p-4von BechterewH. SchmidkunzTh. LippsJ. VolkeltH. VaihingerE. Bergmann    
 
GEORG ADLER
Die Bedeutung der Illusionen
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"Die nackte Wahrheit kann höchstens zehn Menschen in einem Volk oder einem Zeitalter beeinflussen, während Millionen durch Mysterien an der Nase herumgeführt werden."

"Henrik Ibsen, der in seinen Dramen einige wunderbare Typen von Jllusionisten geschaffen hat, sagt einmal: Nimmt man einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, so nimmt man ihm gleichzeitig das Glück. Das ist vollkommen zutreffend."

II.

Die Tatsache, daß die Sozialdemokratie infolge ihres starren Doktrinarismus die Arbeiterinteressen bisher in praktisch ganz unzureichender Weise vertreten hat, ist so evident, daß sie selbst den eigenen Anhängern, ja Führern der Partei einzuleuchten beginnt. So erklärt der Reichtagsabgeordnet ELM, der Organisator des Genossenschaftswesens zu Hamburg, rund und nett:
    "Es unterliegt gar keinem Zweifel: die doktrinären Prinzipienreiter haben in Deutschland das praktische Wirken der Arbeiter zur Erlangung größerer wirtschaftlicher Macht kolossal gehemmt - vollständig inhibieren [aufhalten - wp] konnten sie dasselbe nicht."
So ist der Marxismus, der einst für die aufsteigende Entwicklung unseres Volkes eine notwendige Voraussetzung gewesen ist, heute zum Hindernis für den weiteren Fortschritt geworden.

Hier sieht man also deutlich, daß dieselbe  Jllusion,  die früher einmal günstige Folgen gehabt hat, in späterer Zeit zu unglücklichen Konsequenzen führen kann. Ein Volk, das sich in der aufsteigenden Lebenslinie befindet, wird die Jllusionen faktisch nur als Mittel zur Verstärkung seiner Kräfte, zur Beseitigung von Hemmnissen und zur Aufrichtung von Zielen benutzen, sie dagegen klanglos begraben, wenn sie diese Zwecke erfüllt haben. Umgekehrt wird ein Volk, das sich (wie z. B. Spanien und, nach der Ansicht mancher, auch Frankreich) auf der absteigenden Lebenslinie befindet, zu solchen Jllusionen neigen, die es auf Abwege führen, seine Kräfte zersplittern oder in unfruchtbare und unglückliche Unternehmungen verstricken. Die Jllusion darf aber selber nie als ein Letztes betrachtet werden; als solches Letztes sind vielmehr die physischen, intellektuellen und ethischen Anlagen einer Nation in Verbindung mit der darauf einwirkenden Jllusionen eines Volkes stets als sehr wichtige Symptome seines geistig-sittlichen Zustandes, seines Fühlens und Wollens, seiner Vorzüge und Defekte und wegen der Konsequenzen, die aus den Jllusionen für alles aktive Handeln folgen, als bedeutungsvolle Faktoren für seine ferneren Geschicke anzusehen!

Was  Frankreich  betrifft, so wollen wir uns hier kurz fassen. Wie die "Napoleon"-Legende, die seit den zwanziger jahren des neunzehnten Jahrhunderts aufkam, dazu geführt hat, einen schlauen Abenteurer auf den Kaiserthron zu führen - das hat TREITSCHKE in seinem berühmten Essay über den Bonapartismus geschildert; daß das - mit Hilfe dieser Jllusion zustandegekommene - Regiment NAPOLEONs III. den politischen Niedergang Frankreichs durch zwecklose und schließlich unglückliche Kriege einleitete, ist bekannt; ebenso daß an der furchtbaren Niederlage von 1870 weniger der leitende Staatsmann als die chauvinistische Stimmung des Volkes schuld war, das Ansprüche auf deutsches Land erhob, Preußen seiner Großmachtstellung berauben wollte und sich in den lächerlichsten Jllusionen über die Überlegenheit der französischen Armee über die preußische wiegte. Aber auch die verschwommenen  sozialen  Jllusionen dieser Epoche führten, anstatt zur sozialen Reform, nur zum Bürgerkrieg. LEXIS hat in seinem klassischen Werk über die "französischen Gewerkvereine" die damals die unteren Klassen beherrschenden geistigen Strömungen geschildert; die wichtigste davon, der Proudhonismus, hatte kein brauchbares Programm für die soziale Reform, verstand es aber, die Allianz der Kleinbürger und Arbeiter zustande zu bringen. Als dann das Kaiserreich im Jahre 1870 schmählich zusammenbrach, zeigten sich freilich in der durch die bonapartistische Korruption verseuchten und überdies schon durch natürliche Anlage allzuleicht erregbaren Volksseele auch die üblen Folgen solcher unpraktischen sozial-föderalistischen Jllusionen: sie trugen das Ihrige dazu bei, daß die Pariser Kommune, in der die hauptsächlich aus Arbeitern und Kleinbürgern entnommene Nationalgarde das Heft in Händen hatte, sich gegen die Regierung des  Landes  zu einem bewaffneten Widerstand erhob und so die Veranlassung zu einem blutigen Bürgerkrieg gab.

Soviel über moderne  sozialpolitische  Jllusionen. Untersuchen wir jetzt die Rolle, die andere politische Jllusionen der Neuzeit bei diplomatischen und staatsmännischen Aktionen gespielt haben. Wir greifen hier als Beispiele - denn nur um solche kann es sich in der vorliegenden Skizze handeln, nicht um eine Sammlung der historisch bedeutsamen Fälle - heraus: die anti-englische Politik der Transvaal-Republik, BISMARCKs Kolonialpolitik und die irische Agrarreform.

Für die Politik muß als oberster Weisheitsspruch ein Wort des früheren englischen Premierministers SALISBURY gelten:
    "Wie stark man auch sein mag, gleichviel ob ein Mann oder eine Nation - es gibt einen Punkt, über den die Kraft nicht geht; es ist Mut und Weisheit, diese Stärke bis zur äußersten Grenze auszuüben, es ist Wahnsinn und Ruin, diese Grenze zu überschreiten."
Danach ist die Rolle von Jllusionen in der Politik zu beurteilen. Bringen sie es zustande, daß eine Nation ihre Kraft bis zum äußersten Maß des Möglichen steigert und an Ziele wendet, die unter dieser Voraussetzung erreichbar sind, so sind solche Jllusionen im höchsten Grad lebensfördernd, glückbringend und darum als "produktiv" (im Sinn unserer vorhin festgestellten Terminologie) zu bezeichnen. Wo aber die Jllusionen zu einer Überschätzung der eigenen Kräfte und zur Übernahme von Aufgaben führen, die außer Verhältnis zu den nun einmal vorhandenen Kräften stehen - da haben die Jllusionen Unglück und Ruin zur Folge und sind darum als "destruktiv" zu erkennen. Dies war nun in  Transvaal  in der letzten Periode von KRÜGERs Präsidentschaft sicherlich der Fall. Wäre KRÜGER ein echter Staatsmann - und nicht bloß ein kluger und patriotischer Burenführen - gewesen, so würde er eingesehen haben, daß ein Kampf der Burenrepubliken gegen England, wegen der Unverhältnismäßigkeit der Machtmittel und unter Berücksichtigung der modernen imperialistischen Strömung, absolut aussichtslos sein müsse und er würde sich dann, so unangenehm es auch gewesen wäre, zu einem  modus vivendi [erträglicher Kompromiß - wp] mit England bequemt haben. Daß KRÜGER und die leitende holländische Gruppe in Pretoria an Allianzen glaubte, die nirgendwo versprochen waren, und an den Aufstand aller Kapholländer, die sich damals gerade unter einem englischen Regime sehr wohl befanden, hat Transvaal ins Unglück gestürzt.

