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JOHANNES REHMKE
Lehrbuch der
Allgemeinen Psychologie

[ 4/9 ]
    Vorwort
§ 1. Psychologie als Wissenschaft überhaupt
§ 2. Die Psychologie als Fachwissenschaft überhaupt
§ 3. Die Psychologie als besondere Fachwissenschaft
§ 4. Der Ausgangspunkt
§ 5. Geschichte des Seelenbegriffs
§ 6. Der altmaterialistische Seelenbegriff
§ 7. Der spiritualistische Seelenbegriff
§ 8. Der neumaterialistische Seelenbegriff
§ 9. Der spinozistische Seelenbegriff
§ 10. Die zwei Arten von Konkretem
§ 11. Das Konkretum "Seele"
§ 12. Die Fehlerquelle der geschichtlichen Seelenbegriffe
§ 13. Die Behauptung von unbewußtem Seelischen
§ 14. Das konkrete Bewußtsein als das Seelengegebene überhaupt
§ 15. Die Bedingung des Bewußtseins im unmittelbar Gegebenen
§ 16. Die Wechselwirkung zwischen Seele und Dingwirklichem
§ 17. Das Zusammen von Seele und Leib

Die Bezeichnung  Bewußtsein  anstatt der zunächst für das unmittelbare Seelengegebene überhaupt verwendeten  ich denke, fühle und will  empfiehlt sich als einfachere und der Zweideutigkeit nicht ausgesetzte vor der letzteren und trifft in  einem  Wort die Sache aufs Genaueste. Das Wort  Ich  hat nicht nur im Sprachgebrauch verschiedene Bedeutungen, so daß bei seinem Gebrauch die Gefahr der Zweideutigkeit nicht leicht auszuschließen ist, sondern es läßt sich, was das  Denken, Fühlen und Wollen  angeht, auch noch fragen, ob mit diesen Worten das Seelengegebene in sicherer und den Irrtum ausschließender Weise begriffen ist. Solche Ausstellungen sind bei der Verwendung von  Bewußtsein  zur Bezeichnung des unmittelbaren Seelengegebenen nicht zu fürchten, der Sinn des Wortes ist klar und er deckt sich zugleich mit dem Tatsächlichen, das als  Seele in erster Linie in Frage kommt."

Erster Teil
Das Seelenwesen

§ 11.
Das Konkretum "Seele"

Als unmittelbar Gegebenes ist die Seele oder das Ich-Konkrete das konkrete Bewußtsein, an dem wir das Grundmoment als das Bewußtseinssubjekt und die übrigen Momente zusammen als die Bewußtseinsbestimmtheit unterscheiden. Als Konkretes hebt sich dieses Bewußtsein vom Dingkonkreten dadurch ab, daß es, während das Ding ein in allen seinen Momenten Veränderliches ist, nur in seiner Bewußtseinsbestimmtheit veränderlich, dagegen in seinem Bewußtseinssubjekt unveränderlich ist.



Um uns von den auf uns eindringenden vererbten Schulmeinungen über das Seelenkonkrete frei zu halten, fragen wir das  unmittelbare  Seelengegebene, welches Jedem zur Hand liegt, wie denn dieses eigenartige Konkrete, dessen Augenblickseinheit wir im Anschluß an die geläufige Formel "ich denke, fühle und will" zu verstehen suchten, richtig zu begreifen sei. Ohne Zweifel wird allen die Antwort verständlich und von Dichtung frei erscheinen: das  unmittelbare Seelengegebene  ist  Bewußtsein.  Ob wir im Verlaufe unserer Untersuchung über das Seelengegebene überhaupt, etwa durch zwingende Schlüsse, zur Annahme von Seelengegebenem, das  nicht  Bewußtsein ist, gelangen, kann dahingestellt bleiben, genug, daß wenigstens dieses sicher steht: Das  unmittelbare  Seelengegebene ist Bewußtsein und ferner, da Seelengegebenes überhaupt seinem allgemeinen Begriff nach, wie uns klar wurde, ein besonderes Konkretes bilden muß:  Das unmittelbare Seelengegebene ist konkretes Bewußtsein. 

