tb-1ra-2N. MladenW. OstermannL. P. BoggsH. DietzelA. Walsemann    
 
LEONARD NELSON
Die Theorie
des wahren Interesses


"Für die Entscheidung über die Rechtlichkeit einer Handlung kommt es nur auf die Abwägung der miteinander kollidierenden Interessen der von der Handlung betroffenen Personen an. Wonach soll aber entschieden werden, welches Interesse vorzuziehen ist? Was ist das Kriterium der Vorzugswürdigkeit eines Interesses?"

"Die  Unveräußerlichkeit  des Rechts auf Selbstbestimmung kann durch keinen Vertrag und durch kein positives Gesetz eingeschränkt oder aufgehoben werden. Wenn sich also jemand als Sklave verkauft, so hat dieser Vertrag keine Rechtskraft. Und wenn auch ein ganzes Volk durch Parlamentsbeschluß darin einwilligt, von Priestern bevormundet zu werden, so ist dieser Beschluß null und nichtig."


Vorwort

Die vorliegende Abhandlung ist die Wiedergabe eines Vortrags, der im Kreise der FRIES'schen Schule am 6. März 1913 in Göttingen gehalten worden ist.

Für diejenigen, die sich für die historischen Zusammenhänge der vorgetragenen Theorie interessieren, sei hier noch folgendes bemerkt.

Eine Hindeutung auf den Begriff des wahren Interesses findet sich schon im Sokratisch-Platonischen Satz, daß die Tugend auf einem Wissen beruhe. Die tiefe psychologische Wahrheit dieses Satzes, die bestehen bleibt, wenn man ihn von aller intellektualistischen Mißdeutung befreit, kann sich erst zeigen, wenn man die Lehre von der ursprünglichen Dunkelheit der rein-vernünftigen Erkenntnis, wie sie von FRIES für die Theorie der spekulativen Vernunft entwickelt worden ist, auf die Theorie der praktischen Vernunft ausdehnt.

Von Seiten der Rechtslehre hat sich, soviel ich sehe, zuerst und allein KANT der Idee des hier abgeleiteten "Naturrechts" angenähert. In seiner Schrift "Was ist Aufklärung?" spricht er schon von der Unveräußerlichkeit des Rechts auf persönliche Selbstbestimmung, wenn acuh, ohne eine Begründung für seine Behauptung zu geben. In KANTs systematischen Darstellungen der praktischen Philosophie findet dieses Recht dagegen keine Stelle. Und es  kann  in seinem System auch konsequenterweise keine Stelle finden, da nach ihm jedes Interesse und folglich auch aller Inhalt von Rechten nur empirischen Ursprungs ist.

Er lehrt zwar ein Aufsichtsrecht des Staates über die Kirche, leitet dies aber nur aus der Aufgabe des Staates, die Sicherheit der bürgerlichen Ordnung betreffend, ab und gelangt so nicht zu einem Verbot der künstlichen Bevormundung. Eine Pflicht aus der Rücksicht auf die Vervollkommnung anderer gibt es in seinem System nicht. Eine solche Pflicht würde nach seiner Meinung sogar einen Widerspruch einschließen, da die Selbstbestimmung des einzelnen nur von ihm selber abhänge. Es bleibt nach ihm keine weitere Pflicht gegen andere übrig als die der Förderung ihrer Glückseligkeit.

FRIES ist KANT gegenüber dadurch im Vorteil, daß er neben dem sinnlichen Trieb einen "reflektierten Trieb" als Vollkommenheitstrieb annimmt. Der Ursprung dieses Triebes wird bei ihm aber nicht recht klar. Da er die Ansicht vom reinen Ursprung dieses Triebes nicht durchführt, so kann er auch ihn auch nicht die Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum anwenden. Damit verfehlt er die Lehre vom wahren Interesse und es gibt auch bei ihm kein Verbot künstlicher Bevormundung; wie er denn auch das Recht nur einseitig der  Gewalt  entgegensetzt. FRIES tritt zwar in seinen politischen Lehren mit Entschiedenheit den Toleranz-Prinzipien des älteren Liberalismus entgegen; aber man sieht bei ihm nicht, inwiefern der Staat aus  rechtlichen  Gründen zu Eingriffen in die Freiheit der einzelnen ermächtigt ist, nicht aber um unmittelbar gegen Irrtum und Aberglauben zu schützen.


I.

