BernheimRobert Saxingervon BechterewE. Schwarz | |||
Über die Einbildungskraft [ 2 / 2 ]
Wenden wir uns nun von hier zur hergebrachten Unterscheidung von reproduktiver und produktiver Phantasie, so orientiert man sich leicht. Die wahrnehmende oder auffassende Phantasie ist, wie gezeigt wurde, durch und durch produktiv oder hervorbringend, z. B. die Wahrnehmung der Gemütszustände anderer Personen außer uns ist eine Produktion dieser Zustände in uns selbst und so in allen Fällen. Ob wir nun einen solchen wahrnehmenden Entwurf zum erstenmal produktiv vollbringen oder hernach reproduktiv wiederholen, macht einen nur geringen Unterschied. Die Wiederholung ist nämlich eine erneuerte Hervorbringung desselben Bildes auf Veranlassung einer von ihm in der Seele zurückgebliebenen Gedächtnisspur. Aber noch nicht jede Erinnerung ist ein Phantasiebild. Denn ich kann mich z. B. beim Wiedersehen einer Person oder auch einer Gegend recht gut wiedererinnern, daß ich dieselbe schon einmal gesehen habe, ohne daß ich doch imstande wäre, mir das Bild derselben aus freien Stücken in der Phantasie zu zeichnen, ehe ich dieselbe wiedersah. So liegen in uns aus gehabten Gesprächen, gesehenen Ländern und Personen, studierten Büchern eine Unzahl von Gedächtnisspuren aufbewahrt, welche alle in Bereitschaft stehen, bei vorkommender Gelegenheit in Erinnerung umzuschlagen, ohne doch jemals die Lebhaftigkeit von Phantasiebildern zu gewinnen. Denn die Gedächtnisspur gleich einem blaßen Schema, welches die Lebendigkeit und Frische, mit der er selbständig in die Wahrnehmung treten könnte, noch gänzlich fehlt. Daraus entsteht nun die Frage: Woher empfangen die Bilder reproduktiver Phantasie diese selbständige Empfindungsfähigkeit, wodurch sie sich auszeichnen? oder: wodurch verwandeln tote Gedächtnisspuren sich in lebendige Bilder reproduktiver Einbildungskraft? Wir finden, so oft wir dieses in einzelnen Fällen beobachten, daß es immer Gefühle und Stimmungen sind, welche das bewirken. Habe ich mit z. B. seit geraumer Zeit mit einem Gegner ausgesöhnt, so werden die Gedächtnisbilder unserer alten Zwistigkeiten zwar fortdauern, aber nur in Gestalt eines blassen und tonlosen Andenkens, und vielleicht auch dieses kaum. Sobald hingegen ein neuer Zwist zwischen uns erwacht, werden diese Bilder sich viel lebhafter färben, sogar mit der Frische eines von neuem vor unseren Augen aufgeführten Schauspiels in die Phantasie treten. Worüber klagen die Dichter, wenn der Strom ihrer Bilder nicht recht fließen will, wenn die Phantasie für die Einkleidung abstrakter Gedanken in anschauliche Bilder den Dienst versagt? Etwa über Trägheit des Denkens, Lahmheit des Erinnerns? Keineswegs, sondern immer über Mangel an Stimmung, d. h. an Frische der Gefühle. Diese ist der Farbenquell, in welchen die dichterische Phantasie ihren Pinsel taucht. Daher muß der Dichter auch immer Neues erleben; denn nur an neuen Erlebnissen steigern sich die Gefühle und Stimmungen zur erforderlichen Höhe. Daher ist für die dichterische Phantasie die Jugend die günstigste Zeit, weil hier das Gemüt am empfänglichsten ist, neue Eindrücke in sich aufzunehmen, neue Stimmungen in sich zu erzeugen, wie GOETHE sang (1):
Das tiefe schmerzvolle Glück, Des Hasses Kraft, die Macht der Liebe, Gib meine Jugend mir zurück! Und wie machen es die Dichter, wenn sie die Rede, sobald sie ihnen in ihrer Einfachheit zu trocken und prosaisch vorkommt, beleben und höher färben wollen? Sie gießen Gefühl und Stimmung zu, was wir in gewöhnlicher Rede ausdrücken: sie gebrauchen Bilder und Gleichnisse. Dieses Kunststück der Dichter, von welchem sie selbst nicht wissen, wie es dabei zugeht, ist so artig und sinnreich, daß es sich der Mühe lohnt, ein wenig dabei zu verweilen. Bei Bildern und Gleichnissen wird immer der eine Begriff vom andern aufgezehrt oder dient der eine dem andern zur Nahrung. Der Grundbegriff verzehrt aber vom Gleichnisbegriff immer nur das, was ihm ähnlich und angemessen ist, das übrige läßt er fallen, fast soe wie das Eichhörnchen aus der Nuß den Kern verzehrt und die Schale fallen läßt. Sagen wir z. B.: die frischen Rosen ihrer Wangen, so eignen sich die Wangen aus den Rosen nichts an, als die Empfindung der sanften Röte, verbunden mit dem tauigen Schmelz und der Lebensfrische dieser zarten Blattflächen, während alles übrige, die Gestalt der Rose, die Zahl ihrer Blätter und Staubfäden usw., die Schale der Nuß sind, welche nach herausgenommenem Kern wegfällt. Sprechen wir von einem Stachel der Reue, so eignet sich die Reue vom Stachel nichts an, als den Schmerz, welchen ein eindringender Stachel verursacht. Sagen wir: die Sonne des Glücks, so nimmt das Glück von der Sonne nichts an, als das angenehme Gefühl, welches ihr Licht und ihre Wärme verursacht, während Licht und Wärme selbst als Hilfe zu Boden sinken. Je mehr nun das, was sich der eine Begriff vom anderen hierbei aneignen kann, von der Art des Gefühls und der Stimmung ist desto wärmer nennen wir das Bild. Stützt es sich hingegen bloß auf eine Ähnlichkeit ohne Gefühlsinhalt, so ist es frostig, wie z. B. die ossiansche Vergleichung der Sonne mit einem runden glänzenden Schild, oder die arabische Vergleichung der blutziehenden Lanze mit dem