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MELCHIOR PALÁGYI
Der Streit der
Psychologisten und Formalisten

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"Ich kann bei einer jeden unmittelbaren Wahrnehmung einer Tatsache ausdrücklich vorausschicken, daß  ich  es bin, der die Tatsache wahrnimmt und behauptet. So z. B.:  Ich behaupte jetzt zu sehen, daß diese Rose rot ist.  Bei allen derartigen Sätzen kann von mir und meinem Denken nicht abgesehen werden, weil ich und mein Denken als intentionale Inhaltsmomente der betreffenden Sätze erscheinen. Aber ich kann auch einer beliebigen allgemeinen Wahrheit den Satz voranstellen:  Ich denke jetzt  und z. B. sagen:  Ich denke jetzt, daß die drei Höhenlinien eines Dreiecks sich in einem Punkt schneiden,  wodurch ich es verhindert habe, daß bei diesem Satz von mir und meinem Denken abgesehen werden kann. Damit ist aber erwiesen, daß beliebig viele Sätze so stilisiert werden können, daß sie es nicht gestatten, von der Person und dem Denkakt dessen, der sie denkt, abzusehen."

"Die Begrife  der Sätze und Wahrheiten ansich  verfolgen den Zweck, einerseits den Schein zu erwecken, als ob wir mit unserem Denken unser Denken überspringen könnten, andererseits aber auch den beruhigenden Schein zu erwecken, als ob wir aus unserem Denken gar nicht herauskommen müßten, um zu  Sätzen und Wahrheiten ansich  zu gelangen. Haben wir einmal diese Zweideutigkeit durchschaut, dann sind wir auch in den Besitz des Schlüssels zur Logik Bolzanos (und auch Husserls) gelangt. Diese Logik wird notwendig ein Janusgesicht zeigen."

"Wie kommt es nun, daß der bloße  Sinn  eines logischen Idealgesetzes, dadurch, daß er in einem Satz gedacht wird, zu einer bestimmenden Kraft des Gedankengangs wird, so daß der Gedankengang nunmehr tatsächlich im Sinne des logischen Gesetzes verläuft, und zu einem Einzelexempel wird für das, was das logische Gesetz als Allgemeines ausdrückt? Wie kommt es, daß dieser bloße allgemeine Sinn des logischen Gesetzes zu einem Motiv werden kann für den wirklichen Verlauf unserer Gedanken? Ist da das Idealgesetz nicht zu seinem Realgesetz geworden?"


III. Kritik der Fundamentallehre Bolzanos

§ 6. Denkakte und Denkinhalte

Betrachten wir z. B. einen solchen Satz, wie "Ich denke jetzt", so finden wir als den wesentlichen Charakter desselben, daß der Akt, durch welchen wir ihn denken, in ihm als sein Inhalt erscheint, so daß wir bildlich sagen dürfen, daß sich bei diesem Satz der Akt mit seinem Inhalt deckt. Ich frage nun, ob es auch bei diesem Akt noch möglich sei, den Inhalt so vom Akt zu scheiden, daß dieser letztere völlig außer acht bleibt. Ist es möglich, den Sinn von "Ich denke jetzt" abzutrennen, so daß meine Person und meine Denkhandlung, die doch zum intentionalen Inhalt dieses Satzes gehören, ganz unberücksichtigt bleiben?

Oder betrachten wir etwa folgende Satzverbindung: "Ich denke jetzt, daß ich jetzt denke", wo ich mit einem Denkakt auf meine Denktätigkeit reflektiere. Ist es da noch möglich, - wo ich ausdrücklich mein Denken zum Inhalt meines Denkens mache - abszusehen von mir und meinem Denken? Ich glauben behaupten zu dürfen, daß bei einem solchen Satz ein Absehen von der denkenden Person und ihrem Denken deshalb unmöglich ist, weil der Satz eben das zum Inhalt hat, wovon abgesehen werden sollte. Damit ist aber erwiesen, daß die Forderung, die BOLZANO und ihm folgende auch HUSSERL an uns stellen, daß wir einen Inhalt denken sollen unabhängig vom Denkakt einer Person, im vorliegenden Fall undurchführbar ist.

Haben wir aber auch nur einen einzigen Satz, an dem das fragliche Abstraktionsverfahren scheitern muß, dann wird es leicht sein, ähnliche Sätze in beliebiger Zahl herzustellen. Ich kann nämlich bei einer jeden unmittelbaren Wahrnehmung einer Tatsache ausdrücklich vorausschicken, daß ich es bin, der die Tatsache wahrnimmt und behauptet. So z. B.: "Ich behaupte jetzt zu sehen, daß diese Rose rot ist." Bei allen derartigen Sätzen kann von mir und meinem Denken nicht abgesehen werden, weil ich und mein Denken als intentionale Inhaltsmomente der betreffenden Sätze erscheinen. Aber ich kann auch einer beliebigen allgemeinen Wahrheit den Satz voranstellen: "Ich denke jetzt" und z. B. sagen: "Ich denke jetzt, daß die drei Höhenlinien eines Dreiecks sich in einem Punkt schneiden", wodurch ich es verhindert habe, daß bei diesem Satz von mir und meinem Denken abgesehen werden kann. Damit ist aber erwiesen, daß beliebig viele Sätze so stilisiert werden können, daß sie es nicht gestatten, von der Person und dem Denkakt dessen, der sie denkt, abzusehen.

Man kann hiergegen vielleicht einwenden, daß auch bei einem solchen Satz, wie "Ich denke jetzt", der zeitlich verlaufende Denkakt noch immer wohlunterschieden werden kann vom Sinn, der ihm innewohnt und der für alle Zeiten derselbe Sinn bleibt. Dies aber will ich gar nicht in Abrede stellen. Ich meine nur, daß dieser Sinn, der für alle Zeiten derselbe Sinn bleibt und mithin ein überzeitlicher Sinn genannt werden kann, so an einen zeitlichen Akt gebunden ist, daß, wenn dieser zeitliche Akt nicht stattfände, auch jener überzeitliche Sinn keinen Bestand haben könnte. Nur weil in meinem Bewußtsein jetzt tatsächlich ein Denkmal stattfindet, ist der Sinn des Satzes "Ich denke jetzt" ein für alle Zeiten bestehender identischer Sinn. Mit anderen Worten: es besteht eine für alle Zeit geltende, unlösbare Beziehung zwischen der Tatsache, daß ich jetzt denke, und dem überzeitlichen Sinn des Satzes "Ich denke jetzt". (Eine verwandte Betrachtung findet man bei G. K. UPHUES "Grundzüge der Erkenntnistheorie - der überzeitliche Charakter der Wahrheit, Seite 3 und 4). Und diese Beziehung sagt aus, daß ohne die Tatsache meines Denkens auch von keinem ewig selbigen Sinn des Satzes "Ich denke jetzt" die Rede sein könnte; wie auch umgekehrt ohne diesen ewigen, selbigen Sinn die Aussage "Ich denke jetzt" keine wirkliche Denkhandlung wäre.

Da nun BOLZANO fordert, daß wir den ewig identischen Sinn eines Satzes vom Denkakt so abtrennen sollen, daß die Zugehörigkeit dieses Sinne zum Akt, durch welchen er gesetzt wird, aufgehoben werde, sind wir gezwungen zu erklären, daß dieser Anforderung bei dem Satz "Ich denke jetzt" unmöglich Genüge geleistet werden kann, weil der Sinn dieses Satzes in einer unlösbaren Beziehung zu unserem wirklichen Denkakt steht. Ähnlich verhält es sich aber - wie wir oben gesehen haben - in unzähligen Fällen, so daß wir nunmehr die Begriffskonstruktion BOLZANOs mit Recht als problematische bezeichnen dürfen.

Und zwar besteht das Problematische dieser Begriffe in ihrer  Zweideutigkeit.  Es hat nämlich einen ganz anderen Sinn, den Inhalt eines Denkaktes von seinem Gedachtwerden bloß zu  Unterscheiden,  oder aber die Beziehung der beiden als  aufgelöst  (vernichtet) zu denken.

Wir werden ohne Bedenken zugeben dürfen, daß bei einem  jeden  Satz eine  Unterscheidung  gemacht werden kann zwischen zwei Momenten desselben; zwischen dem Moment des Akt-seins dieses Satzes und dem Moment des dem Akt innewohnenden Sinns; ja wir werden diese Unterscheidung als eine für die Logik fundamentale hinstellen müssen, da es ohne ihre Hilfe unmöglich wäre, von einem identischen Sinn eines beliebig oft ausgesprochenen Satzes oder Wortes zu sprechen: wir werden uns jedoch in entschiedenster Weise dagegen verwahren müssen, als ob die Unterscheidung von Akt und Sinn eines Satzes die Bedeutung hätte, daß der Zusammenhang dieser beiden Momente eines Satzes (oder Wortes) als  aufgelöst  betrachtet werden soll. Vielmehr werden wir stets eingedenk sein müssen des  unlösbaren Zusammenhangs  zwischen dem Aktmoment und dem Sinnesmoment irgendeines beliebigen Satzes, weil es keinen Denkakt geben kann, der bar wäre eines jeglichen Denkinhaltes, und weil wir auch keinen Denkinhalt anders als mit Hilfe eines Denkaktes zu fassen vermögen. Mit anderen Worten: wir vermögen zwar an einem beliebigen Satz durch Abstraktion das Moment des Aktes vom Moment des Sinns zu unterscheiden, wir vermögen jedoch nicht durch diese Abstraktion den Zusammenhang der beiden Momente zu zerreissen.