Die Bezeichnung "Bewußtsein" anstatt der zunächst für das unmittelbare Seelengegebene überhaupt verwendeten "ich denke, fühle und will" empfiehlt sich als einfachere und der Zweideutigkeit nicht ausgesetzte vor der letzteren und trifft in  einem  Wort die Sache aufs Genaueste. Das Wort "Ich" hat nicht nur im Sprachgebrauch verschiedene Bedeutungen, so daß bei seinem Gebrauch die Gefahr der Zweideutigkeit nicht leicht auszuschließen ist, sondern es läßt sich, was das "Denken, Fühlen und Wollen" angeht, auch noch fragen, ob mit diesen Worten das Seelengegebene in sicherer und den Irrtum ausschließender Weise begriffen ist. Solche Ausstellungen sind bei der Verwendung von "Bewußtsein" zur Bezeichnung des unmittelbaren Seelengegebenen nicht zu fürchten, der Sinn des Wortes ist klar und er deckt sich zugleich mit dem Tatsächlichen, das als "Seele" in erster Linie in Frage kommt.

Nur eines ist in besondere Erinnerung zu bringen! Wenn wir folgerichtig dem Bewußtsein in jedem Augenblick seines Seins die Momente, die wir in § 10 einerseits als "Subjekt", das sogenannte  Grundmoment,  andererseits als "Denken, Fühlen und Wollen" feststellten, zuschreiben und nun einerseits von  Bewußtseinsobjekt,  andererseits, indem wir alles, was mit "Denken, Fühlen und Wollen" als besondere Bestimmung des Seelengegebenen gemeint wird, in das Wort "Bestimmtheit" zusammenfassen, von  Bewußtseinsbestimmtheit  reden und in diesen beiden Worten die ganze Augenblickseinheit des konkreten Bewußtseins begriffen wissen wollen, - so dürfen diese Worte "Bewußtseinssubjekt" und "Bewußtseinsbestimmtheit" auch nur im angegebenen Sinn, nämlich als die notwendigen  Momente des Bewußtseins  gefaßt werden. Demgemäß ist ein für alle Mal ausgeschlossen "Bewußtsein" selber etwa als Merkmal oder Bestimmtheit zu fassen und "Bewußtseinssubjekt" in dem Sinne: "ein Subjekt, das Bewußtsein, als  seine Bestimmtheit  hat" zu verstehen. "Bewußtseinssubjekt" nennen wir das Grundmoment des Bewußtseins, "Bewußtseinsbestimmtheit" aber die durch diese Grundmoment gemeinsam getragenen anderen  Momente  des  Bewußtseins.  Vielleicht wird nun an dieses Bewußtsein als die  Einheit  (d. i. das  notwendige  Zusammen) von  Bewußtseinssubjekt  und Bewußtseinsbestimmtheit noch mit mehr Nachdruck erinnert werden müssen, wenn von Bewußtseinsbestimmtheit  als wenn von Bewußtseinssubjekt die Rede ist, um die Auffassung, daß dieselbe eine durch "Bewußtsein" als ihr etwaiges  Merkmal  gekennzeichnete Bestimmtheit irgendeines Konkreten sei, für alle Fälle auszuschließen. Bewußtsein heißt uns das Konkrete, dessen Augenblickssein stets als Einheit der beiden  Momente,  Bewußtseinssubjekt und Bewußtseinsbestimmtheit, gegeben ist.