wasserziehenden Seil eines Ziehbrunnens. Nennt der Araber hingegen die Lanze blutdurstig, so denkt man dabei an einen heranfliegenden Raubvogel, welcher blutgierig einhackt, und weil dieses weht tut, so macht der Schmerz das Gleichnis warm und lebendig. Die größte Kraft entwickeln die Vergleichungen immer dann, wenn der Verbindungspunkt nicht bloß in einem Gefühl von allgemeiner Natur, noch auch bloß in einer sinnlichen Ähnlichkeit liegt, sondern wenn beides sich eng miteinander vereinigt. Ein hervorragendes Beispiel dieser Art ist die Vergleichung des Kummers mit der Schwere. Denn der Kummer macht nicht nur im Allgemeinen dieselbe bange und von Furcht vor einem drohenden Schmerz durchdrungene Stimmung rege, in welche uns das Heben einer für unsere Kräfte zu schweren Last versetzt, sondern er wirkt auch dergestalt lähmend auf die motorischen Nerven, daß wir an der Last der eigenen Glieder schwerer zu tragen bekommen, und uns also auf ähnliche Art fortbewegen, wie wir es bei heiterm Mut tun würden, wenn wir eine wirkliche Last zu schleppen hätten. Daher den gerade dieses Bild in der Poesie aller Völker mit der größten Kühnheit gebraucht wird. So sagt HIOB (6, 2 - 3): "Wenn man meinen Jammer wöge, und mein Leiden zusammen in eine Wage legte, so würde es schwerer sein, denn Sand am Meer." HOMER läßt den AENAEAS zu ACHILLES sagen, da sie kampfbereit einander gegenüberstehen, und sich mit Worten bedrohen: (2)
Schwatzend steh'n in der Mitte des feindlichen Waffengetümmels. Denn für beide ja sind herkränkende Worte zu sagen Viele, daß kaum sie trüg' auch ein hundertrudriges Lastschiff."
So schwer in seinem Busen liegen, daß sie Dem Rosse unter ihm den Rücken brächen."
Hat mich geheilet, und voll Mild' und Mitleid Von diesen Schultern, diesen morschen Pfeilern Genommen eine Last, die eine Flotte Versenken könnte."
Legte sich mitten hinein, und übergoß sich mit Blättern. Wie wenn einer den Brand in dunkler Asche verbirget, Ganz am Ende des Feldes, dem nicht anwohnet ein Nachbar, Samen der Glut sich hegend, daß nicht bei Entfernten er zünde: Also verbarg Odysseus im Laube sich - Das andere Gleichnis bezieht sich ebenfalls auf ODYSSEUS, und ist von sehr eindringlicher Art. ODYSSEUS, angelangt in seinem heimatlichen Palast, wo er sich nur in der Verkleidung eines Bettlers darf sehen lassen, wälzt sich unruhig auf dem Lager, beschäftigt mit dem Entschluß, den kühnen Kampf gegen die Freier der PENELOPE zu wagen, die ihm Hab' und Gut verzehren. Da heißt es nun (6):
Dauert' er aus. Doch er selbst noch wälzte sich hierhin und dorthin. Wie wenn den Magen ein Mann, an gewaltiger Flamme des Feuers, Welcher mit Fett und Blut gefüllt ward, hierhin und dorthin Stets umdreht, und in Eile verlangt ihn gebraten zu sehen: Also hierhin und dorthin bewegt' er sich, tief nachdenkend, Wie er die Händ' an die Freier, die schamlos trotzenden, legte, Er allein an so viele - Beim Anstarren beweglicher Wolkenbilder schaut man wie träumend Gestalten heraus, Landschaften, Schlachtengetümmel, plastische Gruppen und dgl. Jeder aber wird andere Phantasiegestalten herausschauen je nach den Stimmungen und Gefühlen, welche gerade in ihm herrschen. Bei OSSIAN heißt es (in MELILCOMAs ersten Worten in 'Comala): "Die ehrwürdigen Gestalten der Vorwelt schauten aus dem Gewölk von Crona." Denn der Nationalstolz des Sängers erfüllt seine Phantasie beständig mit solchen Gestalten, und diese verschmelzen mit den Figuren der wechselnden Wolkenbilder an den hundert Stellen, wo zufällige Gelegenheit dazu gegeben ist. Wenn das Landvolk anfängt, lauter Speere, Schwerter und blutige Auftritte aus den Wolken herauszuschauen, so ist es die Furcht vor drohendem Krieg, welche diese Phantasiebilder erzeugt. Das Schlimme, was ihr Brust beklemmt, schauen sie in den Wolken abgebildet. Kaiser CONSTANTIN hätte auf seinem Zug gegen MAXENTIUS (gest. 312 n. Chr.) das vom Gewölke gebildete Kreuz nicht beachtet, wenn nicht sein Ehrgeiz ihm dieses Zeichen einer neuen Religion mit seiner steigenden Macht schon lange Tag und Nacht in der Phantasie leuchtend erhalten hätte als das Zeichen eines mächtigen Bundesgenossen, mit welchem vereinigt er siegen würde. Wer hat nicht schon die lieblichsten Paradiese in den Wolken erblickt, Lichtmeere mit reizenden Inseln und schimmernden Küsten? GOETHE scheinen solche Wolkenphantasmen im Zauber untergehender Sonne vorgeschwebt zu haben im FAUST, wo die Geister singen (7):
Schlürfet sich Wonne, Flieget der Sonne, Flieget den hellen Inseln entgegen, Die sich auf Wellen Gaukelnd bewegen. Sie erscheinen dort noch heute, obwohl nicht Jedermann, sondern nur dem, dessen Gemüt in der Stimmung ist, solche Gestalten, und nicht statt ihrer Schwerter und Lanzen in der Phantasie empor zu treiben. Auch hier wird nur dem gegeben, welcher hat. Es ist gerade so, wie in der "Orakelglocke" von TIEDGE, wo der Pfarrer dem Bauernmädchen, welches nicht wußte, ob es seinem Bewerber das Jawort geben sollte, rät, auf die Morgenglocken zu achten, wie die tönen, wenn sie von einem nahen Hügel dem Sonntagsgeläute zuhorche (8):
