tb-1K. B.-R. AarsW. OstwaldG. SchillingE. CassirerB. Schmid     
 
HEINRICH RICKERT
Die Philosophie des Lebens
- Darstellung und Kritik der
philosophischen Modeströmungen unserer Zeit -

[ 2/6 ]

  VorwortEinleitung
I. Das Leben als Modebegriff
II. Die modernen Lebensphilosophen
III. Die Prinzipienlosigkeit der intuitiven Lebensphilosophie
IV. Lebensform und Lebensinhalt
V. Das biologistische Prinzip
VI. Älterer und neuerer Biologismus
VII. Kritik des biologistischen Realitätsprinzips
VIII. Kritik des biologistischen Wertprinzips
IX. Der Kampf gegen das System
X. Leben und Kultur
XI. Das Recht der Lebensphilosophie

"Der Historismus ist zu bekämpfen. Historische Philosophie gibt es nicht."

"Freilich 'Weltanschauung' kann man auch die Ansicht nennen, nach der die Welt nichts anderes als ein großes Bilderbuch darstellt, in dem zu blättern die einzig menschenwürdige Beschäftigung ist."

"Ohne theoretisches Souveränitätsbewußtsein, das auf der Überzeugung ruht, im Dienst der Wahrheit zu arbeiten, entsteht keine Philosophie, welche diesen Namen verdient."

"Ohne allgemeines, für alle gültiges  Prinzip  der  Auswahl  gibt es keine Wissenschaft."



Zweites Kapitel
Die modernen Lebensphilosophen

    "Welch reicher Himmel! Stern an Stern!"
       - der Sänger

Doch es wird gut sein, daß wir uns nicht auf eine allgemeine Kennzeichnung dieser Bewegungen beschränken, sondern auch einzelne Denker betrachten, die besonders charakteristische Vertreter der Lebensphilosophie sind. Untereinander zeigen sie große Verschiedenheiten. Doch kommen diese für uns nicht in Betracht. Es gilt vielmehr, das Gemeinsame auch bei solchen Philosophien hervorzuheben, die in mancher Hinsicht weit auseinander gehen. Aus den angegebenen Gründen wird ihre Darstellung ungerecht erscheinen, und sie ist es in der Tat. Aber es kommt hier nicht darauf an, daß wir die einzelnen Persönlichkeiten erschöpfend würdigen. Nur als typische Vertreter weit verbreiteter Geistesströmungen oder als "Fälle" sind sie wichtig, und wir nehmen daher mit vollem Bewußtsein eine Vergewaltigung vor, um das deutlich zu machen, was für das allgemeine Durchschnittswesen in der Philosophie unserer Zeit maßgebend ist.

Selbstverständlich haben die Bestrebungen, denen wir uns dabei zuwenden, wenn sie auch erst seit kurzem an der Oberfläche sichtbar und "allgemein" im Sinne des Kollektivismus geworden sind, doch schon eine längere Geschichte. Sie lassen sich ziemlich weit ins 19. Jahrhundert, ja darüber hinaus zurück verfolgen und tauchen wie alles Bedeutsame in der geistigen Kulturentwicklung zuerst bei wenigen Individuen auf, um dann später Mode zu werden. Doch brauchen wir den geschichtlichen Quellen der Gegenwartsphilosophie nicht nachzugehen. Das würde recht weit führen und doch für unsere Zwecke nicht wesentlich anderes sagen als das, was auch an den neuesten Erscheinungen klar zu machen ist.

Es genügt, wenn wir Namen wie HAMANN, HERDER, F.H. JACOBI, GOETHE, FICHTE, SCHELLING und andere deutsche Romantiker, etwa FRIEDRICH SCHLEGEL oder NOVALIS nennen.

Zumal SCHELLING hat in der für uns wichtigen Hinsicht Einfluß weit über Deutschland hinaus gehabt, so z. B. auf den Dänen KIERKEGAARD, für den man sich neuerdings bei uns vielfach interessiert, und ebenso in Frankreich durch die Vermittlung von RAVAISSON auf BERGSON gewirkt.

Ferner mag der Lebensphilosoph unserer Tage an GOETHE orientiert sein. So weist z. B. OSWALD SPENGLER, der zu den Lebensphilosophen zu zählen ist, obwohl er sich nicht so nennt, ausdrücklich auf ihn hin. Doch geschieht das bisher nur vereinzelt. Im allgemeinen ist GOETHEs Philosophie, wenn man überhaupt von einer solchen reden will, ziemlich unbekannt oder wenigstens unverstanden.

Die Erinnerung an GOETHE zeigt zugleich, daß selbstverständlich in diesem Zusammenhang nicht nur die wissenschaftlichen Philosophen wichtig werden. Im übrigen sehen wir jedoch von den genannten älteren Denkern ab.

Von direkter Bedeutung dagegen auch für die neueste Lebensphilosophie ist immer noch SCHOPENHAUER, der populärste und gelesenste aus der älteren deutschen Philosophen-Generation, der sich an SCHELLING und zum Teil an GOETHE anschloß. Zwar hat er das "Leben" als Schlagwort ebensowenig wie seine Vorgänger. Er nennt das, was heute Leben heißt, mit SCHELLING "Wille". Doch spricht schon er vom "Willen zum Leben" als dem Kern der Welt, und es ist kein Zweifel, daß die Modephilosophie eng mit SCHOPENHAUERs Willensmetaphysik verknüpft ist. Diese fragt nicht nach den besonderen Formen und Gestaltungen des Lebens, sondern nach dem ungestalteten, durch nichts außerhalb des Lebens geformten Lebenswillen selbst. Sie lehrt, daß der Wille vergeblich nach etwas anderem, jenseits des Lebens Liegendem strebt, weil es eben kein Jenseits gibt, und daß wir daher als lebendige oder wollende Menschen zu dauerndem Unbefriedigtsein verurteilt sind.

Auch sonst fördert die Lektüre SCHOPENHAUERs die Tendenz auf das Elementare, triebhaft Unmittelbare im Gegensatz zum Abgeleitetem, Verstandesmäßigen und Reflektierten. Erst später sind zu diesen Gedanken noch andere, der Naturwissenschaft, besonders der Biologie entstammende Ideen hinzugetreten und haben die Lebenslehre gefärbt und bestimmt. Doch gehen wir zunächst auf diese geschichtlichen Zusammenhänge nicht weiter ein, sondern beschränken uns auf eine kurze Charakterisierung der Denker, die für die Lebensphilosophie der neuesten zeit bezeichnend sind.

Da ist vor allem FRIEDRICH NIETZSCHE zu nennen. Er steht in direkter Abhängigkeit von SCHOPENHAUER, wie er in seiner Jugend wußte, und ist, was er nicht immer wußte, als Philosoph in hohem Maße an SCHOPENHAUER orientier geblieben. Nur versah er später die meisten Begriffe seines Lehrers mit umgekehrten Vorzeichen, besonders indem er das Unbefriedigtsein des Lebenswillens durch einen bewußten Verzicht auf jedes Jenseits des Lebens aufhob und sich freudig dem Leben selbst in die Arme warf.

Dabei wirkte wesentlich der Einfluß RICHARD WAGNERs und seiner Regenerationslehre mit, die ebenfalls eine Umbildung von SCHOPENHAUERs Metaphysik im Sinne eines freilich noch recht gemäßigten "Optimismus" bedeutet.

Diese Zusammenhänge sind wenig beachtet, was um so auffallender ist, als der junge NIETZSCHE bekanntlich in den Dienst des WAGNERschen Musikdramas trat und dabei DIONYSOS gegen APOLLO, d. h. den elementaren Lebensdrang gegen die Klarheit, oder den "Willen" gegen die "Vorstellung" ausspielte. Auch als Gelehrter und Philologe ergriff er damals schon die Partei des "Lebens" gegenüber der Erkenntnis und der Wissenschaft, die unlebendig machen. Später beeinflußt ihn die moderne Biologie und bestärkte mit ihrem zukunftsfreudigen Entwicklungsbegriff seine Lebensbejahung. So ist er zugleich das Bindeglied zwischen der älteren und der neuesten Lebensströmung.

Vor allem aber wird NIETZSCHE deshalb in diesem Zusammenhang wichtig, weil er mit ungewöhnlicher Sprachgewalt mehr als irgend ein anderer dem  Wort  Leben erst den Glanz verliehen hat, der heute für viele an ihm haftet. Weiter als bis zu NIETZSCHE braucht man daher zeitlich nicht zurückzugehen, wenn man zeigen will, wie "das Leben" ein allgemein verbreitetes philosophisches Schlagwort geworden ist, und wie die bekanntesten und einflußreichsten "Philosophen des Lebens" zu verstehen sind. Man muß sich nur gegenwärtig halten, daß hinter ihnen sachlich GOETHE, deutsche Romantiker, SCHOPENHAUER und in mancher Hinsicht auch RICHARD WAGNER stehen. Das gibt genug historische Perspektive.

Die Lebensstimmung der Zeit ist am meisten durch NIETZSCHEs Dichtung "Also sprach Zarathustra" angeregt. In ihr wird "das Leben" behandelt wie ein menschliches Lebewesen, genauer wie eine geliebte Frau. Man kann nicht inniger, vertrauter, zärtlicher mit dem Leben sprechen, als es in den Tanzliedern geschieht, obwohl auch die Peitsche dazwischen klatscht. Hier bekommt das Wort Leben wirklich einen neuen und eigentümlichen Zauber. Das Leben tritt uns erst persönlich nahe, um dann als Grund von allem ins Zentrum der Welt und der Weltanschauung gerückt zu werden. In Versen, deren Worte sich zum Teil freilich mehr assoziativ durch Klänge als logisch miteinander verketten, und in denen man, je nach Geschmack, Gedankenflucht oder Musik im Stil RICHARD WAGNERs finden kann, die zum Teil aber auch von hinreißendem Schwung sind, gewinnt das Leben den lockenden verführerischen Goldklang und die neue blinkende Farbe.

Wer das Herz der Zeit (nicht das der Welt) klopfen hören will, wird gut tun, hier aufzupassen. Ein Liebesverhältnis geht der Dichter mit dem Leben ein, obwohl er weiß, daß er es mit einer reichlich problematischen Schönen zu tun hat. Als das Leben an ihm zweifelt, sagt er ihm oder ihr etwas ins Ohr, so leise, daß niemand anders es hören kann, aber doch so, daß es sich erraten läßt. Es ist das Bekenntnis der absoluten Lebenstreue und zugleich das große Weltgeheimnis, von dem NIETZSCHE lange kaum zu reden wagte: die Lehre von der ewigen Wiederkehr alles Lebens als Ausdruck höchster Lebensbejahung.

So erwächst aus der Lebensauffassung die Weltanschauung, aus der Wertung die Setzung des Seins, aus der "Axiologie" die "Metaphysik". Sie dringt in die Herzen, auch wenn sie die Köpfe nicht zu bezwingen vermag. "Damals aber war mir das Leben lieber, als je alle meine Weisheit."

ZARATHUSTRA gibt also nicht so sehr neue Lebensgedanken, als neue Klänge und neue Gefühle für das Leben, aber gerade sie haben auf die philosophische Stimmung der Zeit großen Einfluß ausgeübt. Ehe NIETZSCHEs Wirkung begann, hatte in Deutschland das Wort Leben wohl für niemand den Zauber, der heute für viele an ihm haftet, und der auch dort herrscht, wo man nicht weiß, daß NIETZSCHE die Quelle für diese "Lebensweisheit" bildet. Schon aus diesem Grunde ist NIETZSCHE bei der allgemeinen Darstellung der zeitgemäßen Weltanschauung voranzustellen.

Will man auch von einer Philosophie NIETZSCHEs sprechen, die sich mit wissenschaftlichen Theorien in eine Reihe bringen läßt, was er selbst wohl abgelehnt hätte, so ist in ihr der Lebensbegriff als Grundprinzip gerade  der  Gedanken zu verstehen, die weite Verbreitung gefunden haben. Dabei muß man besonders das Verhältnis zur modernen Biologie ins Auge fassen, das bei der Kritik der Lebensphilosophie von entscheidender Bedeutung sein wird. Anfangs blieb NIETZSCHE von dem Fortschrittsjubel der Darwinisten nicht unberührt. Später lehnte er mit dem Biologen ROLPH den darwinschen "Kampf ums Dasein" ab, denn der bringe nur Hungervarietäten hervor. Der echte Wille zum Leben ist ihm Wille zur Macht und in seiner Steigerung zu immer größerer Kraft und Stärke findet er endlich den Sinn unserer ganzen Kultur, ja unseres Lebens überhaupt. Werte, die es nicht vertragen, an dem Wert des aufsteigenden Lebens gemessen zu werden, verwirft er auf allen Gebieten.

Man denke an den Kampf gegen die Sklavenmoral, bei dem NIETZSCHE im wesentlichen an SCHOPENHAUERs Mitleidsethik negativ orientiert ist. Sie stützt, was aus eigener Kraft nicht leben kann und ist deshalb unmoralisch. Ebenso wird das Christentum verdammt, weil es sich des schwachen Lebens annimmt, das zugrunde gehen sollte. Sogar die Wahrheit hat keinen Wert, wenn sie nicht dem aufsteigenden Leben dient. Die Wissenschaft darf überhaupt nicht nach wahr und falsch, sondern danach allein beurteilt werden, ob sie die Vitalität fördert oder hemmt. Auch der Übermensch ist am besten zu verstehen als der lebendigste Mensch, der dem lebendigsten Leben dient und alle anderen Ideale verhöhnt und verachtet. In ihm hat "der Sinn der Erde" endlich Gestalt gewonnen. Bei keiner Lebensform darf man stehen bleiben. Immer muß man über sie hinaus nach einer noch lebendigeren streben. "Und dies Geheimnis redete das Leben selber zu mir: Siehe, sprach es, ich bin das, was sich  immer  selber überwinden muß".' Das ist der Lebenssinn auch des Übermenschen, dieses sonst schwer faßbaren Begriffs. Schließlich steht der am höchsten, der es vermag, das Leben in seiner Totalität mit all seinen Schrecknissen und Fürchterlichkeiten zu ewiger Wiederkehr zu bejahen, denn eine solche Haltung zum Leben ist das Zeichen der größten Lebendigkeit, Stärke und Kraft.