Wir wenden uns jetzt zu BISMARCKs  Kolonialpolitik.  BISMARCK wird von allen mit Recht für einen Realpolitiker im schärfsten Sinne des Wortes erklärt. Und doch haben Jllusionen auch in seinem politischen Handeln eine große Rolle gespielt. So schon bei der Inaugierung [Einführung - wp] der Sozialreform, dieses weltgeschichtlich einzig dastehenden organisatorischen Werkes. Bei ihr verband BISMARCK mit objektiv staatsmännischen Zwecken noch die Absicht, die Arbeitermassen von der Sozialdemokratie loszulösen und den staatserhaltenden Parteien zuzuführen. Es ist bekannt, daß BISMARCK dieses letzte Ziel in keiner Weise erreicht, vielmehr gerade in den Arbeitern seine Todfeinde gefunden hat. Trotzdem hat diese Jllusion die Wirkung gehabt, BISMARCKs sozialpolitische Aktion gewaltig zu beschleunigen - sie war also, im Sinn unserer Klassifikation, eine "produktive" Jllusion.

Noch größeren Anteil hatten die Jllusionen an der Inaugurierung von BISMARCKs Kolonialpolitik. BISMARCK hatte sich nämlich zur Erwerbung von Kolonien nur in der - ihm von Kaufleuten der Hansestädte suggerierten - Annahme verstanden, daß die  Administration  der Kolonien dem Reich keine nennenswerten Kosten verursachen dürfe. BISMARCK hatte sich die Verwaltung einfach genug vorgestellt: die kaufmännischen Interessenten einer jeden Kolonie schließen sich zu einer, nach Art der englischen  chartered companies  eingerichteten Gesellschaft zusammen, die imstande ist, im wesentlichen die Kosten der kolonialen Verwaltung zu tragen; und er glaubte wirklich, daß es unter solchen Umständen genügen würde, in der Kolonie einen Vertreter der Autorität des Reiches zu installieren, der Klagen entgegenzunehmen hätte, und im übrigen eines unserer See- und Handelsgerichte mit der Entscheidung der Streitigkeiten zu beauftragen, die im Gefolge der kaufmännischen Unternehmungen entstehen könnten. Daß diese Theorie nur eine  Jllusion  BISMARCKs war, sollte sich nur zu bald herausstellen. Dieser Punkt ist von ALFRED ZIMMERMANN, dem besten Kenner der neueren Kolonialpolitik, über jeden Zweifel klargestellt worden. Im Togo- und Kamerungebiet lehnten die interessierten Firmen die Zumutung, die Mühen und Kosten der Regierung und Verwaltung auf sich zu nehmen, einfach ab, und so mußte BISMARCK, um nicht zurückzuweichen, einen kostspieligen Regierungsapparat einrichten; und bald wurde es auch nötig, dort eine ständige Polizeitruppe zu organisieren und Stationen für Truppenposten einzurichten. In den anderen deutschen Kolonien wurde zwar anfangs faktisch der Versuch gemacht, die wirtschaftliche Erschließung und die Administration des neuen Besitzes privilegierten Kolonialgesellschaften zu überlassen. Aber teils geboten diese über viel zu geringe Mittel, um der Aufgabe gerecht zu werden, teils blieben da, wo die neugebildete Kolonialgesellschaft (wie die Neuguinea-Kompanie) über größere Summen verfügte, die erhofften Erträge aus. So mußte schließlich überall (mit Ausnahme der Marschallinseln) das Reich der Kolonien in seine Verwaltung übernehmen, Millionen über Millionen jährlich für ihre Sicherung und Erschließung aufwenden und die ehedem regierenden Gesellschaften zu reinen Privatunternehmungen degradieren, die sich nur noch mit Handel, Pflanzungsbetrieb usw. zu beschäftigen hatten. So hat BISMARCK selber noch während der kurzen Periode seiner aktiven Kolonialpolitik die Voraussetzungen, unter denen allein er sich auf diese eingelassen hatte, als irrig, also als Jllusion erkannt. Damit wollen wir aber gegen das von BISMARCK Geleistete keinerlei Einwand geltend gemacht haben - vielmehr ist die Frage hier wie immer die gleiche: haben die illusionären Ideen im Endresultat zu positiven Schöpfungen höherer Kultur geführt - oder aber, haben sie dazu gedient, die Köpfe zu verwirren, die nationalen Kräfte zu zersplittern, die Aktionsfähigkeit nach innen und außen zu lähmen oder auf Irrwege abzulenken? Nach solchen Grundsätzen ist die kolonialpolitische Wirksamkeit BISMARCKs zu beurteilen. Und dann kann das Exempel nicht schwer fallen, zumindest nicht für denjenigen, der die weltgeschichtliche Notwendigkeit einer kolonialen Expansion des Deutschen Reiches einsieht: denn bei einer solchen Betrachtungsweise ergibt sich ungezwungen das Resultat, daß BISMARCKs kolonialpolitisches Streben die würdige Ergänzung bildet zu seinen heroischen national- und sozialpolitischen Taten.

Gehen wir jetzt zur Betrachtung der  irischen Agrarreform  über, so können wir auch hier deutlich den weitreichenden Einfluß von Jllusionen konstatieren.

