dagegen seine Gedankenarbeit und die Weltanschauung, die er sich schafft, biologistisch als "Verholzung" ansehen, so müßte sie für ihn jeden Sinn verlieren. Nie wird er sich als theoretischer Denker in ein finsteres Gehäuse verkriechen und gegen das lebendige Leben absperren, sondern dafür sorgen, daß sein Haus der Sonne und dem Mond ebenso wie den frischen Winden des Lebens offen steht, und daß es Fenster hat, die ihm den Blick eröffnen über das weite Land. Will der Biologismus ihm einreden, seine rationalen Gedanken denke er nur, um sich eine schützende Schale wachsen zu lassen, dann lacht er ihn fröhlich aus. Die aus spezialwissenschaftlichen Gesichtspunkten erwachsenen biologistischen Theorien erreichen diese Probleme in keiner Hinsicht. Sie werden zu wirklichkeitsfremden, "toten" Konstruktionen und können nur als Verfälschung des Sinnes der Systembildung gelten, der jedem systematisch Denkenden aus eigenem unmittelbaren "Erleben" heraus vertraut und über jeden Zweifel erhaben ist. Der Biologist, soweit er theoretisch denkt, mißversteht sich selbst, wenn er sein eigenes Denken glaubt, biologisch fassen zu können. Er  will  in Wahrheit etwas, das in keine biologistische Kategorie eingeht, denn so will es das Pathos der reinen Betrachtung oder der Wissenschaft, und so "will" er selbst es als theoretischer Mensch, auch wenn er darüber keine Klarheit hat. Die biologistische Betrachtung, die es anders will, kann theoretisch nicht bestehen, und darauf allein kommt es in der Wissenschaft an.

In Zeiten, in denen Systeme sklavisch nachgebetet werden, hat es freilich einen guten Sinn, auch das Recht der Bewegung und des Lebens zu preisen, und davon wird noch zu reden sein, wenn wir von dem Recht der Lebensphilosophie sprechen. Das ist dann sozusagen eine Angelegenheit der wissenschaftlichen "Politik". Unsere Zeiten aber, in denen die Lebensphilosophie Mode ist, fordern zu einem so gerichteten politischen Verhalten nicht auf. Angesichts der Erweichung aller Begriffe, die man "lebendig" zu machen sucht, und der Lebensangst vor dem System wird der theoretische Mensch nicht mit dem großen Lebensstrom schwimmen wollen. Die wissenschaftliche "Substanz" ist da bei denen, die bauen können oder es wenigstens versuchen.

Man mag auch diesen Standpunkt eine "Weltanschauung" nennen und ihn damit nicht als "wissenschaftlich" anerkennen. Doch stecken in ihm nur die Voraussetzungen, die kein Theoretiker entbehren kann. Hier steht eben die  theoretische  Weltanschauung, die das System braucht, gegen die  antitheoretische,  der es unsympathisch oder gar verhaßt ist, und der theoretische Mensch darf, falls er sich selbst versteht, nur für die Weltanschauung Partei ergreifen, innerhalb welcher die reine Theorie einen Sinn hat. Als wissenschaftlicher Standpunkt sind daher die Bestrebungen der Lebensphilosophie, die das systematische Denken biologistisch zu erklären, das System als Gehäuse zu kennzeichnen und damit dem Leben gegenüber zugleich herabzusetzen suchen, in sich widerspruchsvoll. Der Widerspruch aber ist für jeden wissenschaftlichen Standpunkt "tötlich".

War es nötig , auch solche Selbstverständlichkeiten ausdrücklich zu sagen? Heute ist alles Denken theoretisch so "lebendig" und "beweglich" und damit so erweicht, daß man logisch kaum mehr treten kann. Die Modephilosophie des Lebens wird bisweilen zum Lebenssumpf, und darin gibt es dann nur noch Froschperspektiven. Da gilt zunächst einmal, nüchtern erkenntnistheoretisch und methodologisch Wege und Brücken zu bauen, auf denen das Material zur Errichtung von festen theoretischen Häusern herbeizuschaffen ist, zu Gebäuden mit möglichst hohen Türmen, die standhalten und einen weiten Ausblick gestatten. Weil man nur von ihnen aus die Welt schauen und überschauen kann, und weil das doch wohl immer die Aufgabe des theoretischen Menschen bleibt, kommt alles auf das feste Bauen und auf klare Prinzipien an. Als Forscher haben wir das Leben begrifflich zu beherrschen und zu befestigen und müssen daher aus der bloß lebendigen Lebenszappelei heraus zur systematischen Weltordnung. Deswegen ist die modern Lebensphilosophie, die das nicht einmal wollen, geschweige denn leisten kann, wissenschaftlich zu bekämpfen. Jeder Versuch, ein System der Philosophie zu errichten, muß sich zunächst gegen sie wenden, damit das Feld frei wird für das positive Schaffen. Die Lebensangst vor dem System darf nicht in die wissenschaftlichen "Prinzipien" hineingeraten. Wenn dem Biologismus das passiert, ist er nicht nur unphilosophisch, sondern wird philosophiefeindlich, also gewiß keine Lebensphilosophie. 

Damit ist der letzte Anspruch, den die Modebewegung unserer Zeit erheben kann, um ihre "Prinzipien" zu retten, für den theoretischen Menschen als hinfällig durchschaut. Diese Philosophie behält nichts mehr übrig, was als durchgeführte Philosophie im  positiven  Sinn gelten kann. Unsere Kritik, soweit sie auf eine Verneinung der zeitgemäßen Strömungen hinauskommt, ist also abgeschlossen. Es bleibt nur noch die Frage, ob  trotzdem  die Lebenstendenz nicht Bedeutung auch für die Philosophie besitzt.