Wir wissen nun, daß die abstrakte Einheit des konkreten Bewußtseins, der Ich-Augenblick, von der Augenblickseinheit des Dingkonkreten durch die eigenartige Stellung ihres einen Momentes, des Bewußtseinssubjektes, zu den anderen Momenten des Bewußtseinssubjektes, zu den anderen Momenten des Bewußtseins sich besonders abhebt. Eben dasselbe Bewußtseinsmoment ist es auch, welches das Bewußtsein als Konkretes vom Ding als Konkretem deutlich unterschieden sein läßt.

Welcher Moment des abstrakten Individuums "Dingaugenblick" wir auch wählen, seinen Zeitpunkt, seinen Ort, seine Gestalt, Größe, Farbe, Temperatur und was immer sonst es bieten mag: wenn wir das konkrete Individuum "Ding" auf diese Momente seiner Augenblickseinheiten betrachten, so findet sich, daß dasselbe in Bezug auf sie  allesamt  das Veränderliche ist oder doch sein kann; nicht ein einziges Moment ist von diesem Wechsel schlechthin ausgeschlossen.

Anders steht es mit dem konkreten Individuum "Bewußtsein"; freilich wäre es gar nichts Konkretes, wenn nicht auch Momente seiner abstrakten Individuen, der Ichaugenblicke, dem Wechsel unterworfen wären, wenn es selber in Bezug auf gewisse Momente nicht veränderlich sein würde. Aber in Bezug auf sein Grundmoment, das Bewußtseinssubjekt, ist das konkrete Bewußtsein schlechthin unveränderlich: dieses Grundmoment in in  allen  Augenblicksgliedern (Ich-Augenblicken) des Bewußtseins dasselbe.

Während die  Augenblickseinheit  des Dings durch den  Zeitpunkt und Ort,  dagegen  die des Bewußtseins  durch  Zeitpunkt und Bewußtseinssubjekt  begründet wird, ist die Einheit der verschiedenen Dingaugenblicke, d. h. das Dingkonkrete, nicht wiederum auf den Ort, denn in diesem ist es ja auch veränderlich, auch nicht auf den Zeitpunkt, was ja ohne Weiteres einleuchtet, sondern auf ihr  besonderes Gesetz der Veränderlichkeit  gegründet. Untersuchen wir aber das konkrete Bewußtsein als Einheit der verschiedenen Ich-Augenblicke, so fällt allerdings auch hier der Zeitpunkt als begründendes Moment selbstverständlich fort, aber es bleibt das andere, das Grundmoment des Bewußtseins, das  Bewußtseinssubjekt,  in seiner die Einheit begründenden Kraft bestehen. Daß daneben auch das besondere  Gesetz der Veränderlichkeit  in Bezug auf die Bewußtseins bestimmtheit  für die Einheit des konkreten Individuums "Bewußtsein" mit in Betracht kommt, wollen wir gewiß nicht in Abrede stellen, aber sei doch darauf aufmerksam gemacht, daß wir das Bewußtsein als  konkrete Einheit  auch schon verstehen können, wenn uns nur seine Veränderlichkeit überhaupt und das in aller Veränderung des Bewußtseins selbige unveränderliche Grundmoment "Bewußtseinssubjekt" klar ist. Dies ist eine tägliche Erfahrung eines jeden von uns, indem das gegenwärtige so und so denkende und fühlende Bewußtsein sich  Eins  weiß mit früherem anders denkenden und fühlenden Bewußtsein: "einst dachte und fühlte ich so, jetzt denke und fühle ich anders." So ist dieses nun der eine bemerkenswerte Unterschied zwischen Dingkonkretem und konkretem Bewußtsein, daß (abgesehen vom Zeitpunkt) die  Einheit  des  abstrakten  Individuums dort durch den  Ort,  hier durch das  Bewußtseinssubjekt  und daß die  Einheit  des  konkreten  Individuums dort durch das  Gesetz seiner Veränderlichkeit,  hier aber wiederum vor allem durch ebendasselbe  Bewußtseinssubjekt  gegründet ist.