Das im Jahre 1881 von GLADSTONE durchgesetzte irische Landgesetz besteht bekanntlich darin, daß es den damaligen Pächtern des irischen Bodens ein gesichertes  Recht auf Pacht  gegen Zahlung einer billigen Rente gewährt. Es ordnete die allgemeine Anwendung des Pächterbrauchs der Provinz Ulster, der sogenannten "Ulster custom", für  ganz  Irland an. Dieser Pächterbrauch enthielt die folgenden drei Grundsätze:
    1. darf der Pachtschilling nur aus ganz besonderen Gründen gesteigert werden, und keinesfalls bloß deshalb, weil konkurrierende Pächter für das Pächterrecht höhere Preise bieten (Prinzip der gerechten Rente, "Fair rent"); -

    2. wird dem Pächter ein Anrecht auf die gepachtete Farm zuerkannt; ihm darf daher nur wegen einer Verschlechterung der Farm oder ähnlichen Gründen gekündigt werden, und etwaige Verbesserungen der Pachtstelle müssen ihm bei seinem Abzug vom Landlord ersetzt werden (Prinzip der gesicherten Pachtstelle, "Fixity of tenure"); und schließlich

    3. darf der Pächter bei seinem Abzug aus dem Pachthof selber seinen Nachfolger bestimmen, der ihm dafür einen Preis zahlt (als Prinzip des freien Verkaufs des Pächterrechts durch den Pächter, "Free sale").
Demgemäß erkennt das Landgesetzt von 1881 zunächst das Recht des Pächters an, sein Pächterrecht zu verkaufen wie auch zu verderben; weiter ordnet das Gesetz auf Antrag auch nur eines der Beteiligten die Feststellung der Pachtrente durch ein richterliches Urteil für die Dauer von 15 Jahren an; während dieser Zeit darf der Landlord weder den Pachtzins steigern noch die Pachtstelle kündigen. Von diesem Recht der Feststellung der Pachtzinse durch ein gerichtliches Urteil - das ja einen tiefen Eingriff in erworbene Rechte bedeutet - haben binnen anderthalb Jahrzehnten nicht weniger als 300 000 Pächter Gebrauch gemacht (es gab in Irland damals 500 000 Pächter); und das Ergebnis dieser richterlichen Urteile war eine Ermäßigung der Pachtzinse um durchschnittlich 20 Prozent.

In Konsequenz dieser Agrarreform ist dann schließlich im Jahr 1903, unter dem Ministerium BALFOUR, das neue Agrargesetz geschaffen worden, das einen Fonds von 100 Millionen Pfund festlegt, um den freiwilligen Auskauf vieler Landlords zu bewerkstelligen. Es handelt sich also um den grandiosen Plan, Irland den irischen Pächtern (die zu  Eigentümern  des bisher von ihnen gepachteten Bodens gemacht werden sollen) auf friedlichem Weg zurückzugeben, dabei aber die Landlords, die mit dem irischen Boden nur noch der Bezug von Rente verbindet, in vermutlich mehr als ausreichender Weise zu entschädigen. Inwieweit das erst im Beginn seiner Wirksamkeit stehende Gesetz die irische Agrarfrage lösen wird, läßt sich natürlich heute noch nicht beurteilen.

Auch bei der Schaffung der irischen Reform sind mehrfache Jllusionen von großer Bedeutung gewesen. Daß GLADSTONE überhaupt die Notwendigkeit der Reform eingesehen hat, ist - nach seiner eigenen Aussage - die Folge der fenischen Bewegung gewesen. Diese Bewegung der Feniers war aber, objektiv betrachtet, gänzlich unpraktisch; sie erstrebte die Aufrichtung einer selbständigen irischen Republik und sie hoffte, dieses Ziel teils durch fortgesetzte Attentate auf englische Beamte und Landlords, teils durch Verschwörungen und die Vorbereitung von Aufständen zu erreichen: Angesichts der gewaltigen Machtmittel Englands ein gänzlich utopischer Plan! Und doch hat diese Utopie den Anlaß zur ernsthaftesten Beschäftigung der britischen Staatsmänner mit den praktischen Heilmitteln für die irische Notlage gegeben!

Weiter aber ist die Gestaltung der Reform selber durch die in den Köpfen der irischen Bauern spukenden illusionistischen Anschauungen wesentlich beeinflußt worden. Ursprünglich, vor und selbst noch in den ersten Jahrhunderten  nach  der englischen Eroberung der grünen Insel - also vom 12. bis 15. Jahrhundert -, hatten die Iren Landwirtschaft getrieben in Clans und deren Unterabteilungen, den Septs, deren Mitglieder sich als zu einer Familie gehörig betrachteten; innerhalb der Clans und Septs bestand nicht etwa Gleichheit, sondern Verschiedenheit des Ranges wie auch des Bodenanteils der Einzelnen - immer aber hatte der Ire als Mitglied eines Sept das Recht, auf dem dem Sept gehörigen Boden untergebracht zu werden. Seit dem 16. Jahrhundert war das alte irische Recht, und darunter vor allem auch dieses Clansrecht, gänzlich aufgehoben und durch englisches "Common law" ersetzt worden, das den vollkommen freien Verkehr in Immobilien konstituiert. Trotzdem hat sich in den Köpfen der irischen Bauern durch alle Jahrhunderte hindurch bis zur Gegenwart die Idee lebendig erhalten, daß jedem Iren kraft seiner Zugehörigkeit zum Clan ein Bodenanteil reserviert werden muß. Der wahre, d. h. innere volkswirtschaftliche Grund, weshalb diese alte Idee des Stammeseigentums unausrottbar in den Köpfen der irischen Bauernschaft wurzelte, ist natürlich der, daß in Irland der Boden die einzige Quelle von Nahrung und Leben ist - und nur mittels dieser Jllusion konnte sich der besitzlose Landmann ein Anrecht auf den Boden konstruieren. Das Allermerkwürdigste aber ist, daß sich vor diesem längst aller Wirklichkeit beraubten Gedanken schließlich die von den Eroberern des Landes gegebene Gesetzgebung gebeugt hat! Das irische Landgesetz von 1881, dessen wesentlichste Bestimmungen angegeben worden sind, überträgt die Jllusion, daß der Boden dem Pächter ebenso zugehört wie dem Eigentümer, ins Leben; seitdem sind die Landlords auf ihren Gütern nicht mehr Herren, dem Pächter ist tatsächlich ein Miteigentumsrecht eingeräumt und man spricht darum gegenwärtig mit Fug vom irischen "dual ownership". Und schließlich ist durch die weiteren irischen Landgesetze die Verwandlung der irischen Pächter in Eigentümer ihrer Pachtstellen mit Hilfe des englischen Staatskredits ins Auge gefaßt worden, bereits 80 000 Pächter sind in Eigentümer verwandelt und das neueste Gesetz will, wie erzählt, durch einen Staatskredit und sogar durch einen Staatszuschuß wenn möglich durch ganz Irland dasselbe Resultat erzielen! Hier ist also der Beweis geliefert, wie die größte reformatorische Tat der irischen Geschichte durch das Vorhandensein von Jllusionen außerordentlich gefördert worden ist.

Wir können aber im Wirtschaftsleben die speziellen Gebiete verlassen und ganz allgemein das Gesetz formulieren: alle großen, historisch wirksamen Wirtschaftssysteme sind wesentlich mit Jllusionen behaftet gewesen. Wir können uns hier kurz fassen, da wir den Inhalt dieser Systeme als bekannt voraussetzen dürfen.