Kurz, überall läßt sich NIETZSCHEs Umwertung aller Werte gerade mit Rücksicht auf die Bestandteile, die allgemeine Verbreitung gefunden haben, auf das Lebensprinzip zurückführen. Daß es daneben andere Gedanken gibt, die unter anderen Gesichtspunkten vielleicht wichtiger sind, ist in diesem Zusammenhang unwesentlich. Nur der Lebensphilosoph ist Mode geworden und kommt in Betracht, wo es gilt, die Philosophie der Zeit ihrer allgemeinsten Tendenz nach zu charakterisieren.

Doch NIETZSCHE ist nur ein Lebensphilosoph unter anderen und falls wir uns nicht auf Deutschland beschränken, nicht einmal der einflußreichste. Am meisten unter allen lebenden Denkern wird in der europäischen Kulturwelt heute wohl HENRI BERGSON genannt. Er ist, wie schon angedeutet, von SCHELLING, wenn auch mehr indirekt und ebenso von SCHOPENHAUER beeinflußt, hat also dieselbe deutsche und romantische Provenienz wie NIETZSCHE, was angesichts seiner Überschätzung zu betonen ist, aber auch nicht zu seiner Unterschätzung führen sollte. Ihn als "Plagiator" zu bezeichnen, ist absurd (1). Trotz der  relativen  Unselbständigkeit seiner Grundgedanken muß er als der eigentliche  Philosoph  des Lebens in unserer Zeit angesehen werden, falls wir unter Philosophie eine Lehre und nicht nur eine Stimmung oder Überzeugung verstehen. Er hat, obwohl seine Bücher nicht bequem zu lesen sind, großen Erfolg auch in der wissenschaftlichen Philosophie gehabt und bewirkt, daß viele es schon für selbstverständlich halten, wenn der Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens über die Welt gestellt wird.

Es kommt nur darauf an, daß wir kurz an BERGSONs bekannt gewordene Schlagwörter erinnern und sie im Zusammenhang mit dem allgemeinen Lebensprinzip verstehen. Eine "objektive" Darstellung seiner Gedanken ist nicht beabsichtigt (2). Philosophieren bedeutet für BERGSON so viel wie unmittelbares, intuitives Erfassen der Welt. Sein Kosmos ist dem Sein nach das vom lebendigen Menschen erlebte Leben, und seine Weltanschauung als Deutung vom Sinn des menschlichen Daseins hat ihren Schwerpunkt im  èlan vital.  So finden wir auch hier die Einheit von Seinslehre und Wertlehre. Beide werden nirgends voneinander getrennt und schon insofern ist unsere Darstellung zugleich eine Interpretation.

Die Sympathie für das Organische und die Abneigung gegen das Mechanische nimmt zunächst eine radikale Wendugn ins Metaphysische. Die Welt der Naturwissenschaft, besonders der Phsik, Chemie Astronomie mit ihrem Kreislauf und ihren Gesetzen, die man früher für die eigentliche Welt hielt, ist überhaupt keine "Welt", sondern das einseitige Produkt des rechnenden Verstandes, der alles festlegt und starr macht. Mit ihm, der nur Wiederholungen kennt, reichen wir an das Weltwesen, das rastlos strömend Neues emportreibt, nicht heran. Die Begriffe unserer Erklärungen töten alles Leben, sobald es gezwungen wir, in sie einzugehen. Sie machen die Dinge, die stets verschieden sind, uniform. Sie verfertigen nur Konfektionskleider, arbeiten nicht nach Maß für die wirkliche Wirklichkeit, in der alles ursprünglich und neu sich darstellt. Die gewöhnliche Wissenschaft lehrt Messen und Berechnen und bleibt damit beim Äußerlichsten und Oberflächlichsten, bei der Entspannung oder Ermattung und Auflösung der Lebensschwungkraft stehen. Berechnen und messen läßt sich nur das Feste, Starre, Tote. Das wahres Sein, das kontinuierlicher Fluß, beständiges Wallen und Wogen ist, erschließt sich allein der Intuition, und zwar nicht der passiven, sondern der tätigen Anschauung. Das Leben, nicht der Verstand ergreift das Leben in seiner Lebendigkeit als Zeitwirklichkeit oder  durée réelle. 

Schon damit ist implizite der Übergang zur Wertlehre vollzogen. Die  durée  bedeutet nicht zeitlose Ewigkeit, denn auch die wäre tot. Lebendigkeit des ewigen Lebens haben wir vielmehr an ihr, ein Begriff, der nur deswegen paradox erscheint, weil wir gewohnt sind, allein mit dem toten und tötenden Verstand zu denken. Das müssen wir uns abgewöhnen. Dann erkennen wir: das Universum ist, wie wir selbst, schöpferische Tat, aufquellendes, emporflutendes Werden und Geschehen und insofern zugleich göttlich. Der Mechanismus, der, weil er nur unwesentliche Ortsveränderung unveränderlicher Elemente kennt, alle Zeitwirklichkeit in räumliches Auseinander, alles Intensive in Extensives verfälscht, wird damit zum bösen Prinzip. Die echte Realität schafft immer neue Formen und Gestalten in unerschöpflichem Wachsen und Blühen. Die  évolution créatrice  ist das Letzte und Höchste. Die Substanz der Welt "ist" nicht im Sinne des starren Seins, sondern wird. Sie besteht nicht als Substanz, steht nicht still, ruht nicht, sondern lebt und wirkt. Nicht im Sein, sondern nur im Werden kann ein Lebendiges sich entfalten. Was sinkt, matt wird, beharrt, dahin fällt, fest wird, ruht, stirbt, ist ungöttlich.

Mit dieser Wert-Metaphysik des Lebens ist dann endlich eine Ethik, wenn man davon bei BERGSON reden will, aufs engste verknüpft. Sie stellt sich selbstverständlich als Lebensethik dar. Wenn wir fragen, was wir tun sollen, um unser Leben sinnvoll zu gestalten, kann die Antwort nur lauten: wir haben in der Intuition zu leben. Vom Verstand, durch den wir zu Sklaven unserer Bedürfnisse werden, und er, wie er alles erstarren läßt, auch uns selber fesselt, müssen wir uns befreien. Nur durch intuitive Hingabe an das Leben erobern wir uns sittliche Freiheit. Das Leben selbst bildet also nicht nur das wahre Sein, sondern auch das wahre Lebensziel. Zugleich ist es nicht ein und dieselbe Aufgabe für alle, sondern im freien Leben hat jeder sich sein besonderes Lebensziel frei zu wählen.

Das ist die "Lebensanschauung", die sich aus BERGSONs Weltanschauung ergibt, die "praktische" Philosophie, die aufs engste mit der "theoretischen" zusammenhängt. So verstehen wir seine Grundgedanken durchweg als die einer Lebensmetaphysik aus der Fülle des Lebens heraus für den lebendigen Menschen.

Auch quantitativ hat BERGSON in der wissenschaftlichen Philosophie mehr gewirkt, als NIETZSCHE. ZARATHUSTRA wird hauptsächlich von Deutschen gelesen und ist wohl unübersetzbar. BERGSONs Einfluß verbreitet nicht nur über Europa deutsche Gedanken in glänzendem französischen Gewand, sondern seine Wirkungen sind auch in Amerika zu spüren. Dort hat sich besonders WILLIAM JAMES, den viele als den größten Denker der Vereinigten Staaten preisen, begeistert an ihn angeschlossen. Am bekanntesten ist JAMES durch den von ihm sogenannten Pragmatismus geworden, der zur Philosophie des Lebens als dessen Erkenntnistheorie gehört, insofern er die Wahrheit eines Gedankens nicht an seiner theoretischen Bedeutung, sondern an seinem Nutzen für das Leben, an seiner Brauchbarkeit für die Lebenssteigerung messen will, ein alter Einfall, der in neuerer Zeit schon von NIETZSCHE, ja noch früher von MACH und AVENARIUS vertreten worden ist.

Im übrigen kann ein kurzer Hinweis auf JAMES genügen, denn wesentlich originiell Züge zeigt seine pluralistische Metaphysik nicht. Der interessanteste Punkt darin ist der, daß ein  Universum der Lebendigkeit nicht genügt, sondern die Welt als  Multiversum gedacht werden muß. Doch liegt der größte Wert dieser Ansicht vielleicht im Terminus. Die Ausführung läßt zu wünschen übrig.

Selbstverständlich haben wir es hier nur mit dem Lebensphilosophen und nicht mit dem Psychologen zu tun, der den Lebensphilosophen an wissenschaftlicher Bedeutung überragen dürfte. Wichtig wird JAMES für unseren Zusammenhang dadurch, daß er, der nach Abstammung und Kultur von NIETZSCHE und BERGSON sehr verschieden ist, trotzdem in manchen Grundgedanken überraschende Übereinstimung mit ihnen zeigt.

Einflußreichere Philosophen als diese drei nach Nationalität und Bildungsart so von einander abweichenden Denker gibt es heute nicht, und sie alle sind als Philosophen des Lebens zu bezeichnen. Damit haben wir die Modephilosophie unserer zeit auch in ihren berühmtesten einzelnen Vertretern charakterisiert.

Neben ihnen denken noch viele andere in verwandter Richtung, darunter auch solche, die man weder zu den reinen Lebensphilosophen noch zur eigentlichen Mode rechnen kann. Doch seien auch von ihnen hier einige ausdrücklich erwähnt, die geeignet sind, die weite Verbreitung und die Stärke der zeigemäßen Lebenstendenzen noch mehr hervortreten zu lassen, gerade weil sie in mancher Beziehung von der Modephilosophie abweichen.

So gehört GEORG SIMMEL in diesen Zusammenhang. Für die Geistesbewegungen, die ihn umgaben, besaß er ein ungewöhnlich feines Verständnis. Wir konnten uns auch ihn schon bei der allgemeinen Darstellung der Lebensphilosophie berufen, insofern er auch versucht hat, die Grundrichtung unserer Zeit mit dem Lebensbegriff in Zuammenhang zu bringen. Zugleich ist er, wenigstens mit einem Teil seiner Arbeit, selbst zu den Lebensphilosophen zu zählen. Er redet viel vom Leben und fast stets mit Emphase als dem Gegenstand seiner Liebe. Er hat nicht nur deutlich erkannt, daß um die Wende des zwanzigsten Jahrhunderts weitere Schichten des geistigen Europa ihre Hand nach einem neuen Grundmotiv für den Aufbau einer Weltanschauung ausstrecken, und daß dabei der Begriff des Lebens zur zentralen Stelle aufstrebt, während andere Zeitalter Begriffe wie den des Seins, der Gottheit, der Natur oder der Persönlichkeit in den Mittelpunkt rückten, sondern er hat auch, zumal in seinem letzten Werk, das Leben ausdrücklich zum Zentrum seines eigenen Denkens gemacht, in einer Weise freilich, die genau genommen schon eine Überwindung der reinen Lebensphilosophie bedeutet. Denn einmal versteht SIMMEL unter dem Wort Leben zwei grundverschiedene Begriffe, wodurch die für die andere Lebensphilosophie so wichtige Lebenseinheit aufgehoben wird und die Lebensimmanenz nicht einmal dem Namen nach gewahrt bleibt, und vollends bedeutet das, was SIMMEL die "Wendung zur Idee" nennt, ein Hinausgehen über alles Leben.

Auch abgesehen davon darf man diesen reichen Geist, der mit Bewußtsein Antisystematiker war, nicht auf ein Schlagwort festlegen wollen. Trotzdem bleibt er ein Lebensphilosoph im weiteren Sinne und zeigt sich dabei sowohl von NIETZSCHE als auch von BERGSON, also den eigentlichen Lebensphilosophen beeinflußt, ohne irgendwie seine Selbständigkeit zu verlieren. Insofern ist er für die Philosophie unserer Zeit charakteristisch.

Zugleich bildet er sachlich eine Überleitung zu Gedanken, die noch weniger zur Lebensphilosophie im engeren Sinn zu rechnen sind, aber doch auch Verwandtschaft mit ihr zeigen und daher hier ebenfalls erwähnt werden müssen.

Aus der älteren Generation ist vor allem WILHELM DILTHEY zu nennen, der völlig unabhängig von NIETZSCHE und BERGSON war, dagegen in engster Fühlung mit der deutschen Romantik stand, der eigentlichen Quelle der modernen Lebensphilosophie. Der Zeit nach gehört er zu den ersten Philosophen des Lebens. Wir erwähnen ihn trotzdem erst jetzt, weil er nicht eigentlich als Systematiker und noch weniger als Modephilosoph gelten kann. Er ist hauptsächlich Geisteshistoriker.

Wo er aber philosophiert, erklärt auch er: "Die letzte Wurzel der Weltanschauung ist das Leben." Dementsprechend hat er sein Denken auf "Erlebnisse" zu stützen gesucht schon in den Zeiten, als das Wort noch nicht so abgegriffen war wie jetzt. Besonders kommt es ihm auf das nacherlebende Verstehen an. Damit erstrebt er eine lebendigere Erkenntnis des geistigen Seins, als die naturwissenschaftliche Denkart mit Einschluß der gesamten modernen Psychologie sie zustande bringt. Nicht der vorgestellte, objektivierte, vom Leben abgerückte Kausalzusammenhang ist wichtig. Von der geistigen Welt braucht man nichts zu wissen, selbst wenn man alles Seelenleben naturwissenschaftlich exakt erklärt hat. Auch Probleme, wie das der Realität der Außenwelt sucht DILTHEY so zu lösen, daß er sich dabei nicht auf Verstandesschlüsse stützt, sondern das Wesentliche in dem Verhältnis des Willens zu dem Widerstand sieht, auf den dieser trifft.

Vollends spielen die Lebens-Überzeugungen in seine historischen Arbeiten hinein und bestimmen nicht allein ihre Methode, sondern auch ihren Stoff. Seine Jugendgeschichte HEGELs ist dafür bezeichnend. Den jungen HEGEL kann man zu den Lebensphilosophen rechnen, und er wird es vollends in DILTHEYs Darstellung. Andererseits interessierte sich DILTHEY dafür, wie die von ihm bekämpfte Meinung entstanden ist, d. h. wie es in einer jahrhundertelangen Arbeit seit GALILEI zur Verfälschung der Welt des lebendigen Geistes durch Anwendung von Verstandeskategorien der Naturwissenschaft kam, wie die mechanische Denkart mit ihren Qualitäten und Formen allen lebendigen Zusammenhang tötete, und wie überall die Lebenseinheit unter dem Einfluß der Molekularphysik zugunsten einer Zerteilung und Atomisierung weichen mußte, auch in Staat und Gesellschaft, ja sogar in der Religion.