Zehntes Kapitel
Leben und Kultur

  "Und setzet ihr nicht das Leben ein,
Nie wird euch das Leben gewonnen sein."

        Schiller, Braut von Messina, 2. Aufzug

Ehe wir uns jedoch zu dieser letzten Frage wenden, gehen wir einen Schritt in verneinender Richtung weiter, um das Verhältnis von Leben und Kultur noch in anderer Hinsicht klar zu stellen. Es ist nicht allein unmöglich, die Kulturwerte positiv als Lebenswerte zu verstehen, sondern die Kultur muß sogar in ein negatives Verhältnis zum Leben gebracht werden. Erst dadurch tritt ganz zutage, wie unzureichend die Philosophie des bloßen Lebens ist. Das Bedürfnis nach einer echten Philosophie des Lebens wird sich vielleicht dann noch stärker regen.

Gewiß haben wir das Leben als Bedingungsgut hoch zu stellen und jede Lehre kulturfeindlich zu nennen, die auf Lebensvernichtung ausgeht. Dennoch kann der allein welcher die Lebendigkeit auch in sich zurückzudrängen vermag, ein Kulturmensch genannt werden, und erst dort gibt es daher objektive Kulturgüter, wo sie zur Lebendigkeit des Lebens in einer Art von Gegensatz stehen. Um es schroff auszudrücken, indem wir dabei das Wort so gebrauchen, wie die Lebensphilosophie es benutzt: man muß das Leben bis zu einem gewissen Grade "töten", um zum Kulturleben mit Eigenwerten zu kommen. Was dies anscheinend paradoxe Wort sagen will, sei wenigsten an einigen Beispielen erläutert.

Selbstverständlich dürfen wir dabei das Wort Leben nicht in dem umfassendsten Sinne nehmen, nach dem alles, was wir "erleben", schon Leben heißt, denn wir "leben" auch als Kulturmenschen, und es werden alle Kulturgüter mit ihren Werten von uns "erlebt". Wie im Biologismus neuester Richtung darf "Leben" jetzt nur im Gegensatz zum Toten gebracht werden für das lebendige, wachsende,  vitale  Leben, wie wir am besten sagen werden, wo die Vieldeutigkeit des Wortes "lebendig" zu Unklarheiten führt, und zwar ist diese Scheidung in ein Leben im weiteren und ein lebendiges, vitales Leben im engeren Sinne sowohl notwendig mit Rücksicht auf das Verhalten des Menschen zu einem Kulturgut, das er "erlebt", als auch mit Rücksicht auf den Inhalt des Kulturgutes selbst. Menschliches Subjektsverhalten ist immer "Leben", muß aber gerade deshalb vom lebendigen Leben als dem vitalen geschieden werden, wo Unlebendiges oder gar Unwirkliches "erlebt" wird, und ebenso ist in dem Inhalt des Kulturobjektes das, was lebt im Sinne des Vitalen, von dem zu trennen, was darin als Unlebendiges und Unwirkliches ein "Eigenleben" führt, ohne vitales Leben zu sein.

Der Abstand von der lebendigen Wirklichkeit wird am deutlichsten wieder bei dem theoretischen Menschen, und zwar jetzt nicht nur bei dem objektiven Kulturgut, an dem die Wahrheit haftet, von dem wir schon vorher sahen, daß es keine vitale Lebendigkeit besitzt, sondern auch bei dem Verhalten des theoretischen Subjekts.

Es hat lange gedauert, bis der Wahrheitswert in seiner Reinheit zum Bewußtsein kam, und bis Menschen lernten, in ihm zu "leben", um so ihrem bloß vitalen Leben Sinn zu verleihen. In Griechenland wurde zum ersten Male die Wahrheit um ihrer selbst willen gewertet, und das Gut, an dem sie haftet, die Wissenschaft, um der Wahrheit willen gesucht. Die Zurückdrängung des bloß vitalen Lebens durch die Kultur tritt dabei klar zutage. Kenntnisse besaß man schon lange vorher. Man kann sie suchen und werten, um sie in den Dienst des vitalen Lebens zu stellen. Dann ist aber von "Wissenschaft" noch keine Rede. Man forscht nur, weil man das Wissen zum Leben oder zu irgendeinem anderen Zweck braucht. So war es anfangs überall, und so ist es bis heute noch bei vielen.

In Griechenland kehrte sich zum ersten Male das Verhältnis um. Der Mensch, zunächst auch dort in wenigen Exemplaren, forschte nicht mehr, um zu lebenf, sondern lebte, um zu forschen. Durch die Wahrheit erst erhielt das Leben für ihn Wert. Vom biologistischen Standpunkt müßte diese Umwertung als "Entartung" bezeichnet werden. Für die Entwicklung der Kultur bedeutet sie einen Höhepunkt. Lebenswerte danken ab zugunsten von theoretischen Eigenwerten. Gerade das sichert diesem geschichtlichen Moment das "Leben" im Sinne der Unsterblichkeit, d. h. mehr als vitales Leben. Bis auf den heutigen Tag findet hier der theoretische Mensch sein unübertroffenes Vorbild.

Wer also den Versuch macht, die wissenschaftliche Wahrheit biologistisch der Nützlichkeit für das vitale Leben gleichzusetzen, wie der Pragmatismus es unternimmt, begeht nicht nur eine grobe Begriffsverwechslung, indem er zwei prinzipiell voneinander verschiedene Werte durcheinander mengt, sondern er würde, wenn er Erfolg hätte, uns zu jenem Zustande wieder zurückführen, der in Europa herrschte, bevor die Griechen das vom bloßen Leben abgekehrte theoretische Verhalten zum Wahrheitswert und damit die Wissenschaft hervorbrachten. Die biologistische Erkenntnistheorie bedeutet im Prinzip einen Rückfall in Barbarei. Sie ist auf theoretischem Gebiet die spezifisch-kulturfeindliche Richtung.