BOLZANO hingegen will nicht bei der bloßen Unterscheidung von Denkakt und Denkinhalt stehen bleiben, sondern er will diese Unterscheidung zugleich als solche hinstellen, durch welche der Zusammenhang von Denkakt und Denkinhalt aufgelöst wird. Schon das ist für seine Konzeption im höchsten Maß charakteristisch, daß er nirgends die Gelegenheit wahrnimmt, den unlösbaren Zusammenhang der Momente des Aktes und Inhaltes auszusprechen und zu betonen, so daß schon das bloße Schweigen über diesen entscheidenden Punkt vollauf genügt, um seine Unterscheidung von Satz und "Satz ansich" in einem zweideutigen Licht erscheinen zu lassen. Daß er aber die geheime Tendenz verfolgt, den Zusammenhang von Denkakt und Denkinhalt zu zerreissen, geht daraus hervor, daß er gedachten Sätzen Realität zuschreibt, von "Sätzen ansich" jedoch ausdrücklich erklärt, daß ihnen keine Dasein zukomme. Also stehen gedachte Sätze und "Sätze ansich" in einem kontradiktorischen Gegensatz, indem die einen als existierend, die anderen als nichtexistierend betrachtet werden müßten. Würde BOLZANO die "Sätze ansich" bloß als Momente, nämlich als Sinnesmomente, an wirklich gedachten Sätzen auffassen, so brauchte er gar nicht von einer Nichtexistenz derselben zu sprechen. Nun löst er aber das Sinnesmoment vom gedachten (also existierenden) Satz ab, und nennt ein solches  abgelöstes  Sinnesmoment einen "Satz ansich", weshalb er sich gedrängt fühlt, diesem  abgelösten  Sinn die Existenz abzusprechen. Wir hingegen werden - im vollen Gegensatz zu BOLZANO - den Sinn eines Satzes  nicht  vom Satz selbst  ablösen,  sondern diesen Sinn bloß als Moment am gedachten Satz fassen, so daß uns ein "Satz ansich" nichts anderes ist, als der für sich (als Moment) betrachtete Sinn, der einem gedachten Satz innewohnt. Dementsprechend wwerden wir auch dem Satz ansich nimmermehr jede Art von Sein absprechen dürfen, ist er ja doch eine Moment an einem wirklich gedachten Satz, ja das wesentliche, überzeitliche Moment desselben. BOLZANO hingegen löst den Sinn eines Satzes so von demselben ab, daß er aufhört ein Moment an diesem wirklichen Satz zu sein, und ist deshalb gezwungen, den so abgelösten Sinn für einen nicht existierenden "Satz ansich" zu erklären. Und was noch weit schlimmer ist: BOLZANO hält nicht fest an diesem seinem Begriff vom "Satz ansich", sondern schwankt zwischen zwei entgegengesetzten Bedeutungen desselben, indem er den "Satz ansich" bald als  anhaftenden,  bald als  abgelösten  Sinn eines gedachten Satzes hinstellt. Dies geht schon deutlich aus einer schon zitierten Definition des "Satzes ansich" hervor, die wir noch einmal in Augenschein nehmen müssen:
    "Unter einem  Satz ansich  verstehe ich nur irgendeine Aussage, daß etwas ist oder nicht ist;  gleichviel  ob diese Aussage wahr oder falsch ist; ob sie von irgendjemand in Worte gefaßt ist oder nicht, ja auch im Geist nur gedacht oder nicht gedacht ist."
Im Sinne dieser Definition können "Sätze ansich"
    a) wahr oder falsch,
    b) in Worte gefaßt oder nicht
    c) gedacht oder nicht gedacht sein.
Nun lehrt aber BOLZANO weiter, daß gedachte Sätze Realität haben, "Sätzen ansich" hingegen keine Realität zukommt; woraus folgt, daß ein gedachter Satz kein "Satz ansich" sein kann, weil er dann Realität haben und auch nicht haben müßte. Trotzdem erklärt BOLZANO in seiner grundlegenden Definition, daß auch ein gedachter Satz ein "Satz ansich" sein kann.

Wir haben somit die Zweideutigkeit, bzw. den inneren Widerspruch der fraglichen Definition bloßgelegt. Es geht eben nicht an, einen "Satz ansich" als gedacht oder nicht gedacht hinzustellen, weil man ihn dann entsprechend auch als seiend oder auch nicht seiend erklären müßte. Mit anderen Worten, es geht nicht an, den "Satz ansich" bald als  anhaftenden,  bald als  abgelösten  Sinn eines gedachten Satzes zu definieren, sondern man muß sich bloß für eine dieser beiden sich ausschließenden Definitionen entscheiden.


§ 7. Das Denken außerhalb des Denkens

Wir begnügen uns jedoch nicht damit, die Zweideutigkeit und den inneren Widerspruch der Fundamentaldefinition BOLZANOs erwiesen zu haben, sondern wollen auch die  Absicht  aufdecken, die dieser Definition zugrunde liegt und ihren logischen Irrtum begreiflich macht. Denn es ist gemeinhin eine gewisse Absicht, durch die sich auch die bedeutendsten Denker auf Irrwege verlocken lassen. So ist z. B. BOLZANO bestrebt, den Denkinhalt vom Denkakt abzulösen, weil er einen Standpunkt außerhalb sich selbst und seines Denkens gewinnen will. Er will zu einer objektiven Wahrheit durchdringen, und meiint zu diesem Zweck den Sinn eines Satzes außerhalb allen Denkens verlegen zu müssen. Dieses Hinausgreifenwollen des Denkens über das Denken ist es, wodurch sich auch ein so strenger Forscher wie BOLZANO in innere Widersprüche und Zweideutigkeiten verwickeln muß.

Denn wer meint, sein eigenes Denken überspringen zu können, der muß auch diesen Sprung zurück ins eigene Denken aus ausführbar erachten, und der verrät durch dieses scheinbare Hin- und Zurückspringen die doppelte Selbsttäuschung, in der er befangen ist. Es sei auf einen Augenblick das Unmögliche zugegeben, daß jemand aus dem eigenen Denken herauskommen und die jungfräuliche Wahrheit in ihrem Nichtgedachtsein erfassen könnte: wie vermag er dann das also Erfaßte uns anderen gewöhnlichen Menschenkindern kundzutun, als daß er jenes Nichtgedachte in Gedanken kleidet, wodurch es aber eben um das Nichtgedachtsein der Wahrheit geschehen wäre. Fürwahr, man bemüht sich vergebens, den Sinn eines Satzes aus dem Satz hinauszuverlegen, denn man bringt sich dadurch nur in die fatale Situation, den hinausverlegten Sinn hübsch in den Satz zurückzuverlegen. Diese doppelte Verlegenheit ist es, die BOLZANO mit seinen fundamentalen Definitionen sich selbst bereitet.

Er müßte, um konsequent zu sein, erklären, daß "Sätze ansich" und "Wahrheiten ansich" ungedachte Sätze und Wahrheiten sind, und auch für immer solche bleiben müßten, so daß wenn jemand sie denken würde, sie durch dieses Gedachtwerden aufhören müßten "Sätze und Wahrheiten ansich" zu sein. Dann aber wären die "Wahrheiten ansich", sowie die  Kantischen  "Dinge-ansich", ein für allemal unerkennbar, weil sie durch das Erkanntwerden aufhören würden "Wahrheiten ansich" (bzw. Dinge ansich) zu sein. Nun hat BOLZANO den Begriff der "Wahrheiten ansich" nur zu dem Zweck ersonnen, um später beweisen zu können, daß wir dieselben zu erkennen vermögen,  also ist er gezwungen zuzugeben, daß  nicht bloß ungedachte, sondern  auch gedachte Sätze "Wahrheiten ansich" sein können.  Damit ist es aber um die Eindeutigkeit und Widerspruchslosigkeit seiner Begriffskonstruktion geschehen: denn er muß zugeben, daß es alles eins ist, ob ein Sinn an einem gedachten Satz haftend, oder von demselben abgelöst ist.

Diesem offenbaren Widerspruch kann er nur entrinnen, wenn er erklärt, daß "Sätze und Wahrheiten ansich" kein Dasein haben. Denn haben sie kein Dasein, so ist es wirklich gleichgültig, ob sie das eine Mal als an gedachten Sätzen haftend, das andere Mal aber als von ihnen abgelöst betrachtet werden. Hiermit ist es nun auch klargelegt, warum BOLZANO die "Sätze und Wahrheiten ansich" für nicht daseiend erklärt. Durch dieses Nichtsein wird nämlich der Schein erweckt, als ob es gleichgültig wäre, den Sinn eines Satzes an ihm haften oder nicht haften zu lassen. Hat nämlich der Sinn, der einem Denkakt innewohnt, kein Dasein, keine Wirklichkeit: dann ist es allerdings gleichgültig, ob man dieses Nichtseiende, Nichtwirkliche, an den Denkakt knüpft oder von demselben ablöst. (Im Sinne des arithmetischen Satzes, daß  a + 0 = a - 0  ist.)

Nun merkt aber BOLZANO nicht, daß, wenn er die "Sätze und Wahrheiten ansich" als nicht seiend erklärt, den gedachten Sätzen aber Wirklich zuschreibt, er in einen Widerspruch mit sich selbst gerät. Denn haben gedachte Sätze Wirklichkeit und "Sätze ansich" keine Wirklichkeit,  dann können gedachte Sätze nich auch "Sätze ansich" sein,  weil sie dann Wirklichkeit haben und auch nicht haben müßten. Also müssen "Sätze ansich" immer nur ungedachte Sätze sein, und "Wahrheiten ansich" immer unerkennbare Wahrheiten bleiben, woraus zu ersehen ist, daß die ganze Begriffskonstruktion einer entgegengesetzten Absicht dienstbar ist, als ihr Autor mit ihr verband. Dieser gegensätzliche Erfolg war aber vorauszusehen, denn glaubt man die Wahrheit "objektiv" zu machen, wenn man sie außerhalb allen Denkens verlegt, so wird sie zu einem Ding ansich, d. h. sie wird unerkennbar (falls man nur nicht - wie BOLZANO es tut - zu dem verzweifelten Mittel greift, - die Wahrheit vom Denken abzulösen und doch auch zugleich nicht abzulösen).