Der erste nationalökonomische Doktrin, die des  Merkantilismus,  war im Grunde nichts weiter als das wirtschaftspolitische System der neugebildeten Territorialstaaten. Ein System des nationalen (oder territorialstaatlichen) Egoismus und der Reglementierung durch die - alles besser wissenden - Behörden, des rücksichtlosen Zugreifens, wenn es das heimische wirtschaftliche Interesse erforderte, und der skrupellosen Brutalität, wenn es galt fremde Interessen abzuwehren. Ein System, das mit seinen merkwürdig schiefen Argumentationen dazu kam, vorzugsweise Manufakturen, auswärtigem und Großhandel die produktiven Kräfte eines Gemeinwesens zu erblicken und ihre Unterstützung durch alle dem Staat irgendwie zu Gebote stehenden Machtmittel auf das Angelegentlichste zu empfehlen. Nun sind zwar die einzelnen Thesen des Merkantilismus - die Rolle, die den Edelmetallen zugeschrieben wird, die Primolozierung [vorrangige Einordnung - wp] von Industrie und auswärtigem Handel usw. -, objektiv betrachtet,  größtenteils falsch: trotzdem hat aber der Merkantilismus den wirtschaftlichen Fortschritt der Kulturnationen als Gesamtheit eminent begünstigt, indem er am meisten dazu beigetragen hat, die städtisch-lokale Wirtschaftspolitik durch eine staatlich-nationale zu ersetzen, innerhalb der Landesgrenzen einen großen einheitlichen Markt zu schaffen, die durch die Zunftprivilegien der aufkommenden Großindustrie angelegten Fesseln zu beseitigen und das produzierende Bürgertum hochzubringen, dem in den folgenden Jahrhunderten die führende Rolle im sozialen Leben beschieden war. Wir sehen also wiederum, daß die Jllusionen des Merkantilismus von großer lebens- und kulturfördernder Bedeutung gewesen sind.

Noch stärker zeigt sich diese segenspendende Kraft der Jllusion bei der Betrachtung des folgenden großen nationalökonomischen Systems, des  Individualismus ADAM SMITH und seine Anhänger lehrten mit absoluter Sicherheit, mit anscheinend unwiderleglichen Vernunftgründen, daß die Freiheit in Handel und Wandel und im Gebrauch des Eigentums die sicherste Gewähr für die Förderung des Nationalwohlstandes bietet. Wie Schuppen fiel es der neuen Generation von den Augen: in der umgebenden Wirtschaftswelt sah man überall Bevormundung und Privilegierung, neben den durch exklusive Rechte hochgehaltenen Existenzen eine übergroße Menge Ausgeschlossener, denen es nicht an Fleiß oder Tüchtigkeit fehlte, sondern denen die exklusiven Vorrechte jener anderen das Fortkommen verwehrten - und nun, nach der Lektüre des SMITHschen "Völkerwohlstandes", verstand man auch, weshalb des Übels soviel in diese Welt gekommen war! In Elend und Mangel zeigten sich die Konsequenzen des herrschenden Systems der Unterdrückung, der Exklusivität, der Ungerechtigkeit und des Privilegienraffinements. Darum mußte man an eine gesellschaftliche Neuordnung denken, die die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Aufrichtung des Individuums verwirklichen, alle Unterdrückung beseitigen und somit ganz von selber die soziale Harmonie herstellen sollte. In der Natur, wo man damals nur den Endeffekt, das erzielte Gleichgewicht aller Elemente im Kosmos, im Auge hatte - schien das Programm verwirklicht: also galt es, den natürlichen Gang der Dinge auch ins Geschäftsleben einzuführen, das heißt, das Individuum von allen Fesseln zu befreien und sein Geschick ganz vom Erfolg seiner Tüchtigkeit abhängig zu machen. Und hier entrollte SMITH vor den Augen des Lesers das Bild einer der Natur wie den Grundsätzen der Gerechtigkeit entsprechenden Ordnung, die in sich die Gewähr einer allseitigen Harmonie aller Volksklassen, mächtigen wirtschaftlichen Fortschrittes und glücklichen Völkerfriedens bieten sollte.

Faktisch hat nun auch der Individualismus eine neue Epoche des geschichtlichen Fortschritts für die Menschheit eingeleitet, indem er die unerträgliche Zunftwirtschaft im Handwerk beseitigte, die Produzenten von der Bevormundung durch eine in Geschäften unerfahrene Bürokratie befreite und die Produktivkräfte, wie sie in der ungehemmten Betätigung der menschlichen Arbeitskraft und Intelligenz liegen, entfesselte. Seit der Einführung der individualistischen Prinzipien in die Volkswirtschaft hat man in einer bisher unerhörten Art die Naturkräfte für den Menschen nutzbar gemacht, das Maschinenwesen mächtig entwickelt, gewaltige Verkehrsmittel geschaffen, ja ganze Weltteile urbar gemacht und kultiviert. Wenn nun aber auch das individualistische Fundamentalprinzip der freien Konkurrenz für Jahrhunderte hinaus in seinem Bestand unerschütterlich erscheint, da man sich vernünftigerweise keine andere Ordnung für das wirtschaftliche Zusammenleben der modernen Kulturmenschen denken kann - so ist doch der Individualismus als  Theorie  in vielen Stücken unrichtig, und in der  Praxis  hat er zur Unterdrückung und Ausbeutung der wirtschaftlich schwächeren Bevölkerungsschichten, ja ganzer Nationen geführt. Der Individualismus hat das Proletariat und die moderne soziale Frage geschaffen, die Entvölkerung des platten Landes bewirkt, die agrarischen Nöte herbeigeführt, massenhaft tatsächliche Monopolverhältnisse zugunsten kapitalistischer Syndikate ins Leben gerufen und schließlich gewaltige Erschütterungen des Wirtschaftslebens - sei es in Form akuter Krisen, sei es in Form langdauernder Depressionen - verursacht. Die individualistische Konkurrenz hat durchaus nicht immer das echte Talent, den objektiv Begabtesten, der die bessere Menschlichkeit repräsentiert, emporgehoben, sondern tausendmal häufiger das Aufkommen der gewissenlosesten und geriebensten Elemente, all der Schlauen, die die Reise durchs Leben ohne die Überfracht von Skrupeln machen, befördert. Mit Recht sagt RUSKIN über diesen Punkt:
    "In einer Gesellschaft, wo sich das Leben nur nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage regelt, sind im allgemeinen die Individuen, denen es glückt, reich zu werden: die Fleißigen, die Entschlossenen, die Knausrigen, die Behenden, die Soliden, die Schlauen, die Phantasielosen, die Gefühllosen und die Ungebildeten. Die, die arm bleiben, sind die vollkommen Törichten und die vollkommen Weisen, die Trägen, die Unwürdigen, die Unterwürfigen, die Grübler, die Dummen, die Phantasievollen, die Feinfühligen, die Gelehrten, die Verschwenderischen, die Bösen aus Leidenschaft oder innerem Trieb, die plump Schurkischen, die offen Diebischen und die im Grunde Herzensguten, Gerechten und Heiligen."
Schließlich hat der Individualismus infolge des allseitigen Ringens, Stoßens, und Vorwärtsdrängens den Erwerbstrieb auf das Höchste ausgebildet und bei den meisten Menschen einen groben Materialismus großgezogen. Schon die heutige Jugend hat das starke Gelüst nach Komfort und Genuß, und wer Talent in sich fühlt, strebt zunächst danach, zum Kreis derer zu gehören, die in dieser Welt Geltung haben und eine materielle Macht auf die Gesellschaft ausüben: er liebt (mit GOETHE zu reden) "Gut und Geld und Ehr' und Herrlichkeit der Welt!"