Lebensferne ist demnach nicht nur mit den Produkten der Erkenntnis oder den Begriffen verknüpft, sondern gehört auch zum Wesen des theoretischen Menschen selbst. Erst wenn wir darauf achten, wird der Gegensatz des Kulturgutes Wissenschaft zum Leben ganz klar. Alles, was wir erkennen, entfernen wir damit von uns, so daß wir es nicht mehr als Lebendiges erleben. Früher haben wir gesehen: es ist der Sinn des "Begriffes", daß er das Begriffene unlebendig macht. Das hat dann seine Folgen auch für das Leben des erkennenden Subjekts. Die Wahrheit, die es denkt, verkörpert sich allein im unlebendigen logischen "Sinn". So wird ein Dualismus von Leben und Denken auch in jeden Menschen, der Wissenschaft treibt, hineingebracht. Das "Leben" im logischen "Sinn" oder in der Wahrheit liegt vom vitalen Leben weit ab und kann nicht als biologisches Leben bezeichnet werden.

Freilich zeigen, wie wir sahen, die Begriffe der verschiedenen Wissenschaften in ihrem objektiven Gehalt eine mehr oder weniger große Lebensferne, und das muß ebenfalls im Verhalten des erkennenden Subjekts zum Ausdruck kommen. Im einzelnen braucht das nicht erst gezeigt zu werden. Der Mathematiker steht ebenso wie seine Begriffe als Mathematiker dem lebendigen Leben am fernsten. Der Historiker andererseits lebt mit seinen Objekten deren lebendiges Leben mit, und dazwischen gibt es eine Fülle von Abstufungen. Doch auch der Historiker lebt, ebenso wie seine Wissenschaft das Leben tötet, in unlebendigem Sinn, so lange er nur Historiker ist. Das gilt wieder sogar vom Biographen.

Der wissenschaftlich denkende Mensch lebt also nicht einmal dann im Lebendigen, wenn er das Lebendigste von allem erforscht.

Der Gedanke an eine mehr oder weniger große Lebensnähe hat noch eine andere Bedeutung. Er kann nicht nur zur Anordnung der verschiedenen Teile der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Lebens der Forscher, sondern auch zur Anordnung der verschiedenen außerwissenschaftlichen Kulturgebiete dienen. Man wird versuchen, dem Leben näher zu kommen, als es durch irgendeine Wissenschaft möglich ist, und dabei doch in der Kultursphäre zu bleiben wünschen, also nicht nur vital zu leben.

Das hat gewiß seine Berechtigung, und zu diesem Zweck bietet sich zunächst die Kunst dar. Daß ihr Inhalt lebendiger ist, als der der Wissenschaft, hat man schon öfter bemerkt. Mancher künstlerische Mensch empfindet einen Schauer vor der toten Abstraktion der wissenschaftlichen Theorien, und wenn er sich, wie das wohl vorkommt, zu einer Metaphysik des Lebens hingezogen fühlt, so ist das nur dadurch zu erklären, daß das Wort Leben ihn täuscht. Er gibt diesem metaphysisch gefaßt völlig leeren Begriff einen Inhalt, den er als metaphysischer Begriff nicht besitzen kann. Höchstens die Geschichtswissenschaft scheint an Lebensfülle mit der Kunst wetteifern zu dürfen, aber nur deshalb, weil sie künstlerische Momente in sich aufnehmen und dadurch mit Rücksicht auf die Anschauung eine Lebensnähe erreichen kann, die ihr als Wissenschaft versagt ist. Das eigentlich Wissenschaftliche in ihr "tötet" das Leben schon deshalb, weil durch den Begriff die unmittelbare Anschauung in ihrer Lebensfülle zerstört werden muß. In der Welt der Anschauung aber sucht und findet die Kunst ihre Heimat, und deshalb berührt sie das Leben, wenigstens in einer Hinsicht, unmittelbar.

Trotzdem darf man auch von ihr nicht sagen, daß sie das lebendige Leben selbst in sich aufnimmt. Alles, was wir als bloß lebendig erleben, ist für sich nicht nur ohne logischen, sondern auch ohne ästhetischen Wert. Von dem lebendigen Leben selbst muß der ästhetische Mensch sich abwenden, um den Sinn des Kunstwerkes zu verstehen, der nicht vital lebendig ist.

Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen dem Leben und dem Kunstwerk zeigt sich nirgends deutlicher als daran, daß, sobald die Grenze zwischen dem künstlerisch Dargestellten und der lebendigen Wirklichkeit sich nicht mehr ziehen läßt, der ästhetisch feinfühlige Mensch das als unerträglich empfindet. Man braucht dabei nicht gleich an Panoramen oder an Wachsfiguren zu denken. Auch in Werken, die der Kunst allein dienen sollen, wirkt voll, das Leben vortäuschende Lebendigkeit abstoßend. Naturalistische Theorien, die behaupten, Kunst habe dem Leben so nahe wie möglich zu kommen, sind nicht nur falsche ästhetische Theorien, sondern enthalten überhaupt keine Ästhetik. Sie reden gar nicht vom  ästhetischen  Wert, und sie können es auch nicht. Es muß die Frage gestellt werden, wodurch sich das Kunstwerk von der lebendigen Wirklichkeit, die es darstellt, unterscheidet. Nur wo es einen  Abstand  gibt, ist ein ästhetischer Wert möglich.