Ich glaube nunmehr zur Genüge dargelegt zu haben, daß die Begrife "der Sätze und Wahrheiten ansich" den Zweck verfolgen, einerseits den Schein zu erwecken, als ob wir mit unserem Denken unser Denken überspringen könnten, andererseits aber auch den beruhigenden Schein zu erwecken, als ob wir aus unserem Denken gar nicht herauskommen müßten, um zu "Sätzen und Wahrheiten ansich" zu gelangen. Haben wir einmal diese Zweideutigkeit durchschaut, dann sind wir auch in den Besitz des Schlüssels zur Logik BOLZANOs (und auch HUSSERLs) gelangt. Diese Logik wird notwendig ein Janusgesicht zeigen: denn sie wird sich das einemal das Ansehen geben, als ob sie uns ganz hinausführen würde aus dem Bereich unseres Denkens in das Reich der ungedachten Wahrheiten (der "idealen Möglichkeiten"), das andere Mal wird sie dieses ganze Reich ganz unvermerkt in unser Denken hinübernehmen und sich den Anschein geben, als ob man gar nicht die hochtrabende, übermenschliche Tendenz gehegt hätte, aus dem eigenen Bewußtsein hinauszuspringen.

Es wird uns also nicht überraschen, wenn BOLZANO es für eine Verkehrtheit hält, die Logik so zu definieren, als ob sie es "bloß" mit etwas derartigem, wie einem Denken und den Gesetzen dieses Denkens zu tun hätte, wo es sich doch in ihr recht eigentlich um "Wahrheiten ansich" handelt.
    "Die ganze Syllogistik - sagt er -, was ist sie anderes als eine Lehre von gewissen Verhältnissen, die zwischen "Sätzen und Wahrheiten ansich" herrschen? Oder wer sollte wohl die hier vorkommenden Sätze alle nur so auslegen, daß sie bloße Gesetze des Denkens, etwa nur für uns Menschen, oder zwar vielleicht auch für alle denkenden Wesen, aber  doch immer nur für das Denken  derselben, nicht für die Wahrheiten ansich wären."
Man sieht hier deutlich, daß BOLZANO sich sogar damit nicht begnügt, die logischen Gesetze als Gesetze für das Denken aller Wesen (selbst Gottes) zu erklären, denn ein Denken bleibt seiner Auffassung nach doch immer "nur" ein Denken, und in der Logik handelt es sich doch um ein höheres, nämlich um die "Wahrheiten ansich". BOLZANO faßt also das Denken als eine Tätigkeit auf, durch welche die Wahrheiten gewissermaßen verunreinigt oder doch zumindest vermenschlicht, versubjektiviert werden, so daß die Logik sich recht eigentlich nicht mit der durch irgendein Denken korrumpierten Wahrheit, sondern mit den Bedingungen der "Wahrheit ansich" zu befassen habe. Hoffentlich werden diese Absonderlichkeiten keinen Leser mehr überraschen, folgen sie doch einfach aus der Ablösung des Sinns vom Denkakt. Da aber diese Ablösung doch nur ein Schein ist, bleibt es eigentlich - wie dies kaum gesagt zu werden braucht - bei der alten Logik, beim alten Denken und den alten Gesetzen des Denkens. Aber all dies kann nun ein ganz neues Ansehen, einen noch nie dagewesenen Anstrich gewinnen, denn man hat es nunmehr mit ungedachten Gedanken oder "idealen Möglichkeiten" zu tun.

Die Ablösung des Sinns vom Denkakt ist auch das beste Mittel, einen endlosen Wortstreit gegen die "Psychologisten" anzufachen. Man erklärt nämlich, daß die Psychologie es bloß mit den Akten, die Logik hingegen bloß mit dem ihnen innewohneden Sinn zu tun hat; und da dieser Sinn vom Akt abgelöst werden soll, so muß natürlich auch das Tischtuch zwischen Psychologie und Logik zerschnitten werden. Dies ist der Grundgedanke, von dem HUSSERL in seinem Streit wider die Psychologisten ausgeht. Er wirft ihnen vor, daß sie sich in einer Äquivokation von Denkakt und Denkinhalt (Sinn) befänden, und er stellt immer von neuem die Forderun, daß der Inhalt vom Denkakt getrennt werden soll. Die BOLZANO'sche Begriffskonstruktion wird als Waffe gegen die Psychologisten benutzt. Daß hinterher der Inhalt in Wirklichkeit vom Denkakt doch nicht abgelöst werden kann, und daß demzufolge auch Logik und Psychologie in einem notwendigen Verein miteinander bleiben müssen, das braucht vorderhand nicht berücksichtigt zu werden; muß man ja zunächst den Schein erzeugen, als ob man von "Sinn" und "Bedeutung" sprechen könnte, ganz unabhängig von den Denkakten, denen jener Sinn oder jene Bedeutung innewohnt.

Also wird es auch HUSSERL - BOLZANO folgend - für verkehrt oder gefährlich erachten, wenn man der Logik zumutet, daß sie es bloß mit Gesetzen des Denkens zu tun habe, wo doch die Logik nicht mit den Denkakten, sondern den von ihnen abgelösten Inhalten operieren soll. Ja er wird einen Schritt weiter gehen - und was BOLZANO nur heimlich andeutete -, nun auch offen verkünden, daß die logischen Gesetze im Grunde genommen gar keine Denkgesetze sind. "Kein logisches Gesetz ist - nach seinem echten Sinn - ein Gesetz für Tatsächlichkeiten des psychischen Lebens, also weder für Vorstellungen (d. h. Erlebnisse des Vorstellens), noch für Urteile (d. h. Erlebnisse des Urteilens), noch für sonstige psychische Erlebnisse" (Logische Untersuchungen I, Seite 69).

Die Kritik, die wir an den BOLZANO'schen Fundamentalbegriffen übten, enthält also zugleich eine Kritik des HUSSERL'schen Streites gegen die Psychologisten; trotzdem wollen wir uns diesen Streit noch näher betrachten.


IV. Der Streit wider den Psychologismus

§ 8. Realgesetz und Idealgesetz

Man kann den Sinn, der einem Satz innewohnt, weil er ein für alle Zeit identischer, also überzeitlicher Sinn ist, das  ideale  Moment am Satz nennen; hingegen den zeitlichen Akt, durch welchen jener Satz gedacht wird, weil er ein wirkliches Geschehen darstellt, als das  reale  Moment am Satz bezeichnen. Diese beiden Moment werden - wir wir es oben auseinandersetzten - durch Abstraktion voneinander unterschieden, stehen jedoch im Verhältnis eines unlösbaren Zusammenhangs zueinander. Diesem Standpunkt gegenüber läßt sich derjenige HUSSERLs so kennzeichnen, daß er eine unendliche Kluft zwischen dem realen und dem idealen Moment eines Satzes statuiert. Er setzt also dem Standpunkt der  Zusammengehörigkeit  von Realem und Idealem den Standpunkt einer völligen  Separation  der beiden Momente entgegen.

Für HUSSERL gibt es demgemäß ein Reich des Realen, zu dem auch alle psychischen Vorgänge, also auch alle Urteile als zeitliche Akte gehören, und er stellt der Gesamtheit dieses Tatsächlichen ein Reich des Idealen gegenüber, welches als ein Reich der bloßen Bedeutungen gekennzeichnet werden darf: der Bedeutungen, die unseren Wörter und Sätzen innewohnen. Dieses Reich heißt bei ihm auch das "Reich der unzeitlichen Ideen", und die einzelnen Bestandteile desselben werden auch wohl mit "idealen Einheiten", "idealen Spezies", "idealen Möglichkeiten" benannt. Dies ist jedoch hier Nebensache; denn es kommt hier bloß darauf an, daß die Reiche des Realen und des Idealen durch einen unendlichen Abgrund geschieden sein sollen: stehen sie ja doch wie Tatsachen und Nichttatsachen einander gegenüber.