So wendet sich dieser Lebensphilosoph als einer der ersten in mehrfacher Hinsicht gegen jeden Rationalismus, d. h. gegen die Meinung, es stecke im Verstandesmäßigen und Erklärbaren das Wesen der Dinge. Das gibt eine tote Weltanschauung, die alles zerstückelt und kein Ganzes kennt, das leben kann. Es gilt, im Gegensatz zu ihr die verstehende Intuition, die Anschauung der Lebenstotalität und des Lebenszusammenhang als echtes Organ einer umfassenden Geschichts- und Weltauffassung zur Geltung zu bringen.

Kurz, auch hier haben wir Lebendigkeit, Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit und anschauliche Irrationalität im Unterschied vom toten und abgeleiteten begrifflichen Wissen, und das stellt bei DILTHEY die sachliche Verbindung her mit NIETZSCHE und BERGSON, mit JAMES und SIMMEL, von denen er in anderer Hinsicht sich weit entfernt.

Vielleicht stößt es zunächst auf Widerspruch, wenn ferner in diesem Zusammenhang auch die streng wissenschaftlich gerichtete Schule der  Phänomenologen  genannt wird, an deren Spitze HUSSERL steht. Eine Philosophie des Lebens hat HUSSERL selber in der Tat nicht. Trotzdem zeigt sein Denken mit ihr Verwandtschaft, ja verdankt vielleicht gerade diesem Umstand einen großen Teil seiner Erfolge. Für weitere Kreise zugänglich sind HUSSERLs Ideen sonst gerade nicht. Jedenfalls hat sich im Anschluß an sie auch eine Lebensphilosophie entwickelt, und schon deswegen sind sie hier zu nennen.

Dabei kommt es selbstverständlich nicht auf die Herausarbeitung des Logischen gegenüber dem Psychologischen an, denn diese kann nur zu einer Ablehnung jeder Philosophie des bloßen Lebens führen, sondern auf die Lehre von der "Wesensschau", die HUSSERL zur Grundwissenschaft aller Philosophie machen will, und die ihm Anhänger verschafft hat. Auch sie suchen wir mit bewußter Einseitigkeit und insofern ungerecht als zeitgemäß im Zusammenhang mit den modernen Erlebnistendenzen zu verstehen, wenn wir daran denken, daß Phänomenologie die Lehre einer neu entdeckten Art anschaulicher und unmittelbarer "Erscheinungen" bedeutet. Es ist bei ihr mehr an GOETHEs Urphänomen als an HEGELs Phänomenologie zu denken.

Das ungetrübte Erfassen der originär gegebenen Phänomene ist der Sinn der phänomenologischen Einstellung. In Einheit und Eigenart sollen wir "das vor Augen Stehende sehen" lernen, nicht umwallt und umhüllt vom Nebel, den die wissenschaftlichen Theorien, besonders der üblichen Psychologie, davor ausgebreitet haben. "Das unmittelbare  Sehen,  nicht bloß das sinnliche, erfahrende, sondern das Sehen überhaupt als originär gebendes Bewußtsein welcher Art immer, ist die letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptungen." (3) Dies Nächste dürfen wir nicht vergessen über den Begriffen, die nur das abgelöste, umgriffene und dadurch entfernte Sein enthalten.

Das ist der Kernpunkt der Wesensschau nach phänomenologischer Methode, wenn wir sie den allgemeinen Strömungen der Zeit einordnen, und dies Dringen auf Unmittelbarkeit verbindet HUSSERL, obwohl nicht nur die Schlagworte der Zeit bei ihm fehlen, sondern er im tiefsten Grunde auch etwas völlig anderes will, doch mit der Lebensphilosophie nicht nur BERGSONs, sondern auch DILTHEYs, der sich nicht ohne Grund für diese Bestrebungen lebhaft interessierte.

Bedürfte es für die sachliche Verwandtschaft noch eines Beweises, so wäre zu beachten, daß MAX SCHELER als Anhänger HUSSERLs sich ausdrücklich dazu bekannt hat, er erhoffe von dieser Philosophie auf dem Boden des Lebens erst die volle Nutzung der großen Antriebe, die NIETZSCHE, DILTHEY und BERGSON unserem Denken erteilt haben. In geradezu feierlicher Weise weist er auf die Phänomenologie als auf die Erfüllung hin und verlangt mit charakteristischen Worten eine "vom Erleben der Wesensgehalte der Welt" ausgehende Philosophie, die eine neue Epoche bedeutet (4).

Beiträge zu einer solchen Philosophie des Lebens hat SCHELER selbst besonders in seinem Buch über den Genius des Krieges gegeben, in dessen grundlegenden, eigentlich philosophischen Kapiteln der Begriff des Lebens eine entscheidende Rolle spielt und dazu dient, den Krieg als Höhepunkt der staatlichen Wirksamkeit zu rechtfertigen. Bei der Kritik der Lebensphilosophie kommen wir hierauf zurück.

Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß das Leben nicht nur zur Grundlage aller Kultur gemacht werden, sondern auch dort die Basis des Denkens bilden soll, wo es darauf ankommt, die Kultur als etwas Unwesentliches herabzusetzen.

Das hat man im ausdrücklichen Anschluß an romantische Gedanken versucht. Charakteristisch in dieser Hinsicht ist ein "Beitrag zur Philosophie des Lebens" von dem Russen FRIEDRICH STEPPUHN, der sich zu FRIEDRICH SCHLEGEL bekennt (5). Die "Lebenswerte" werden als "Zustandswerte" allen "Leistungswerten" und damit allen Kulturwerten entgegengestellt. Das Leben selbst steht am höchsten, und zumal die Religion ist allein im reinen Erlebnis zu finden. Jede religiöse Kultur wird unsinnig. Nur Leben in Gott ist möglich. Alle Kultur beruht auf Schaffen und bedeutet Geschaffenes. Alles Schaffen aber ist Verneinen und Vernichten der positiven All-Einheit der Seele, in der alle Religiosität unmittelbar wurzelt.

Diese Philosophie des Lebens mit ihrer Sympathie für FRIEDRICH SCHLEGEL gibt eine interessante Nuane der Zeitphilosophie. SCHLEGEL meinte, daß nur in der heiligen Passivität der Mensch sich an sein Ich erinnern kann, um die Welt und das Leben anzuschauen, und er sah in der Faulheit das einzige gottähnliche Fragment, das dem Menschen beschieden ist. Dafür kann man sich auf die Vertreibung aus dem Paradiese berufen. Zu bedauern ist nur, daß wer solche Philosophie des Lebens konsequent "lebt", philosophische "Leistungen" nicht zustande bringen wird. Diese Weltanschauung der Zustandswerte drängt nicht zu objektiver Ausgestaltung in einem geschlossenen Gedankenzusammenhang, und so dürfen wir das "System" der vielleicht folgerichtigsten aller Lebensphilosophien leider nicht erwarten. Wer von diesem Lebensstandpunkt aus philosophiert, macht sich schon durch die "Leistung" des Philosophierens einer Inkonsequenz schuldig.

Eine Aufzählung von Lebensphilosophen, die Vollständigkeit anstrebt, ist hier nicht möglich und hätte auch keinen Zweck. Die Beziehungen zum Lebensbegriff reichen in die verschiedensten philosophischen Richtungen hinein. So könnte man z. B. auch die Gedanken FRIEDRICH PAULSENs hierher rechnen, obwohl das Schlagwort Leben bei diesem nicht starken, aber feinen und liebenswürdigen Denker fehlt. Für JAMES hatte er viel Sympathie, und seine KANTauffassung liegt in der modernen Richtung. Mit noch mehr Grund ist HANS VAIHINGERs "Philosophie des Als-Ob" in diesen Zusammenhang zu bringen. Zum Teil knüpft sie freilich an die sonderbare Mißdeutung KANTs an, mit der FORBERG am Ende des 18. Jahrhunderts schon FICHTEs energischen Widerspruch herausforderte, und liegt insofern von den Moderichtungen weit ab. Doch werden in ihr ausdrücklich auch die Fäden hervorgehoben, die sie mit NIETZSCHE und dem Pragmatismus verknüpfen, und auf ihnen beruth wohl die Teilnahme, die sie gefunden hat. Im Prinzip gehen ihre Gedanken für das, was hier wesentlich ist, nicht über das hinaus, was wir bereits kennen. Ein kurzer Hinweis auf sie kann daher genügen. Weitere Namen zu nennen hat keinen Sinn. Ihre Zahl ist groß, und ihre prinzipielle Bedeutung gering. Jede Mode hat viele Mitläufer.

Doch dürfen wir den Kreis der Lebensphilosophie auch nicht  zu  weit ziehen. Dies ist zu erwähnen, weil man sogar einen Denker wie RUDOLF EUCKEN mit BERGSON und JAMES zusammen genannt und gemeint hat, er suche ebenso wie diese sich von den Begriffen zum Leben zurückzuwenden (6). Gewiß kommt das Wort Leben bei EUCKEN oft vor, und ebenso ist es richtig, daß man in diesem eigenartigen und tiefen Denker nicht  nur  einen Erneuerer von FICHTEs Idealismus sehen darf. Aber es bleibt doch bei ihm die engste Fühlung mit der klassischen deutschen Philosophie grundwesentlich, und wollte man daher den Lebensbegriff so umfassend nehmen, daß auch EUCKENs "Geistesleben" darunter fällt, dann würde das Schlagwort jede greifbare und prägnante Bedeutung verlieren. Mag also EUCKEN das Wort Leben lieben, zu den Lebensphilosophen, die wir hier meinen, können wir ihn nicht zählen. Er hat von der modernen Lebensströmung keinen wesentliche Einfluß erfahren, sich vielmehr stets seine volle philosophische Selbständigkeit bewahrt.

Andrerseits gibt es Denker, die das Leben als Schlagwort nicht gebrauchen und trotzdem mit den Modeströmungen der Zeit eng zusammenhängen. Das gilt auch dann, wenn sie es nicht wissen. So läßt sich, um dafür ebenfalls wenigstens ein Beispiel zu nennen, das vielgelesene Buch mit dem sensationellen Titel "Der Untergang des Abendlandes" von OSWALD SPENGLER zum großen Teil als Produkt der modernen Lebenstendenzen verstehen, obwohl der "Wille zum Leben" bei seinem Verfasser wie bei Wotan im Ring der Nibelungen nur eines noch will: das Ende! Nicht allein GOETHE, sondern auch NIETZSCHE und BERGSON haben bei dieser "Morphologie" Pate gestanden. Der Begriff des "Faustischen", der mit dem des Dionysischen und insofern mit dem Lebensprinzip verwandt ist, geht durch das Ganze hindurch, und ebenso läßt der Gedanke der "Morphologie" eine Beziehung zu den Lebenstendenzen erkennen. Morphologie bedeutet hier Biologie. Daß die Geschichte nicht nach Art der "exakten" Naturwissenschaften zu behandeln ist, hat SPENGLER gesehen. Doch merkt er nicht, daß  jede  generalisierende, als auch die "morphologische" Darstellung dazu führen muß, das seinem Wesen nach stets individuelle Historische aus der Geschichte auszuschalten. Die Biologie vergewaltigt im Prinzip die geschichtliche Besonderheit, die sich nie wiederholt, ebenso wie die Aufstellung von "historischen Gesetzen". In der Verkennung dieses Umstandes kommt das moderne Lebensprinzip als Überschätzung des biologischen Denkens zum Durchbruch (7).

Auf andere Werke, die insofern für uns bedeutsam sind, als sie wenigstens zum Teil, ebenfalls ohne es zu wissen und zu wollen, von den Lebensstimmungen der Zeit getragen werden, kommen wir später zu sprechen. Prinzipiell neues würde die Darstellung ihres Inhaltes für eine Charakterisierung des zeitgemäßen Denkens nicht ergeben. Was über Einzelheiten zu sagen ist, wird zur Vermeidung von Wiederholungen besser erst bei der Kritik der Lebensphilosophie vorgebracht.

Schon jetzt muß trotz der Beziehung auf  einen  Grundgedanken das Bild der modernen Lebensphilosophe bunt genug sein, um nicht einseitig zu erscheinen. In seinem Lebensrahmen ist Platz für sehr heterogene Bestrebungen. Schöpferische Lebensschwungkraft und heilige Passivität des stillen Erlebens, das alles Schaffen verneint, französischer élan und russische Mystik mit bewußt unproduktiver Beschaulichkeit, hoffnungsfreudiger Lebensoptimismus des evolutionistisch gerichteten Übermenschentums und graue Verzweiflung an der Fortentwicklung des abendländischen Kulturlebens, antiwissenschaftliches Lebensprophetentum und strenge Wissenschaftlichkeit der Lebensschau, metaphysische Vertiefung in das Jenseits des Weltwesens und höchst diesseitiger pragmatischer Utilitarismus - sie alle gehen zusammen in diesem west-östlichen Lebensgebilde, das Europa durchquert.

Wie sollte das Lebens-Denken bei solchem Reichtum, der jedem etwas zu bieten scheint, nicht auch Mode geworden sein? Jedenfalls: weitaus die meisten Gedanken, die heute in der Philosophie "lebendig" sind, d. h. mehr als Gelehrsamkeit bedeuten und weitere Kreise ergriffen haben, stehen unter dem Zeichen einer Philosophie des Lebens, entweder ausdrüclich, oder wenn nicht den Worten, so doch der Sache nach. Die Lebensbegriffe umgeben uns als unsere philosophische Luft, ja sie sind der jüngeren Generaton schon zur so selbstverständlichen Atmosphäre geworden, daß man vielfach meint, es müsse immer so gewesen sein, und man dürfe überall nur zu "erleben " suchen, wenn man philosophieren will.

Dabei sei noch einmal hervorgehoben, daß diese Darstellung nicht daran denkt, das philosophische Schaffen unserer Zeit in seinen wesentlichen Richtungen zu erfassen. Das Wichtigste in der Gegenwart besteht vielleicht in dem, was bisher nur kleine Kreise interessiert hat. Von der Arbeit, die sich an große Denker der Vergangenheit anschließt und ihre Systeme weiter auszubilden sucht, war ebenfalls nicht die Rede, obwohl dieser Teil der Zeitphilosophie gewiß nicht als unwesentlich bezeichnet werden soll. Eine solche Absicht liegt um so ferner, als man auch den Verfasser dieses Buches zu denen rechnen kann, die sich um eine Weiterbildung des in der Philosophie des Deutschen Idealismus Begonnenen bemühen.