Worauf die Unlebendigkeit des ästhetischen Gegenstandes beruth, kann hier nicht im einzelnen gezeigt werden. Dies eine genügt: was ästhetisch wirken soll, ist notwendig aus dem lebendigen Zusammenhang, in dem es mit der Wirklichkeit steht, herauszulösen, zum mindesten so zu isolieren, daß es dadurch sein ursprüngliches und lebendiges Leben verliert. Damit soll nicht für einen ästhetischen "Formalismus" Partei ergriffen werden. Auch wenn der Künstler seine lebendige Seele in seine Kunstwerke hinein ergießt, und diese infolgedessen die ganze Wärme seines Gefühls ausstrahlen, so hat doch  dieses  "Lebendigkeit" nichts mit der des Lebens zu tun, in dem wir als Lebewesen vital leben.

Wohl kann man von einer Statue sagen, sie "lebe" im Gegensatz zu dem toten Marmor, aus dem sie wirklich besteht. Aber dieses Leben führt sie nicht in der Wirklichkeit des vitalen Lebens, denn ihre Wirklichkeit bleibt ja tot, sondern es ist eine "ideale" Sphäre, in der das ästhetische "Leben" sich bewegt. Alles an einem Kunstwerk, was daran zur Kunst gehört, bleibt von der Wirklichkeit des vitalen Lebens so weit getrennt, daß es überhaupt nicht mehr als "Wirklichkeit" bezeichnet werden kann, falls wir unter diesem Wort die in der Zeit ablaufende und im Raum ausgedehnte psychophysische Realität verstehen, zu der die Lebewesen gehören. Genau wie der logische Sinn eines wahren Satzes ist auch der ästhetische Sinn eines Kunstwerkes, den wir verstehen, und auf den es allein dem ästhetischen Menschen ankommt, ebenso unwirklich, wie er unlebendig ist.

Es gibt freilich in der modernen Kunst Werke, die dem zu widersprechen scheinen. Da wird nicht der ganze Stoff so geformt, daß er sich dadurch vom wirklichen Leben entfernt. Man kann sich das an einer Plastik von RODIN deutlich machen. Ein menschlicher Körper wächst aus einem Marmorblock heraus. Der Körper selbst ist künstlerisch gestaltet und der Wirklichkeit des Steines entrückt. Der Marmor darunter aber bleibt Stein und gehört doch mit zum Kunstwerk. Während der Körper also etwas anderes  bedeutet,  als er  ist,  ist dieser Marmor zugleich wirklich das, was er im Kunstwerk auch bedeutet. Da scheint also jenes Auseinanderfallen von Wirklichkeit und ästhetischem Sinn nicht zu bestehen, und in anderen Künsten läßt sich ähnliches aufweisen. Es gibt in Musikstücken Töne, die nur als Wirklichkeiten, z. B. als lebendiger Schrei, wirken. Hier droht vollend das Ästhetische mit der lebendigen Wirklichkeit zusammenzufallen.

Trotzdem können diese und andere Beispiele unserer Behauptung nicht entgegenstehen, denn es ist darauf zu achten, daß es sich immer nur um  Teile  innerhalb eines ästhetischen Zusammenhangs handelt, und daß, ganz abgesehen davon, ob man solche Effekte ästhetisch billigen will oder nicht, die lebendigen Wirklichkeiten, soweit sie überhaupt zur Kunst gehören, nur als  Kontraste  zu dem ästhetisch Gestalteten in Betracht kommen. Sie haben somit doch eine ästhetische Bedeutung, die nicht mit ihrer lebendigen Wirklichkeit zusammenfällt, und widersprechen also unserer Ansicht so wenig, daß sie vielmehr bestätigen: nur mit ihrer unlebendigen Bedeutung, nicht als lebendige Wirklichkeiten liegen sie in der ästhetischen Sphäre. So zeugen auch sie für die Lebensferne der Kunst und für das notwendige Auseinanderfallen der Lebenswerte und der Kulturwerte. Ein Kunstwerk, das nur lebendiges Leben enthält, wird man vergeblich suchen.

In unserem biologistischen Zeitalter fehlt es, wie wir sahen, nicht an Versuchen, der Kusnt, die Ursprünglichkeit des Lebens zu geben, die sie nicht besitzt, und die man an ihr vermißt. Der geistvollste, freilich stark mit SCHOPENHAUERscher Willensmetaphysik durchsetzte Versuch in dieser Richtung stammt wieder von NIETZSCHE. Wenn in der Schrift über "die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" das Dionysische dem Apollinischen gegenüber gestellt wird, so bedeutet das, abgesehen von anderen Denkmotiven, die sich eng damit verbinden, daß dem Menschen, der das elementare Leben leben will, die apollinische, und das ist eben die dem lebendigen Leben fernstehende Kunst, nicht genügt.

Doch schon NIETZSCHEs Gedanke, daß die Musik dem Leben näher wäre als andere Künste, ist falsch. Man könnte viel eher sagen, daß sie unter den Künsten das sei, was die Mathematik unter den Wissenschaften darstellt. In ihr wird die größte Entfernung vom lebendigen Leben erreicht, die bei dem Festhalten an der Anschauung möglich ist. Gerade sie also gehört, wenn irgend etwas, in das Reich des Apollinischen und Unlebendigen, und dasselbe gilt, wenn auch vielleicht nicht in so hohem Maße, von allen anderen Künsten, von der Tragödie, wie von der Plastik.

DIONYSOS, aufgefaßt als der Gott des bloß vitalen wilden Lebensdranges, hat in der ästhetischen Sphäre nichts zu suchen. Ihn aus ihr hinauszutreiben, oder ihm wenigstens Fesseln anzulegen, muß vielmehr die Aufgabe jeder wahrhaft künstlerischen Gestaltung sein.