Dem entsprechend unterscheidet HUSSERL auch zweierlei Gesetze, nämlich Real- und Idealgesetze. Zu den Realgesetzen gehören alle Gesetze für Tatsachen, also alle naturwissenschaftlichen Gesetze, und was uns hier ausschließlich interessiert, alle Gesetze der Psychologie. Der Charakter derselben ist, daß sie nicht "a priori", das heißt "nicht einsichtig" erkannt werden.
    "Der einzige Weg, - sagt HUSSERL - ein solches Gesetz zu begründen und zu rechtfertigen, ist die Induktion aus einzelnen Tatsachen der Erfahrung. Die Induktion begründet aber nicht die Geltung des Gesetzes, sondern nur die mehr oder minder hohe Wahrscheinlichkeit dieser Geltung; einsichtig gerechtfertigt ist die Wahrscheinlichkeit und nicht das Gesetz."
Die Gesetze der reinen Mathematik und der reinen Logik sind hingegen Idealgesetze, d. h. sie sind "a priori" gültig.
    "Nicht durch Induktion, sondern durch apodiktische [logisch zwingende, demonstrierbare - wp]Evidenz finden sie Begründung und Rechtfertigung. Einsichtig gerechtfertigt sind nicht bloße Wahrscheinlichkeiten ihrer Geltung, sondern ihre Geltung oder Wahrheit selbst." (Logische Untersuchungen I, Seite 62)
Real- und Idealgesetze müssen als  grundwesentlich  voneinander verschieden aufgefaßt werden, da doch auch das Reale und das Ideale selbst unüberbrückbare Gegensätze sind. Dementsprechend können auch Idealgesetze, wie es die rein logischen sind, nie Gesetze für Tatsachen, auch nicht für psychische Tatsachen sein; und die psychologistische Verderbnis der Logik stammt eben aus einer unseligen Verwechslung des Realen und Idealen, sowie der entsprechenden Gesetze. Der Psychologismus hält die logischen Prinzipien für Natur- oder Realgesetze des Denkens, als ob sie kausale Gesetze wären, nach deren Maßgabe die Gedanken einander verursachen, bewirken würden. Nun unterliegen aber die Denkakte als reale Vorgänge, als psychische Ereignisse, wohl den Realgesetzen der Kausalität, aber die Wahrheiten, die den Inhalt dieser Akte bilden, sind keine Tatsachen, sie auf- und niedertauchen, sie können deshalb einander auch nicht bewirken, und ihr Zusammenhang wird durch Idealgesetze zum Ausdruck gebracht.
    "Die psychologischen Logiker - sagt HUSSERL - verkennen den grundwesentlichen und ewig unüberbrückbaren Unterschied zwischen Idealgesetz und Realgesetz, zwischen normierender Regelung und kausaler Regelung, zwischen logischer und realer Notwendigkeit, zwischen logischem und Realgrund. Keine denkbare Abstufung vermag zwischen Idealem und Realem Vermittlungen herzustellen." (Logische Untersuchungen I, Seite 68)
Der innere Widersprucht der BOLZANO'schen fundamentalen Begriffsauffassungen tritt hier mit elementarer Kraft zum Durchbruch. Unser wirklicher Gedankenverlauf würde nämlich einerseits durch reale psychische Gesetze kausalen Charakters geregelt, andererseits aber durch die logischen Idealgesetze (wie das Prinzip des Widerspruchs, das Prinzip des Grundes) normiert werden; und die zweierlei Gesetze hätten nichts miteinander zu schaffen, da sie ja Gesetze sind, die verschiedenen Welten angehören. Das Schlimmste dabei ist, daß man gar nicht abzusehen vermag, wie die Idealgesetze zu irgendeiner Wirksamkeit (oder richtiger Bewahrheitung) kommen könnten, da es eben zu ihrem Charakter gehört, außerhalb der Zeit zu stehen, und demzufolge sich zwar einer ewigen idealen Geltung, nie aber einer realen Bedeutsamkeit für den wirklichen Gedankenverlauf zu erfreuen. Erhaben über Raum und Zeit wären sie gewissermaßen Wahrheitssterne, die aus einer unendlichen Entfernung auf die Welt der Wirklichkeit herabblicken, doch nicht das Getriebe ihrer Räder regeln könnten, weil dieses Getriebe der ausschließlichen Herrschaft der Realgesetze (kausalen Charakters) unterliegen würde. Es wäre ganz unbegreiflich, wie unsere Gedanken zu einer Wahrheit, ja auch nur zu einer Unwahrheit und überhaupt zu einem Inhalt kämen, da ja diese Inhalte durch Idealgesetze regiert werden, die nichts gemein haben mit den Realgesetzen, welche die Koexistenz und Sukzession wirklicher Denkakte in kausaler Weise beherrscen. Kurz eine Erkenntnis der Wahrheit würde zur Unmöglichkeit werden, wenn die wirklichen Denkakte und die zu erfassenden Wahrheiten ansich zweierlei Gesetzen unterliegen würden, die durch nichts miteinander vermittelt wären. Eine solche Entzweiung des Realen und Idealen, wie sie HUSSERL fordert, wäre schlimmer als jeder Psychologismus, denn sie ist nichts anderes als der Ausdruck der völligen Unmöglichkeit jeglicher Erkenntnis".

Um eine Erkenntnis überhaupt möglich zu machen, müßte HUSSERL eine dritte Klasse von Gesetzen annehmen, deren Aufgabe es wäre, die Zusammenordnung der realen Denkakte und der idealen Inhalte zu regeln, also Gesetze, die bestimmen würden, welchen Charakter realte Denkakte haben müßten, um der Wahrheit teilhaftig zu werden oder derselben verlustig zu gehen. Ja vom Standpunkt HUSSERLs aus würde erste diese dritte Klasse von Gesetzen für uns irgendeine Bedeutung haben können, denn uns Menschen interessiert es nicht, wie Gedanken abgesehen von ihrem Inhalt verlaufen, oder Inhalte abgesehen von ihrem Gedachtwerden zusammenhängen: sondern bloß das eine, wie wir mittels unserer wirklichen Denkakte des Zusammenhangs der Wahrheiten habhaft werden könnten. Wir bedürfen unbedingt einer Vermittlung des Realen und des Idealen, und wenn HUSSERL gerade diese Vermittlung ausschließt, so hat er nicht nur der psychologistischen, sondern einer jeden Logik überhaupt ein Ende bereitet.

Wir sehen hier die verhängnisvollen Folgen jenes Strebens, die Logik von der Psychologie loszureißen, klar zutage treten. Denn in diesem Gegensatz von Real- und Idealgesetzen gibt sich ja nichts anderes als die Tendenz kund, psychologische und logische Gesetze als gegensätzliche, als unüberbrückbar verschiedene Gesetze hinzustellen. Die nächste Folge dieses Auseinanderreißens des Zusammengehörigen ist, daß die psychologischen Gesetze als Realgesetze in eine Kategorie zu fallen scheinen mit den Gesetzen der Mechanik, und daß man zumindest nicht mehr weiß, wodurch das Psychische sich vom Physischen unterscheiden könnte. Noch verderblicher wirkt aber der Zwiespalt des Realen und Idealen auf die Logik ein.

Was hat es für einen Sinn, von logischen oder Idealgesetzen zu sprechen, welche den Zusammenhang der Wahrheiten ohne Rücksicht auf ihr Gedachtwerden ausdrücken würden? Einen Zusammenhang können Wahrheiten nur innerhalb eines Bewußtseins haben, außerhalb eines jeden Bewußtseins haben die Wahrheiten gar keinen Zusammenhang und bedürfen auch keines solchen. Nur für ein Bewußtsein ist es von Bedeutsamkeit, daß Begriffe und Urteile irgendwie verknüpft sind; außerhalb eines Bewußtseins brauchen und können Begriffe und Sätze ansich gar nicht verknüpft werden. Nur in einem Bewußtsein kann z. B. von einer aufgegebenen Gleichung zu ihrer Lösung fortgeschritten werden, im Reich der unzeitlichen Ideen jedoch gibt es keinen Fortgang vom Unbekannten zum Bekannten, weil dieser Fortgang eben notwendig ein zeitlicher ist. Wenn LAGRANGE die Gleichungen 5. Grades noch für algebraisch lösbar hielt, ABEL hingegen ihre Unlösbarkeit bewies, so ist ein solcher Fortschritt in der Erkenntnis der Wahrheit nur innerhalb eines Bewußtseins möglich; und außerhalb eines menschlichen Bewußtseins - im unzeitlichen Reich der Ideen - gibt es gar nichts, was dem logischen gedanklichen Fortschritt des ABEL'schen Beweises entspricht, weil jener Fortschritt eben notwendig ein zeitlicher ist. Stellt man sich trotzdem Begriffe uns Sätze vor und spricht man von einem einheitlichen, zusammenhängenden Reich derselben, so hat man sie unvermerkt oder gar unbewußt in ein Bewußtsein verlegt. Das "unzeitliche Reich der Ideen", von welchem HUSSERL spricht, setzt ein Bewußtsein voraus, in welchem diese Ideen ihren Zusammenhang, ihre Einheit haben. Wird dieses Bewußtsein geleugnet, dann kommen die "unzeitlichen Ideen" um ihren Zusammenhang, um ihre Einheit, d. h. sie bilden kein Reich, und sie haben dann weder eine Verfassung, noch auch ein Gesetz. Sie bilden kein System, sondern vielmehr eine "Anarchie ansich".

Hier tritt uns die für das moderne Denken so charakteristische Scheu vor jeder Metaphysik schier greifbar entgegen. Um die Wahrheiten objektiv zu machen, denkt man sie sich aus dem menschlichen Bewußtsein hinausverlegt, ohne sie jedoch in ein anderes Bewußtsein hineinzuverlegen: wahrscheinlich, weil man dieses andere Bewußtsein ein göttliches nennen müßte. Dadurch aber verlieren diese hinausverlegten Einzelwahrheiten ihren Halt und ihren Zusammenhang, den sie im menschlichen Bewußtsein hatten; sie werden zu einem Chaos gleichzeitig oder richtiger unzeitlich bestehender Sätze, bei denen von einem Zusammenhang gar nicht die Rede sein kann, weil das Bewußtsein fehlt, welches diesen Zusammenhang herstellen sollte. Verlegt man die Wahrheiten ansich in ein Nirgendwo oder Wolkenkuckucksheimm wie es BOLZANO und seiner Spur folgend HUSSERL tut, dann hören dieselben auf, ein System zu sein, und die Idealgesetze, durch welche die Einzelwahrheiten in ein System verflochten werden sollen, sind zu Unmöglichkeiten geworden.