Das  Problem,  um das es sich in den folgenden Betrachtungen handeln soll, tritt am deutlichsten zutage, wenn man von der gewöhnlichen Formulierung des Sittengesetzes ausgeht. Danach kommt es für die Entscheidung über die Rechtlichkeit einer Handlung nur auf die Abwägung der miteinander kollidierenden Interessen der von der Handlung betroffenen Personen an. Wonach soll aber entschieden werden, welches Interesse vorzuziehen ist? Was ist das Kriterium der Vorzugswürdigkeit eines Interesses. Meistens wird man das stärkste Interesse vorziehen. Aber doch kann die Stärke nicht das Ausschlaggebende sein, denn es erscheint uns oft als erlaubt oder sogar geboten, ein stärkeres Interesse zugunsten eines schwächeren zu verletzen.

Man kann hier  drei  Fälle unterscheiden.

Der deutlichste ist der, daß wir  verbrecherische Absichten  nicht achten, sondern den Verbrecher ohne Rücksicht auf die Stärke seines Interesses in seiner Freiheit beschränken. Wie verträgt sich das mit dem Sittengesetz? Der Verbrecher ist doch auch eine Person, deren Interessen zu berücksichtigen sind. Auf diese Frage haben manche Philosophen keine Antwort gewußt und sind dadurch auf eine anarchistische Rechtslehre geführt worden.

Der zweite Fall wird schon weniger leicht beachtet. Er tritt dann ein, wenn das Interesse der Person, mit der wir es zu tun haben, durch einen  Irrtum  veranlaßt wird. Jemand hat z. B. ein Interesse daran, eine Speise zu genießen, weil er nicht weiß, daß sie vergiftet ist. Wäre er nicht in diesem Irrtum befangen, so würde er ein solches Interesse nicht haben. Teilen wir diesen Irrtum nicht, so halten wir es für unsere Pflicht, das sogenannte "wohlverstandene" Interesse des anderen zu berücksichtigen. Gelingt es uns nicht, ihn über seinen Irrtum aufzuklären, so fühlen wir uns sogar berechtigt oder selbst verpflichtet, ihn mit  Gewalt  an der Befriedigung seines Interesses zu hindern.

Der dritte Fall führt uns schon auf das eigentliche Thema. Es gibt gewisse "minderwertige" Interessen, z. B. Geiz, Habgier, Eitelkeit, Neid, Eifersucht, auf die Rücksicht zu nehmen wir uns nicht verpflichtet halten. Wir fragen in diesem Falle gar nicht erst, ob ein solches Interesse stark oder schwach ist. Es erscheint uns z. B. einem eitlen Menschen gegenüber nicht als Unrecht, wenn wir seinen Prahlereien nicht zuhören, ihm mag noch so sehr daran gelegen sein, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln. Andererseits gibt es auch sogenannte "höhere" Interessen, die wir anderen, an sich nicht minderwertigen Interessen vorziehen. Die Höhe wird hier durchaus nicht nach der Stärke bemessen. Es erscheint uns z. B. unter Umständen als die unrechtmäßige Verletzung eines höheren Interesses, wenn wir einen anderen in seiner künstlerischen Produktion stören durch die Befriedigung eines, wenn auch stärkeren eigenen Interesses.

Wie sind nun diese drei Fälle zu beurteilen und mit dem Sittengesetz in Einklang zu bringen?

Der erste Fall läßt sich ohne weiteres nach dem Sittengesetz erledigen. Das verbrecherische Interesse ist ja ein widerrechtliches, d. h. ein solches, in dessen Befriedigung wir nach dem Sittengesetz selber nicht einwilligen dürften, auch wenn es das unsere wäre. Wir sind also nicht verpflichtet, ein solches Interesse zu achten.

Die zweite Schwierigkeit läßt sich ebenso leicht auflösen. Wenn ich mich in die Lage des anderen hineinversetze, dessen Interesse nur auf einem Irrtum beruth, so kann ich, der ich die Sachlage besser kenne, in die Verletzung dieses Interesses einwilligen; ja in Fällen wie dem vorhin als Beispiel herangezogenen könnte ich  nicht  einwilligen, daß diese Verletzung  nicht  geschähe. Die Verletzung des fraglichen Interesses ist dann also nicht nur erlaubt, sondern sogar Pflicht. Das Interesse, das durch diese Handlung wirklich verletzt wird, nämlich das augenblickliche Interesse am Genuß der Speise, ist ja schwächer als das Interesse an der Erhaltung des Lebens.