Freilich wird die Ansicht, daß auch die Kunst das unmittelbare Leben "tötet" wie die Wissenschaft, vielen vollends paradox erscheinen. Wie oft fühlen wir alle unsere Lebenskräfte bei der Betrachtung eines Kunstwerks angeregt! Und doch dürfen wir uns nicht darüber täuschen, daß hier das Wort "Leben" eine andere Bedeutung hat, als die des unmittelbaren vitalen Lebens oder des Lebens, von dem es biologische Theorien gibt. Es bleibt dabei, daß eine wahrhaft ästhetische Kultur erst dort möglich wird, wo wir darauf ausgehen, eine Welt über dem Leben zu bauen, die nicht mehr in demselben Sinne lebendig ist, wie die lebendige Natur im Gegensatz zur toten Wirklichkeit.

Wie weit die Kluft zwischen Kunst und Leben ist, aknn vielleicht noch deutlicher werden, wenn wir von der künstlerischen zur sittlichen Kultur übergehen. Es ist der wollende und handelnde Mensch, auf den es dabei ankommt. Er entfernt sich niemals so weit vom Leben, wie der wissenschaftlich denkende und der künstlerisch anschauende. Von neuem müssen wir hier, auch mit Rücksicht auf die Lebendigkeit der Kulturgüter selbst, einen prinzipiellen Unterschied konstatieren, der sittliche Gebilde wie Ehe und Familie, Recht und Staat, Nation und Menschheit von den künstlerischen und wissenschaftlichen Werken noch mehr trennt, als diese voneinander getrennt sind.

Der ethische Wert haftet zunächst stets an einem Willen und kann nur von hier aus auf andere Wirklichkeiten übertragen werden. Dies ethische Gut würde aber sofort seinen ethischen Wertcharakter oder seinen ethischen Sinn verlieren, wenn der Wille sich nicht in der Welt des lebendigen vitalen Lebens wirklich betätigte. Das tritt zutage, sobald wir daran denken, daß auch der Forscher oder der Künstler, insofern er schafft, einen im weitesten Sinn autonomen Willen hat, d. h. um der Werte der Wahrheit oder der Schönheit willen Kulturgüter zu verwirklichen sucht. Und es wird vielleicht noch klarer, wenn wir das ethische Prinzip nicht nur in der rein formalen Autonomie des Willens suchen, die sich auf  jede  Verwirklichung von wertbehafteten Gütern beziehen kann, sondern daran denken, daß sittliches Wollen im engeren Sinne Beziehungen sittlicher Lebewesen, autonomer Persönlichkeiten zu einander voraussetzt, also einen sozialen Charakter tragen muß, wobei dann entweder der Schwerpukt auf dem einzelnen Individuum als einem Gliede der Gesellschaft ruht, zu der es im Gegensatz steht, oder auf den Zusammenhängen, welche die sozialen Individuen zu einem einheitlichen Ganzen miteinander verknüpfen, d. h. auf der Gesellschaft selbst. Der Mensch als soziales Wesen, hat es gewiß in ganz anderer Weise mit dem lebendigen, vitalen Leben zu tun, als der seinem Wesen nach asoziale, theoretische oder künstlerische Mensch.

Trotzdem fallen für ihn nicht nur die Lebenswerte und die ethischen Werte prinzipiell auseinander, sondern auch im sozialen Leben richtet sich die Kultur direkt gegen die bloß vitale Lebendigkeit, insofern nämlich, als sie zwar nicht darauf ausgeht, sie zu töten, wohl aber sie ihren ethischen Zwecken unterzuordnen, Damit ist eine Einschränkung der Vitalität notwendig verknüpft.

Man kann sogar behaupten, daß, weil in einer Hinsicht Leben und Kultur hier enger verbunden sind, als im wissenschaftlichen oder künstlerischen Gebiet, in anderer Hinsicht der Antagonismus zwischen beiden besonders deutlich zutage treten muß. Der sozialethische Mensch darf das Leben, für das er bei sich und anderen verantwortlich ist, nur selten seinen bloßen "Lebenslauf" gehen lassen. Er muß sich vielmehr berufen fühlen, einzugreifen und das Lebendige, das für sich betrachtet ethisch wertindifferent ist, so zu gestalten, daß ihm eine Bedeutung und ein Sinn innewohnt. Gerade wegen der Lebensnähe dieses Wollens erreicht die Spannung von Leben und Kultur hier einen besonders hohen Grad. Sie muß deshalb auch stärker empfunden werden, als z. B. in der künstlerischen Welt, und daher kommt es, daß ästhetisch angelegte Naturen, die Ruhelage und Harmonie suchen, sich von dem ethischen Wollen wegen seiner "rigoristischen" Lebensfeindlichkeit abwenden, um ins Ästhetische hinüberzugleiten, freilich ohne sich dabei immer klar zu sein, daß sie damit dem lebendigen, vitalen Leben durchaus nicht näher kommen. Es hat nur die Spannung aufgehört, in ihrem Bewußtsein sich bemerkbar zu machen, weil sie dem lebendigen Leben nun ganz ferngerückt sind und diese "Lösung" des Widerstreites genügt ihnen.