Doch endlich - horche: bim, bim, bim, - Das ist das lang erwartete Getöne! Ganz deutlich klingt es: nimm ihn, nimm! Die Malaien auf der Halbinsel Malakka bereiten sich in ihren großen Bambuswäldern eine eigentümliche durch Phantasie erzeugte Waldmusik. Sie machen nämlich die Bambuszweige durch hineingebohrte Löcher von verschiedenem Umfang zu Orgelpfeifen, denen die vorbeistreifenden Windstöße Töne entlocken. Nun horcht man, und sucht aus diesem wilden Durcheinander Melodien zu erhaschen. Daher sagt der Malaie: die Waldorgel bläst immer jedem sein eigenes Lieblingsstück. (10) Phantasiebilder, welche wir lange mit uns herumtragen, sehen wir gewissen allmählichen Verwandlungen unterworfen, bei denen ebenfalls der Wechsel der Gefühle das Maßgebende ist. So beschreibt GOETHE, wie er auf seiner Italienischen Reise die IPHIGENIE vollendet hat. "Als ich den Brenner verließ", schreibt er (11), "nahm ich sie aus dem größten Paket und steckte sie zu mir. Am Gardasee, als der gewaltige Mittagswind die Wellen ans Ufer trieb, wo ich wenigstens so allein war, als meine Heldin am Gestade von Tauris, zog ich die ersten Linien der neuen Bearbeitung, die ich in Verona, Vicenza, Padua, am fleißigsten aber in Venedig fortsetzte. Sodann aber geriet die Arbeit in Stocken, ja ich war auf eine neue Erfindung geführt, nämlich IPHIGENIE auf Delphi zu schreiben, welches ich auch sogleich getan hätte, wenn nicht die Zerstreuung und ein Pflichtgefühl gegen das ältere Stück mich abgehalten hätte. In Rom aber ging die Arbeit in geziemender Stetigkeit fort. - Und so hat mich denn diese Arbeit, über die ich bald hinauszukommen dachte, ein völliges Vierteljahr unterhalten und aufgehalten , mich beschäftigt und gequält." Die Einwirkung der neuen Stimmung im südlichen Land auf das Bild der IPHIGENIE war demnach so groß, daß der Dichter anfangs glaubte, die neue, die südliche IPHIGENIE von der alten und nordischen ganz trennen zu müssen, bis ihm dann endlich doch wieder beide Bilder in eins flossen. In so starker Weise weckte das südliche Land mit seinen edlen Formen, seinem klaren Himmel und lachenden Sonnenschein neue Gefühle, durch welche jenes Bild höher gefärbt und von trübenden Elementen einer mehr nordischen Gemütsstimmung gereinigt werden konnte. So kann es geschehen, daß ein Phantasiebild eine Art von selbständiger Entwicklung in sich gewinnt, ein eigentümliches Leben wie ein aus sich selbst emporwachsender Baum durch Aneignung ähnlicher Gefühlselemente, Ausscheidung unähnlicher, wie in einem chemischen Prozeß, dessen Stoffe in stetem Schmelzen sind, nach den Worten CONRADs von Würzbürg (in seinem Gedicht von der goldenen Schmiede) (12):
In meines Herzens Schmieden Gedicht' aus Golde schmelzen Und lichte Bilder wälzen. Darum sind auch die bildenden Künste die am wenigsten phantastischen, weil sie der Phantasie am genauesten ihre Gestalten vorschreiben, und sie am wenigsten zu eigener freier Produktivität ermuntern. Die Musik regt hingegen am heftigsten die Gefühle auf, und versetzt die Phantasie am gewaltsamsten in selbstschöpferische Tätigkeit. Die Dichtkunst steht zwischen beiden in der Mitte. Denn sie gibt der Phantasie zwar die häufigsten Anhaltspunkte, jedoch so, daß wegen der Vieldeutigkeit der Wortklänge, derselben dabei ein überaus großer Spielraum zur individuellen Selbsttätigkeit gelassen wird. Man darf wohl behaupten, daß, im strengen Sinn genommen, keiner der Leser oder Hörer ein Gedicht genau so auffaßt, wie es aus dem Dichter hervorquoll, und wie wir Gemälde oder Statuen auffassen. Sondern jeder macht sich im Hören eine eigentümliche Übersetzung davon, gemäß der Stimmung, welche in ihm herrscht. Der verschiedene Charakter verschiedener Übersetzungen desselben Dichters, wenn man z. B. die des DANTE, HOMER, SOPHOKLES untereinander vergleicht, sind ein sprechendes Zeugnis dieser Sache. Es kann sich sogar eine Dichtung durch Anhören im Ohr des Hörers verschönener, wie z. B. der Missionar GÜRTZLAFF behauptete, daß das chinesische Liederbuch SCHIKING von RÜCKERT durch Übersetzung wirklich verschönert worden sei. Es gibt daher eine dreifache Künstlerphantasie, eine bildnerische, eine musikalische und eine poetische. Die bildnerische ist am meisten reproduktiv, indem sie zur Hervorbringung ihrer Werke Gestalten bedarf, welche durch Züge vergangener Erfahrungen bis ins Einzelne hin bestimmt und ausgeführt sind. Die musikalische ist am wenigsten reproduktiv. Sie regt dagegen am unmittelbarsten die Quellen auf, aus welchen alle Phantasiegestalten fließen, die Quellen der Gefühle und Stimmungen. Sie ist daher dunkel und wild, während die bildnerische Phantasie hell, präzise und klar ist. Sie verhalten sich wie Tag und Nacht. Die Gestalten des Tages sind deutlich, im hellen Licht zeigen sich alle Unterschiede, in der Nacht gehen sie unter. Zwar regt die Musik die Gefühle des Zorns, der Liebe, des Mitleids, welche sie erregt, nicht unmittelbar auf, sondern auf höchst mittelbare Weise. Denn die verschiedenen Intervalle, durch welche sie wirkt in Harmonie und Melodie, wecken zunächst nur Gefühle eines unbestimmten Wohlgefallens und Mißfallens, welche aber dann sogleich die ähnlichen Gefühle von mehr praktischer Art, und diese zwar ganz besonders vermöge des deklamatorischen Rhythmus, mitklingen lassen. Anhand dieser mitklingenden Gefühle werden dann Gestalten heraufbeschworen, während umgekehrt die