Wir haben uns also mit Bewußtsein auf weit verbreitete Tendenzen beschränkt. Damit wird kein Werturteil über sie gefällt, weder in positiver noch in negativer Hinsicht. Die Beschränkung erfolgte aus den angegebenen Gründen zu bestimmten wissenschaftlichen Zwecken.


Drittes Kapitel
Die Prinzipienlosigkeit der intuitiven Lebensphilosophie

    "Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein."
        - der Schüler -

Von der Darstellung der Lebensphilosophie wenden wir uns zu ihrer Kritik. Darunter ist nicht  nur  ihre Verneinung zu verstehen, sondern es gilt, auch ihren berechtigten Motive anzuerkennen. Dort weisen wir positiv auf etwas hin, das man eine "Philosophie des Lebens" nennen kann. Aber es wird sich dabei nicht um ein Philosophieren aus dem bloßen Erleben heraus handeln dürfen. Vielmehr ist das Leben zu etwas in Beziehung zu setzen, was selbst nicht Leben ist. Lebensphilosophie  fällt niemals mit dem Leben zusammen. Als Vorbereitung auf eine solche Philosophie  über  das Leben soll die Kritik  der  Lebensphilosophie dienen, die mit dem Leben allein auszukommen glaubt. Insofern liegt der Schwerpunkt auf der Verneinung.

Dabei können wir die Zeitphilosophie jedoch nicht als die Einheit nehmen, als welche wir sie absichtlich zuerst dargestellt haben. Wir müssen verschiedene Elemente in ihr sondern und bloße Lebensstimmungen oder Lebensgefühle oder Lebensinstinkte ganz auszuschalten suchen. Ihnen gegenüber hätte wissenschaftliche Kritik überhaupt keinen Sinn. Wir halten uns an das, was einen theoretischen Ausdruck gefunden hat, haben es also nur mit einem Lebensbegriff  zu tun.

Auch dieser aber erweist sich in der modernen Philosophie nicht als einheitlich, d. h. es sind in ihr verschiedene Lebensbegriffe vermischt. Sie müssen wir trennen. Nur die in sich klaren und eindeutigen Tendenzen lassen sich wissenschaftlich bekämpfen. So werden wir das Bündel von Stäben, vor dem wir bisher als vor einer Einheit gestanden haben, zerlegen und jeden Stab einzeln zu zerbrechen suchen. Was trotzdem in den Bestrebungen der Zeit Wertvolles steckt, und was wir daher zu bewahren haben, wird danach um so besser zutage treten.

Zunächst ist klar zu machen, daß der moderne Lebensbegriff zu  unbestimmt  ist, um ohne genauere Determination das Fundament einer wissenschaftlichen Philosophie zu bilden. Lebensstimmungen lassen sich auch mit vieldeutigen Schlagwörtern zum Ausdruck bringen, ja gerade auf der trüben Einheit der Lebensgefühle, die sie auslösen, beruth ein großer Teil ihres Reizes und ihres außerwissenschaftlichen Wertes. Für die Wissenschaft ist vor allem die Auseinanderhaltung von zwei prinzipiell verschiedenen Begriffen des Lebens wichtig, von denen der eine eine sehr umfassende Bedeutung hat, der andere dagegen sich auf einen engeren Kreis von Lebenserscheinungen beschränkt.

Die allgemeinste Lebenstendenz geht auf das Unmittelbare, Anschaulich,  Intuitive  überhaupt im Gegensatz zu jedem "tötenden"  Begriff.  Ihr Lebensbegriff kann daher geradezu als der Begriff des Begrifflosen bestimmt werden. Der andere Begriff dagegen paßt nur auf besondere Lebensvorgänge. Er meint das, was man gewöhnlich Leben im Gegensatz zum Toten nennt, das  Vitale,  wovon unter den Spezialwissenschaften die  Biologie  handelt. Die umfassendste Richtung ist als  intuitive  Lebensphilosophie zu bezeichnen, während die speziellen Bestrebungen an der Wissenschaft von den organischen Lebewesen orientiert sind und insofern einen  biologistischen  Charakter tragen.

Wir werden zuerst die intuitive Lebensphilosophie ins Auge fassen, um zu zeigen, daß es ihr an jedem klaren  Prinzip  fehlt, und daß sie deswegen zur Grundlage einer wissenschaftlichen Darstellung der Welt oder zur Herausarbeitung eines theoretisch aufgefaßten Kosmos sich nicht eignet. Dann müssen wir den Biologismus betrachten, der zwar Prinzipien hat, von dem sich jedoch nachweisen läßt, daß mit seiner Hilfe eine Philosophie als Lehre vom Weltganzen  oder eine "Weltanschauung" nicht aufzubauen ist, ja daß seine Prinzipien nicht einmal für eine "Lebensanschauung" im engeren Sinne als Deutung des menschlichen Lebens genügen.

Diese Trennung zweier Richtungen ist bei einer kritischen Stellungnahme nicht zu entbehren. Ausdrücklich sei jedoch bemerkt: die Modephilosophie unserer Zeit ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß in ihr intuitionistische und biologistische Momente sich  mischen.  Die Aufzeigung dieses Umstandes enthält schon ein Stück Kritik.

Zunächst fragen wir allgemein, was heißt Leben und lebendig? Welche Merkmale besitzt dieser Begriff, und wodurch unterscheidet sich das Lebendige vom Toten? Wovon hat es einen Sinn zu verlangen, daß es lebendig sei?

Nennt man, wie das nicht selten geschieht, alles lebendig, was man hochschätzt, und tot alles, was man nicht leiden kann, so ist damit nichts geleistet. Ja, die Begeisterung für das Leben muß von vornherein bedenklich erscheinen, wenn man nicht nur eine lebendige "Weltanschauung" fordert, sondern  alle  Wissenschaften, also auch die Spezialdisziplinen, deshalb gering schätzt, weil sie nicht lebendig genug sind.

Was sagt es gegen eine Naturwissenschaft, daß es ihren Begriffen an Leben fehlt? Den Naturalismus oder die Gleichsetzung des Weltalls mit der Natur und die ihr entsprechende Gleichsetzung der Philosophie mit der Naturwissenschaft mag man bekämpfen. Die naturwissenschaftlichen Spezialdisziplinen jedoch sollte die Philosophie sich selbst überlassen. Lebendig zu sein, ist nicht ihre Aufgabe. Eine lebendige Mathematik scheint, falls wir das Wort lebendig in irgendeiner der üblichen Bedeutungen nehmen, geradezu absurd, obwohl es so aussieht, als würde neuerdings auch sie verlangt. Mathematische Gebilde bleiben "tot", mag man sie noch so "beweglich" gestalten, und doch sagt das gewiß nichts gegen den Wert des mathematischen Denkens. Vielleicht feiert es vielmehr gerade dort seine höchsten Triumphe, wo es sich am weitesten von allem erlebten Leben entfernt.

Dasselbe sollte man auch bei der Physik und Chemie wenigstens für möglich halten. Es ist nicht ihre Aufgabe, die lebendige Natur darzustellen. Ja, es braucht ihnen an wissenschaftlicher Wahrheit selbst dann nicht zu fehlen, wenn sie versuchen, Begriffe  für  das  Leben  zu bilden. Das Bestreben, die Betrachtungsweise der Physik auf möglichst weite Gebiete des körperlichen Seins, über die tote Natur hinaus auf das Organische auszudehnen, ist  methodisch  unanfechtbar. Das Lebendige muß auch so dargestellt werden, daß es in einen verständlichen Zusammenhang mit der "Materie target="_blank"" kommt, die nicht organisch ist und insofern tot genannt werden kann. Wenn man Versuche in dieser Richtung heute geradezu verächtlich behandelt, und das Wort "mechanistisch" im Munde mancher Philosophen zum Schimpfwort geworden ist, so zeugt das von wenig "Philosophie". Die physikalische Auffassung ist für die Körperwelt nun einmal die  umfassendste,  und der allgemeinste, als "philosophische" Begriff für die  räumliche  Natur wird daher wissenschaftlich stets an der Physik orientiert sein.

Gewiß ist die Übertragung des körperwissenschaftlichen Denkens auf die seelische oder "geistige" Welt verfehlt. Aber die Organismen sind ebenso körperlich oder raumerfüllend wie die Erde, auf der sie sich allmählich entwickelt haben, und die Triumphe der Physik brachten schon so vieles ins Wanken, was man für fest hielt, daß kein "unmöglich" für die Ausbreitung der physikalischen Begriffsbildung auf die  gesamte  Körperwelt ohne Ausnahme ertönen sollte.

Selbstverständlich  ist  der Organismus kein Mechanismus. Aus dieser Binsenwahrheit aber, in der sich die Weisheit mancher vitalistischer Naturteleologen erschöpft, folgt nichts gegen den Versuch, auch das Organische unter physikalische oder chemische  Begriffe  zu bringen. Der farbige Körper  ist  ebenfalls kein  nur  quantitativ bestimmter Atomkomplex. d. h. Farbe ist als Farbe niemals Bewegung. Trotzdem hat es einen guten Sinn, zu sagen, daß auch  für  die farbigen Körper Begriffe mit quantitativem Inhalt gelten. Ebenso ist die Bildung physikalischer Begriff  für  das Organische berechtigt. Jeder Schritt in der Richtung, daß die Organismen eingeordnet werden in den allgemeinen Naturzusammenhang, bedeutet einen prinzipiellen Fortschritt, und das Ganze des körperlichen Seins darf zum mindesten nicht  antimechanisch oder  antiphysikalisch gedacht werden, weil sonst jede einheitliche Auffassung der Körper welt  als einer Totalität unmöglich wird. Eine Philosophie, die für Bestrebungen einer  allgemeinen  Körpertheorie kein Verständnis hat, ist nicht im guten Sinn universal.

Doch das betrifft ein spezielles Problem. Das allgemeine Prinzip, das wir im Auge haben, kommt dabei nur insofern zum Ausdruck, als es gilt, zwischen einem Wirklichen und dem Begriff  von  diesem Wirklichen zu scheiden.

Unsere Hauptfrage besteht darin, ob sich das Leben zu einem umfassenden philosophischen  Weltbegriff ausgestalten läßt, und da scheint es in der Tat, als besitze zumal das Wort "Erleben" eine Bedeutung, die geeignet ist, den allgemeinsten Rahmen für das Denken aller Gegenstände abzugeben.

Was wir nicht "erlebt" haben, ist für uns nicht vorhanden, vermag also auch nicht in die Philosophie einzugehen. Insofern scheint gerade die  universale  Wissenschaft zu einer Philosophie der Erlebnisse werden zu müssen. Wovon sollte sie sonst handeln? Sie hat kein anderes Material. Ihre Welt ist die erlebte Welt. Den Inbegriff aller Erlebnisse also, wird man sagen, hat die Philosophie so zu erfassen, daß sie ihn einheitlich und systematisch gliedert, und daraus kann nur eine  Lebensphilosophie entstehen. Müssen wir doch sogar dann, wenn wir von etwas sagen wollen, daß wir es  nicht  anerkennen, es in irgendeiner Weise erlebt haben. Sonst könnten wir nicht sinnvoll davon reden. Worte, die nicht ein Erlebnis meinen, sind bedeutungsloser Schall, den weder wir, noch andere verstehen. Insofern scheint die Lebensphilosophie im unbezweifelbaren Recht.

Sehen wir jedoch genauer zu, so ist dies Recht teuer erkauft. Nehmen wir einmal an, alles Denkbare sei notwendig "Erlebnis". Man kann das wohl sagen. Aber was folgt daraus?

Der Lebensbegriff wird völlig leer, sobald er auf alles geht, was es gibt oder nicht gibt. Ein Wort, das  jedes  denkbare Etwas bezeichnen soll, verliert notwendig die prägnante Bedeutung. Seine Verwendung für eine Philosophie des Lebens, die sich von anderen Arten des Philosophierens unterscheiden will, ist nicht mehr fruchtbar. Das Erlebte wird zum indifferenten Namen für Seiendes und Nichtseiendes, Beharrendes und Wechselndes, Festes und Fließendes, Sichtbares und Unsichtbares, Sinnliches und Übersinnliches, Unmittelbares und Reflektiertes, Inhalt und Form, Konkretes und Abstraktes, Gegebenes und Vermitteltes, Anschauung und Begriff, Subjekt und Objekt, Ich und Du, Körperwelt und Seelenleben usw. usw.

Das alles muß irgendwie "erlebt" sein, gewiß, denn sonst wüßten wir nichts davon. Sonst gäben die Worte keinen Sinn, den wir verstehen. Aber eine auf  diese  Wahrheit gestützte "Philosophie des Lebens" hat nichts mehr mit der Denkrichtung zu tun, die auf das Werdende und Fließende, Unmittelbare und Konkrete, auf die Anschauung und ihre Fülle den  Schwerpunkt  legt, um das Beharrende und Feste, das Reflektierte und Abstrakte, das Vermittelte und den unanschaulichen Begriff zurückzustellen.

Allerdings kann man das Wort erleben so verwenden, daß der Satz: alles, wovon wir bedeutungsvoll reden wollen, muß irgendwie "erlebt" sein, richtig ist. Ja, wir tun gut, uns die darin steckende Wahrheit ausdrücklich zum Bewußtsein zu bringen. Will man jedoch darauf allein schon eine Philosophie des Lebens gründen, so ist das Ergebnis nichts weniger als neu. Nur der  Name  hat sich geändert. Erlebtsein heißt dann dasselbe wie "gegeben" oder auch "bewußt" sein, und die Lehre, die so entsteht, deckt sich mit der, die man sonst als erkenntnistheoretischen Idealismus oder als Standpunkt der Immanenz bezeichnet. "Die Welt ist Vorstellung." Das steht in der Tat am  Anfang  der Philosophie, und falls man dabei bleiben will, kommt man zur Philosophie der reinen Erfahrung.

So wichtig jedoch diese Besinnung auf den Gegebenheits- oder Bewußtseinscharakter alles Denkbaren in mancher Hinsicht sein mag, so wenig enthält sie schon das Fundament für eine Philosophie des Lebens in irgendeiner prägnanten Bedeutung dieses Wortes. Das wird sofort klar, wenn man daran denkt, daß nach der Immanenzlehre das Tote ebenso "erlebt" ist, wie das Leben. Alles Starre und Unlebendige, das die moderne Philosophie des Lebens bekämpft, kennen wir doch auch nur insofern, als es uns "gegeben"ist, als wir es "vorstellen" oder "im Bewußtsein" haben. Der tote Mechanismus gehört zum "Erlebnis" nicht weniger als der lebendige Organismus. Man kann daher auf Grund  dieses  Lebensbegriffes nicht von einer Philosophie des Lebens im Gegensatz zur Philosophie des Todes reden.