Nun hat es aber doch einen gewissen Vorteil, sich jenes idealen Nirgendwos zu bedienen, weil dasselbe, da es eben nirgends ist, unvermerkt und mit dre größten Leichtigkeit in unser eigenes Bewußtsein zurückverlegt werden kann. Auf solche Weise wird es möglich, von einem Zusammenhang der Wahrheiten ansich - wenn auch nicht im Reich der unzeitlichen Ideen -, so doch in unserem eigenen Bewußtsein zu sprechen. Wir kennen dieses eigentümliche Verfahren der "Rückswärtskonzentrierung" auf das eigene Bewußtsein schon aus BOLZANOs Fundamentallehre. Auch HUSSERL belehrt uns, daß die Idealgesetze aus dem Reich der unzeitlichen Ideen herübergenommen werden können in den wirklichen Denkakt unseres Bewußtseins und sich dadurch als wirkende  Denkmotive  unseres tatsächlichen Gedankenverlaufs bewähren könnten. Eigentümlicher Weise scheint er es nicht zu merken, daß er hierdurch die Idealgesetze urplötzlich zu Realgesetzen gewandelt hat, wie dies aus den folgenden Bemerkungen klar hervorgeht:
    "Inbesondere wirken die Urteile gesetzlichen Inhalts des öfteren als  Denkmotive,  welche den Gang unserer Denkerlebnisse so bestimmen, wie es eben jene Inhalte, die Denkgesetze, vorschreiben. In solchen Fällen ist die reale Anordnung und Verknüpfung unserer Denkerlebnisse dem,  was  in der leitenden gesetzlichen Erkenntnis allgemein gedacht ist, angemessen; sie ist ein konkreter Einzelfall zum Allgemeinen des Gesetzes." (Logische Untersuchungen I, Seite 66)
Wenn wir aber die logischen oder Idealgesetze als Motive benutzen können zur Regelung unseres tatsächlichen Gedankenverlaufs, dann haben ja diese Idealgesetze plötzlich die Bedeutung von Realgesetzen für unser Denken erlangt. Wie konnte so ein Wunder aber zustande kommen, da es doch zwischen Ideal- und Realgesetzen keine Vermittlung gibt? Idealgesetze sind ja "Wahrheiten ansich" und sie können als solche weder außerhalb noch innerhalb unseres Denkens etwas bewirken oder kausieren. Wie kommt es nun, daß der bloße "Sinn" eines logischen Idealgesetzes, dadurch, daß er in einem Satz gedacht wird, zu einer bestimmenden Kraft des Gedankengangs wird, so daß der Gedankengang nunmehr tatsächlich im Sinne des logischen Gesetzes verläuft, und zu einem Einzelexempel wird für das, was das logische Gesetz als Allgemeines ausdrückt? Wie kommt es, daß dieser bloße allgemeine Sinn des logischen Gesetzes zu einem Motiv werden kann für den wirklichen Verlauf unserer Gedanken? Ist da das Idealgesetz nicht zu seinem Realgesetz geworden?

Wie man sieht, läßt sich der Begriff des "Idealgesetzes" als Gegensatz zu einem Realgesetz gar nicht aufrecht erhalten. Idealgesetze nämlich sollen Bedingungen aller Wahrheit sein, also oberste Wahrheiten, die den Zusammenhang aller Wahrheiten in einem System ermöglichen. Was nützt es aber, wenn es solche oberste Wahrheiten gibt, und sie ewige Geltung haben im "Reich der unzeitlichen Ideen", jedoch impotent sind in Bezug auf unseren tatsächlichen Gedankenverlauf? Was bedarf es impotenter logischer Gesetze? Wozu taugt es z. B., daß das  Principium contradictionis  eine Grundbedingung aller Wahrheit ansich, also ein Idealgesetz ist von unumschränkter ewiger Gültigkeit im ganzen "unzeitlichen Reich der Ideen", jedoch gar kein Gesetz ist für unseren realen Gedankenverlauf? Wen kümmern logische Gesetze, die ohne Wirksamkeit sind auf unser Denken, und in deren Natur es liegt, auch nie wirksam sein zu können, da sie doch Idealgesetze sind.

Darauf ist die Antwort HUSSERLs, daß es gar nicht seine Ansicht ist, daß Idealgesetze sich nicht im wirklichen Denken bewähren könnten. betont er es ja ausdrücklich, daß sie Denkmotive sein können, welche den Gang unseres tatsächlichen Gedankenverlaufs bestimmen. Das eben ist es aber, was den inneren Widerspruch seiner Begriffsbildung deutlich hervortreten läßt. Denn können Idealgesetze als Denkmotive den Gang unserer Denkerlebnisse bestimmen, dann sind sie keine Idealgesetze mehr, sondern haben die Bedeutung von Realgesetzen erlangt.

Aber nicht minder widerspruchsvoll ist auch der Begriff des "Realgesetzes". Der Verlauf der Tatsachen, heißt es, unterliegt den kausalen Gesetzen, was - wenn ich es richtig verstehe - bedeuten soll, daß die Welt der Tatsachen unter der Herrschaft des Prinzips der Kausalität steht. Ist aber soch das Prinzip der Kausalität kein logisches oder Idealgesetz? Da dies doch kaum verneint werden könnte, entsteht weiter die Frage, wieso das Kausalgesetz, das ein Gesetz für Tatsachen ist, ein Idealgesetz sein könne, da doch Real- und Idealgesetze "grundwesentlich" verschieden sein sollen? Man sieht also, daß der angebliche unüberbrückbare Unterschied von Real- und Idealgesetzen, wenigstens in der Begriffsfassung HUSSERLs, nicht allzuernst genommen werden darf. Beiderlei Gesetze spielen bei ihm dermaßen ineinander, daß ihr Gegensatz ein bloß scheinbarer ist. Wodurch unterscheidet er sich dann aber von den "Psychologisten", deren unverzeihlicher Irrtum eben darin bestehen soll, daß sie Realgesetze von Idealgesetzen nicht recht zu unterscheiden vermögen.

Wir können nunmehr unsere kritischen Auseinandersetzungen in die folgenden Sätze zusammenfassen: HUSSERL versucht die Logik von der Psychologie dadurch zu trennen, daß er die Denkinhalte von den Denkakten abzulösen bemüht ist: ein Unterfangen, welches wohl scheinbar durchgeführt werden kann, weil wir durch Abstraktion Akt und Inhalt zu unterscheiden vermögen; in Wirklichkeit aber nicht realisierbar ist, weil es für uns keine Denkakte ohne Inhalt und keine Inhalte ohne Denkakt gibt. Ebenso wie die Zwiespaltung eines Urteils in einen psychischen Akt und einen logischen Inhalt eine bloß scheinbare ist: ist auch die Zweiteilung der Gesetze in Gesetze für die psychischen Denkakte und in Gesetze für die logischen Denkinhalte eine bloß scheinbare; denn diese zweierlei Gesetze könnten nur bestehen, wenn die Denkakte von den Denkinhalten tatsächlich getrennt bestehen würden. Da nun die Bekämpfung des Psychologismus auf die scheinbare Zweiteilung des Urteils in Akt und Inhalt sowie auf eine scheinbare Zweiteilung der Gesetze (für Akte und Inhalte) beruht: ist die ganze Weise der Bekämpfung als eine bloß scheinbare, d. h. bloß scholastische zu bezeichnen. Wäre der Psychologismus nichts anderes als eine Unfähigkeit, Realgesetze und Idealgesetze voneinander zu scheiden: so hätte HUSSERL durch seine mißglückte Scheidung derselben erwiesen, daß er sich in jener psychologischtischen Verwirrung befindet, die er SIGWART und den übrigen Denkern zum Vorwurf macht.

Kaum braucht es noch gesagt zu werden, daß auch seine Bekämpfung des Relativismus denselben Charakter zeigt, doch müssen wir der Vollständigkeit halber auch diese noch zu beleuchten suchen, sollten wir uns auch im folgenden Kapitel notgedrungen einige Wiederholungen zu Schulden kommen lassen.


§ 9. Der Streit gegen den Relativismus

Mit zweierlei Wahrheit und zweierlei Gesetz läßt sich nie gegen den Relativismus, aber desto besser für denselben streiten; denn ist einmal der Zwiespalt in das Reich der Wahrheit hineingetragen, dann ist es gar bald um die  eine  und mithin um alle Wahrheit geschehen. Die Unterscheidung des LEIBNIZ zwischen "vérités de raison" und "vérités de fait", d. h. zwischen Vernunftwahrheiten, deren Gegenteil unmöglich ist, und zwischen faktischen oder zufälligen Wahrheiten, deren Gegenteil möglich wäre: ist nichts anderes als der Ausdruck einer großen Verlegenheit, in der sich ein Mathematiker befindet, wenn er der Welt der Tatsachen gegenüberstehend einsehen muß, daß diese Welt sich niemals in pure Mathematik auflösen läßt. Je mehr ein solcher Mathematiker von der Macht und Unumstößlichkeit der mathematischen Wahrheit durchdrungen ist, desto kleinmütiger und zweifelsüchtiger kann er den Tatsachen gegenüber werden, die ihm "zufällige Wahrheiten", also irrationale Wahrheiten zu sein scheinen. Man erkennt so auf den ersten Blick, daß jene Zweiteilung der Wahrheit eine skeptisch angekränkelte ist, und die genauere Untersuchung zeigt, daß der Skeptiker wirklich nichts besseres tun kann, als sich jene Zweiteilung der Wahrheit anzueignen.