Ein anderer bemerkenswerter Unterschied zwischen Ding und konkretem Bewußtsein ergibt sich, wenn wir danach fragen, was das Ding und das Bewußtsein zum  Individuum,  d. h. zu etwas  Einzigem  macht. Die Antwort finden wir an der Hand der Augenblickseinheit "Ding" und "Bewußtsein", die ja schon von uns als abstraktes  Individuum  bezeichnet ist und deren Mehrzahl im gesetzmäßigen Nacheinander das konkrete Individuum "Ding" und "Bewußtsein" bildet.

Das einheitsbildende Moment des Dingaugenblicks erkannten wir abgesehen vom Zeitpunk im  Ort.  Man möchte aber versucht sein zu meinen, in diesem einheitsbildenden Moment auch das schon ganz zu haben, was diese Augenblickseinheit zum  Individuum  macht und in dieser Überzeugung dürfte das bekannte Wort von Raum und Zeit als principia individuationis manchen noch bestärken. Was aber den Dingaugenblick zu etwas Einzigem, zu einem Individuum macht, ist nicht der bestimmte Ort und die bestimmte Zeit  allein,  sondern seine bestimmten Momente  ingesamt  begründen erst sein Einzigsein, sie alle sind dazu nötig; abstraktes  Individuum  ist er, weil er dieser Ort, dieser Zeitpunkt, diese Gestalt und Größe und diese Qualität ist. Um aber den Unterschied, der zwischen Ding und Bewußtsein als Individuum besteht, herauszuheben, genügt es, darauf hinzuweisen, daß bei Ding eben das  Ortsmoment,  welches die Einheit des Dingaugenblicks mitbegründet, zugleich auch die Individualität mitbedingt. Anders steht es beim Bewußtsein: die Bewußtseinseinheit des Augenblicks gründet sich, abgesehen vom Zeitpunkt, auf das Grundmoment "Bewußtseinssubjekt", diese Einheit als etwas Einziges, als ein  Individuum,  aber auf diejenigen Momente allein, welche wir unter dem Namen der  Bewußtseinsbestimmtheit  zusammengefaßt haben, nicht aber auf das Bewußtseinssubjekt.

Für das konkrete Individuum, Ding und Bewußtsein, gilt dieselbe Verschiedenheit; die Individualität des Dinges wird durch seine mannigfaltigen Augenblicksmomente  insgesamt  bestimmt, dagegen die Individualität des konkreten Bewußtseins nur durch seine mannigfaltige  Bewußtseinsbestimmtheit;  auch hier spielt das Moment "Bewußtseinssubjekt" keine Rolle für die Individualität. Diejenigen Momente der konkreten Einheit, sei es Ding, sei es Bewußtsein, in denen sie  veränderlich  ist, sind es also, welche sie zu einem  Individuum  machen, beim Ding sind das  alle  seine Momente, beim Bewußtsein ist es  nur  seine  Bewußtseinsbestimmtheit.  Die Meinung, in der wir zunächst aufzuwachsen pflegen, irrt also, wenn das Ding in seiner Einzigkeit oder Invididualität auf einen  unveränderlichen  "Kern", auf ein Bleibendes, starr Verharrendes in demselben zurückführt; und beim konkreten Bewußtsein hilft ja gerade das unveränderliche, allen seinen Augenblickseinheiten selbige und das  Einheit stiftende  Moment Bewußtseinssubjekt  nichts  zur  Individuation  des Bewußtseins.