Zur Kennzeichnung des umfassendsten Erlebnisstandpunktes wird man daher gerade im Interesse einer Philosophie des Lebens die alten, üblich gewordenen Ausdrücke wie Standpunkt der "Immanenz" oder des "Bewußtseins" oder der "Erfahrung" vorziehen und darauf hinweisen, daß die Besinnung auf den Erlebnis-Charakter alles Denkbaren, wie sie z. B. WILLIAM JAMES als "radikalen Empirismus" vertritt, wohl den ersten Schritt der Philosophie, aber zugleich auch  nur  ihren ersten Schritt bedeutet, auf den noch viele andere folgen müssen, falls eine Philosophie des Lebens, wie unsere Zeit sie anstrebt, entstehen soll.

Selbstverständlich sagt dieser Umstand für sich allein noch nichts gegen die Lebensphilosophie überhaupt. Es trifft nur ihre nächstliegenden und scheinbar plausibelste Begründung. Gewiß kann man mit dem Worte Leben noch eine engere Bedeutung verbinden, die trotzdem vielleicht universal genug bleibt, um zur Bestimmung eines allgemeinen philosophischen Standpunktes brauchbar zu sein. Auch von solchen engeren Lebensbegriffen ist also zu reden.

Am nächsten liegt dabei der Gedanke, alles Unmittelbare und Ursprüngliche oder alles  Anschauliche,  d. h. noch nicht begrifflich Bearbeitete, Leben zu nennen und darin dann das Wesen der Welt zu sehen, wie sie ist.

Hierauf kommen in der Tat manche Lebenstendenzen der Philosophie unserer Zeit hinaus: die "Formen", in welche der Verstand die Welt bringt, machen das Leben "unlebendig". Es gilt daher, vorzudringen zum ungeformten, unverfälschten, reinen Inhalt, wie er sich der unmittelbaren Intuition als "echtes" Leben darbietet. In diesem Sinn, wird man sagen, sei auch der Ausdruck Erlebnis allein zu verstehen. Man will damit alle umformenden Zutaten, die Abtötung bedeuten, ausschließen. Meint man so nicht die Erlebnisse überhaupt, sondern die Erlebnisinhalte  im Gegensatz zu jeder Form, dann hat es in der Tat einen guten Sinn, zu fragen, was das reine, ungetrübte, unentstellte, noch nicht abgerückte und dadurch unlebendig gewordene Leben selbst ist. Damit erhält man dann einen bestimmten Lebensbegriff, auf den sich die schon genannte intuitive Lebensphilosophie stützt, nämlich den Begriff des formlosen und, weil jeder Begriff irgendeine Form voraussetzt, zugleich begrifflosen, bloß anschaulichen, nur durch Intuition zu erfassenden Lebensinhaltes. Insofern ist bei diesem zweiten Lebensbegriff alles klar.

Genügt er aber auch zur Grundlegung einer Philosophie des Lebens? Man scheint es dort zu glauben, wo man auf Intuition im Gegensatz zum Verstand dringt. Wir können selbstverständlich bei einer prinzipiellen Kritik nur die Arten der intutitiven Lebensphilosophie ins Auge fassen, die mit der Anschauung und der Ablehnung aller umformenden Verstandesbegriffe ernst machen. So lange man noch von einem mehr oder weniger an Anschauung und dementsprechend von einem mehr oder weniger an Verstandesform redet, ist eine grundsätzliche Entscheidung nicht möglich. Dann kommt es nur auf das Maß von Erlebnisinhalt und auf das Maß von nicht erlebter Form an, das von einer Philosophie des Lebens verlangt wird, und darüber läßt sich selbstverständlich streiten. Wir dürfen also nur fragen, wie eine Philosophie des Lebens aussehen muß, die sich  ausschließlich  auf das intuitive Erlebnis der Lebensinhalte stützen will, und sobald auch nur die Frage so gestellt ist, sollte einleuchten: je konsequenter man das Leben als reinen Inhalt der Anschauung im Gegensatz zu  jeder  Verstandesform zu erfassen sucht, um so mehr  entfernt  man sich damit vom wissenschaftlichen Denken überhaupt.

Wie soll es Theorie ohne jede Form aus bloßem Inhalt, ohne jedes Denken durch bloße Intuition, ohne jeden Begriff aus bloßer Anschauung geben? Gewiß bleibt es richtig, daß die Philosophie Inhalt braucht, und daß alle Inhalte, die wir begrifflich formen wollen, auch anschaulich erlebt sein müssen. Aber dazu ist wieder, wie beim ersten Erlebnisbegriff, zu bemerken, daß gerade weil das für  alle  Inhalte zutrifft, die wir überhaupt formen können, damit noch nichts über einen  besonderen  Inhalt gesagt ist, der geeignet wäre, die Philosophie des Leben von anderen Arten des Philosophierens zu  unterscheiden . Das anschaulich intuitive Erleben der Inhalte mag also Vorbedingung des Philosophierens sein, doch gibt es für sich allein noch keine Philosophie. Das sollte keines Beweises bedürfen und ist hier nur gesagt, weil sogar darüber in mancher Philosophie des Lebens erstaunliche Unklarheit besteht.

Auch der Umstand, daß viele philosophische Gedankengebilde zu  wenig  anschaulich erlebten Inhalt aufweisen und deshalb vielleicht mit Recht "tot" gescholten werden, darf für die intuitive Lebensphilosophie nicht als Begründung gelten. Damit käme man nur zu dem Satz, daß Begriffe ohne Anschauung leer sind, und in ihm steckt doch noch keine Philosophie des Lebens.

Man spricht vom Hunger nach Anschauung in unserer Zeit, und das Bedürfnis nach Intuition läßt sich überall dort gut verstehen, wo gewisse Formen, die das Leben annimmt, sich "überlebt" haben, oder wo Begriffe, die nur an einem besonderen Teil der Weltinhalte gebildet und insofern einseitig ausgefallen sind, zu Weltallbegriffen erweitert werden, wie z. B. bei der "monistischen" oder der mechanistischen Weltanschauung. Ihnen gegenüber kann eine Abneigung gegen die tötenden Formen entstehen. Begründet aber ist sie nur, falls sie sich allein gegen besondere  Arten  von Formen richtet. Irgendwelche Verstandesformen bleiben unentbehrlich. Auch eine Philosophie der Erlebnisinhalte kommt ohne Begriffe nicht aus. Sie bliebe sonst theoretisch unverständlich, könnte überhaupt nicht in sinnvollen Sätzen zum Ausdruck gebracht werden.

Jede Philosophie sieht sich also vor die Frage gestellt, in welche Formen die Lebensinhalte eingehen müssen, um für die philosophische Auffassung des Lebens bedeutsam zu werden, und damit hat sich der Schwerpunkt vom Lebensinhalt wieder auf die Lebensform verschoben. Daß gewiße Formen das Leben töten, bedeutet lediglich etwas Negatives. Wo man glaubt, nur Erlebnisinhalte ohne jede Form in die Wissenschaft aufzunehmen, täuscht man sich, denn erst in der Form des Begriffs hört die Anschauung auf, theoretisch "blind" zu sein, wird sagbar, übertragbar, theoretisch different oder wahr. Absolute Formlosigkeit kann daher die Wissenschaft nie "lebendig" machen, sondern muß sie "töten".

Zur Anwendung dieses sehr einfachen Prinzips auf unsern besonderen Fall genügt wieder der Gedanke, daß der Inhalt des Toten, Starren und Unlebendigen ebenso als Erlebnisinhalt zu bezeichnen ist, wie der Inhalt dessen, was man im Unterschied von ihm lebendig nennen will. Damit fällt von neuem der unentbehrliche Gegensatz des Lebendigen zum Toten fort, auf den für eine Philosophie des Lebens geradezu alles ankommt. So hilft der zweite Begriff des Erlebnisses als der des reinen Lebensinhalten im Unterschied von jeder Form dem Lebensphilosophen ebensowenig weiter, wie der Begriff des Erlebnisses überhaupt, der Form und Inhalt gleichmäßig umfaßt.

Daraus folgt, daß man dem Wort Leben eine noch engere, dritte Bedeutung verleihen muß, falls es in einer Philosophie des Lebens brauchbar werden soll. Das Wort Erlebnis wäre denn auch gewiß nicht so beliebt geworden, wenn es nur die beiden bisher betrachteten, sehr umfassenden Bedeutungen hätte, die es zur Verwendung in einer universal gerichteten Wissenschaft geeignet zu machen scheinen.

Man versteht unter Erlebnis vielmehr noch etwas ganz anderes. Das geht schon daraus hervor, daß man das Wort vielfach in ähnlicher Weise wie auch das "Ereignis" mit Emphase gebraucht. Dann will man damit sagen, daß das, was wir im eigentlichen Sinne "erlebt" haben, uns nicht  fremd  geblieben, sondern zu unserem Eigentum oder zu einem Stück unseres Selbst geworden ist, sich in die Tiefe unseres Wesens gesenkt und dort verankert hat. Damit erst bekommt das Erlebnis  Bedeutung  für das Leben, d. h. zunächst für unser eigenes persönliches Leben und dann eventuell für das Leben überhaupt.

So gewinnen wir im Erlebnis in der Tat einen noch engeren und bestimmteren Begriff. Das zum "Erlebnis" gewordene Erlebte ist nun das Wesentliche, Wichtige, oder um es klarer zu sagen, das mit einem  Wert  Verknüpfte. Im Gegensatz zu ihm steht das Gleichgültige, Bedeutungslose, Wertfreie, Fremde und insofern Tote, das zu keinem Erlebnis für uns werden kann, weil es uns nichts  angeht.  Das Erlebnis bedeutet dann also nicht nur das, was  ist,  sondern zugleich das, was sein  soll,  weil es Wert hat. Wir  wünschen  uns "Erlebnisse", um damit unser Leben zu bereichern und lebenswert zu machen. Erlebnisse im weitesten Sinn zu wünschen, wäre unmöglich, denn die haben wir immer.

Können wir diesen Begriff des Erlebnisses aber auch für eine Philosophie des Lebens verwenden?

Man wird vielleicht meinen, daß gerade das allerding die Aufgabe der Lebensphilosophie sei: sie habe die für uns  wesentlichen  oder  bedeutungsvollen  Erlebnisse darzustellen und sie aus der unübersehbaren Fülle unserer gleichgültigen Erlebnisinhalte herauszuheben. Vielleicht ist das auch richtig. Aber ebenso steht andererseits fest: ein wissenschaftliches  Prinzip  der  Auswahl  ist damit allein noch nicht gefunden, daß wir ein Erlebnis mit Emphase "Erlebnis" nennen und es damit zu den "wesentlichen" Erlebnissen rechnen. Was wir mit diesen Worten sagen wollen, scheint zwar klar, ja selbstverständlich, so lange wir das für unser individuelles, persönliches Eigenleben Wesentliche meinen. Dann unterscheiden wir in vielen Fällen mit Sicherheit alles, was  unser  Leben ist, von dem, was ihm fremd bleibt:
    "Was euch nicht angehört,
    Müsset ihr meiden,
    Was euch das Innre stört,
    Dürft ihr nicht leiden."
Mit instinktivem Gefühl vollziehen wir die Trennung.

Wollten wir uns aber darauf auch beim Philosophieren beschränken, so würde gerade das fehlen, was zum Aufbau einer Philosophie des Lebens unentbehrlich ist. Sie will doch in allgemeiner, überindividueller, notwendiger und mitteilbarer Weise eine Scheidung unter den Erlebnissen vollziehen. Was verdient es, daß wir es als wesentlich in die Wissenschaft aufnehmen? Was ist im theoretischen Sinn "Erlebnis"? Solange wir nur leben, stellen wir diese Frage nicht. In einer Lebensphilosophie  wird dagegen dies Problem von entscheidender Bedeutung. Persönliche Wünsche und Stimmungen, die etwas zum bedeutungsvollen Erlebnis machen, erscheinen als individuelle Launen und dürfen nicht maßgebend sein.

So kommen wir zu folgendem Resultat. Jeder hat seine  eigenen  "Erlebnisse" und unterscheidet sie von den übrigen erlebten Inhalten, die ihn nichts angehen. Bleiben sie aber  nur  seine eigenen, dann ist die Trennung wissenschaftlich irrelevant. Gerade die Bedeutung, die das Wort Erlebnis beliebt gemacht hat, und die gestattet, es mit Emphase zu gebrauchen, hilft uns für sich allein in der Wissenschaft noch nicht einen Schritt weiter. Damit hat sich auch der dritte Erlebnisbegriff als philosophisch unbrauchbar erwiesen, und es ist nicht einzusehen, wie wir mit dem bloßen Erleben zum Aufbau einer Philosophie des Lebens kommen sollen. Ohne allgemeines, für alle gültiges  Prinzip  der  Auswahl  gibt es keine Wissenschaft.

Das führt auf einen Gedanken zurück, der am Anfang erwähnt wurde. Wir brauchen das System, um aus dem Weltchaos den theoretisch aufgefaßten Weltkosmos herauszuarbeiten. Darin erkennen wir jetzt einen besonderen Ausdruck für die Unentbehrlichkeit der  Form  gegenüber der verwirrenden Fülle der Inhalte. Der Gedanke muß auch das ungenügende der reinen Erlebnisphilosophie, wie jedes "radikalen Empirismus", zum Bewußtsein bringen. Der bloße Inhalt fällt mit dem Erlebnisinhalt zusammen. Der Lebensbegriff in dieser umfassenden Bedeutung führt uns nicht über den bloßen Inhalt hinaus. Was macht aus dem Lebenschaos den Lebenskosmos? So müssen wir fragen, falls wir Klarheit über die Möglichkeit einer Philosophie des Lebens suchen.

Von hier aus nehmen wir sogleich zu bestimmten Arten der modernen Lebensphilosophie Stellung. Sie erweisen sich unter diesem Gesichtspunkt gerade durch ihre Berufung auf die  Fülle  des unmittelbar Erlebten, die sie für viele anziehend macht, weil sie dadurch den Hunger nach lebendiger Anschauung zu stillen versprechen, als wissenschaftlich undurchführbar. In dem, worin sie ihre Stärke suchen, liegt unter philosophischen Gesichtspunkten ihre Schwäche: zur Gestaltung eines Lebenskosmos sind sie grundsätzlich unfähig. Sie kommen entweder zu einer auf spezialwissenschaftliche Begriffe gestützten, also spezifisch unphilosophischen, engen Weltanschauung, oder falls sie diese Klippe vermeiden, zu einer rein willkürlichen Überwindung der chaotischen Lebensmannigfaltigkeit, die überhaupt nicht als theoretisch angesehen werden darf.