Es bleibt also allein der dritte Fall übrig. Um nun hier die Untersuchung an bestimmtere Vorstellungen anzuknüpfen, wollen wir die typischen Formen, in denen er möglich ist, einzeln betrachten. Es handelt sich hier allemal darum, daß durch die Rücksicht auf den Wert oder Unwert eines Interesses die Entscheidung nach der bloßen Stärke der Interessen modifiziert wird.

Der erste Fall ist dadurch charakterisiert, daß die  Minderwertigkeit  des stärkeren Interesses die Pflicht aufhebt, es dem kollidierenden schwächeren Interesse vorzuziehen. Unter diesen Fall gehört das vorhin angeführte Beispiel. Was nun minderwertige Interessen sind, ist nachher zu untersuchen.

Im zweiten Fall steht auf der einen Seite ein  höheres  Interesse, während auf der anderen Seite ein stärkeres und (für sich betrachtet) nicht notwendig minderwertiges steht. Hier kann die Befugnis oder auch die Pflicht entstehen, das schwächere Interesse dem stärkeren vorzuziehen. Nehmen wir z. B. zwei Zimmernachbarn, von denen der eine mit einem Freund ohne höheren Zweck eine laute Unterhaltung führt, während der andere musiziert. Bei der hier entstehenden Interessenkollision ziehen wir das wertvollere Interesse an der Musik dem anderen an der bloßen Unterhaltung vor. Ein anderes Beispiel liefert der folgende Fall. Es war ein Gesetz beantragt worden, das die Aufstellung von Plakaten an beliebigen Orten verbietet, da sie die Schönheit der Landschaft verderben und dadurch den Naturgenuß der Reisenden beeinträchtigen. Dagegen erhob sich ein Protest der Geschäftsleute, die erklärten, ein berechtigtes Interesse an einer möglichst umfangreichen Reklame für ihre Waren zu haben. Auf einer Versammlung wurde dann folgender Beschluß gefaßt: Es sei bei der Aufstellung von Plakaten allerdings darauf Rücksicht zu nehmen, daß man nicht hervorragend schöne Landschaften verderbe. Der Reisende habe ein Recht darauf, daß man ihm seine Freude an der Natur nicht störe. Andererseits dürfe man mit dieser Rücksicht aber auch nicht zu weit gehen; das Interesse am Naturgenuß beim Eisenbahnfahren z. B. sei nicht wichtig genug, um dem stärkeren Interesse der Geschäftsleute an der Bekanntmachung ihrer Waren vorgezogen zu werden. Hierin spricht sich das Gefühl für den Unterschied von Stärke und Wert der Interessen deutlich aus. Hierher gehört auch das berühmte Beispiel der Planke des KARNEADES. Zwei Schiffbrüchige klammern sich an eine Planke, die nur einen tragen kann. Um zu entscheiden, wer diese Planke allein besitzen soll, kommt es nicht nur darauf an, wer das stärkere Interesse am Leben hat, sondern auch, wer das wertvollere hat. Wäre etwa der eine von beiden ein Taugenichts, der andere eine hochstehende Persönlichkeit, so würden wir diesem das Recht zubilligen, den anderen ins Wasser zu stoßen, auch wenn er selbst sich nicht weniger vor dem Tode fürchtete. Man warf früher diesem Beispiel vor, daß es zu wenig dem Leben entspreche. Mit Unrecht, denn wenigstens seit der berühmten Titanic-Katastropfe ist das Problem der Rangordnung bei der Rettung Schiffbrüchiger geradezu populär geworden. Wenn bei einem solchen Unglück der Kapitän bestimmt, daß zuerst die Passagiere und von diesen zuerst die Frauen gerettet werden sollen, so billigen wir diese Entscheidung nur darum, weil die Anwendung eines anderen Auswahlprinzips im allgemeinen unmöglich ist. Die Mannschaft begeht ja sicher kein Unrecht, wenn sie auf die eigene Rettung verzichtet und den Passagieren den Vorzug gibt, denn gegen sich selbst kann man kein Unrecht tun. Aber dieses Verfahren ist doch nur ein Notbehelf angesichts der Unmöglichkeit, den persönlichen Wert der einzelnen Personen objektiv abzuschätzen. Wenn wir die Mannschaft und die Passagiere hinreichend genau kennten, so würden wir nicht so entscheiden, sondern jene mit den wertvollsten Interessen am Leben vorziehen.