Dieser Unterschied mag sich aus einem anderen herleiten, welchen die einheitsstiftenden Momente der Augenblickseihnheit von Ding und Bewußtsein, der Ort und das Bewußtseissubjekt, zeigen. Wann immer der Ort gegeben ist, so bietet dieses Bestimmtheit des Dingaugenblicks sich selber als ein in  Gattung,  Ort überhaupt und Besonderheit, "dieser Ort", zerlegbare; wir sind imstande, am gegebenen Abstrakten "der bestimmte Ort" das Ortsein überhaupt und die Besonderheit, durch welche  dieser  Ort gegeben ist, zu unterscheiden, wenngleich beides als Gegebenes eine Einheit d. h. ein notwendiges Zusammen bildet. Der bestimmte Ort unterliegt also  derselben Zergliederung,  wie die anderen Momente des Dingaugenblicks, die  bestimmte  Gestalt, Größe, Farbe usw., in  Gattung  und  Besonderheit

Das  Bewußtseinssubjekt  andererseits, das einheitsstiftende  Moment  des Augenblicks-Bewußtseins, ist zwar, wie wir wissen, als besonderes Moment vom anderen des Bewußtseins zu unterscheiden, aber an ihm bleibt jeder Versuch, es zu zergliedern nach  Gattung  und Besonderheit und dieser beachtenswerten Eigenart des Bewußtseinssubjekts ist es in manchem Fall zuzuschreiben, wenn man bei der begrifflichen Feststellung des Seelengegebenen überhaupt in Dichtung und Irrtum geraten ist.


§ 12.
Die Fehlerquelle der geschichtlichen Seelenbegriffe

Die irrigen Ansichten von Seele überhaupt lassen sich allesamt auf ein Übersehen des einen oder des anderen Bewußtseinsmomentes, des Bewußtseinssubjektes oder der Bewußtseinsbestimmtheit, zurückführen; die daraus sich ergebene Einseitigkeit führt, wenn man überhaupt feste Bestimmungen der Seele zu gewinnen, in allen Fällen zur materialistischen Auffassung der Seele. Denn da man das gegebene Bewußtsein in seinen beiden Momenten und als dieses Konkrete nicht begreift, so sieht man sich genötigt, um das einseitig herausgestellte eine Bewußtseinsmoment doch als Gegebenes zu verstehen, zu dem nur noch allein zur Verfügung stehenden Begriffe des Dingkonkreten seine Zuflucht zu nehmen, demzufolge das allein herausgestellte Moment, Ist es das Subjekt des Bewußtseins, für ein besonderes Ding und ist es die Bestimmtheit des Bewußtseins, für die besondere Bestimmtheit eines Dings ausgegeben wird: in jedem Fall ist dann das Seelengegebene materialisiert.



Nunmehr, nachdem wir die unmittelbar gegebene Seele als konkretes Bewußtsein in seiner Besonderheit gegenüber dem Dingkonkreten bestimmt haben, nachdem wir im Bewußtseinssubjekt und in der Bewußtseinsbestimmtheit die beiden allgemeinen Momente des unmittelbaren Seelengegebenen erfaßt haben, ohne welche dieses niemals sein kann, so daß eben die Seele, wie jede unbefangene Probe des Gegebenen bestätigt, in jedem Augenblick eben die Einheit der beiden Momente darstellt: nunmehr ist es möglich, dem Irrtum der von uns schon beurteilten geschichtlichen Ansichten von der Seele auf den Grund zu kommen und seine Quelle aufzudecken, zugleich aber auch die Wahrheit, welche in jeder dieser Auffassungen ebenfalls enthalten ist, herauszustellen.

Alle vier Ansichten treffen sich zunächst in der Wahrheit, daß das Seelengegebene ein  besonderes,  von sonstigem Gegebenen unterschiedenes sei. Dieses Unterschiedensein wird freilich von allen wieder  verschieden begriffen  und keine erreicht die Wahrheit völlig:  Seele ist ein vom Dingkonkreten schlechthin verschiedenes Konkretes;  der Altmaterialismus und der Neumaterialismus, näher noch der Spinozismus, am nächsten der Spiritualismus, der letztere zwar nicht etwa durch eine feste Bestimmung des Seelengegebenen, sondern weil er (wenn wir von dem folgewidrigen Rückfall der Spiritualisten in den Altmaterialismus absehen) schlechthin die Dinglichkeit der Seelee  verneint  ("Immaterialität").