Bei der Anwendung dieses Prinzips zur Kritik der einzelnen Lebensphilosophen ändern wir die Reihenfolge, die wir bei der Darstellung eingehalten haben. Zu der vor allem als intuitiv zu bezeichnenden Lebensphilosophie gehören die eigentlichen Modephilosophen nicht. Diese haben, wie schon angedeutet, neben der intuitiven Tendenz das Prinzip des Biologismus, von dem später die Rede sein wird. Die Arten der Lebensphilosophie, die wir zuerst betrachten, sind zwar umfassender, aber gerade deswegen völlig prinzipienlos. Was wir damit meinen, sei an zwei Beispielen, an DILTHEYs Historismus und an der Auffassung der Phänomenologie erläutert, welche deren Einstellung ausdrücklich mit der intuitiven Lebensphilosophie in Verbindung bringt.

Von DILTHEY sagten wir, daß er mehr Historiker als Philosoph war. Er ist auch als Philosoph Historiker geblieben. Der Geschichte wollte er seine philosophischen Prinzipien entnehmen. Sie aber ist, wie nicht bestritten werden wird, bisher wenigstens, keine systematische Wissenschaft, und so konnte bei DILTHEYs Bemühungen auch keine systematische Philosophie entstehen. Von hier aus läßt sich die Prinzipienlosigkeit seines Philosophierens, gerade so weit es mit der Richtung auf Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit, also mit dem Intuitionismus zusammenhängt, als notwendig verstehen, und das ist lehrreich.

DILTHEY besaß einen ungemein feinen Sinn für die Fülle der geschichtlichen Gestalten. Das Leben verschiedener Zeiten auf verschiedenen Gebieten des Geistes, das einst lebendig war, aus den Quellen wieder zu vergegenwärtigen und von neuem lebendig zu machen, hat er verstanden wie wenige. Sein Geist umfaßte sehr viel "Geist". Im Nacherleben und Einfühlen war er Meister. Selbstverständlich vollzog er dabei eine  Auswahl.  Kein Historiker kann alles, was in der Vergangenheit geschehen ist, in seine Darstellung aufnehmen. Aber als Historiker braucht er sich um die Gründe, warum ihm gerade dies "wesentlich" wird und anderes nicht, wenig zu kümmern. Dafür, daß er die richtige Auswahl trifft, darf er sich auf seinen "Instinkt" oder sein "Gefühl" verlassen. Ja, nur wenn er einen solchen Instinkt für das geschichtlich Wesentliche besitzt, ist er ein "echter" Historiker. Das hängt mit dem unsystematischen Charakter der Geschichte zusammen und bedarf hier keiner weiteren Erörterung (8).

Ebenso gewiß reicht jedoch der historische Instinkt in der Philosophie nicht aus. Das, worauf die Stärke des Geschichtsschreiber beruth, führt hier wie in jeder systematischen Wissenschaft zur Unproduktivität. Gerade weil DILTHEY bei der Fülle des vergangenen Lebens liebevoll verweilte, ohne sich in seiner Teilnahme irgendwie beschränken zu lassen, konnte er nie zum systematisch denkenden Philosophen werden. Als Historiker wußte er freilich genau, was für ihn verwendbar war und was nicht, und er erkannte daher deutlich, daß die nach naturwissenschaftlicher Methode generalisierend verfahrende Seelenlehre sich nicht, wie geschichtsfremde Psychologen wähnen, zur Basis der geschichtlichen Disziplinen eignet. Seine Kritik an der psychologischen "Grundlegung" der Geisteswissenschaften war treffend. Aber die neue "Psychologie", die er an die Stelle der alten setzen wollte, blieb im Dunkel, ja war überhaupt keine Psychologie, so daß gerade seine  psychologischen  Gegner in dieser Hinsicht leichtes Spiel hatten.

Hätte DILTHEY sich auf die Geschichte des "geistigen" Lebens und auf die Abwehr geschichtsfremder naturalistischer Spekulationen beschränkt, dann stünde er einwandfrei da. Auch der fragmentarische Charakter seiner Werke würde nicht stören. Geschichte ist stets fragmentarisch, ja muß es sein. Es ist zu bedauern, daß man sich an dem Historiker DILTHEY nicht einfach freuen und seine Philosophie beiseite lassen darf. Wegen des Einflußes, den sie gewonnen hat, müssen wir bei einer Stellungnahme zur Lebensphilosophie unserer Zeit leider auch darauf hinweisen: aus seiner philosophischen Not wollte dieser so reiche Forscher und Versteher eine Tugend machen, und die Folge ist, daß es bei ihm so aussieht, als habe die Philosophie nur noch die Aufgabe, zu sammeln, was früher einmal Philosophie  war.  Die verschiedenen Typen der Weltanschauung werden friedlich neben einander gestellt, als wäre es mit dem selbständigen Philosophieren für alle Zeiten vorbei, als hätte die Philosophie sich ausgelebt oder zu Ende gelebt in einer Reihe von Gestalten, die nun als abgeschlossen betrachtet wir, während doch die Geschichte dann erst zu Ende sein  kann,  wenn die Menschheit aufgehört hat, zu atmen.

Für DILTHEY wird aus der geschichtlichen Welt die Welt überhaupt. So ensteht die Weltanschauung des Historismus, die gewiß keine "lebendige" Weltanschauung ist, ja den Namen einer Weltanschauung ebensowenig verdient, wie der Naturalismus. Beide sind  inhaltlich  zwar sehr verschiedenfffff. Aber ihr Grundgebrechen beruth auf demselben Prinzip: aus den Begriffen einer Spezialwissenschaft wollen sie Philosophie machen. Das verengt den Weltanschauungshorizont in einer unerträglichen Weise.

Ja, der Historismus ist  noch  unphilosophischer, als der Naturalismus, weil Geschichte keine systematische Wissenschaft ist. Der Naturalist hat wenigstens ein Prinzip und einen systematischen Gedankenzusammenhang, mag dieser auch zu eng und einseitig sein. Der philosophierende Historiker klammert sich an alle möglichen Gestalten der Vergangenheit, die ihn nur unter geschichtlichen Gesichtspunkten interessieren und daher systematisch ganz zufällig bleiben müssen. So wird er aus der Fülle der geschichtlichen "Erlebnisse" heraus der Feind gerade einer wahrhaft "lebendigen" Philosophie, denn auch die lebendigste Vergangenheit ist tot im Vergleich zum philosophischen Gegenwartsleben.

So verstehen wir: diese angebliche Philosophie des Lebens hat sowohl antiphilosophisch als auch lebensvernichtend gewirkt, wo ihre Tendenzen Gehör fanden. Nicht zufällig ist DILTHEYs Lebenswerk bei all seinem Reichtum an Einzelheiten Fragment geblieben, und auch keiner seiner zahlreichen Schüler hat es aus diesem Zustand erlöst. Auf seinem Wege konnte kein Ganzes entstehen.

Das Prinzip der Prinzipienlosigkeit reicht weit über diese Persönlichkeit hinaus. Deswegen war davon zu sprechen. Wir haben es mit einer unter den Gelehrten weit verbreiteten Richtung zu tun. Historische Feinfühligkeit und Pietät müssen, sobald man aus ihnen eine "Weltanschauung" macht, dem Leben, das aufsteigen will, schädlich sein. Deshalb sollte gerade die echte Philosophie des Lebens gegen  diese  Lebensphilosophie sich wenden, die Vergangenes nicht allein lebendig erhalten, sondnern an die Stelle des gegenwärtigen Lebens setzen möchte. Der "historische Sinn" kann gewiß etwas Herrliches sein, aber er muß eine  Spezialität  bleiben. Der Historismus ist zu bekämpfen. Historische Philosophie gibt es nicht.

Wir haben hier umso mehr Grund, sie abzulehnen, als die Geschichte der Kultur ein unentbehrliches  Material  auch für den Aufbau des Systems der Philosophie bildet. Von einer Geringschätzung der historischen Wissenschaften darf in der Philosophie keine Rede sein. Das Geschichtliche ist jedoch für den Philosophen zugleich  nur  Material. Ja, dann allein, wenn es ihm gelingt, seine Fülle nicht geschichtlich, sondern systematisch zu gliedern und so alles  bloß  Geschichtliche auszuschalten, darf er hoffen, zur Philosophie zu kommen. Sonst sieht er in die Welt, die er einheitlich als Kosmos zu erfassen hat, wie in einen Guckkasten, in dem ein Bild nach dem andern vorüberzieht, ja nachdem der Zufall es bringt. Multa non multum. Vielerlei und philosophisch sehr wenig.

Freilich "Weltanschauung" kann man auch die Ansicht nennen, nach der die Welt nichts anderes als ein großes Bilderbuch darstellt, in dem zu blättern die einzig menschenwürdige Beschäftigung ist. Aber eine  philosophische  Weltanschauung gibt das nicht. Der Philosoph muß dem geschichtlichen Leben gegenüber die Frage stellen, die der Historiker ignorieren darf,  warum  aus der Vergangenheit gerade diese und nicht andere Gestaltungen, die es doch auch gegeben hat, "wesentlich" sind und warum die geschichtliche "Welt" gerade aus diesen und nicht aus jenen Bestandteilen aufgebaut ist. Wo der Historiker sich auf seinen Instinkt verlassen kann, hat der Philosoph auf prinzipielle Klarheit zu dringen. Sobald er dann die Frage dahin beantwortet hat, daß jede historische Darstellung auf einer theoretischen Beziehung auf bestimmte Kulturwerte beruth, muß deutlich werden, daß es für die Geschichte als Geschichte ein System nicht geben kann, und daß es daher unmöglich ist, die geschichtliche Welt zum Kosmos im philosophischen Sinn auszugestalten.

Prinzipienlos, wenn auch in anderer Weise, muß die Philosophie bei der  phänomenologischen  Einstellung sich gestalten, falls man diese so versteht, wie SCHELER sie interpretiert und preist.

Niemand wird behaupten, daß hier die intime Kenntnis der Vergangenheit die lebendige Gegenwart beeinträchtigt. Bisweilen könnten man bei Phänomenologen vielleicht sogar etwas mehr bewußten Zusammenhang mit den großen Denkern früherer Zeiten wünschen. Immerhin, Historismus finden wir hier nicht. HUSSERL hat in schlagender Weise DILTHEYs Historismus mit dem schlichten Hinweis bekämpft, daß das geschichtliche Denken über die Wahrheit oder die Unwahrheit eines Gedankens nie entscheiden könne und daher in der Philosophie ebensowenig maßgebend sei, wie in der Mathematik.

Von HUSSERL jedoch soll hier weiter nicht die Rede sein. Er selbst gehört nicht zu den Lebensphilosophen. Neue  Phänomene " hat er zum Bewußtsein gebracht, die bisher nicht beachtet waren, und zumal durch feine Unterscheidungen verwandter und gleich benannter Begriffe unsere Kenntnis außerordentlich bereichert. Wie freilich auf diesem Wege der Aufbau eines philosophischen Systems zustande kommen soll, ist noch nicht zu sehen. Es fehlen die Umrisse eines Kosmos, und durch bloße Wesensschau vereinzelter Phänomene, die keinen anderen Leitfaden kennt, als die Wortbedeutungen der Sprache, zumal der vereinzelten Worte, die doch erst in Sinnzusammenhängen von  Sätzen  sich bestimmen lassen, wird auch niemals ein Kosmos zutage treten. Das bezweifelt aber HUSSERL wohl auch nicht. Er will das vor Augen stehende nicht  nur  "sehen". Wenn aus seinen Schriften die systematischen Gesichtspunkte für den Aufbau des Ganzen noch nicht erkennbar sind, so liegt das gewiß daran, daß er seine Ideen bisher unvollständig veröffentlicht hat.

Unsere Bedenken richten sich allein dagegen, daß Anhänger der Phänomenologie, ebenso wie die Historisten, versuchen, aus ihrer systematischen Not eine Tugend zu machen, indem sie im Interesse der Anschaulichkeit und Lebendigkeit die Prinzipienlosigkeit zum philosophischen Prinzip erheben. Das muß zu  noch  unerfreulicheren Konsequenzen führen, als bei der Lebensphilosophie des Historismus, weil dadurch nicht einmal unsere philosophie- geschichtlichen  Kenntnisse bereichert werden.

SCHELER hat das, wogegen wir uns wenden, zwar nicht direkt als Sinn der Phänomenologie bezeichnet, sondern apologetisch für BERGSON ausgeführt, aber seine Gedanken sind auch auf die Phänomenologie zu beziehen, da er von ihr erst die volle Nutzung der Antriebe erhofft, die NIETZSCHE, DILTHEY und BERGSON unserem Denken erteilt haben. Seine Wendungen sind ebenso geschickt wie bezeichnend für den "Geist" weitverbreiteter Strömungen unserer Zeit. Ja, die Lebenswurzeln der intuitiv gerichteten Lebensphilosophie treten hier besonders klar zutage, und zugleich ist ihre philosophische Unmöglichkeit drastisch formuliert für jeden, der sehen will. Deswegen lohnt es, darauf einzugehen.

SCHELER (9) bezeichnet die "neue Haltung" als ein Sichhingeben an den Anschauungsgehalt der Dinge, als die Bewegung eines tiefen Vertrauens in die Unumstößlichkeit alles schlicht und evident "Gegebenen" . Da treffen wir auf das intuitive Prinzip der Lebensnähe, das wir kennen. "Diese Philosophie", heißt es, "hat zur Welt die Geste der offenen, aufweisenden Hand, des frei und groß sich aufschlagenden Auges." Sodann wird gesagt: "Der Mensch, der hier philosophiert, hat weder die Angst, welche moderne Rechenhaftigkeit und den Berechnungswillen der Dinge gebiert, noch die stolze Souveränität des "denkenden Rohres", die in DESCARTES und KANT Urquell - das emotionale a priori - aller Theorien ist". Sollen wir auch das als  Vorzug  der neuen philosophischen Haltung betrachten? Es scheint in der Tat so gemeint.