darstellenden Künste anhand der Gestalten erst die Gefühle heraufbeschwören. Mit den Unterschieden der Phantasietätigkeit in den verschiedenen Künsten hängen die verschiedenen Phantasieanlagen, welche den Dichter machen, eng zusammen. Wir unterscheiden hier zwischen blühender, glühender und plastischer Phantasie. Die blühende Phantasie ist reich und beweglich. Es stehen immer die lieblichsten Bilder zu Gebote, welche wie auf einen leisen Wink hin sogleich ihre anmutigen Tänze beginnen, nicht bacchantisch wild, sondern harmonisch lenksam. Die Bewegung der Bilder ist rasch und fließend, alles rollt. Dies ist das jederzeit bereite Dichtertalent, welches vorzugsweise den Improvisator bildet. Die glühende Phantasie ist brennend und scharf, ähnlich den Farben transparenter Gemälde, und geht leicht ins Wilde über. Solche Bilder reißen fort, stecken an, als von Affekt durchdrungen und gleichsam triefend, wie dies bei den arabischen Dichtern, auch vielerwärts bei DANTE der Fall ist. Der Sänger des finnischen Epos Kalewala erzählt von sich, daß durch Schmerz eines harten und verstoßenen Lebens in seinem Gemüt der Quell der Poesie aufsprang. Demgemäß ist seine Phantasie von der einen Seite eben so glühend, als von der anderen wild und arm. (13) Die plastische Phantasie formt ihre Gestalten am treuesten nach Modellen aus der Erinnerung, welche sich mit der Zeit idealisieren, indem sie durch neu hinzutretende Gefühle und Stimmungen gesättigt und so über die Form ihres natürlichen Ursprungs emporgehoben werden. Dies ist die griechische Phantasie. Sie verfährt weniger schöpferisch, als veredelnd. Ihre Gestalten sind die deutlichsten, ihre Bewegung die langsamste. Das Fragmentarische und Unvollendete ist in ihnen ausgeschlossen; alles wird vollständige Szene, dramatisch anschaulich. Am meisten aus sich selbst heraus schaffend ist die blühende Phantasie. Aber eben daher haben ihre Gestalten auch die größte Gefahr, ins Oberflächliche und Allgemeine auszuarten, wie die z. B. bei CALDERON, TASSO und SCHILLER der Fall ist. Der blühenden Phantasie gehört das Märchen an nebst all den entzückenden Zauberpalästen, welche sie erblickt, wenn sie sich den Hippogryphen zum Ritt ins alte romantische Land sattelt, und von der behaglichen harmonischen Stimmung beseelt wird, welche WIELAND den holden Wahnsinn nennt, der lieblich um den entfesselten Busen spielt. In Glut dagegen wird die Phantasie immer nur durch wirklich Erlebtes versetzt, oder dadurch, daß sie in gewisse gegebene Gestalten Selbsterlebtes hineindichtet. Denn das glühende Bild entquillt der Seele immer mit der einseitigen Lebhaftigkeit einer Vision, welche einen in der Seele gewaltsam fortklingenden Affekt zur unmittelbaren Unterlage hat, ähnlich wie die fortklingenden Affekte in der Seele des Tonkünstlers die Melodien emportreiben, daß nicht viel fehlt, so hörte er sie. Eine solche Phantasie ist am meisten in sich selbst befangen, und legt am unmittelbarsten sich selbst allem übrigen unter. Es ist die Phantasie, welche auf Reisen und Jahrmärkten die Physiognomien studiert, um in dieselben verschiedene Erlebnisse und Stimmungen aus dem eigenen Leben hineinzudichten, oder die Gestalten durch die Auffassung einseitiger besonders hervorstechender Formen ins Karikierte auszumalen. Das Vorwalten der blühenden Phantasie erzeugt im Leben den unternehmenden Kopf, den hoffnungsvollen Planer, und, nimmt er sich nicht in Acht, den Schwindler. Jeder Tag rollt neue Lebensbilder empor, eines fröhlicher und lockender wie das andere. Denn seine Stimmung wird vorherrschend von den immer frischen Eindrücken der Gegenwart beherrscht. Dagegen lebt der Mensch von glühender Phantasie mehr in der Vergangenheit, weil die Affekte in seiner Seele stärker nachklingen. Vergangene Lust läßt nicht nach, ihn mit brennender Sehnsucht nach ihrer Wiederholung zu quälen, vergangener Kummer tönt unaufhörlich wie ein an den Bergen rollendes Echo, und weckt immer neue Erbitterung. Erinnerungsbilder steigern sich zur Lebhaftigkeit von Visionen, stumpfen den Blick ab für die unmittelbaren Interessen der Gegenwart. Die glühende Phantasie befähigt daher den Geist zur Beschäftigung mit sich selbst, zum Grübeln und Bohren in Gedanken, zum religiösen und wissenschaftlichen Tiefsinn, während die blühende im Gegenteil den umfassenden, für alles Neue offenen und durch jede Neuigkeit auch wiederum zu eigenen Produktionen angeregten Kopf gibt. Das Vorherrschen der plastischen Phantasie hingegen befähigt am meisten zum Heroismus. Denn die Gewohnheit, sich die Gestalten der Wirklichkeit ins Schönere auszumalen, hält auch im Gemüt immer die Sehnsucht wach, die so entstanden und großenteils ganz klar durchdachten Ideale wiederum in die Wirklichkeit einzuleben. Da nun die Gegenwart solchem Verlangen meistens widerstrebt, so wird entweder der Verdruß über den offen erblickten Zwiespalt der Ideale und des Lebens, verbunden mit rüstigem Entschluß zur Änderung, oder die Klage über denselben vorwalten. Daher die tatkräftige Männlichkeit, verbunden zugleich mit dem sanften elegischen Ton, welcher über die Werke der hellenischen Dichtkunst ausgegossen ist. Diesen drei verschiedenen Arten einer höchst lebhaften Phantasiebetätigung steht