Der Altmaterialist und der Spiritualst haben ferner das Seelengegebene soweit richtig begriffen, daß sie es für ein  besonderes Konkretes  halten; in dieser Beziehung stehen hinter ihnen der Neumaterialist und Spinozist zurück. Diese beiden aber schlagen wiederum den Altmaterialisten und den (folgewidrigen geschichtlichen) Spiritualisten, indem sie richtig das Seelengegebene als  nicht Dingkonkretes  begreifen.

Der Irrtum des Altmaterialisten und des Spiritualisten (Kryptomaterialisten) besteht darin, daß sie die Seele für etwas bloß  Abstraktes  halten. Wie kommt es zu diesen Irrtümern?

Wir fanden: das Subjekt und die Bestimmtheit sind die allgemeinen zwei Momente des unmittelbaren Seelengegebenen! Dieses liegt dem Psychologen vor. Indem sich nun die Altmaterialisten und Spiritualisten daran machen, das Seelen konkrete  seinem allgemeinen Wesen nach zu fassen, lassen sie sich dabei von jener Auffassung des Dingkonkreten leiten, die das allgemeine Wesen des Dings als einen festen, bleibenden "Kern" innerhalb aller Veränderlichkeit des konkreten Individuums sucht; man nannte dieses Bleibende in aller Veränderlichkeit die  Dingsubstanz,  um die sich die sonstigen Bestimmtheiten des "Dings" als "zufällige" (accidentielle) Bekleidung herumlegen sollen.

Von diesem Substanzgedanken geleitet machten sich die beiden genannten Richtungen daran, den Wesenskern des Seelengegebenen in einem Begriff zu fassen. Der Gegenstand bot ihnen Wechselndes und Bleibendes, Bestimmtheit und Subjekt des Bewußtseins; sie zweifelten nicht daran, daß nur im Bleibenden, dem in aller Veränderlichkeit verharrenden Subjekt, die Seelensubstanz zu suchen sei, daher  übersehen  sie für diesen Zweck die  Bestimmtheit des Bewußtseins;  diese fiel als ein  zufälliges  Merkmal der Seelensubstanz außer Betracht, ohne welches die Seele mußte gedacht werden können;  wie  sie aber gedacht werden könnte, das war nun die Frage.

Das Seelengegebene bietet in jedem Augenblick die Einheit von Subjekt und Bestimmtheit des Bewußtseins, hier ist also das  Subjekt  niemals für sich gegeben ohne die Bestimmtheit, hier ist also das  Subjekt  niemals für sich gegeben ohne die Bestimmtheit, hier ist es immer nur als Moment der Augenblickseinheit "Bewußtsein", niemals aber als "Substanz" für sich gegeben. Für "Dingsubstanz" liegt die Sache anscheinend günstiger: in der  Raumgröße,  welche die Augenblickseinheit des Dings bietet, liegt scheinbar etwas vor, das auch  für sich  als Gegebenes gedacht werden könnte; selbst geschulten Geistern schien es und scheint es noch heute angängig,  reine  Raumsubstanzen als Gegebenes zu behaupten und in ihnen die Dinge ihrem Wesen nach zu begreifen. Aber für die Seelensubstanz liegt im unmittelbar Gegebenen einzig jenes "Subjekt" des Bewußtseins vor, das als Bewußtseinssubjekt nur im Zusammen mit der Bewußtseinsbestimmtheit verständlich und ohne diese auch nicht als  Bewußtseins  subjekt zu denken ist.