Wir werden ferner versichert, den Lebensphilosophen umspüle "bis in seine geistige Wurzel hinein der Strom des Seins wie ein selbstverständliches und schon als Seins-Strom selbst - von allem Inhalt abgesehen - wohltätiges Element. Nicht der Wille zur "Beherrschung", "Organisation", "eindeutiger Bestimmung" und Fixierung, sondern die Bewegung der Sympathie, des Daseingönnens, des Grußes an das Steigen der Fülle, in dem dem hingegebenen Blick die Inhalte der Welt allem menschlichen Verstandesbegriff immer neu sich entwinden und die Grenzen der Begriffe überfließen, durchseelen hier jeden Gedanken."

So wird zunächst BERGSONs Intuitionismus gepriesen und dann aus diesem Geiste heraus "von der genaueren strengeren - und deutschen Art des Verfahrens" eine "vom Er-leben der Wesensgehalte der Welt ausgehende Philosophie" erhofft, welche uns die Phänomenologie zu geben berufen ist.

Solche und ähnliche Sätze  klingen  gewiß sehr schön, sind eminent "modern" und manchem aus tiefster Seele gesprochen. Ja, hier dürfte das formuliert sein, was heute viele vor allem zur Lebensphilosophie hinzieht. Die Lebensgestaltung des nur "lebenden", d. h. das Leben  genießenden  Menschen ist äußerst verlockend geschildert, und besonders unphilosophischen Naturen muß das einleuchten, da es ihnen vorspiegelt, daß sie die echten Philosophen seien, falls nur die "Grenzen ihrer Begriffe überfließen".

Auch mag der Künstler vielleicht mit Recht so denken. GOETHE hatte, wenn auch gewiß noch einiges andere, das frei und groß sich aufschlagende Auge, und wir wollen nicht fragen, ob er damit allein zum Dichter geworden wäre. Möglicherweise ist es in der Tat am besten, wenn der Künstler nur erlebend zu schauen  glaubt  und vertraut. Die Bedeutung seiner Kunstwerke hängt nicht von seinen theoretischen Ansichten über künstlerisches Produzieren ab. Ja, er soll vielleicht nicht "klug" werden aus dem, was er schafft. "Der Baum erkrankt bei steter Lampenhelle."

Aber was will dies alles, und was sonst noch heute die Köpfe der Intuitiven bewegt, für den  Philosophen  sagen, der das Weltall theoretisch zu denken hat? Als Vorbedingung des Philosophierens ist die von SCHELER gepriesene "neue Haltung" zwar nicht gerade neu, aber vielleicht brauchbar. Ja wir müssen einmal den  traditionellen  Begriffsapparat beiseite lassen, um uns hinzugeben an die Anschauung, so daß jeder wissenschaftliche oder außerwissenschaftliche und besonders auch der spezialwissenschaftliche "Kosmos" sich auflöst, d. h. aus den Erlebnissen ein Chaos wird. Darf man aber darin mehr als Vorbereitung sehen? Beginnt nicht vielmehr dann erst die eigentlich philosophische Arbeit, und kann sie jemals etwas anderes als Organisation, eindeutige Bestimmung und Fixierung sein?

Wer den Gedanken der intuitiven Lebensphilosophie zu  Ende  denkt und sich ihre Konsequenzen klar macht, muß einsehen: SCHELER hängt der Prinzipienlosigkeit, dem schlimmsten philosophischen Gebrechen, einen prächtigen Mantel um, der sie decken soll in ihrer theoretischen Armseligkeit. Die Folge davon, daß "die Inhalte der Welt allem menschlichen Verstandeszugriff sich entwinden und die Grenzen der Begriffe überfließen", kann nur sein: eines solchen Philosophenmantels schimmernde Falten weht der Wind hin und her und treibt mit ihnen sein Spiel.  Philosophisch  reich und lebendig wird man bei der "neuen Haltung" nicht werden. Philosophie muß bleiben, was sie war: Nachdenken über die Welt mit dem Ziel, sie begrifflich zu beherrschen, sie zu organisieren und eindeutig zu bestimmen. Die Hingabe an den Anschauungsgehalt kann nie genügen.

Sie ist auch faktisch, wo man in irgend einer Weise philosophiert, nicht durchgeführt. SCHELER macht - glücklicherweise - in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Es ist einfach  unmöglich,  sich an alles hinzugeben. Wo nicht einmal die Geschichte als Stütze dient, herrscht bei der Auswahl die Willkür des Individuums, und solche "Herrschaft" ist allerdings von Übel. Gewiß, die "Angst" soll den Willen zum Berechnen nicht gebären. Aber ohne theoretisches Souveränitätsbewußtsein, das ruht auf der Überzeugung, im Dienst der Wahrheit zu arbeiten, entsteht keine Philosophie, welche diesen Namen verdient. Wo nicht der Wille zur begrifflichen Beherrschung lebt, kommt es im günstigsten Falle zur heiligen Passivität, und wir sind dann in der Nähe von SCHLEGELs Faulheit als dem einzigen gottähnlichen Fragment.

Ja, es ist mit SCHELERs intuitiver Philosophie sogar noch schlimmer bestellt. Bei STEPPUHN finden wir wenigstens Konsequenz. Er will als religiöser Mensch keine Kultur, also auch keine Wissenschaft. Dagegen bedeutet das Preisen der Hingabe, der Sympathie, des Daseinsgönnens, des Grußes an das Steigen der Fülle als  Philosophie  nur Halbheit, so schön die Worte klingen mögen. Gerade aus der angeblich "neuen Haltung" müssen die Philosophen gründlich  heraus,  um die Welt wieder denkend zu beherrschen, nicht intuitiv in ihr zu versinken.

Freilich hat das Wort "Intuition verschiedene Bedeutungen, und darauf sei ebenfalls ausdrücklich hingewiesen, damit kein Mißverständnis darüber entsteht, gegen welche  Art  des Intuitionismus wir uns hier wenden.

Man spricht von "genialer" Intuition und stellt sie dem "nüchternen" Verstandeserkennen gegenüber, das die Krücke des logischen Denkens braucht. Will man damit sagen, daß mancher Mensch Wahrheiten zu ahnen vermag, ehe er imstande ist, sie in die Form des begründbaren Wissens überzuführen, so ist nichts dagegen einzuwenden. Ja, diese Fähigkeit besitzt nicht nur das Genie, sondern wohl jeder dem wissenschaftlich gelegentlich etwas "einfällt". Der Gedanke ist nicht immer sofort  klar.  Man muß erst über den Einfall nachdenken. Aber das gehört zur Psychologie des Erkennens, und daraus kann man keine intuitive Philosophie machen. Uns interessiert nicht die allmähliche Entstehung der Gedanken, sondern ihre fertige Struktur. Die im angedeuteten Sinne intuitiv erfaßte oder geahnte Wahrheit ist, solange man sie in Gegensatz zur logisch gedachten bringt, meist die theoretisch noch unvollständig erfaßte und bedeutet lediglich die Vorstufe des Erkennens, nicht etwa ein Erkenntnisideal. Das klingt sehr nüchter, ist aber wahr.

Ferner kann man noch eine Bedeutung mit der "cognitio intuitiva" verknüpfen. Sie hat mit der Lebensphilosophie unserer Zeit jedoch so gut wie nichts zu tun. Auf sie sei nur hingewiesen, um sie in Gegensatz zu der Intuition zu bringen, die in der Modephilosophie eine Rolle spielt. Es ist die Intuition, die sich z. B. bei PLOTIN oder bei den Mystikern des Mittelalters wie MEISTER ECKHART, aber auch bei dem "Rationalisten" SPINOZA und später wieder bei nachkantischen deutschen Idealisten findet. Sie wird hier "intellektuelle Anschauung" genannt. Wer sie preist, dem schwebt eine Erkenntnis vor, die durch das logische Erkennen hindurch gegangen ist und damit jene "Einheit" wiederherstellt, welche die "ratio" zerstören muß. Sie liegt der Absicht nach von dem unmittelbaren  diesseitigen  Erleben des modernen Intuitionismus so weit entfernt wie möglich. Auf keinen Fall ist sie für weit verbreitete Strömungen unserer Zeit maßgebend.

Ob es eine solche, jedes lebendige Leben tötende intuitive Erkenntnis, wie der "abgeschiedene", Gott schauende Mystiker sie anstrebt, gibt, oder ob das, was es hier gibt, noch "Erkenntnis" genannt werden sollte, falls man dem Begriff des Erkennens eine klare theoretische Bedeutung lassen will, haben wir nicht zu fragen. Das wäre nun im Zusammenhang mit einer umfassenden Theorie des kontemplativen Leben auszumachen, das sich in der theoretischen Kontemplation nicht erschöpft. Wir reden hier vom Erkennen, das nach wissenschaftlicher Wahrheit sucht, und uns kam es allein auf den Intuitionismus an, der als Lebensphilosophie den Begriff des Verstandes verwirft, weil er das inmittelbar  irdische  Leben tötet. Wo der Intuitionismus in Mystik oder in intellektuelle Anschauung umschlägt, was auch heut bisweilen vorkommen mag, entzieht er sich unserer Kritik, denn da verläßt er selber die Sphäer, auf die das Modeschlagwort Leben paßt.

Ebenso haben wir hier von jeder künstlerischen Intuition abzusehen. Handelt es sich um Musik, Malerei, Plastik oder Architektur, so wird niemand ihre Werke für Philosophie halten. Bei der Poesie dagegen ist eine Verwechslung eher möglich. Der Dichter bedient sich wie der Philosoph der Sprache und hat die atheoretische Fähigkeit, die Bedeutung von Worten so zu verwenden, daß aus ihren Zusammenstellungen sich  anschauliche  Gebilde ergeben. Worauf das beruth, und in welchem Verhältnis diese nicht vital lebendigen atheoretischen Anschauungen zur unmittelbaren Anschauungen der Erlebnisse bestehen, brauchen wir hier nicht zu fragen. Daß auch in ihnen eine Umformung des bloßen Lebens vorliegt, dürfte leicht zu zeigen sein.

Immerhin tragen sie einen anschaulichen Charakter und bleiben insofern der Anschauung des lebendigen Lebens  näher,  ja sie können vom anschaulichen Leben mehr in sich aufnehmen, als der theoretische Begriff. Diese Fähigkeit ist nicht auf Dichter im eigentlichen Sinn beschränkt, sondern vielen Menschen eigen. Auch mag es oft vorkommen, daß in philosophischen Werken sich hie und da Bestandteile finden, die über das begrifflich Faßbare hinausführen und trotzdem zugleich einen positiven theoretischen Wert insofern besitzen, als sie den  Abstand  des Anschaulichen vom theoretisch Erkennbaren zum Bewußtsein bringen. Doch wird man deshalb die ästhetische Anschauung nicht zum Organ der Philosophie machen. Auch hier kommt es vielmehr darauf an, die verschiedenen Arten der Kontemplation auseinanderzuhalten und die Kontemplation klarzustellen, die Erkenntnis gibt. Zur Gewinnung einer philosophischen "Weltanschauung" ist die poetische Intuition schon deswegen ungeeignet, weil sie wie jede künstlerische Auffassung des anschaulichen Lebens ihrem Wesen nach auf einen  Teil  der Welt beschränkt bleibt. Das poetisch Anschaubare muß Grenzen haben. Das Grenzenlose erfaßt nur der Begriff. Die ästhetische Intuition muß daher ebenso, wenn auch aus anderen Gründen wie die mastische, beiseite bleiben, wo man über die Möglichkeit einer intuitiven Philosophie des Lebens zur Klarheit kommen will. Keine außerwissenschaftliche Intuition kann zur Grundlage der Philosophie dienen, auch nicht einer Philosophie des Lebens.

Die Ablehnung des Intuitionismus setzt endlich voraus, daß die Vertreteer der intuitiven Philosophie an einer Bedeutung des Wortes Inuition festhalten, die es in Kontrast zu  allen  Begriffen des Verstandes bringt. Meint der Intuitionist, daß der Philosoph nicht  allein  das Denken, sondern  auch  die Anschauung braucht, um zu erkennen, so ist dagegen nicht das Geringste zu erinnern. Aber das kommt auf eine Ansicht hinaus, die heute niemand mehr ernsthaft bestreitet, und eine Philosophie des intuitiv erfaßten Lebens läßt sich daraus gewiß nicht machen. Soll der Ausdruck Intuition als Terminus verwendbar bleiben, so muß das Schauen oder die Anschauung in Gegensatz zum logischen Denken stehen, und falls man diese Bedeutung meint, gibt es keine intuitive "Erkenntnis". Zu allem  Erkennen  gehört vielmehr außer dem anschaulichen auch das begriffliche Moment. Damit aber ist der Intuitionismus grundsätzlich durchbrochen. Ohne ein begriffliches Prinzip der Auswahl kommt  keine  Philosophie zustande.

Zum mindesten wird der Intuitionist nicht bezweifeln, daß die Anschauung ihn etwas Neues lehren müsse, und schon das zeigt, daß Anschauung allein keine Erkenntnis gibt. Oder sollte man es bestreiten, daß man zur Entdeckung des Neuen des Denkens bedarf? In gewisser Hinsicht ist ja freilich jedes Erlebnis "neu", und insofern scheint ein Prinzip der Auswahl entbehrlich. Doch das Neue in diesem Sinn besitzt noch keine theoretische Bedeutung. An einem Kinderspaß kann man sich das klarmachen. Man verspricht einem neugierigen Jungen etwas zu zeigen, das noch niemals ein Mensch gesehen hat, und das niemals wieder ein Mensch sehen wird. Man nimmt eine Nuß, knackt sie auf, zeigt den Kern vor und verspeist ihn. Dann hat man sein Versprechen erfüllt. Der neugierige Junge wird enttäuscht sein und mit Recht, um so sicherer, wenn er die Nuß nur "intuitiv" erfassen soll. Vom bloßen Anschauen des Neuen kann man nicht einmal "leben".

Das sollte auch der nach Erlebnissen neu-gierige Intuitionist einsehen: das Neue bietet für sich allein dem Philosophen noch nichts. Die Nuß muß fragwürdig sein, d. h. ein Problem enthalten, wenn es lohnen soll, sie zu knacken, und will man das Problem lösen, so darf man nicht beim Anschauen bleiben, sondern hat das Geschaute zu bearbeiten und seinem Denken einzuverleiben. Allerdings, zeigt die Intuition "in nuce" das Weltall, dann lohnt es, daß man die Nuß knackt, aber dann ist sie in keinem Fall  bloße  Intuition. Dann gibt sie uns  Weltanschauung und muß gerade deswegen mehr als nur Weltanschauung  sein. Die Welt als Ganzes kann man nicht "anschauen". Die reine Intuition vermag nicht einmal taube von vollen Nüssen zu unterscheiden, falls sie  bloß  anschaut.