Selbstverständlich wollen wir nicht sagen, daß der ethische Wille berufen sei,  alles  vitale Leben von Grund aus umzugestalten. Im Gegenteil, als Bedingung der sittlichen Kultur kann wegen der relativen Lebensnähe auch das bloß vital Lebendige sich mit ethischen Werten verknüpfen und eventuell eine große Bedeutung erhalten. Das macht sich z. B. bei der Beurteilung von sexualethischen Vorgängen geltend. Freilich ist es grundverkehrt, in dem rein vitalen Geschlechtstrieb schon ein ethisches Gut zu erblicken. Solche Übertreibungen sind nur als Reaktion gegen seine nicht minder verkehrte Herabsetzung oder "Verteufelung" zu begreifen. Der Trieb als solcher ist, wie alle bloßen Lebenstriebe, ethisch völlig indifferent: ganz allein davon, wie wir unser vitales Triebleben gestalten, hängt es ab, ob ihm ein ethischer Charakter gebührt oder nicht. Von ethischen Werten oder Unwerten, die im Sexualleben selbst stecken, zu reden, hat keinen Sinn. Wohl aber kann die Sexualethik vielleicht zeigen, daß innerhalb der wertteleologischen ethischen Zusammenhänge, die sie behandelt, manche Strecken gerade aus ethischen Gründen, mit Rücksicht auf die Gemeinschaft autonomer Persönlichkeiten in ihrer rein "natürlichen" oder vitalen Lebendigkeit zu belassen sind. Das biologisch "Gesunde" bekommt so unter Umständen eine ethische Bedeutung, die es als solches nicht hat. Es gibt zweifellos Gebiete der Kultur, in denen elementare Lebenstriebe als rein natürliche Grundlagen eine so gewaltige Rolle spielen, daß eine weitgehende Reflektion auf ihre Funktionen störend wirken und das in seinem Ablauf bedrohen kann, was gerade in seiner biologischen Lebendigkeit und Unangetastetheit die Bedingung zur Verwirklichung sozialethischer Güter wie der Ehe, der Familie usw. ist.

Das ist der Umstand, der wohl besonders dazu verleitet hat, das Biologische oder bloß vital Lebendige dem Sittlichen selbst gleichzusetzen und die Rede von einem "Recht" auf das Ausleben der Vitalität beliebt zu machen.

Aber auch hier ist wieder Zweck und Mittel verwechselt. Die Vitalität ist nur Mittel. Immer muß der ethische Wert schon auf das, was bloß lebendig ist, übertragen worden sein, damit das Leben aus seiner Wertindifferenz heraustritt. Der "Naturzustand", in dem nur die Lebenstriebe frei walten und das Leben sich ungehemmt auslebt, ist überall dem Kulturzustand entgegengesetzt. Der Kulturfortschritt ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die sich auf Teile größerer Zusammenhänge beschränken, mit einer Regelung und Einschränkung des bloßen Lebensdranges verbunden. Das mag dem einzelnen oft sehr unbequem sein und sagt er das aufrichtig, so ist dagegen nichts einzuwenden. Nur das "Recht" auf bloße Lebendigkeit oder auf das Ausleben des vitalen Lebens als "sittliche Forderung" ist doch allzu naiv und hat mit Kultur jedenfalls nichts zu tun.

Der ethischen Persönlichkeit tritt das Lebendige überall als das "versinnlichte Material ihrer Pflicht" entgegen, in das sie einzugreifen hat, um es nach ethischen Normen umzugestalten. Ja, wir müssen uns im Ethischen ganz besonders daran gewöhnen, daß das Leben selbst Normen für unser Wollen und Handeln niemals geben kann. Das bloß vitale Leben bleibt stets eine Tatsache, die da ist, und von der sich weiter nichts sagen läßt, als wie sie beschaffen ist.

Daß, um endlich auch sie zu erwähnen, die  religiösen  Werte nicht Lebenswerte sind, bedarf wohl am wenigsten einer ausdrücklichen Erörterung. Die Versuche, den religiösen Glauben dadurch zu rechtfertigen, daß die religiösen Völker bessere Chancen im Kampf mit anderen Völkern haben, muß jeden wirklich religiösen Menschen geradezu abstoßend anmuten. Sie kommen auf ein Lob des Aberglaubens hinaus und haben mit der Begründung religiöser Werte so wenig zu tun, wie jene bekannten Anpreisungen der Religion als einer Stütze für den Thron oder für den Staat. Der religiöse Mensch kann in den religiösen Werten nur die "absoluten", über allen anderen Werten stehenden Werte erblicken. Er muß jeden Gedanken an eine Unterbauung und Stützung ihrer Geltung durch andere Werte auf das Entschiedenste ablehnen. Ja, alle Werte müssen es vertragen, daß sie an ihrer Vereinbarkeit mit den religiösen Werten gemessen werden, wenn sie wahrhaft gelten sollen.

Andererseits kann man freilich sagen, daß der religiöse Mensch dem lebendigen Leben in gewisser Hinsicht noch näher steht, als der sittlich wollende. Wir kommen hier zu dem Maximum an Lebensnähe, das der Kulturmensch überhaupt erreichen kann. Die Religion ist nämlich jeder Spezialisierung und jeder Teilung ihrem Wesen nach abhold. Sie muß, wenn sie überhaupt Religion ist, das  ganze  lebendige Leben zu durchdringen suchen. So kann es zu der denkbar größten Wertung des Lebens gerade von religiösen Gesichtspunkten aus kommen. Aber dann handelt es sich trotzdem wieder niemals um das bloße Leben in seiner vitalen Lebendigkeit, sondern dieses ist vielmehr die "Außenseite" für eine dahinter steckende jenseitige Wertrealität, und es kommt dem diesseitigen Leben nur insofern die große Bedeutung zu, als es "der Gottheit lebendiges Kleid" ist. Das lebendige Leben ist in diesem Falle nichts anderes, als das Symbol für ein Sein von vollständig verschiedener, nicht mehr lebendiger, sondern überlebendiger Art. Soll gar die Gottheit selbst das "Lebendige" sein, dann dürfen wir vollends das, was der Biologie Leben heißt, nicht mehr das "Lebendige" nennen. Dies Leben wird der Gottheit gegenüber dann zum Todesreicht. "Alle Pfade, die zum Leben führen, alle führen zum gewissen Grab."