nun die mindestmögliche Lebendigkeit derselben als eine entgegengesetzte Anlage gegenüber. Es gibt Menschen, welche sich weder unternehmungslustig und flott, noch tiefsinnig und grüblerisch, noch heldenhaft gebietend zeigen, dagegen ganz vortreffliche Geschäftsleute sind, weil sie niemals von ihrer Phantasie belästigt werden in Fällen, wo dieses jenen andern zuweilen begegnet. Dieses sind die Menschen von gänzlich trockener Einbildungskraft. Ihr Gedächtnis ist vorzüglich für das Notizenwesen und das Chronikartige, Jahreszahlen und Daten ausgebildet; sie sind genaue und zuverlässige Wiedererzähler des Erlebten, das in seiner natürlichen Reihenfolge unverrückt bei ihnen haftet. Helle, kalte Köpfe, groß im Lernen und Aufnehmen von außen, manchmal Riesen an Auffassung. Es verzehrt sich bei ihnen alle Phantasie in Erkenntnistätigkeit. Sie träumen selten oder nie. Wagen sie sich an die Poesie, so zeichnen sie nur die Wirklichkeit ab, und malen dabei in überaus bleichen Farben. Und da sie das Meiste anlernend von außen gewinnen, so bleiben sie auch in der Beurteilung der Dinge meistens bei höchst nahe liegenden gegebenen Standpunkten stehen, lieben weder das Kühne und Unternehmerische, nocht auch das Tiefsinnige und Unerwartete. Solche Menschen haben immer ein sehr ruhiges Blut, verbunden mit großem Widerwillen gegen alle leidenschaftliche Aufregung. Und so ist es denn überall zu beobachten, im Leben wie in der Kunst, daß es die Gefühle und Stimmungen sind, aus denen die Schöpfung der Phantasiebilder als aus ihrer Ursache hervorgeht. Warum stellen wir alles, was der, welchem wir vertrauen, tut oder redet, sogleich ins rechte Licht? Warum stellt sich uns bei dem, welchem wir mißtrauen, er mag nun tun und reden, was er will, sogleich alles in umgedrehter und verschobener Form dar? Woher die große Verschiedenheit bei einer Wiedererzählung des Erlebten, bei Charakterschilderung fremder Persönlichkeiten, je nachdem wir mit ihnen befreundet oder verfeindet sind? Eine Wahrheit erscheint in einem ganz anderen Licht, je nachdem sie von einem Kirchenvater oder von einem Ketzer, von einem berühmten oder unberühmten Mann ausgesprochen ist. Im Auge der Sympathie wird Ärmlichkeit zur edlen Sprasamkeit, Unregelmäßigkeit der Züge zum Ausdrucksvollen; im Auge der Antipathie wird Festigkeit zum Eigensinn, edler Stolz zum Hochmut, Humanität zur Charakterschwäche. Überhaupt, sobald nur erst die Gefühle in Glut, die Affekte in Feuer gesetzt sind, dann ist es so viel, als ob der Kessel an der Maschine der Phantasie geheizt ist. Die Expansion des Dampfes und die Bewegung aller Kolben und Räder erfolgt nun ganz von selbst. Die Affekte und Gefühle in der Seele sind der Glutbrunnen, aus welchem Feuer, Süßigkeit und Lebensfrische fließen. Dieser Brunnen, in welchem Farben, Gerüche, Geschmäcke, Töne und alle Sinnesqualitäten vorbereitet schlafen, tut in den Bildern der Phantasie seinen Reichtum auf und erzeugt alle die Empfindungen von innen heraus, zu deren Hervorbringung wir überhaupt fähig sind. Und umgekehrt werden auch immer, sobald es gelingt, gewisse Phantasiebilder zu erregen, die Gefühle, Affekte, Stimmungen und diesen verwandten Triebe miterregt, ohne deren Erwachen das Phantasiebild nicht zustande kommt. Es erscheinen dann die Phantasiebilder als Tasten, um gewisse Gefühlstöne in uns anzuschlagen oder Handhaben um gewisse Triebe in Bewegung zu bringen, wobei das Maßgebende die Ähnlichkeit des Phantasiebildes mit dem sinnlichen Eindruck ist, durch welchen es geweckt wird. Der Prinz GONZAGA in Emilia Galotti stößt bei der Durchsicht einer Bittschrift auf den Namen Emilia; sogleich tritt das Bild der GALOTTI vor seine Seele und weckt den Trieb eines völlig blinden Mitleids: "Eine Emilia - BRUNESCHI - nicht GALOTTI - genug sie heißt Emilia - die Bitte sei gewährt" (14). Der berühmte Schauspieler PALMER in London hatte im Jahre 1798 fast zu gleicher Zeit seine Frau und seinen Sohn durch den Tod verloren, und war seitdem in tiefe Schwermut versunken. Als er hierauf, nach etlichen Wochen, auf dem Theater erschien, was sein Spiel, wie gewöhnlich, in den ersten Szenen wohl durchdacht und der Rolle anpassend. Da jedoch im dritten Akt ein Anderer ihn fragt: "Und deine Kinder?" sinkt PALMER, überwältigt vom Schmerz um seinen Sohn, zu Boden, seufzt nur noch einmal, und ist verschieden. (15) LEIBNIZ erzählt (16) von einem Italiener, welcher den Schmerzen der Folter dadurch widerstand, daß er während derselben das Bild des Galgens, an welchen ihn sein Geständnis gebracht haben würde, nicht einen Augenblick aus der Phantasie entweichen ließ. Um sich noch mehr hierzu zu ermuntern, rief er von Zeit zu Zeit: Io ti vedo! (Ich sehe dich!) Unweit Vinay starb 1854 ein mehr als neunzig Jahre alter Mann namens PIERRARD, der Zitterer (le trembleur) genannt, seinem Gewerbe nach ein Haarkräusler und weiland Tambour im Dienste der ersten französischen Republik. Er kommandierte als Tambourmajor die Tambours, als SANTERRE die Weisung gab, durch Trommelwirbel LUDWIGs XVI. Stimme auf dem Schaffott zu überdröhnen. Er hieß der Zitterer, weil er jedesmal heftig zu zittern anfing, wenn dieses Ereignisses Erwähnung geschah. (17) Der englische Admiral SANDERS erhub sich