Diejenigen, welche nun in diesem Subjekt doch etwas für sich Gegebenes begreifen wollen, müssen ihm von vornherein das  Bewußtseins subjektsein als wesentliches Kennzeichen nehmen und da es einzig als Bewußtseinssubjekt im unmittelbar Gegebenen da ist, so bleibt, will man doch etwas unter diesem "Subjekt", das auch  nicht Bewußtseinssubjekt  wäre, denken, nichts anderes übrig, als sich ein solches "Subjekt" zu erdenken. Weil aber bei diesem Vornehmen der Begriff  Bewußtsein  von ihnen selber  ausgeschieden  ist, so bleibt ihnen  allein das Dinggegebene,  aus dem sie für das fragliche "Subjekt" den "Stoff" hernehmen können. Denn das Gegebene überhaupt, wie es unmittelbar vor uns liegt, ist entweder Ding oder Bewußtsein und keinem Menschen ist trotz lebendigster Einbildungskraft möglich, sich etwas vorzustellen, das nicht entweder unter den einen oder den anderen Begriff fiele. Und weil sie ferner an diese Dichtung einer "Seelensubstanz" mit der leitenden Meinung gehen, daß das gesuchte "Subjekt" (die Seelensubstanz) ein besonderes Konkretes sei, so verfallen sie zwingend auf den Begriff eines besonderen "Seelen dings",  eines "Seelenatoms",  einer  "punktuelle  Seele" oder was für ein Ausdruck auch immer diese materialistische Seelenansicht wiedergeben soll.

Zu diesem Schluß sehen wir sowohl die Altmaterialisten als auch die Spiritualisten kommen und das führt sie dann dahin, das Gegegeben "Bewußtsein" nur als eine  Bestimmtheit  zu begreifen, welche dem Seelending  zufällig  anhängt, welche es haben und auch nicht haben kann, ohne also im letzteren Fall in seiner Existenz als "Seele" unmöglich zu sein. Der Begriff "Bewußtsein", wie er dem unmittelbar Gegebenen entnommen wird und nur ihm allein auch entnommen werden kann, wird uns bald in der Frage weiter beschäftigen, ob das Gegebene "Bewußtsein" in der Tat, wie wir es bisher fanden, nur als Einheit der zwei Momente, Bewußtseinssubjekt und Bewußtseinsbestimmtheit, zu begreifen oder auch bloß als Bewußtseinsbestimmtheit möglich sei. An deiser Stelle weisen wir nur darauf hin, daß diejenigen, welche auf die soeben gezeichnete Weise zur Annahme eines Seelen dinges  kommen müssen, sich in  unauflöslichen Widerspruch  verwickeln, wenn sie diesem "Ding" Bewußtsein (wie immer es auch gefaßt werden mag) zuschreiben. (siehe weiter unten § 14).

Die Neumaterialisten und Spinozisten ihrerseits erkennen im Gegebenen "Bewußtsein" nur die Bewußtseinsbestimmtheit als sein Wesen, übersehen aber gänzlich das Bewußtseinssubjekt und meinen in jenem Begriff das unmittelbare Seelengegebene schon völlig gefaßt zu haben; für sie ist dasselbe nur  Abstraktes,  eine Reihe von eigenartigen Bestimmtheiten; ein besonderes Konkretes "Seele" verneinen sie und von einer "Seelensubstanz" wollen sie ebenfalls nichts wissen. Die notwendige Folge ist daher die, daß sie, um doch die Bewußtseinsbestimmtheit nicht in der Luft schweben zu lassen, sondern sie auf festem Boden unterzubringen, gleichfalls, da  konkretes Bewußtsein  für sie  nicht besteht,  an das  einzig übrig bleibende  Konkrete, das  Ding,  sich gewiesen sehen, um bei ihm jene Bewußtseinsbestimmtheit, das Abstrakte, als sein Merkmal unterzubringen. Sie verfallen mithin ganz  demselben Widerspruch,  wie die Altmaterialisten und Spiritualisten. Die Neumaterialisten, die echten sowohl als auch die unechten, sprechen es auch offen aus: "Bewußtsein" ist eine  Bestimmtheit des Gehirndings. 