Das hat niemand so gut gewußt, wie der feinsinnigste unter den neuen Skeptikern: als DAVID HUME. In seinen skeptischen Zweifeln betreffs der Tätigkeit des Verstandes meint HUME, daß alle Gegenstände des menschlichen Denkens und Forschens in zwei Klassen zerfalen, nämlich in  Beziehungen der Vorstellungen und Tatsachen. 
    "Zur ersten Klasse gehören die Wissenschaften der Geometrie, Algebra und Arithmetik; mit einem Wort: jeder Satz von anschaulicher oder beweiskräftiger Gewißheit. Daß das Quadrat der Hypotenuse gleich ist den Quadraten der beiden Seiten, ist ein Satz, welcher die Beziehung zwischen diesen Figuren ausdrückt. Daß dreimal fünf gleich ist der Hälfte von Dreißig, drückt eine Beziehung zwischen diesen Zahlen aus.  Sätze dieser Klasse können durch die reine Tätigkeit des Denkens entdeckt werden, ohne von irgendeinem Dasein in der Welt abhängig zu sein.  Wenn es auch niemals einen Kreis oder Dreieck in der Natur gegeben hätte, so würden doch die von EUKLID dargelegten Wahrheiten für immer ihre Gewißheit und Beweiskraft behaupten." (BOLZANO würde denselben Gedanken so ausgedrückt haben, daß die euklidischen Wahrheiten bestünden, auch wenn sie nie von jemandem gedacht wären; sie sind eben "Wahrheiten ansich".)

    "Tatsachen, der zweite Gegenstand der menschlichen Erkenntnis, werden nicht in derselben Weise festgestellt, und unsere Überzeugung von ihrer Wahrheit, so groß sie auch sei, ist doch nicht von derselben Art, wie bei der ersten.  Das Gegenteil einer Tatsache bleibt immer möglich;  denn es ist niemals ein Widerspruch; es kann von der Seele mit derselben Leichtigkeit und Bestimmtheit vorgestellt werden, als wenn es genau mikt der Wirklichkeit übereinstimmte. Daß die Sonne morgen nicht aufgehen wird, ist ein ebenso verständlicher und widerspruchsfreier Satz, wie die Behauptung: daß sie aufgehen wird. Man würde vergeblich den Beweis ihrer Unwahrheit versuchen. Könnte man sie beweislich widerlegen, so müßte sie einen Widerspruch enthalten und könnte gar nicht deutlich von der Seele vorgestellt werden."
Man glaube nicht, daß ein Denker wie HUME ohne wohlüberlegte Absicht einen Gegensatz zwischen mathematischen Wahrheiten einerseits und Erfahrungstatsachen andererseits statuiert. Seinem Zweifel standen nämlich zunächst die Wahrheiten der Mathematik im Weg. Aber da sagt er sich, daß die Mathematik es bloß mit den "Beziehungen" der Vorstellungen zu tun hat, und daß die Wahrheit jener "Beziehungen" nichts zu schaffen habe mit der Wirklichkeit dieser Vorstellungen. HUME meint hier: die Mathematik habe es gewissermaßen leicht, Wahrheiten zu produzieren, denn diese Wahrheiten wären bloße Verstandesgespinste, welche ganz unabhängig davon sind, ob ein Kreis, ein Dreieck oder Zahlen überhaupt existieren. Dem Anschein nach spendet er der Mathematik höchstes Lob; im Grunde genommen trennt er sie ab von der Wirklichkeit und macht sie gewissermaßen bloß zur Sache eines in sich selbst webenden Verstandes. Er behandelt zwar - damit ich es etwas anschaulich ausdrücke - die Mathematik wie eine überaus ehrwürdige Dame, doch scheint er zu denken, daß auch sie der Schmeichelei nicht ganz unzugänglich ist: sagt man ihr also, daß ihre Sätze auch dann noch gültig wären, wenn es auch nichts Derartiges wie ein Kreis oder Dreieck geben würde, so läßt sie sich durch diese höchst zweideutige Schmeichelei betören und ganz sachte aus der Welt der Wirklichkeit hinaus komplimentieren.

Nachdem HUME der Mathematik in so feiner Weise zugesetzt hatte, bekam er ein freies Feld für seinen Zweifel, und dieser Zweifel durfte nun so weit ausgreifen, wie er nur wollte, denn sein war das Reicht der Tatsachen, also die ganz unendliche wirkliche Welt. Und in dieser Welt ist - wie uns HUME versichert - der Satz, daß die Sonne morgen nicht aufgehen wird, ebenso widerspruchsfrei, wie daß sie aufgeht, was doch genügend Anlaß zu dem fundamentalen Zweifel geben kann, wie er in HUMEs Plan gelegen war.

Vielleicht tue ich HUME mit meiner Interpretation irgenein Unrecht, aber wie dem auch sein mag, soviel dürfte zugegeben werden, daß ein Skeptiker nichts Vernünftigeres beginnen könnte, als die Wahrheiten der Mathematik von der Welt der Tatsachen für unabhängig zu erklären, und sie dadurch von der Wirklichkeit gewissermaßen abzutrennen. Hat man auf diese Weise die Mathematik entwurzelt und unschädlich gemacht: dann ist das Spiel auch der Wirklichkeit gegenüber gewonnen. Einerseits hat man dann entwirklichte (mathematische) Wahrheiten, andererseits aber entwahrheitete (empirische) Wirklichkeiten: und die Skepsis kann spielend triumphieren.

Es ist hier ganz nebensächlich, ob HUME auch wirklich so gedacht hat: für uns jedoch ergibt sich aus dem Gesagten der Fingerzeig, daß wir Wahrheit und Wirklichkeit nicht voneinander abtrennen lassen dürfen. Die "vérités de raison" und die "vérités de fait" sind die schärfsten Waffen in der Hand des Skeptikers; und es bietet deshalb ein höchst sonderbares Schauspiel, zu sehen, wie HUSSERL im Namen von zweierlei Wahrheit und zweierlei Gesetz gegen den Relativismus und Skeptizismus anzukämpfen meint.

Es erhebt sich nämlich die Frage, ob auch die "Gesetze ansich" von aller Ewigkeit her in zwei unüberbrückbare Provinzen getrennt ist; oder ob es bloß an der Einrichtung unseres Intellekts liegt, daß wir zweierlei Erkenntnis haben, nämlich Idealerkenntnis durch "Einsiht", und Realerkenntnis durch "Induktion". Kurz: versteht HUSSERL unter zweierlei Gesetz auch zweierlei "Gesetz ansich", oder bloß zweierlei Erkenntnisweisen des  einen,  ewigen Gesetzes?

Hätte er sich diese einfache Frage vorgelegt, so hätte er die Unhaltbarkeit seiner Position sofort eingesehen. Denn nimmt er an, daß das Reich der "Wahrheiten ansich" - wie dies nicht anders möglich ist - als ein einheitliches Reich betrachtet werden muß, daß also die Wahrheit bloß  eine  ist, dann ist es ausgeschlossen, daß er zweierlei Wahrheit oder zweierlei Gesetz, die durch einen unüberbrückbaren Abgrund getrennt sind, statuieren könnte. - Statuiert er aber trotzdem zweierlei Gesetz, dann hat er die Wahrheit davon abhängig gemacht, auf welchem Weg wir sie erkennen, d. h. er hat sie relativiert. Weil wir Menschen nämlich die Realgesetze durch "Induktion" erkennen, die Idealgesetze hingegen durch "Einsicht", so wären nicht nur unsere Erkenntnisweisen, sondern auch die "Gesetze ansich" grundwesentlich verschieden. Das wäre der reine Relativismus. Der Verfasser der "Logischen Untersuchungen" befindet sich demzufolge in dem Dilemma, entweder bloß einerlei Gesetze ansich anzunehmen, und dann hat er das Fundament seiner Logik, die  vérités de raison  und  vérités de fait  aufgegeben, oder zweierlei "Gesetze ansich" zu behaupten, und dann hat er die Wahrheit von unseren Erkenntnismethoden abhängig gemacht, d. h. relativiert.

Es ist nur allzu begreiflich, daß HUSSERL die Frage, durch welche das Dilemma, in dem sein Denken eingezwängt ist, offenkundig werden müßte, ganz unberührt läßt. Nur ermahnt er den Leser fortwährend, ja das Gesetz selbst nicht zu verwechseln mit der Erkenntnis des Gesetzes (Logische Untersuchungen I, Seite 6, 67, 71, 75), und während er diese Mahnung ausspricht, verwechselt er selbst fortwährend die zweierlei Gesetze mit der zweierlei Erkenntnis, die wir von ihnen haben.

Durch die Äquivokation der Gesetze selbst und der Erkenntnisweise, durch welche wir der Gesetze habhaft werden, gerät er ganz unvermerkt in eben dieselbe relativistische Denkweise, die er unerbittlich zu bekämpfen meint. Denn was kümmern sich die "Gesetze ansich" darum, ob wir sie durch "Induktion" oder durch "Einsicht" begründen? Was geht es namentlich die Naturgesetze selbst an, daß wir Menschenkinder sie nicht in ihrer absoluten Exaktheit festzustellen vermögen und gezwungen sind, mit Wahrscheinlichkeiten oder mit Ungenauigkeitssphären behafteten Gesetzen fürlieb zu nehmen? Sind deshalb auch die "Naturgesetze ansich" bloße Wahrscheinlichkeiten? Stellt etwa die Natur selbst Experimente an, um selbst zu erforschen, welche Gesetze sie eigentlich befolgt? Befindet sie sich auch - wie wir Menschen - in der peinlichen Lage, keine absolut genauen Maßmethoden zu besitzen, und wirkt sie demzufolge nicht nach exakten, sondern bloß beiläufigen Gesetzen? Ist die Natur selbst mit Ungenauigkeits- und Unsicherheitssphären behaftet? Schwankt die Natur selbst, oder schwankt die Erkenntnis, die wir von ihr besitzen?