Es bleibt heute eine undankbare Aufgabe, den Intuitionismus zu bekämpfen, zumal wo er sich mit der Lebensphilosophie verbündet hat. Anschaulichkeit und Lebendigkeit - die Worten haben einen verlockenden Klang schon dann, wenn man jedes für sich nimmt. Vereinigen sie sich gar zur "anschaulichen Lebendigkeit" oder zur "lebendigen Anschaulichkeit", wer kann ihnen da noch widerstehen? Besonders aber erfreut sich der Gegner der Erlebnisphilosophie, der nüchterne, unanschauliche, unlebendige Verstand und sein Produkt, das Rationale, heut gar keiner Sympathie, und dagegen ist mit Gründen auch nicht viel zu machen. Man kann das Rationale nur begründen, wenn man schon Rationales voraussetzt. Solange der Mensch nichts anderes als leben  will,  mag er jede ratio ablehnen.

In der Philosophie läßt sich der Verstand jedoch wohl nie ganz ausschalten, und jedenfalls sollte die Überwindung des Rationalismus oder Intellektualismus, die man heute preist, nicht zur Überwindung des Verstandes oder Intellekts führen (10). Aus der logisch unbegründeten Vorliebe für das bloß anschauliche Leben müssen wir in der wissenschaftlichen Philosophie endlich wieder heraus. Endlich! Denn es ist nun schon ein halbes Jahrhundert verflossen, seit NIETZSCHE in seiner "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" gegen den sokratischen Menschen ins Feld zog. Hat die Philosophie dem "dionysischen" Prinzip Neues für einen positiven  Aufbau  zu verdanken? Man wird es bezweifeln dürfen. Wohl mag ein Kampf, wie NIETZSCHE ihn führte, stets notwendig werden, wo der Sokratiker die Gestalt des Bildungsphilisters annimmt, wie HAYM im Sinne der Romantik den Aufklärer genannt hat (11). Aber SOKRATES war kein Bildungsphilister, und der sokratische Mensch behält gegenüber dem dionysischen doch auch sein Recht. Ja, in der Philosophie bleibt er der einzige, der Recht, d. h. theoretisch Recht haben kann.

Solche Selbstverständlichkeiten sind vielleicht langweilig, aber man darf sie nicht vergessen. Es wäre daher wohl an der Zeit, daß man wieder auch die sokratische Seite des philosophischen Lebens berücksichtigte. Hätten wir denn wirklich Grund, uns zu freuen, daß wir Lebewesen sind, falls wir das Lebewesen  nur  leben und erleben könnten? Nach der modernen Lebensphilosophie sieht es manchmal ganz so aus. Das bloße Leben scheint ihr Lebenswonne. Sollten wir da nicht versuchen, zunächst wenigstens unser  Gefühl  wieder auch für den Verstand sprechen zu lassen, d. h. unseren Stolz und unsere Würde darin suchen, daß, trotzdem wir Lebewesen sind, wir auch über das Leben denken und uns damit über das Leben erheben können in eine unlebendige Welt? Es sind jedenfalls keine theoretischen Gründe, sondern lediglich Lebensstimmungen, die uns beherrschen, falls wir diese Frage verneinen.

Durch Gründe allein lassen sich die "emotionalen" Elemente, die hier nein sagen, selbstverständlich auch nicht beseitigen. Aber da jeder Mensch, der sich mit Philosophie beschäftigt, doch nicht nur ein lebendes, sondern auch ein denkendes Wesen ist, also Gründe zu verstehen vermag, wird sogar der bloß theoretische Kampf gegen die Philosophie der reinen Anschauung und Lebendigkeit das Vorwiegen der Lebensstimmungen und Lebensgefühle vielleicht ein wenig erschüttern. Philosophisch fruchtbar im positiven Sinn ist die Alleinherrschaft solcher Stimmungen und Gefühle nicht. Ein Umschwung wäre dringen zu wünschen.

Sollte man sich also darauf besinnen, daß es in der Philosophie nicht auf das Leben, sondern auf das  Denken über das Leben  ankommt, und sollte man einsehen, daß das Denken seinem Wesen nach stets mehr oder, um bescheiden zu sprechen, etwas andere als bloß anschauendes Leben ist, so wäre das schon ein großer Fortschritt.

Positiv hätten wir zwar damit allein noch nicht sehr viel erreicht. Die Hauptsache bleibt selbstverständlich,  wie  wir die Welt und das Leben denken. Aber es wäre doch wenigstens ein Hindernis gerade für eine Philosophie des Lebens hinweggeräumt. Man versuche zunächst einmal, wenigstens zu fühlen, welche herrliche Gabe dem Menschen damit verliehen ist, daß er sich denkend über das Leben zu erheben, die lebendige Anschauung durch sein Denken zu formen, sie in seinen Besitz zu bringen und so zu mehr als bloß lebendiger Anschauung zu gestalten vermag. Lenkt man nur einmal die  Aufmerksamkeit  auf diese Wunder und Triumphe des verachteten Denkens, dann muß es für jeden Menschen, in dem eine Spur des philosophischen Eros lebt, mit allem Intuitionismus des reinen Erlebens und aller bloß anschaulichen Philosophie des Lebens vorbei sein.

Für die Macht des Denkens über die anschaulich Erscheinungswelt und sein Recht können wir uns sogar auf den Augenmenschen GOETHE berufen, der gewiß nicht geneigt war, das Denken zu überschätzen, ja der als Dichter die Anschauung bisweilen einseitig pries.
    "Und was in schwankender Erscheinung schwebt,
    Befestiget mit dauernden Gedanken."
So ruft der Herr, nachdem er dem Geist, der stets verneint, Audienz erteilt und ihn entlassen hat, seinen Engeln zu. Auch im Sinn des Faustdichters sind wir somit echte Göttersöhne, die sich an der lebendig reichen Schöne erfreuen, wenn wir versuchen, mit unseren Gedanken Herren zu werden über die schwankende phänomenale Welt.

Sollte man aber fragen, wie denn der Mensch dazu kommt, sich  über  das Leben zu stellen, da doch nichts als einer seiner Teile ist, so mag darauf ebenfalls ein Wort GOETHEs als Antwort dienen. Es findet sich im unmittelbaren Zusammenhang mit Versen, die man gewöhnlich, etwas gedankenlos, zitiert, um den Dichter als Zeugen dafür aufzurufen, wie unselbständig wir in der Natur stehen. Allerdings heißt es zuerst:
    "Nach ewigen, ehrnen,
    Großen Gesetzen
    Müssen wir Alle
    Unseres Daseins
    Kreise vollenden."
Dann aber geht es im Gegensatz dazu weiter:
    "Nur allein der Mensch
    Vermag das Unmöglich.
    Er unterscheidet,
    Wählet richtet,
    Er kann dem Augenblick
    Dauer verleihen."
GOETHE sieht, wie meist, das Eine  und  das Andere. Als Philosophen müssen wir das "Unmögliche" versuchen, und wir dürfen es, denn der Glaube daran, daß wir es vermögen, gehört zu den unentbehrlichsten Voraussetzungen jeder Wissenschaft. Halten wir uns für unfähig, dem Augenblick Dauer zu verleihen oder die schwankende Erscheinung mit Gedanken zu befestigen, dann sollten wir das Philosophieren überhaupt lassen. Die bloße Intuition ohne festen Begriff führt zum theoretischen Nichts. Wo gar die unmittelbare Anschauung gegen DESCARTES und KANT als "Philosophie" ausgespielt wird, gilt es, zunächst zu diesen Denkern zurückzukehren, um dann mit ihnen wieder vorwärts zu kommen, über die Mode hinaus zur Philosophie als einem Denken der Welt in Begriffen.

Zusammenfassend ist von allen Richtungen der Lebensphilosophie, deren Stärke in einer Besinnung auf das Erlebte in seiner Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit liegt, zu sagen: man kann gewiß verarmen, falls man nicht genug Gewicht auf die lebendige Fülle des ursprünglich Gegebenen legt. Aber man wird noch gewisser in der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des Lebens geistig ersticken, wenn man sie nicht begrifflich zu beherrschen vermag. Nur mit einem Kompaß oder angesichts eines Leuchtturms, der die Wege weist, hat es einen Sinn, sich auf das hohe Meer des Lebens in seinem überwältigenden Reichtum hinauszuwagen, um darüber zu philosophieren. Ohne Bild: der ganzen Fülle aller Erlebnisse oder Erlebnisinhalte, die sich intuitiv erfassen lassen, wird niemand Herr, und danach besteht in der Wissenschaft auch kein Bedürfnis. Die Philosophie braucht Prinzipien, die gliedern und gestalten. Nach ihnen suchen wir in der nur intuitiv gerichteten Lebensphilosophie vergeblich.

Im Grund bedeutet auch das etwas, das längst selbstverständlich geworden sein sollte. Doch wenn OTTO ERICH HARTLEBEN in seinem "Halkyonier" spottet:
    "Es bleibt der Philosoph von Wert für alle Zeiten:
    Er findet stets aufs neu die Selbstverständlichkeiten",
so brauchen wir diesen Spott nicht zu fürchten. Das Selbstverständliche muß immer wieder gesagt werden, wo das "Erleben" gegen das Denken ausgespielt wird. Nicht Inhalt  oder  Form, Anschauung  oder  Begriff, hat man beim Philosophieren zu fragen. Wie öfter, so kommt es auch hier nicht auf das Entweder-oder, sondern auf das eine oder das andere in ihrer Verbindung an. Wir brauchen geformten Inhalt, gedachtes Leben, begriffene Anschauung, und in der Form des Denkens oder des Begriffs steckt das spezifische wissenschaftliche Moment. Gewiß ist die Denkform ohne anschaulichen Inhalt "leer", aber sie bildet trotzdem allein das theoretisch Differente. Der bloß angeschaute Inhalt bleibt immer "blind" und daher theoretisch nichtssagend. Gegenüber dieser schlichten Wahrheit bricht jeder Lebens-Intuitionismus als Wissenschaft in sich zusammen, und zwar um so sicherer, je konsequenter er sich gestaltet.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens - Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920
    Anmerkungen
    1) Ich erwähne das, weil ein Denker vom Range WILHELM WUNDTs eine an Äußerlichkeiten haftende Broschüre "Plagiator Bergson" im Literarischen Zentralblatt (13. Nov. 1915) nicht völlig abgelehnt hat. Wir sollten es den Franzosen nicht nachmachen, von Männern verächtlich reden, die weiten Kreisen Anregung und Belehrung gegeben haben. BERGSON gehört zu ihnen. Gewiß ist nicht alles bei ihm originell. Manches kommt von SCHOPENHAUER. Aber auch SCHOPENHAUER hat viel von SCHELLING und andern und ist darum gewiß kein Plagiator.
    2) Eine kurze Zusammenfassung der Grundgedanken gibt RICHARD KRONER, Henri Bergson, 1910 (Logos I, Seite 125ff). Auch für die Kritik ist auf diese Abhandlung zu verweisen. Sie gehört noch immer zu dem besten, was in deutscher Sprache über BERGSON geschrieben ist. Die Richtigkeit der Wiedergabe seiner Gedanken hat BERGSON selbst anerkannt.
    3) Vgl. HUSSERL, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1913, Seite 36
    4) Vgl. SCHELER, Abhandlungen und Aufsätze, 1915, II, Seite 227
    5) Vgl Logos, Bd. I, 1910, Seite 261ff
    6) Vgl. JULIUS GOLDSTEIN, Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart, Seite 149
    7) Im übrigen gehe ich auf das gewiß sehr geistreiche Buch nicht ein. Bei allen interessanten Einzelheiten ist sein methodischer Begriffsapparat so brüchig, daß eine Darstellung der Hauptgedanken ohne Kritik schwer möglich wäre, und überdies zeugt das "Prophetentum", das den Untergang des Abendlandes voraussagt, für jeden, der Klarheit über die logische Struktur des geschichtlichen, d. h. individualisierenden Denkens hat, von so unwissenschaftlicher Willkür, daß sich in einem wissenschaftlichen Zusammenhang davon überhaupt nicht gut reden läßt. SPENGLER hat offenbar für die "Logiker", denen er in seinen Tabellen ihren weltgeschichtlichen Platz zuweist, wenig übrig. Trotzdem hätte er von ihnen manches lernen können. Die Meinung, es lasse sich die Geschichte in ihrer Entwicklung vorausbestimmen, gehört zu den rationalistischen Vorurteilen der Aufklärungsphilosophie, über die wir doch hinausgekommen sein sollten.
    8) Die Gründe hierfür habe ich aus dem Wesen der geschichtlichen Wissenschaften zu verstehen gesucht und in meinem Buch über Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1896 - 1902, 2. Aufl. 1913, ausführlich behandelt. Kürzere Zusammenfassungen in: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 3. Aufl. 1915, und: Geschichtsphilosophie (Festschrift für KUNO FISCHER, 2. Aufl. 1907)
    9) Vgl. Abhandlungen und Aufsätze II, Seite 197f
    10) Das habe ich schon 1899 in einer Abhandlung über FICHTEs Atheismusstreit (Kantstudien Bd. IV), als das Leben noch kein so beliebtes philosophisches Schlagwort war, gegen JAMES und PAULSEN geltend gemacht. Der Kampf, den FICHTE gegen FORBERGs "als ob" führte, ist heute vollends nicht veraltet.
    11) Vgl. RUDOLF HAYM, die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, 1870, Seite 88. Es heißt dort von TIECKs Schildbürger: "Die eigentliche Zielscheibe des Spottes war .... ganz speziell die prosaische Superklugheit der Bildungsphilister, die Trivialität und Abgeschmacktheit der Aufklärer". Da NIETZSCHE auf die Erfindung des Wortes Bildungsphilister stolz war, ist es ausgeschlossen, daß er diese Stelle gekannt hat. HAYMs Schopenhauerkritik ärgerte sein romantisches Herz. Er witzelte über "gewisse überverwegene Überwege und in der Philosophie nicht heimische HAYME". Wer der Erfinder des Ausdrucks Bildungsphilister ist, hätte nicht viel zu bedeuten. Interessant aber bleibt, daß HAYM und nach ihm NIETZSCHE ihn in demselben Sinn brauchen, als Spottnamen für Aufklärer. Der Kampf gegen die Verstandesaufklärung steckt auch in der modernen Lebensphilosophie. Davon wird später noch zu reden sein.