So hat also der Individualismus eine Menge Irrtümer gepredigt und sich in tausendfältigen Jllusionen über das, was er der Welt zu bieten imstande ist, befunden - aber gerade diese Jllusionen sind zu seinem Sieg notwendig gewesen. Hätten die großen Verkünder der Doktrin erkannt, welch ungeheure Übel sie erzeugen würde - in wie vielen anderen Fällen sie auch sonst zu riesigen Fortschritten führen mochte - so würde die neue Lehre weder so viele, noch so begeisterte Anhänger unter Gelehrten, Staatsmännern und Praktikern, in der gebildeten Welt und im Volk gefunden haben, wie es tatsächlich der Fall gewesen ist. Grade der Umstand, daß die Individualisten sich in der Jllusion wiegten, in ihren kahlen Prinzipien das universelle Heilmittel gegen alle irdischen Übel gefunden zu haben, soweit diese überhaupt heilbar sind, - gerade dieser Umstand bewirkte, daß die Doktrin allseitig stürmischen Beifall fand und die ihrer Verwirklichung entgegenstehenden Institutionen, die von gewaltigen Interessen getragen wurden, fast spielend über den Haufen warf. Dieser Erfolg wäre nie eingetreten, wenn SMITH und die anderen großen Träger der Doktrin sich all der Bedenklichkeiten der neuen Prinzipien bewußt gewesen wären: denn dann hätten diese nie faszinierend auf Gebildete und Ungebildete wirken und sie zu einem entschlossenen Eintreten für die Durchführung der Prinzipien veranlassen können. Mit Recht hat nämlich BOLINGBROKE gesagt:
    "Die nackte Wahrheit kann höchstens zehn Menschen in einem Volk oder einem Zeitalter beeinflussen, während Millionen durch Mysterien an der Nase herumgeführt werden."
Betrachten wir von den wirtschaftspolitischen Idealen schließlich noch den modernen  Anarchismus Dieser stellt, wie sich leicht zeigen läßt, eine ausgesprochen konträrsoziale Jllusion dar. Schon der rein theoretische Anarchismus, der sich damit begnügt, die Herrschafts- und Staatenlosigkeit als Ideal hinzustellen, führt auf Irrwege in einer Zeit, deren höchste Aufgabe es ist, das so erfolgreich begonnene Werk der Sozialreform zu vollenden. Die anarchistische  Taktik  aber würde, wenn sie weiter um sich griffe, sich geradezu als das gewichtigste Hindernis für die fortschreitende soziale Entwicklung erweisen. Die anarchistische Partei ist nämlich nicht bloß revolutionär, wie so viele andere Parteien der Vergangenheit und Gegenwart, sie ist nicht bloß prinzipiell gegen jeden gesetzlichen Weg und für Attentate und jegliche Gewalttätigkeit gegen die Träger der bestehenden Ordnung, wie einige andere Parteien auch; sie ist nicht bloß für die Beschaffung des zur Agitation erforderlichen Geldes auf dem Weg des Raubes, wie sie von ganz extremen Parteien ein paar Mal praktiziert worden ist; sondern sie hat auch noch eine Taktik, die ihr ausschließliches Eigentum ist: die "Propaganda der Tat", d. h. Gewalttaten jeder Art, ausschließlich zur Verbreitung der Idee des Anarchismus! Und bis zu welcher Bestialität dieses barbarische Faustrecht führt, zeigt der Raubmord an Unschuldigen, den der radikale Anarchismus in sein Programm aufgenommen hat. Diese Taktik des Anarchismus aber ist nicht bloß unmoralisch, sondern auch unpraktisch: denn gerade durch die wilde Brutalität seiner Mittel hat er bisher immer noch sein eigenes Grab geschaufelt, da allemal der Entfaltung seiner "Taten", die die Gesellschaft zum Kampf auf Leben und Tod herausforderten, das Aufgabot aller verfügbaren Machtmittel des Staates und bisher immer noch sein rascher Sieg über seinen geschworenen Feind folgte. Der anarchistische "Tatendrang" kann aber leicht zu noch schlimmeren Konsequenzen führen. Denn die Entfesselung der bestialischen Instinkte im Menschen, die Anwendung der brutalsten Mittel und der Rückfall in die roheste Souveränität des Individuums rufen von Seiten der bedrohten Gesellschaft eine furchtbare, weit über alles Maß gehende Reaktion wach, die nicht bloß die Schuldigen niederschmettert, sondern den Haß der "bürgerlichen" Kreise auch auf die Sozialisten aller Schattierungen die Männer der Sozialreform ausdehnt. Das Schreckgespenst der Anarchie wird dann von starren Reaktionären und von unbedingten Vertretern der kapitalistischen Interessen schlau benutzt, um im Trüben zu fischen: von jenen, um die politische Knebelung der arbeitenden Klasse durchzusetzen, von den anderen, um die Sozialreform als Ursache der Verwirrung der Geister und der Begehrlichkeit der Massen anzuschwärzen und in Verruf zu bringen. So ist also der moderne Anarchismus eine unglückliche Jllusion, die ihre Anhänger zugrunde richtet und den Fortschritt der Gesellschaft aufhält. Das weitere Umsichgreifen anarchistischer Ideen würde einfach als Symptom der Dekadenz einer Nation zu gelten haben.


Natürlich gelten die entwickelten Prinzipien nicht bloß für Doktrinen, die wirtschaftliche und politische Interessen vertreten, sondern für Lehrsysteme aller Art. Bei den  metaphysischen  Systemen ist das ohne weiteres klar; mindestens soweit diese beanspruchen, ein mehr oder weniger erschöpfendes Weltbild zu geben, zu zeigen, "was die Welt im Innersten zusammenhält"; und zu schauen "alle Wirkungskraft und Samen". Denn  das  zu leisten, liegt außerhalb der Beweismöglichkeit, hier muß daher die Phantasie nachhelfen, die phantastische Konstruktion - und damit ist der Anlaß zu unzähligen Jllusionen gegeben, die dann auch wirklich von den Philosophen produziert worden sind. Seit den ältesten Tagen der griechischen Philosophie bis in die Gegenwart hinein sind Tausende von Philosophemen aufgestellt und von kleineren oder größeren Kreisen von Anhängern geglaubt worden. Und das wird so weiter gehen, solange ein Bedürfnis nach Metaphysik in der Brust vieler Menschen leben wird. Der Irrtum ist hier unausbleiblich, weil in einem solchen metaphysischen System die Summe der unwißbaren Elemente immer die Summe der wißbaren Elemente überwiegen wird: die phantastische Konstruktion hat daher einen ungeheuren Spielraum, und sie wird, je nach der Natur der konstruierenden Menschen, verschieden ausfallen, da, nach einem Ausspruch FICHTEs, "was für eine Philosophie man wählt, sich danach richtet, was für ein Mensch man ist".