Trotz größter Lebensnähe kann also der religiöse Mensch am wenigsten daran denken, dem diesseitigen vitalen Leben die Werte zu entnehmen, die er braucht. Nur von einer Durchstrahlung  alles  Lebens aus dem Überlebendigen, Göttlichen kann die Rede sein. Und auch dabei geht es ohne einen Dualismus von Leben und Gott nicht ab. An ihre Vereinigung im Sinne eines religiösen "Monismus" der Lebendigkeit wird man nur glauben, wo man sich auf Schwärmen und Fühlen beschränkt oder es mit vollem Bewußtsein ablehnt, in seinen Glauben begriffliche Klarheit zu bringen.

Auch das kann freilich berechtigt sein. Wir finden bedeutende Geister unter den Bekennern einer solchen religiösen "Weltanschauung". Sie mögen fühlen, daß die Religion eine restlose Umsetzung in Begriffe nicht verträgt und haben darin gewiß recht. Mit Wissenschaft oder mit Philosophie hat dies alles aber dann nichts mehr zu tun und darf also auch nicht als ein Argument gegen das prinzipielle Auseinanderfallen von Lebenswerten und religiösen Werten angeführt werden.

Die Religion geht schließlich nicht nur über alles natürliche Leben, sondern auch über alles Kulturleben weit hinaus. Das "Leben", worin der religiöse Mensch "lebt", hat daher  noch  eine andere Bedeutung als das unlebendige "Leben" des theoretischen oder des ästhetischen Mensche im "Sinn" der Wissenschaft oder der Kunst. Allem diesseitigen Leben wird ein "ewiges" Leben gegenübergestellt, und nur ein von ihm durchdrungenes Leben ist gemeint, wo das Leben selbst sich der religiösen Verehrung erfreut. Das aber liegt allem Biologismus sehr fern.

Es ist hier nicht zu untersuchen, ob die Reiche der theoretischen oder logischen, ästhetischen, der sozial-ethischen und der religiösen Werte die Welt der Kulturwerte erschöpfen (2). Lediglich an einigen Beispielen sollte der Antagonismus von Leben und Kultur klar werden.

Eines sei nur noch hervorgehoben. Man spricht auch von  technischer  Kultur, und da könnte man nun glauben, daß bloße Lebenswerte es sind, die diese Kulturwerte tragen, denn vielfach wird die Technik in der Tat allein in den Dienst eines möglichst lebendigen oder gesunden Lebens gestellt. Dagegen ist auch nichts zu sagen. Wenn aber der Wert der technischen Kultur auf Lebenswerten beruth, so geht daraus hervor, daß die Technik keinen Eigenwert besitzt. Dürfen wir schon im vitalen Leben selbst nur ein Mittel der Verwirklichung von Eigenwerten oder ein Bedingungsgut erblicken, so kann die Technik, die bloß dem Leben dient, lediglich die Bedeutung haben, Mittel für ein Mittel, Bedingungsgut für ein Bedingungsgut zu sein.

Freilich wird gerade dies heute leider oft vergessen und infolgedessen ist in unsere Kulturbegriffe viel Verwirrung gebracht. Man freut sich der technischen Erfindungen als solcher, ohne sich stets darüber klar zu sein, welche Ziele man mit ihnen erreichen will. Man ist stolz auf den ungeheuren modernen Apparat, der, wenn man ihn genau betrachtet, zum Teil doch nichts anderes, als die Not unserer modernen Kultur offenbart, also ein notwendiges Übel ist. Man erblickt in gewissen technischen Möglichkeiten schon einen Kulturfortschritt, ohne daß man überhaupt irgendwelche mit Eigenwerten ausgestatteten Zwecke anzugeben vermag, denen sie als Mittel dienen sollen. So kann doch, um an ein immer noch aktuelles Beispiel zu erinnern, die Fähigkeit, in der Luft zu fliegen, nur unter dem Gesichtspunkt als eine Angelegenheit der Kultur angesehen werden, daß eine weitere Entwicklung die Flugmaschinen vielleicht in den Dienst von an sich wertvollen Kulturzielen stellt. Die Begeisterung für den Apparat als solchen zeugt von allzu großer Bescheidenheit.  Nur  technisch "vollkommene" Maschinen stellen niemals schon einen Fortschritt in der Kultur dar und deswegen darf die "technische Kultur" mit dem, was wir wissenschaftliche, künstlerische, sozial-ethische und religiöse Kultur nennen, nicht auf eine Line gestellt werden.

Mit welchem Rechte wir in den als Beispielen gebrauchten Kulturwerten Eigenwerte erblicken, steht hier nicht in Frage. Gibt es überhaupt in sich ruhende Eigenwerte? Davon sehen wir in diesem Zusammenhang ab. Es galt nur, Pseudowerte zu entlarven. Und das hat vielleicht auch eine positive Bedeutung. Wer erkannt hat, daß die Werte, die ihm bisher galten, keine Eigenwerte sind, wird um so eifriger nach Werten suchen, deren Geltung der Kritik standhält. Wir können niemals aufhören, nach dem "Sinn" unseres Leben zu fragen und nur aufgrund von Werten, die gelten, läßt er sich deuten. So muß durch die Entwertung der "Lebenswerte", bei denen viele unter dem Einfluß der Mode sich kritiklos beruhigen, die Sehnsucht nach echten Werten des Lebens entstehen, jener Eros, der die Triebfeder aller Philosophie war und ist und der alle Moden überdauert.