vom Lager, auf welches eine entkräftende Krankheit ihn niedergeworfen hatte, als die Nachricht kam, daß ihm von der Regierung das Kommando über die Flotte gegen Spanien übertragen sei. Er wusch sich, ging umher und erschien plötzlich munter und gesund. Als aber darauf der Anschein des Krieges und mit ihm die Zurüstungen wieder aufgehört hatten, legte sich der alte Seeheld alsbald wieder aufs Krankenlager und fiel in die vorige Entkräftung zurück. (18) An solchen und ähnlichen Fällen zeigt sich deutlich das Blinde und Unwillkürliche im Wirken der Phantasie, im Gegensatz zu Verstand und Willen. Die Phantasie wirkt ebenso unbewußt, wie die Kräfte der Schwere oder des Drucks. Das, worauf sie wirkt, ist sowohl der innere, als auch der äußere Leib. Sie wirkt aber immer durch Gefühl, Affekt und blinden Trieb. Gern ohne Zweifel hätte der Admiral SANDERS sich durch eigene Willenskraft die Stimmung der Seele forterhalten, welche ihn seine Krankheit vergessen ließ; aber diese Stimmung hing nicht an seinem Willen, sondern an den Phantasiebildern zukünftiger Siege, zu deren Erzeugung zwar jene äußeren Eindrücke, aber nicht sein bloßer Wille hinreichte. Gern ohne Zweifel hätte sich PALMER während des Spiels auf der Bühne der unwillkommenen Bilder seiner häuslichen Verlust entschlagen; aber der Stärke des Reizes, welcher sie weckte, kam die Stärke des sie hervorbringenden Affekts entgegen. Kann die Vernunft aber solcher blind wirkenden Macht in uns nicht entgegenwirken? Gewiß kann sie das, nur ist ihre Wirksamkeit an eine höchst lästige Bedingung geknüpft: sie erfordert nämlich Zeit. Die Phantasie wirkt blitzartig, die Besinnung kommt nachgehinkt. PALMER hätte sich gewiß nach wenigen Sekunden besonnen, um ruhig in seinem Spiel fortzufahren, wenn ihn nicht die Sekunde vorher vor Gemütsbewegung der Schlag getroffen hätte. Im ewigen Leben angelangt, besann er sich gewiß, aber da war es zu spät. Der Stoiker hätte ihm angeraten, sich früher zu besinnen, aber dieser Rat käme ebenso heraus, als wenn man dem vor Müdigkeit umsinkenden Wanderer riete, sich auf ein Pferd zu setzen, welches nicht bei der Hand ist. Nur der wäre berechtigt, einen solchen Rat zu erteilen, welcher auch zugleich das Pferd zur Stelle zu schaffen wüßte.
Diese Schwäche unserer Vernunft von der einen Seite her darf uns jedoch nicht entmutigen, sondern muß uns antreiben, die Hebel, welche wir im Besitz haben, um damit von der Vernunft aus anregend auf die Phantasie selbst einzuwirken, desto mehr in Tätigkeit zu setzen. Hier ist die wahrhafte Größe der Menschennatur, hier sind wir Herren über uns selbst, darum, weil hier die von der Vernunft geregelte Phantasie, sobald wir wollen, zum intelligenten Baumeister wird, sich eine innere Welt von Idealen und Schönheitsformen zu erbauen, welche nun in ebenso hohem Grad mit unaufhaltsamen Wirkungen auf unseren inneren Leib einfließen, als es die äußeren Eindrücke nur irgend zu tun imstande sind. Was will die wenn auch noch so unaufhaltsame Wirksamkeit der von Außen her geweckten Phantasiebildert viel bedeuten in einer Seele, worin die von Innen her wachen Ideale des Schönen, Guten und Wahren leben, welche eben so unaufhaltsam als Regulative für jene von Außen erweckten Bilder wirken? Man fürchte aus dieser Gewaltsamkeit höherer Phantasiewirkungen den niederen gegenüber keine Gefahr für unsere Freiheit. Denn ist dieses Sklaverei, wer wäre da nicht gern Sklave? Aber ein solche Gebundenheit in Ketten des Himmels ist nur allein durch angestrengte Vernunftarbeit, also nur durch den freiesten Gebrauch unserer spontanen Tätigkeit zu erlangen. Hier passen daher ganz IMMERMANNs Worte aus dem Merlin:(20)
Des Menschen Tat, die einzig kenntliche, Ist: Wissen sich im Stande der Erwählten. Der Glaube wirkt immer durch Phantasie. Durch ihn gewinnen die Ideen der Vernunft einen unwiderstehlichen Einfluß auf unseren inwendigen Leib, welcher, als selbst aus Phantasiestoff geformt, durch Phantasieeinflüsse umformbar ist. Der äußere Leibt ist fest, der Leib der Imagination ist variabel, und nimmt mit der Zeit die Gestalt an, welche wir ihm selbst geben. Daß der Glaube durch die Imagination wirkt, tut ihm in seiner Würde keinen Abbruch. denn die Ideale der Vernunft, welche in ihm walten, gehören selbst zu den Erzeugnissen der Phantasie. Haben doch auch selbst die Naturbegriffe aus der Phantasie, nämlich aus dem Material des inwendigen Leibes, ihren ersten Ursprung. Es wird eine Sache noch nicht dadurch phantastisch, daß sie in der Phantasie überhaupt, sondern dadurch, daß sie in einer ungezügelten Phantasie ihren Ursprung hat. Da die Phantasie der Vernunft alles Material erzeugt, womit dieselbe überhaupt arbeitet, so muß man sich der Ansicht der stoischen Philosophen, als ob beide Kräfte ihrer Natur nach einander entgegen arbeiteten, und als ob die Siege der Vernunft durch Niederlagen der Phantasie erkauft werden müßten, enthalten. Vielmehr ist der gesunde und richtige Zustand der, daß beide Seelentätigkeiten, so verschieden sie auch in ihrer Wurzel sind, doch nur durch gegenseitige Hilfeleistungen zur beiderseitigen Vollkommenheit gelangen können. Die Vernunft weiß zwar an und für sich selbst nichts von Phantasie. Denn sie ist reines Denken, freies