Wer nun die Kulturentwicklung der Menschheit verfolgt, weiß, daß sie durch die philosophischen Systeme mächtig beeinflußt worden, daß überhaupt die Philosophie ein notwendiges Bedürfnis für viele Epochen und viele Menschen gewesen ist. Demgegenüber wird die Tatsache, daß wir über viele Fragen der Philosophie "nichts wissen können" und uns trotzdem einbilden, sehr vieles darüber zu wissen, nur geringe Bedeutung haben, ebenso wie die Tatsache, daß jeder Verfasser eines großen Systems im Grunde nur seine eigene - Beschränktheit in das All projiziert. Die Hauptsache ist, daß die Philosophie das Ihrige dazu beigetragen hat, der Menschheit das Leben lebenswert zu machen und ihr die für große Taten notwendige Begeisterung einzuflößen. Überall da, wo die Philosophie diese Aufgabe vollbracht hat, hat sie als eine im höchsten Wortsinne produktive Jllusion gewirkt. Nur dort, wo die Philosophie dazu gedient hat, die Unlust am Leben, die Abwendung von der kühnen Tat, den Ekel vor der tätigen Arbeit zu befördern, sind ihre Irrtümer bedauerlich; denn eine solche Philosophie ist ein Symptom des Niedergangs der Epoche oder der Nation, die daran glaubt. Aber, wohlgemerkt, nur  ein Symptom.  Wir sehen in der Philosophie eines Volkes nichts Primäres, was imstande ist, das Volk zu ruinieren - sondern umgekehrt: weil ein Volk entartet, krank und in seiner Lebenswurzel angefault ist, deshalb muß es auch zu einer für die Entwicklung von Mensch und Gesellschaft nachteiligen Lebens- und Weltanschauung kommen. Schädliche und krankhafte Jllusionen eines Volkes sind die Folge einer Erkrankung der Volksseele.


In anderen Wissenschaften erscheint wieder die Jllusion, d. h. die irrtümliche, aber lange Zeit für unbedingt sicher gehaltene Annahme als das Mittel, um mächtige Fortschritte zu erzielen. "Der Irrtum"- heißt es bei einem neueren Historiker der Philosophie - "erscheint historisch oft genug als der Mantel, in dem die Glocke der Wahrheit gegossen wird." Die gewaltigen wissenschaftlichen Fortschritte sind nicht immer durch eine einfache Anwendung des gesunden Menschenverstandes und des vernünftigen Kalküls auf die Erscheinungen der Außenwelt zustande gekommen, sondern manchmal durch gänzlich phantastische Annahmen. So suchte man jahrhundertelang den Stein der Weisen zu finden, der alle Körper in Gold zu verwandeln und alle Krankheiten zu heilen vermöchte: das waren natürlich lächerliche Träumereien - aber die Forschungen, die unter dem Bann der alchimistischen Anschauungen und technischen Entdeckungen und zur Begründung der Wissenschaft der Chemie. Und nicht viel anders ist das Verhältnis der Astrologie zur Begründung der astronomischen Wissenschaft.


Eine weitere Reihe von Einsichten in die Tragweite der Jllusionen ergibt sich aus der Betrachtung der neueren  Entdeckungsgeschichte.  Die meisten Entdeckungen sind in Erwartungen und Annahmen geschehen, die nachher durchaus  nicht  bestätigt wurden - aber trotzdem sind gerade jene, oft recht groben Irrtümer nötig gewesen, um die Entdeckungsfahrten (durch eine Verleitung entweder der kühnen Entdecker selber oder der Geldgeber) überhaupt erst möglich zu machen. Hier genügt es, wenn wir die berühmteste aller Entdeckungsfahrten, die des Kolumbus, auf den fraglichen Punkt hin untersuchen. Wir legen unserer Darstellung die neuesten Forschungen über das Kolumbus-Problem zugrunde: die letzte Auflage von SOPHUS RUGEs  Kolumbus-Biographie, die Abhandlung ANTON ELTERs über "Kolumbus und die Geographie der Griechen" und die Studie CESCARE LOMBROSOs "La folie et le genié chez Christophe Colomb", die ich jedoch nur aus einem im "Neurologischen Zentralblatt" veröffentlichten Auszug kenne.

Hier muß nun die Feststellung an die Spitze gestellt werden, daß ihm, nach RUGEs Worten, der  Zufall  die neue Welt in den Schoß geworfen hat, daß er gar nicht ausgezogen ist,  neue  Länder zu entdecken, sondern daß er nur den - wie er meinte - leichtesten Weg zu altbekannten Ländern aufsuchen wollte und daß er auch in dem Glauben gestorben ist, diesen Weg gefunden und diese Länder erreicht zu haben! Über KOLUMBUS selber hat schon HUMBOLDT bemerkt, daß ihm mathematische Kenntnisse vollständig gefehlt haben müssen. Dafür aber hat dieser nichts weniger als scharfsinnige Kopf den unbedingten Glauben an Autoritäten (oder was er dafür hielt) gehabt und war ganz erfüllt von einer auf religiöse Autosuggestionen gestützten Zuversicht auf seine Bestimmung. Was einige Geographen des Altertums, einige arabische Astronomen des Mittelalters und einige Naturforscher seiner Zeit geschrieben hatten, das galt ihm als eine über jeden Zweifel erhabene Wahrheit. Im übrigen dienten ihm einige ganz willkürlich ausgelegte Stelle der Bibel als absolut sichere Hinweise auf die durch ihn auszuführenden Entdeckungen. Seine visionäre Religiosität hat den Anlaß gegeben, daß ihn LOMBROSO allen Ernstes für einen dem religiösen Wahnsinn Verfallenen erklärt hat. Und doch hat sich schließlich, wie wir gleich sehen werden, jeder dieser Mängel und jede Jllusion, die sich daraus als Konsequenz ergab, in ein Mittel zur Förderung seiner Pläne verwandelt!

Bekanntlich beträgt der Abstand Westeuropas von China (also Asiens anderem Ende, das ja KOLUMBUS suchte) fast zwei Drittel des Erdumfangs; aber KOLUMBUS meinte, in blindem Glauben an die Angaben des antiken Geographen MARINUS von TYRUS und des zeitgenössischen Astronomen PAOLO TOSCANELLI († 1482), daß jener Abstand nur ein Drittel des Erdumfangs ausmacht. Wenn er also im Weltmeer nicht auf den noch unbekannten Erdteil gestoßen wäre, so hätte er umkehren müssen, da seine Expedition für eine so lange Reise gar nicht vorbereitet gewesen war!