HUSSERL ist gezwungen, die Natur selbst als eine schwankende Natur zu betrachten, die nicht im Besitz von exakten Gesetzen ist, sondern durch bloße Wahrscheinlichkeiten regiert wird und zwischen gewissen Fehlergrenzen hin und her taumelt. denn würde er auch für das Naturgeschehen absolut exakte Gesetze ansich annehmen, so könnte er nicht von zweierlei grundwesentlich verschiedenen Gesetzen sprechen. Ganz ernsthaft spricht er von den Realgesetzen so, als ob sie auch "ansich" nichts als Wahrscheinlichkeiten wären. So sagt er z. B., daß, wenn die logischen Gesetze Realgesetze unseres Denkens wären, dann müßten sie uns als bloße Wahrscheinlichkeiten gegeben sein (Logische Untersuchungen I, Seite 65). Da drängt sich aber die Frage auf, ob es denn an den Realgesetzen selbst liegt, daß sie bloße Wahrscheinlichkeiten sein müssen? Das oberste Realgesetz ist ja das Prinzip der Kausalität; ist dieses Prinzip aber eine bloße Wahrscheinlichkeit? Hierüber gälte es nun zu sprechen, aber gerade in diesem Punkt bewahrt der Verfasser der "Logischen Untersuchungen" das beharrlichste Schweigen. Da er sich aber die zweierlei Wahrheiten des LEIBNIZ zueigen gemacht hat, so müssen wir annehmen, daß er auch mit LEIBNIZ das Prinzip des Widerspruches zur Grundlage der "vérités de raison" und das Prinzip der Kausalität zur Grundlage der "vérités de fait" macht. Tut er dies, und betrachtet er mit LEIBNIZ das Prinzip der Kausalität als eine ewige Wahrheit, als ein Idealgesetz, dann gerät er in den inneren Widerspruch, daß er ein Idealgesetz zum obersten Realgesetz macht, und somit den grundwesentlichen Unterschied zwischen den zweierlei Wahrheiten aufgibt. Meint er aber, daß das Prinzip der Kausalität eine bloße Wahrscheinlichkeit, eine mehr oder minder feste Vermutung sei, dann verfällt er dem Skeptizismus, den er zu bekämpfen meint.

Es ist ein Verdienst SIGWARTs, daß er, die Gefährlichkeit der LEIBNIZ'schen und HUME'schen Unterscheidungen durchschauend, ihnen in bestimmter Weise entgegentritt. Einerseits betont er, daß auch die tatsächlichen Wahrheiten Vernunftwahrheit enthalten, andererseits hebt er aber nicht minder hervor, daß auch die Vernunftwahrheiten um ihren Sinn kämen, gäbe es keine Tatsachen, in denen sie sich bewahrheiten könnten. Ausdrücklich sagt er gegen LEIBNIZ gewendet: "eine Wahrheit ist auch die tatsächliche Wahrheit nur darum, weil es unmöglich ist, das Gegenteil zu behaupten." (Logik I, Seite 239) Dieser Satz wendet seine Spitze aber nicht nur gegen LEIBNIZ, sondern auch gegen HUME, der - wie wir oben sahen - meint, daß das Gegenteil einer Tatsache immer möglich bleibe. Es ist interessant zu beachten, an welchem Beispiel HUME seine Ansicht zu verdeutlichen sucht. Daß die Sonne morgen nicht aufgehen wird, sei ebenso widerspruchsfrei, als daß sie aufgeht. Er spricht also von Tatsachen in der Zukunft, und nicht in der Gegenwart oder Vergangenheit, denn das wäre doch zu hart gewesen, zu behaupten, daß die Sätze: die Sonne ist heute aufgegangen, und sie ist nicht aufgegangen, keinen Widerspruch involvieren. Es scheint, daß hier eine Unklarheit vorliegt, die aufgedeckt werden muß.

Das Gegenteil einer Tatsache ist nie möglich. Steht z. B. die Lampe jetzt hier auf dem Tisch, so ist es unmöglich, daß sie jetzt nicht hier auf dem Tisch steht. Eine jede Tatsache ist, wie sie ist, und sie kann nie ungeschehen gemacht oder gar in ihr Gegenteil verkehrt werden. Das Gesetz des Widerspruchs bewahrheitet sich also in jeder Tatsache ohne Ausnahme, denn für eine jede Tatsache, die stattfindet, ist es unmöglich, daß sie nicht stattfindet. Alle Tatsachen ohne Ausnahme sind Belege für die Geltung des Principium contradictionis, und es hat deshalb keinen Sinn zu sagen, daß das Gesetz des Widerspruchs kein Gesetz für Tatsachen, sondern bloß für Vernunftwahrheiten sei. Ein jeder Untersuchungsrichter wird es bekräftigen, daß er irgendeinen Tatbestand immer am Faden des Principium contradictionis festzustellen versucht.

Allerdings sind die Tatsachen als Tatsachen vergänglich, während die Vernunftwahrheiten, wie  2 x 2 = 4,  als Wahrheiten unvergänglich sind; und dieser Umstand mag es sein, der LEIBNIZ und auch HUME verleitet, einen grundwesentlichen Unterschied zu machen zwischen zwei Arten von Wahrheit. Wenn ich z. B. die Lampe vom Tisch wegnehme, so hört jene Tatsache auf, daß sie auf dem Tisch steht. Während also eine Tatsache eine bloß zeitliche Geltung hat, haben die Wahrheiten der Mathematik eine überzeitliche Geltung. Ein Mathematiker ist immer geneigt, auf eine solche Auffassung der Dinge einzugehen. Er merkt nicht, daß eine Tatsache bloß als Tatsache betrachtet um ihre Geltung kommen kann, daß aber die Wahrheit einer Tatsache ebenso unvergänglich ist, wie die Wahrheit irgendeines mathematischen Satzes. Wenn z. B. die Lampe jetzt auf dem Tisch steht, - so geringfügig auch diese Tatsache sein mag - so gilt die Wahrheit dieser Tatsache für alle Zeiten. Es gibt keine noch so flüchtige Tatsache, deren Wahrheit vergehen könnte; denn daß sie einmal stattgefunden hat, läßt sich nie mehr ungeschehen machen, und muß wahr bleiben für alle Zeiten. Wir dürfen also nicht zugeben, daß es zwei grundwesentlich verschiedene Klassen von Wahrheit geben könne, sondern müssen uns sagen, daß alle Wahrheit, auch die der unwichtigsten Ereignisse oder Vorfälle, eine ewige Wahrheit ist. Den die Tatsachen selbst vergehen wohl, aber ihre Wahrheit vergeht nicht. Ich stimme in dieser Auffassung ganz mit UPHUES überein.
    "Alle Wahrheit, sagt er - auch die anscheinend nur einen Augenblick oder eine kurze Zeit bestehende, hat einen überzeitlichen Charakter. Sie hat trotz ihres scheinbar kurzen Bestandes eine ewige Gültigkeit. Nur darum ist sie Wahrheit. Aber wie ist das möglich? Nur dadurch, daß auch die vergängliche Tatsache eine ewige Bedeutung hat, aus der sich ihr Hervortreten in der Zeit erklärt" (Grundzüge der Erkenntnistheorie, Seite 3 und 4).
Aber auch ohne diesen metaphysischen Kommentar begreift es jedermann, daß die Wahrheit einer Tatsache für immer gilt, denn dies ist gleichbedeutend damit, daß eine Tatsache nie ungeschehen gemacht werden kann, was wiederum nur ein anderer Ausdruck für den Satz des Widerspruchs ist. So gewiß also der Satz des Widerspruchs gilt, so gewiß kommt jeder Einzeltatsache eine ewige Geltung zu.

Gewiß haben allgemeine Wahrheiten, wie die der Mathematik, eine ganz andere Bedeutung für uns als die Wahrheiten einzelner Tatsachen, aber daraus folgt nicht, daß wir die letzteren geringschätzen müssen, wie dies mancher Mathematiker zu tun geneigt ist. Es liegt in unserer Konstitution begründet, daß wir auf die meisten Tatsachen, die den Inhalt unseres Bewußtseins ausmachen, nie mehr zurückkommen, während wir auf allgemeine Wahrheiten wieder leicht zurückzukommen vermögen; ferner sind die meisten Einzeltatsachen, an denen derjenige, der sie erlebt hat, nicht zweifelt, allen anderen Personen unbekannt, während gerade die Allgemeinwahrheiten der Mathematik laufende Wahrheitsmünzen für alle Personen sind: aber daraus folgt nicht, daß die Tatsachenwahrheiten nicht vollwertige Wahrheiten wären. Gäbe es einen Geist, dem alle Einzeltatsachen immer gegenwärtig wären, so würde ein solcher Geist es gar nicht nötig haben, Allgemeinwahrheiten zu bilden, denn er würde ja auch ohne das von allem Kenntnis haben: wir Menschen aber - und darin besteht unsere Beschränktheit wie auch unsere Kraft - müssen von Einzelwahrheiten zu allgemeinen, von diesen wieder zurück zu den Einzelwahrheiten schreiten, um die Blößen unserer Unwissenheit zu decken. Das Schlimmste nun, was uns dabei passieren kann, ist, wenn wir einen unüberbrückbaren Unterschied machen zwischen Einzeltatsachen und allgemeinen Wahrheiten, und es aus dem Auge verlieren, daß es sich immer um ein und dieselbe Wahrheit handelt, ob wir nun irgendeiner einzelnen Tatsache gegenüberstehen, oder ob wir den Blick von derselben ab- und jenen allgemeinen Beziehungen zuwenden, die sich in ganzen Klassen von Tatsachen, oder überhaupt in allen Tatsachen bewahrheiten.