Dieser Eros braucht uns andererseits nicht dahin zu führen, daß wir das Vitale herabsetzen. Wir bleiben faktisch stets ins Leben gebannt und haben als Philosophen auch keinen Grund, uns aus ihm hinauszuwünschen. Ohne lebendig zu sein, könnten wir nicht forschen. Vollends ist es nicht notwendig, daß wie die Lebenswirklichkeit zugunsten dessen, was mehr als Leben ist, metaphysisch zur bloßen Erscheinung zu entwirklichen. Wir halten an dem vitalen Leben als voller Realität fest und suchen trotzdem nach einer Welt, die das Andere des Lebens ist. Muß es in der Philosophie denn immer auf ein Entweder-Oder hinauskommen? Der sittliche Mensch allerdings wird gewiß oft die Entscheidung gegenüber einer Alternative nicht vermeiden dürfen und dann mit seinem  Willen  auf die  eine  Seite treten müssen, um die andere abzulehnen. Aber aus der moralisch notwendigen "Einseitigkeit" braucht man keine universale  Betrachtung  zu machen. Sie führt zu engem Moralismus der Weltanschauung. Der theoretische Mensch hat überall sowohl das eine, als auch das andere zu sehen, d. h. in diesem Fall nicht nur das wirkliche Leben, sondern zugleich das, was nicht in dieser Weise lebendig und gerade deshalb mehr als Leben ist.

Daraus entsteht kein Widerspruch, der die Welt selbst antinomisch macht. Wir erkennen zwar nicht an, daß es ein "philiströses Vorurteil" bedeutet, wenn man glaubt, alle Probleme seien dazu da, um gelöst zu werden, denn ohne dieses Vorurteil oder dieses "a priori" gibt es keine Wissenschaft, also auch keine Philosophie, und der Philosoph ist nicht notwendig ein Philister. Wohl aber müssen wir für möglich halten, daß die Meinung nur das  monistische  Denken, das alles auf  ein  letztes Prinzip zurückführtff, vermöge Probleme zu lösen, sich als ein unbegründetes theoretisches Vorurteil, eventuell sogar als vorgefaßte Meinung des Bildungsphilisters erweist.

Der Biologismus neuester Richtung weigert sich, das Lebendige aus dem Toten abzuleiten. Damit hat er gewiß recht. Muß er darum den Versuch machen, das Tote aus dem Lebendigen zu verstehen? Das erscheint nicht zwingend. Gibt es nicht beides, Totes und Lebendiges, und können wir die Welt anders denken, als daß sie aus beidem besteht? Hört nicht wenigsten der  Begriff  des Lebendigen auf, Begriff zu sein, ohne den des Toten und läßt umgekehrt das Wort "tot" sich noch verstehen, falls wir nicht auch an das Andere des Todes, an das Leben denken?

Was aber für den engeren Lebensbegriff gilt, könnte auch für den weiteren zutreffen. Es gibt zwar Leben gewiß nicht dann allein, wenn das Leben  selber  mehr als Leben ist, denn das wäre ein Widerspruch. Aber vielleicht gibt es Leben nur, wenn  außer  ihm etwas anderes besteht, das mehr als Leben ist, und es gibt umgekehrt vielleich mehr-als-Leben nur, wenn wir daneben das bloße Leben in seiner Selbständigkeit unangetastet lassen. Dann müßten wir sagen: das Leben ist der eine Teil der Welt, das überlebendige Mehr-als-Leben der andere Teil. Erst beide zusammen machen die  ganze  Welt aus und es bedeutet gerade für den wissenschaftlichen Menschen ein vergebliches und sinnloses Beginnen, aus den beiden Begriffen, die sich dann allein denken lassen, wenn es zwei Begriffe sind,  einen  Begriff zu machen, der alles umfassen soll, und der, gerade, weil er das soll, nichts mehr umfaßt.

Den Lebensmonismus haben wir zu vermeiden. Wir sollten uns ebenso hüten, in einen Antilebensmonismus zu verfallen. Nur ein Denken, das heterologisch das eine wie das andere umspannt und in dieser "Dualität" das Wesen der Welt erfaßt, kann wahrhaft universal werden, also zu einer umfassenden Philosophie führen. Auch das Wort  Universum darf uns nicht verleiten, zu glauben, bei einer Zweiheit könne man nicht stehen bleiben. Insofern ist der Ausdruck "Multiversum" glücklich gewählt. Doch mit dem Wort allein ist es selbstverständlich weder in dem einen noch in dem andern Fall getan. Es kommt darauf an, was für Begriffe wir damit verbinden. Monismus ist oft nichts als leerer Schall. Sorgen wir dafür, daß man vom Pluralismus nicht dasselbe sagen kann.

Mehr als ein ganz allgemeiner Hinweis auf das Andere des Lebens, welches das Leben selbst unangetastet läßt, ist in dieser Auseinandersetzung mit den Modeströmungen unserer Zeit nicht möglich. Von dem positiven Aufbau einer Philosophie des Lebens haben wir abzusehen. Die Schrift willl nur Kritik geben. Doch führt diese Absicht endlich noch zu einem neuen Punkt. Echte Kritik wird nicht bloß verneinen, sondern zu  scheiden  suchen und das bedeutet: sowohl das Unhaltbare als auch das Richtige sehen. Diese Forderung führt uns zur letzten Frage.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens - Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920
    Anmerkungen
    1) KARL JASPERS, Psychologie der Weltanschauungen, 1919. Vgl. dazu meine Abhandlung: Psychologie der Weltanschauungen und Philosophie der Werte, Logos, Bd. IX, Seite 1ff. Einen Teil der dort veröffentlichten Ausführungen habe ich in dieses Buch aufgenommen.
    2) Daß das nicht geschieht und daß deshalb der Rahmen zu erweitern ist, in dem die Wertphilosophie seit KANT sich bewegt, habe ich in meiner Abhandlung über das System der (Logos, Bd. IV) zu zeigen versucht. Es gibt Werte, die ehr noch als die genannten als Lebenswerte bezeichnet werden könnten. Worin sie bestehen und weshalb auch sie etwas prinzipiell anderes sind als Werte des bloß vitalen Lebens, ließe sich jedoch nur in einem umfassenderen systematischen Zusammenhang darlegen. Für eine Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie unserer zeit kann das im Text Ausgeführte genügen.