Weiter glaubte KOLUMBUS, ebenfalls in gänzlich kritiklosem Anschluß an die Angaben TOSCANELLIs, daß das gesuchte Land, also das westliche Indien, reich gesegnet mit allen möglichen Gewürzen ist - in jener Zeit war bekanntlich die Versorgung Europas mit den Gewürzen und Drogen Asiens der lohnendste und begehrteste Handel für ein Land! - und ebenso Edelmetalle und Edelsteine in Fülle besitzt. "Dieses Land" - hatte TOSCANELLI 1474 geschrieben - "verdient mehr als jedes andere aufgesucht zu werden, denn man kann dort nicht nur sehr großen Gewinn machen und viele Sachen bekommen, sondern es gibt auch Gold, Silber, Edelsteine und alle möglichen Gewürze in großer Menge wie nirgendwo in unseren Gebieten." So war es die  aura sacra fames [fluchwürdiger Hunger nach Gold - wp], die den Anstoß gab, daß der kürzeste Weg nach den gewürz- und goldreichen Ländern Hinterasiens gesucht wurde. Und selbstverständlich waren auch die Entdecker sehr enttäuscht, als sie weder Gewürze noch Edelmetalle fanden, sondern sich vor die Aufgabe gestellt sahen, wilde Eingeborene zur Produktion marktgängiger Produkte anzulernen.

Aber auch diese Selbsttäuschung des Kolumbus ist nötig gewesen, um sein Unternehmen möglich zu machen: denn andernfalls hätte er wahrschinlich nicht schon früh seine Lebensaufgabe in der Entdeckung des neuen Weges gesehen und hätten die Spanier nicht das Geld zu diesem Unternehmen hergegeben!

Selbst so war es aber noch schwierig genug, das Unternehmen zustande zu bringen. Der König von Portugal, vor dem er seine Pläne zunächst entwickelte, lehnte ihre Ausführung ab, da eine zu ihrer Prüfung eingesetzte Kommission die Angaben des Kolumbus - mit Recht! - für gänzlich unbestimmt und unsicher hielt und sogar zu dem Schluß kam, daß KOLUMBUS ein Schwätzer und Prahler ist, dessen phantastische Angaben über ferne Länder nur geringen Glauben verdienen.

Die Portugiesen hatten seinen Entdeckungsplan, den er ihnen als gewinnbringendes Handelsgeschäft mundgerecht zu machen versucht hatte, zurückgewiesen, denn "sie hatten (wie RUGE treffend bemerkt) an der Küste Afrikas gelernt, die Entdeckungen als Geschäft zu betreiben".

Anders in Spanien. Hier, wo man noch den Islam zu bekämpfen hatte, stand der christliche Glaube bei allen öffentlichen Unternehmungen im Vordergrund - während es Gelehrte, die die tatsächlichen Grundlagen der Pläne des KOLUMBUS zu prüfen in der Lage gewesen waren, fast gar nicht gab. Und auf diesem Boden mußte es von großer Bedeutung sein, daß KOLUMBUS sich als von Gott auserwählter Träger zur Verbreitung des christlichen Glaubens hinstellte. So schreibt KOLUMBUS in einem Brief an den König:
    "Ich kam als Abgesandter der heiligen Dreieinigkeit zu Euer Majestät als dem mächtigsten Fürsten der Christenheit, um den heiligen Glauben verbreiten zu helfen; denn wahrlich, Gott spricht so klar von jenen Ländern durch den Mund des Propheten Jesajas an mehreren Stellen der Schrift, wenn er versichert, daß von Spanien aus sein heiliger Name verbreitet werden soll."
Mit dieser Idee der Verbreitung des Christentums in den großen Reichen Ostasiens bekam das von KOLUMBUS geplante Unternehmen eine religiöse Weihe - und so gewann er dafür Gönner, sowohl unter den Mitgliedern der hohen Geistlichkeit wie auch besonders in der frommen Königin ISABELLA von Kastilien. Und durch diese Persönlichkeiten, denen jedes Urteil über seine kosmographischen Theorien mangelte, ist dann schließlich das Projekt des KOLUMBUS zwischen allen Klippen hindurch gesteuert worden.
    "Genial" - sagt Lombroso - "war höchstens die Willenskraft zu nennen, mit der Kolumbus seinen Plan durchsetzte. Das hohe Maß derselben verdankte er jedoch nur dem krankhaften Glauben an seine göttliche Bestimmung; dieser ließ ihn auch die vielen Bedenken, die normale, überlegende Männer und Kosmographen seiner Zeit vom Projekt Toscanellis abschreckten, beseitesetzen und sich in ein so schwach fundiertes Abenteuer stürzen."
Wir sehen also, daß eine ganze Reihe von Jllusionen bei den Beteiligten zusammenkommen mußten, um die Entdeckung Amerikas zu ermöglichen!

Ähnliche -wenn auch vielleicht weniger auffallende - Resultate würde eine genauere Betrachtung vieler historischer Aktionen (unter dem Gesichtswinkel der Bedeutung der Jllusionen für das Denken und Handeln der Menschen) liefern. Doch würde ein Eingehen hierauf den Rahmen dieser Schrift, die bloß eine Skizze zeichnen soll, überschreiten.


III.

"Wenn Dir's im Kopf und Herzen schwirrt,
Was willst du besser haben?
Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt,
Der lasse sich begraben!"
- Goethe


Wir haben bisher die Bedeutung der Jllusionen für den politischen, sozialen und kulturellen Fortschritt der Menschheit gewürdigt. Es handelt sich zum Schluß darum, an einigen Beispielen die Rolle aufzuzeigen, die sie auch im Alltagsleben der Menschen spielen.

IBSEN, der in seinen Dramen einige wunderbare Typen von Jllusionisten geschaffen hat, sagt einmal: "Nimmt man einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, so nimmt man ihm gleichzeitig das Glück." Das ist vollkommen zutreffend. Man betrachte nur die übertriebene Meinung, die fast alle Menschen von sich selbst hegen - ein Faktum, das ja schon häufig die Aufmerksamkeit von Philosophen und Dichtern auf sich gelenkt hat. Fast alle haben eine - offenbar durch die eigene Eitelkeit vermittelte - starke Überschätzung ihrer Fähigkeiten, ihrer Gaben an Herz und Gemüt und vor allem ihrer Wichtigkeit für die Welt. Sie legen sich selber einen Wert bei, der mit der Rolle, die sie tatsächlich in der Welt spielen, seltsam kontrastiert und an dieser illusionistischen Selbsteinschätzung halten sie mit einer wunderlichen Zähigkeit fest.
    "Die meisten Menschen" - sagt ein englischer Philosoph mit Recht - "scheinen überhaupt niemals daran zu zweifeln, daß sie in Wirklichkeit gewisse Vorzüge besitzen; sie halten das für durchaus selbstverständlich und scheinen das Zeugnis des Bewußtseins, aufgrund dessen sie an ihren unbestimmt vorgestellten Wert glauben, für ebenso sicher zu halten, wie das, aufgrund dessen sie ihre persönliche Existenz behaupten."
Und unser Gewährsmann führt dann eine Reihe ergötzlicher Beispiele für dieses hartnäckige Vertrauen auf den eigenen persönlichen Wert an. So ist das junge Mädchen, trotz der gegenteiligen Meinung der anderen und der entsprechenden Erfahrungen, unbedingt vom Zauber seiner äußeren Reize überzeugt. Der junge Mann ist trotz der allgemeinen Gleichgültigkeit, auf die seine Reden stoßen, so sicher seiner überlegenen Klugheit, daß er unentwegt zu schwatzen fortfährt. Der reifere Mann hat eine hohe Meinung von seiner eigenen sozialen Bedeutung und seinem moralischen Wert - trotz aller Mißerfolge, die ihm bei einer objektiven Schätzung darüber die Augen hätten öffnen müssen, in wie grellem Mißverhältnis seine Prätensionen [Anmaßungen - wp] zu den Urteilen der Anderen stehen! Dabei sind unsere Überzeugungen von unserem persönlichen Wert zumeist so unbestimmt, daß wir gar nicht genauer anzugeben vermögen, worin eigentlich unsere Überlegenheit besteht. Sehr häufig löst sich die Vorstellung von unserer Vortrefflichkeit in den Satz auf: "Ich bin ein gut Teil besser als  A  oder  B,  die in der sozialen Schätzung der Welt trotzdem eine höhere Stellung einnehmen."