Der Spinozist freilich - hierin ein Gegenstück des Spiritualisten - will es nicht wahr haben, daß die Auffassung des Gegebenen "Bewußtsein" als bloßer Bewußtseinsbestimmtheit notwendig zum Materialismus führt; er wendet ein, die Bewußtseinsbestimmtheit hänge er ja nicht dem Gehirn als besondere Bestimmtheit an, sondern sie wie auch das Gehirn zusammen einer gemeinsamen "Substanz". Sollen wir uns bei seinem Wort etwas denken, so muß er erst klar machen, was im unmittelbar Gegebenen dem Wort entspricht, also welches Stetige und in jedem Augenblick selbige mit den wechselnden Bewußtseins- und Gehirnbestimmtheiten zusammen jenes Konkrete aufweist, dessen gleichzeitige Bestimmtheit diese  ganz  Verschiedenen, nämlich "Bewußtsein und Gehirn" sein sollen. Ich sehe aber für den Spinozisten, wenn er sich bei seiner Behauptung etwas denken will, gar keinen anderen Ausweg, als daß er in der "Gehirnsubstanz" die dem Bewußtsein und dem Gehirn gemeinsame "Substanz" findet. Das notwendige Ende  dieses  Spinozismus ist in der Tat der Neumaterialismus mit einem unlöslichen Widerspruch.

Sieht der Spinozist aber von einer gemeinsamen "Substanz" ganz ab und faßt er das Gegebene überhaupt als eine Doppelreihe von dinglichen und seelischen Bestimmtheiten, so bleibt er eben auf  halbem Weg  stehen, um sich das Gegebene klar zu machen. Aber was dann das Denken nicht zuende führt, übernimmt bereitwillig die Einbildungskraft und wer sich als ein solcher Spinozist prüft, wird sich trotz allem bei dem neumaterialistischen Gedanken ertappen: der menschliche Organismus (der Leib) hat zuweilen auch die Eigenart, Bewußtseinsbestimmtheit zu haben.

Alle vier Richtungen, mögen sie das Subjekt oder die Bestimmtheit des Bewußtseins zum Ausgangspunkt nehmen, stimmen darin überein, daß sie das "Subjekt" des Bewußtseins als Bewußtseinssubjekt nicht verstehen, die einen, Altmaterialismus und Spiritualismus, indem sie es  nicht  bloß als Bewußtseinssubjekt, sondern auch "ohne Bewußtsein" gegeben sein lassen, die anderen, indem sie überhaupt vom "Subjekt" als Bewußtseinssubjekt, als Moment des "Bewußtseins", nichts wissen wollen. Infolgedessen sind sie alle unrettbar dem Materialismus verfallen.  Die Anerkennung des "Subjekts" als Bewußtseinssubjekts, aber auch nur als dieses Bewußtseinsmomentes, schützt allein vor der Gefahr, in den Materialismus hineinzugeraten.  Ist uns das Bewußtseinssubjekt mit der Bewußtseinsbestimmtheit  notwendig  gegeben, wann immer  Bewußtsein  ist; bedeutet uns ferner dieses Bewußtseinssubjekt selber einzig und allein ein (abstraktes)  Moment  des Bewußtseins, ist es daher  nicht  als Gegebenes  denkbar ohne die zugleich mitgegebene Bewußtseinsbestimmtheit;  ist uns endlich das aus stetigem Bewußtseinssubjekt und wechselnder Bewußtseinsbestimmtheit Bestehende ein besonderes Konkretes,  konkretes Bewußtsein  und nicht selber etwa Abstraktes: so haben wir die sichere Gewähr, daß die Versuchung, das unmittelbare Seelengegebene zu materialisieren, sei es als besonderes Ding, sei es als besondere Bestimmtheit eines Dings, gar nicht mehr an uns herantreten kann.
LITERATUR - Johannes Rehmke, Lehrbuch der Allgemeinen Psychologie, Hamburg und Leipzig 1894