Wählen und Prüfen zwischen Bildern und Vorstellungen. Das erzeugende Vermögen der Vorstellungen ist immer nur die Phantasie. Aber diese erzeugt beim Denken dieselben an den Stellen, wohin das Denken seine Aufmerksamkeit anhaltend richtet, und in diesem Sinne wird dann das Denken auf maßgebende Weise selbst ideenerzeugend genannt. Es geht hier wie beim Klavierspiel. Nicht die auf den Claves [Klaviertasten - wp] umherwandernden Finger bringen die Töne hervor, sondern die Saiten, aber die Saiten klingen an den Stellen, wohin die Finger auf ihrer Wanderung gelangen. Ähnlich wandert das Denken zwischen den Vorstellungen als ein Reiz, welcher die hervorbringenden Kräfte zur Hervorbringung ermuntert. Die Aufmerksamkeit ist beständig auf der Wanderung. Wo sie schnell vorübereilt, da verkümmert die Erzeugung. Wo sie hingegen mit Fleiß verweilt,, da ist ihr Verweilen für die aufkeimenden Gebilde der Phantasie wie eine wärmende Sonne. Sie gehen fröhlich auf und gedeihen. In dieser maßgebenden Weise ist die Vernunft Baumeisterin einer inneren Welt; in dieser maßgebenden Weise hat sie eine ideenschöpferische Tätigkeit. Die ideenschaffende Philosophie und die Ideale erzeugende Poesie stehen sich also nicht so gegenüber, als ob jene eine bloße Denktätigkeit, diese ein bloß Phantasietätigkeit wäre. Sie sind vielmehr beide beides. Das Denken regt auf methodische Weise die Phantasie an zur Erzeugung der Ideen, die Poesie läßt die Ideen in ihrer ganzen Phantasiefülle als Ideale auf das Gefühl und die Stimmung veredelnd zurückwirken. Das hieraus hervorgehende höchste Erzeugnis der Einbildungskraft ist der Mythos. Er steht zwischen der reinen Vernunftidee und dem poetischen Erzeugnis in der Mitte, ebensoviel Anteil habend am einen, wie am andern. Von ihm gilt, was PLATO im Phädon den SOKRATES sagen läßt; nachdem er gewisse mit Vernunftideen stimmende Mythen über die Unsterblichkeit der Seele vorgetragen hat. "Daß sich nun dies alles gerade so verhalte", spricht er (21), "das ziemt wohl einem Philosophen nicht zu behaupten; daß es aber entweder diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muß mit unseren Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele offenbar etwas Unsterbliches ist, dies, dünkt mich, zieme sich gar wohl, und lohne auch, es darauf zu wagen, daß man glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis, und man muß mit solcherlei gleichsam sich selbst besprechen." Der echte Mythos im platonischen Sinn ist nicht nur die poetische Ausschmückung eines abstrakten Gedankens, sondern er ist eine notwendige Ergänzung der vernunftgemäß schaffenden Tätigkeit der Phantasie auf einem Gebiet, wohin das abstrakte Denken ihr nicht weiter, als eine gewisse Strecke Weges folgen kann. Um den von der Vernunft angegebenen Begriff zu vervollständigen und zu verstärken, geht die Phantasie hier für sich selbst noch in derselben Richtung fort, und ergänzt so aus eigenen Mitteln das Gebilde, welches zwar nicht aus ihrem eigenen Antrieb entworfen ist, aber ohne diese Ergänzung nie zu einer inneren Anschaulichkeit gelangen würde. Die Grenze, wo die Erzeugung der Ideen auf Veranlassung der reinen Vernunft aufhört, und die Erzeugung der Mythen als ihre Fortsetzung aus ergänzender Einbildungskraft beginnt, ist freilich nicht für jedermann dieselbe. So z. B. verwandelt sich der Gedanke der Unsterblichkeit dem, welcher die psychologischen und metaphysischen Zusammenhänge desselben kennt, in eine festbegründet und methodisch entwickelbare Vernunftidee, während er dem, welchem jene Zusammenhänge dunkel sind, ein bloßer Mythos bleibt, an welchem aus gewissen praktische Interessen geglaubt und festgehalten wird. Ob nun jemand die Unsterblickeit im bloßen Glauben als Mythos oder auch zugleich in der Erkenntnis als entwickelte Vernunftidee hat, läuft zwar im praktischen Resultat auf eins hinaus; jedoch erfordert ein gesunder Zustand des Menschenlebens beide Formen mit gleicher Dringlichkeit. Denn der Mythos bedarf der Vernunftidee sowohl zu seiner Reinigung, als uach zu seiner Befestigung. Er würde ohne sie in den Rang einer bloßen willkürlichen Erdichtung herabsinken. Die Vernunftidee bedarf hingegen sowohl zu ihrer Belebung, als auch zu ihrer Verbreitung des Mythos. Denn sie würde ohne ihn zu einer bloßen Algebra oder Kabbala, zu einem kopfzerbrechenden Rechenexempel für die wenigen Eingeweihten herabsinken, welche sich mit diesen Dingen genauer befassen das Talent, den Trieb und die Muße besitzen. Daher reicht es für das praktische Bedürfnis der Menschheit aus, wenn die immer und in einem jeden Individuum wache mythenbildende Tätigkeit der Phantasie, welche der Anlage nach mit der ideenerzeugenden Tätigkeit derselben ganz zusammenfällt, in den Bahnen des Vernunftgemäßen nur überhaupt festgehalten wird. Denn je mehr es gelingt, sie innerhalb dieser Bahnen zu fesseln, desto mehr hebt sich im Mythos der Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit auf, desot mehr wird der Mythos zum Spiegelbild derjenigen Erzeugnisse der Einbildungskraft, welche aus ihr hervorgehen müssen, wenn sie in eine höhere Erkenntnissphäre versetzt, und in dieser auf ähnliche Art wahrnehmend und anschauend wird, wie sie jetzt in der irdischen