Die Zweiteilung der Wahrheit hat nicht nur die Entwertung der Tatsachenwahrheiten zur Folge; sie bringt auch die sogenannten Vernunftwahrheiten um ihren Sinn. So ist z. B. das Prinzip der Kausalität ein logisches oder Idealgesetz, und müßte im Sinne der Definition von "Idealgesetzen" auch unabhängig von allen Tatsachen bestehen. Nun bedenke man, wohin es führt, wenn man dem Prinzip der Kausalität ewige Geltung auch für den Fall zuschreibt, daß gar keine Welt der Tatsachen existiert. Was hat es für einen Sinn, ein Prinzip von Ursache und Wirkung anzunehmen, für den Fall daß es gar keine Ursache und gar keine Wirkungen gibt? Wozu ein Gesetz, wenn es ausgeschlossen ist, daß es sich bewähren könnte? Wozu eine Wahrheit, wenn sie sich nicht bewahrheiten kann?

Nichts ist also verständlicher, als wenn SIGWART nach Kräften bemüht ist, keinen Riss zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, zwischen vérités de fait und vérités de raison aufkommen zu lassen. Wir erkennen in diesem Streben eine gegen den Relativismus und den Skeptizismus gerichtete Tendenz; HUSSERL jedoch ist einer gegensätzlichen Ansicht. Verwundern werden wir uns hierüber nicht mehr, denn wir wissen, daß seine Logik auf zwei Gedanken beruth:
    1. Auf dem Gedanken BOLZANOs, daß die Wahrheiten unabhängig sind von jedem Bewußtsein, von jedem Denken, was mit anderen Worten auch so ausgedrückt werden kann, daß es für die Wahrheit völlig gleichgültig oder irrelevant ist, ob sie je gedacht worden ist oder werden wird. HUSSERL spricht diese Auffassungsweise in seiner Polemik gegen SIGWART in der Form aus: "Hätte die Wahrheit eine wesentliche Beziehung zu denkenden Intelligenzen, ihren geistigen Funktionen und Bewegungsformen, so entstände und verginge sie mit ihnen, und wenn nicht mit den Einzelnen, so mit der Species." (Logische Untersuchungen I, Seite 131, § 39. Der Anthropologismus in Sigwarts Logik.) Er merkt es nämlich nicht, daß wenn es für die Wahrheit gar nicht wesentlich ist gedacht zu werden, es bloß ein absoluter Zufall sein muß, wenn sie doch irgendwann einmal gedacht werden soll, was, wie wir noch ausführlicher sehen werden, den extremsten Relativismus und Skeptizismus zur Folge hat.

    2. Auf dem Gedanken von LEIBNIZ' vom Unterschied der vérités de raison und vérités de fait, oder wie sich HUSSERL ausdrückt, vom unüberbrückbaren Unterschied zwischen Ideal- und Realgesetzen; wobei er nicht merkt, daß diese Unterscheidung eine in sich widersprechende ist (das Kausalgesetz müßte nämlich trotzdem sowohl ein Ideal- als auch ein Realgesetz sein), und überdies ebenfalls den Relativismus und Skeptizismus zur Folge hat.
Es erübrigt sich nun zu zeigen, daß HUSSERL selbst - ohne es zu merken - alle relativistischen Konsequenzen seiner Denkweise zieht, und dies mitten in einer Polemik gegen den Relativismus SIGWARTs und ERDMANNs. So meint er gegen Sigwart gewendet, daß die Naturordnung intelligente Wesen überhaupt ausschließen, oder auch Wesen ermöglichen könnte, welche für gewisse Klassen von Wahrheiten stumpf wären.
    "Gibt es keine intelligenten Wesen, sind sie durch die Naturordnung ausgeschlossen, also real unmöglich - oder gibt es für gewisse Wahrheitsklassen keine Wesen, die ihrer Erkenntnis fähig sind - dann bleiben diese idealen Möglichkeiten (d. h. diese Wahrheiten) ohne erfüllende Wirklichkeit; das Erfassen, Erkennen, Bewußtwerden der Wahrheit (bzw. gewisser Wahrheitsklassen) ist dann nie und nirgends realisiert. Aber jede Wahrheit ansich bleibt was sie ist, sie behält ihr ideales Sein" (Logische Untersuchungen I, seite 130).
Hier entschlüpft dem Verfasser auch der Kunstausdruck BOLZANOs: "Wahrheit ansich", den er übrigens zu vermeiden bestrebt ist.

Die Naturordnung könnte es also mit sich bringen, daß alle Wesen aus dem Teilhaben an gewissen Klassen von Wahrheiten ausgeschlossen wären. Da aber die Wahrheit ein zusammenhängendes System ist, so ist es ganz unberechenbar, welche Zusammenhanglosigkeiten daraus entstehen müßten, wenn ganze Klassen von Wahrheiten aus unserem Denken ausgeschlossen wären. Leicht könnte es sein, daß der Ausfall von Wahrheitsklassen die geistige Umnachtung aller Wesen zur Folge hätte; wie auch der Skeptizismus immer darauf hinausläuft, ob nicht all unser Denken ein purer Wahn wäre. HUSSERL kommt im heftigsten Streit gegen den Skeptizismus zu dieser äußersten skeptischen Konsequenz; freilich ohne sich dessen bewußt zu werden. Er vertröstet sich nämlich damit, daß wenn wir auch alle am Ausfall gewisser Wahrheitsklassen leiden würden (und so vielleicht alle geistig umnachtet wären), jene ausfallenden Klassen doch immer "ansich", d. h. von niemandem gedacht bestehen müßten. Wenn das aber ein Trost ist, dann weiß ich wirklich nicht, worin Trostlosigkeit bestehen sollte.

Gegen ERDMANN gewendet meint er:
    "Es kann auch sein, daß sich in einer Species urteilsfähiger Wesen überhaupt keine Erkenntnisse entwickeln, daß alles, was sie für wahr halten, falsch, und alles, was sie für falsch halten, wahr ist. In sich blieben Wahrheit und Falschheit aber ungeändert; sie sind wesentlich Beschaffenheiten der bezüglichen Urteilsinhalte, nicht solche der Urteilsakte; sie kommen jenen zu, obgleich sie von niemandem anerkannt werden" etc. (Logische Untersuchungen I, Seite 151).
Die Naturordnung könnte es also mit sich bringen, daß irgendeine Spezies von Wesen in allem Fürwahrhalten, wie auch allem Fürfalschhalten geäfft wäre. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, daß gerade wir Menschen diese Spezies von verkehrten Wesen sind; ja es könnte sein, daß alle Wesen solch verkehrter Natur wären. Trost sollten wir abermals darin finden, daß ja die "Wahrheiten ansich" doch in aller Ewigkeit keinen Schaden erleiden würden, d. h. in aller Ewigkeit ungedacht blieben!

Man sieht, wohin die konsequente Verfolgung des BOLZANO'schen Gedankens führt. HUSSERL nimmt BOLZANOs verkehrten Grundgedanken von den "Wahrheiten ansich" blutig ernst, und so gerät er gerade zufolge seiner Konsequenz in einen bodenlosen Skeptizismus. das ist aber auch gar nicht anders möglich. Ist es für die Wahrheit ganz unwesentlich, ob sie gedacht wird, so muß es für unser Denken durchaus zufällig sein, ob wir die Wahrheit denken. Wenn noch hinzu kommt, daß unsere Denkakte grundwesentlich verschiedenen Gesetzen unterliegen, wie unsere Denkinhalte, dann kann es in unserem Geist gar leicht so zugehen, wie in einem Staat, wo zwei voneinander unabhängige Gesetzgebungen nebeneinander bestehen, und die eine durch die andere lahmgelegt wird. Bedenkt man zum Schluß, daß die Idealgesetze bloß Gesetze für Wahrheiten ansich sind, und nicht Gesetze für Tatsachen, so sieht man ein, daß unser Denken ganz und gar den Realgesetzen ausgeliefert ist, so daß es zu einem absoluten Wunder wird, wenn wir überhaupt zu einem Denkinhalt kommen. Aber auch angenommen, daß durch ein solches Wunder (irgeneine prästabilierte Harmonie) vorgesorgt wäre, daß unsere Denkakte nicht inhaltslos dahinsausen würden; müßten doch noch immer irgendwelche Gesetze statuiert sein, denen zufolge jedem Denkakt sein entsprechender Inhalt zugeordnet wäre. Da nun HUSSERL eine solche dritte Art von vermittelnden Gesetzen ausschließt, muß es ein absoluter Zufall bleiben, ob unser Denken einen völlig wirren oder logischen Verlauf nimmt.

So hätten wir uns also überzeugt, daß der BOLZANO'sche Begriff von den "Wahrheiten ansich", sowie die LEIBNIZ'sche Zweiteilung der Wahrheit konsequent verfolgt zu einem völligen Skeptizismus führen. Daraus ergibt sich für uns die Lehre, daß wir die Objektivität der Wahrheit nicht darin suchen dürfen, daß wir sie abtrennen von jeglichem Bewußtsein; damit hängt es aber auch in innigster Weise zusammen, daß wir die Logik nicht isolieren dürfen von der Psychologie. Unsere nächste Aufgabe muß es demnach sein, den unlösbaren Nexus dieser beiden Wissenschaften zu beleuchten.

LITERATUR - Melchior Palágyi, Der Streit der Psychologisten und Formalisten in der modernen Logik, Leipzig 1903