So ist der Gegensatz zwischen der eingebildeten Bedeutung und der tatsächlichen Unwichtigkeit für die Menschen geradezu typisch. Und doch ist die Gegensatz notwendig - notwendig im Interesse der Erhaltung des Menschengeschlechts. Wieviele Menschen würden zusammenbrechen und für immer unglücklich sein, wenn sie sich über ihre Stellung unter den Mitmenschen völlig klar wären! Wieviele würden künftig freudlos und seelenlos ihr Tagewerk verrichten und elend dahinleben, wenn ihre Jllusionen geschwunden wären! Der Einzelne muß eben, um seine latente Leistungsfähigkeit in physischer, intellektueller und ethischer Hinsicht voll auslösen zu können, von der Wichtigkeit seiner Person und seiner Handlungen überzeugt sein. Nur dann nimmt er all die Sorgen, Mühen, Ängste, Qualen, Unbilligkeiten und Enttäuschungen auf sich, die das Individuum in seinem fortwährenden Ringen mit der Außenwelt durch das Leben begleiten: nimmt er auf sich, wovon nach SHAKESPEAREs, des großen Menschenkenners, Zeugnis für jedes Ding für sich allein zum freiwilligen Abgang aus dieser Welt reizen könnte:
    "Der Zeiten Spott und Geißel,
    Des Mächt'gen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,
    Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,
    Den Übermut der Ämter und die Schmach,
    Die Unwert schweigendem Verdienst erweist!"
Andererseits: wie würden die meisten Menschen zusammenbrechen, wenn sie sich über die ganze Nichtigkeit ihres Ichs klar würden! Wie zentnerschwer würde die volle Wahrheit auf den meisten lasten, wenn sie sie je ganz  schauen würden; treffend schildert SCHILLER die Wirkung, die der Anblick des entschleierten Bildes von Sais, des Symbols der Wahrheit, auf den kecken Jüngling ausübte:
    "Besinnungslos und bleich,
    So fanden ihn am andern Tag die Priester
    Ausgestreckt ... Auf ewig
    War seines Lebens Heiterkeit dahin,
    Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe."
Das kümmerliche Endresultat, zu dem der Mensch kommen muß, der nachdenkt und sich und die Welt ohne Jllusionen betrachtet - tout comprendre: c'est tout mépriser! [Alles zu verstehen, ist alles zu verachten! - wp] -, kennen wir aus NIETZSCHE: danach ist der Mensch eine kleine überspannte Tierart, die ihre Zeit hat - das Leben auf der Erde überhaupt ein Augenblick, ein Zwischenfall, eine Ausnahme ohne Folge, etwas, das für den Gesamtcharakter der Erde belanglos bleibt - die Erde selbst, wie jedes Gestirn, ein Hiatus [Spalt - wp] zwischen zwei Nichtsen, ein Ereignis ohne Ploan, Vernunft, Wille, Selbstbewußtsein!

Wenn alle Jllusionen geschwunden wären, so würden ein kümmerlicher Egoismus und ein brutales Genußstreben die alleinige Richtschnur des menschlichen Handelns bilden. Der Einzelne würde, weil der Unendlichkeit des Horizonts beraubt und auf sein Ich im engsten Sinne reduziert, ganz verdorren. Schließlich wäre alles Dasein höherer Art vernichtet und die Kultur würde unfehlbar zur Stagnation kommen, um allmählich zu verfaulen.

Aber in uns ist eine Stimme, die sich nicht übertäuben läßt und die fast jedem Individuum zuruft: Du bist wichtig, auf dich kommt es an! Und darauf hat schließlich das Leben und der Fortschritt der Menschheit bisher beruth. Und an diese Jllusion schließen sich die anderen Jllusionen als ebensolche Lebensnotwendigkeiten an. Die Kulturinstitution der Ehe setz, in den meisten Fällen zumindest, voraus, daß beide Teile von Eingehung der Ehe ineinander mehr oder weniger verliebt sind, daß sie sich seine Menge guter Eigenschaften andichten, andere ungemein vergrößern und die schlechten Eigenschaften übersehen. Nach Jahr und Tag sind sie sich übereinander klar - und trotzdem werden sie in den meisten Fällen keine Reue darüber empfinden, daß sie sich durch Jllusionen haben narren lassen. Hier sieht man wieder die gewaltige Macht der Jllusion und die Notwendigkeit von Schein und Irrtum und "falschen Werten": diese ermöglichen erst dem modernen Kulturmenschen, sich auszuleben, ja noch mehr, sie sind mit dem geistigen Haushalt des Menschen ursächlich verbunden, daher überhaupt nicht durch Gründe ausrotten. Und was für den eben angegebenen Fall, das gilt ebenso für tausend und abertausend Verhältnisse des gegenseitigen Verkehrs der Menschen untereinander: sie glauben die Wahrheit zu wissen und haften doch alle am Schein und täuschen sich immerzu, sich selbst und die anderen. Diese Komödie der Irrungen, in der wir alle mitspielen, hat einmal GRILLPARZER in einem wundervoll nachdenklichen Wort charakterisiert:
    "Sie reden alle Wahrheit - sind drauf stolz,
    Und sie belügt sich selbst und ihn; er mich
    Und wieder sie; der lügt, weil man ihm log -
    Und reden alle Wahrheit, alle, alle."
So ist das Schauspiel, das der Anblick all der in der Welt durcheinanderwogenden Worte und Handlungen liefert, buntverworren genug. Den Schlüssel zu seinem Verständnis gibt uns die Einsicht in das Wesen und die Bedeutung der Jllusion für Welt und Leben.
LITERATUR - Georg Adler,Die Bedeutung der Illusionen für Politik und soziales Leben, Jena 1904