Sphäre die wahrnehmende und anschauende Tätigkeit ist. Mythen im höchsten und vollendeten Sinn des Wortes würden daher vorausgenommene Wahrnehmungen und Anschauungen aus einem höheren Lebenskreis wahrnehmender und auffassender Phantasietätigkeit sein, Spiegelbilder aus vollkommeneren inneren Anschauungen verschärfter Sinne, herabgesunkten in diesen niederen Erdspiegel des abgestumpften Sinns. In diesem Sinne sagt PLATO im Phädrus (22): "Sich bei dem Hiesigen an Jenes zu erinnern, ist nicht Jedem leicht, weder denen, die das Dortige nur kümmerlich sahen, noch denen, welche, nachdem sie hierher gefallen, ein Unglück betroffen, daß sie irgendwie durch Umgang zum Unrecht verleitet, das ehedem geschaute Heilige in Vergessenheit gestellt; ja wenige bleiben übrig, denen die Erinnerung stark genug beiwohnt. Diese nun, wenn sie ein Ebenbild des Dortigen sehen, werden entzückt, und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig; was ihnen aber eigentlich begegnet, wissen sie nicht, weil sie es nicht genug durchschauen." Es geht zugleich hieraus der eigentliche Wert der Dichtkuns für's Menschenleben hervor. Die Dichter sind die Gärtner der Phantasie, welche ihre wilden Gewächse veredeln, und die niederen Gebilde, mit denen eine durch die Enge des Lebens blindlings gereizte Phantasie in Aberglauben und Irrtum wuchert, verdrängen durch höhere, veredelte, und durch eine geflissentliche Gefühlskultur zu den gewaltigsten Wirkungen bewaffnete Ideale, so daß, wo diese erscheinen, sowohl wegen ihrer höheren Reize, als stärkeren Gewalt jene niederen dagegen erbleichen, ohne dauernden Bestand und Wirksamkeit. Die Dichter bevölkern unsere Phantasie mit den vor der Vernunft feuerbeständigen Gestalten einer höheren Welt, deren Vorführung mit dem Zauber beschwichtigender Gesänge auf uns wirkt, wenn wir in wilden Phantomen entgegengesetzter Art unterzusinken in Gefahr kommen. Von den Dichtern vor allen gelten daher die Worte des GIORDANO BRUNO (23):
Dorthin dich zu geleiten, ist erlesen Ein Führer, den nur blind die Blinden nennen.
1) GOETHEs Faust, Vorspiel, Werke XI, 1840, Seite 10 2) HOMER, Jlias XX, 244f 3) SHAKESPEARE, Richard II. 1. Aufzug, 3. Auftritt 4) SHAKESPEARE, Heinrich VIII, 3. Aufzug, 6. Auftritt 5) HOMER, Odyssee V, Seite 486f 6) HOMER, Odyssee XX, Seite 23f 7) GOETHEs Werke XI, 1840, Seite 61 8) TIEDGEs Werke V, von EBERHARD, Seite 61 9) BAYARD TAYLORs "Reise nach Zentralafrika, von Ägypten bis zu den Negerstaaten am weißen Nil." Deutsch von ZIETHEN, Leipzig 1855, Seite 156. Daß die Wüste mit ihrer Glut und Einöde überaus geeignet ist, die Phantasie zu Sinnestäuschungen aufzuregen, geht auch hervor aus dem von demselben Reisenden berichteten Glauben der Araber, daß es allerdings Teufel in der Wüste gebe, daß man sie aber nur dann zu sehen bekomme, wenn man allein reise (also wenn die Phantasie von Affekt und Besorgnis stärker aufgeregt ist). 10) Vgl. "Das Ausland" vom 5. September 1856: Die Bambuswälder Hinterindiens, nach dem Bericht eines Deutschen im San-Francisco-Journal. "Überwältigend ist der Eindruck" - fügt derselbe Berichterstatter hinzu - "den ein geschlossener Bambuswald hervorbringt. In starrer, fast architektonischer Regelmäßigkeit streben die Rohrpfeiler empor, jeder einzelne Pfeiler wieder ein Agglomerat verschiedener riesenhafter Rohrschafte, die hoch oben, nach allen Richtungen sich auseinander neigend, mit den Schaften des benachbarten Pfeilers gothische Spitzbögen bilden. In den Kreuzgängen dieser Haine ist die Erde rein von allem anderen Pflanzenwuchs; eine kühle feuchte Luft, wie in Kirchen, errinnert an unsere Dome, und die Täuschung wird noch erhöht, wenn der Abend seine Streiflichter durch die dichten Laubkronen sendet. Auf dem pflanzenleeren Boden erglühen dann Figuren, wie vergitterte Bogenfenster, die der Sonnenschein auf das Steinpflaster unserer Kathedralen malt." 11) GOETHE, Rom, 6. Januar 1787. Sämtliche Werke XXIII, 1840, Seite 189 - 193 12) Die goldene Schmiede des Conrad von Würzburg, hg. von WILHELM CARL GRIMM. 13) KALEWALA, das Nationalepos der Finnen, nach der zweiten Ausgabe ins Deutsche übertragen von ANTON SCHIEFNER, Helsingfors 1852. Erste Rune, 65f
Sang gab mir der Regenschauer, Andre Lieder brachten Winde, Brachten mir des Meeres Wogen, Worte fügten mir die Vögel, Sprüche schuf des Baumes Wipfel.
Fing als Vöglein an zu wandern, Still am Boden hinzuschreiten, Mühvoll meinen Weg zu wandeln, Lernte jeden Wind da kennen, Jedes Brausen sich begreifen, In dem Froste lernt' ich zittern, In der Kälte lernt' ich klagen. 15) Vgl. GOTTHILF HEINRICH von SCHUBERT, Geschichte der Seele, Seite 826 16) LEIBNIZ in den Nouveaux Essais. liv. 1 c. 2 § 11. Vgl. SCHOPENHAUER "Parerga und Paralipomena I", Seite 419 17) Blätter von der Saale 7, Dezember 1854 18) Vgl. SCHUBERTs Geschichte der Seele, Seite 820 19) SCHOPENHAUER, Paränesen und Maximen, in "Parerga und Paralipomena I", Seite 419 20) KARL IMMERMANN, Merlin - eine Mythe, Worte LOHENGRINs, Düsseldorf 1832 21) PLATOs "Phädon" in der Übersetzung von SCHLEIERMACHER, Seite 114 22) PLATOs "Phädrus" in der Übersetzung von SCHLEIERMACHER, Seite 250 23) Vgl. MORIZ CARRIERE, Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit, Seite 391 |