Im dritten Fall stehen auf  beiden  Seiten mehr oder weniger  wertvolle  Interessen. Hier kann es Pflicht sein, das wertvollere Interesse dem weniger wertvollen, aber stärkeren vorzuziehen. Modifizieren wir eins der vorigen Beispiele so, daß beide Teile wertvolle Interessen haben. Nehmen wir an, daß von den beiden Zimmernachbarn der eine, statt eine zwecklose Unterhaltung zu führen, sich im Pistolenschießen übt, wodurch der andere gewiß nicht weniger im Musizieren gestört wird. Wir geben der Ausbildung jeder Geschicklichkeit einen Wert und ziehen unter sonst gleichen Umständen den Geschickteren dem weniger Geschickten vor. Aber wir werden das Interesse an der Ausbildung einer musikalischen Fertigkeit dem an der Geschicklichkeit im Schießen vorziehen, auch wenn dieses vielleicht einen Grad der Leidenschaft erreicht hat, dem jenes weit nachsteht.

Der vierte Fall ist der für uns beachtenswerteste. Es kann Pflicht sein, daß wir ein Interesse zurücksetzen,  ohne  daß ihm auf der anderen Seite überhaupt ein wirkliches Interesse gegenübersteht. Dies tritt ein, wenn ein nur mögliches Interesse auf der anderen Seite einen hinreichend hohen Wert hat. Angenommen etwa, Eltern oder Erzieher haben ein Interesse daran, ein Kind in der wohlwollendsten Weise zu bevormunden und das mache ihnen so viel Freude, daß sie das Kind nicht selbständig werden lassen, damit es sich nicht ihrer Obhut entziehe. Dies erscheint uns als eine Pflichtverletzung der Eltern. Aber welches Interesse verletzen sie dann? Das Kind hat ja gar kein Interesse an seiner Selbständigkeit, es fühlt sich im Gegenteil unter der Obhut seiner Erzieher um so wohler, je mehr es durch sie jeder Anstrengung, für sich selbst zu sorgen, enthoben ist. Auch die Rücksicht auf das spätere Interesse des Kindes kann nicht ausschlaggebend sein; denn die Eltern können es durch eine geschickte Bevormundung dahin bringen, daß das Kind Zeit seines Lebens so unselbständig bleibt, daß nicht einmal der  Wunsch  nach Selbständigkeit in ihm rege wird. Aber in diesem Falle würden wir gerade eine Schuld der Eltern darin sehen, daß sie das Erwachen des Dranges nach Selbständigkeit beim Kind verhindern.

Das sind die möglichen Typen von Fällen, in denen die Materie der Pflicht durch die Berücksichtigung des Wertes der Interessen modifiziert wird.

Es drängt sich hier die Frage auf, ob man vielleicht bei der Abwägung der Interessen ihre Stärke ganz vernachlässigen und sich auf die Betrachtung ihres Wertes beschränken kann. Daß das nicht möglich ist, zeigt eine genauere Betrachtung der zum zweiten und dritten Typus gehörigen Fälle. Nehmen wir nur z. B. an, daß von den beiden Zimmernachbarn, deren einer musiziert, der andere krank und ruhebedürftig ist und unter dem Anhören der Musik leidet, so werden wir es im allgemeinen als Pflicht des ersten ansehen, das Musizieren zu unterbrechen. Hieraus sieht man, daß die Vernachlässigung der Stärke nur bis zu einer gewissen Grenze gehen darf. Wir kommen also zu dem Schluß, daß sich die Vorzugswürdigkeit weder allein nach der relativen Stärke noch allein nach dem relativen Wert der Interessen richtet.

Hier entstehen daher die Fragen:
    1. Welches ist das Kriterium des Wertes eines Interesses?

    2. Wie ist es möglich, etwas so Heterogenes wie Wert und Stärke der Interessen zu vergleichen?

    3. Wie läßt sich die Rücksicht auf den Wert der Interessen mit dem Sittengesetz in Einklang bringen? Nach dem Sittengesetz kommt es darauf an, ob wir in unsere Handlung einwilligen könnten, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch die unsrigen wären. Die Möglichkeit unserer Einwilligung hängt doch aber nur von der Stärke unserer Interessen ab.

II.

Um zunächst zu untersuchen, was wir eigentlich unter dem Wert eines Interesses verstehen und nach welchem Prinzip wir diesen Wert beurteilen, wenden wir das Verfahren der  Abstraktion  an, indem wir von unseren faktischen Urteilen ausgehen und deren Voraussetzungen zergliedern.

Wenn wir über den Wert eines Interesses urteilen, so tun wir das aufgrund eines anderen  Interesses,  das wir selber am beurteilten Interesse haben. Dieses andere Interesse zeichnet sich nun dadurch aus, daß es die Behauptung eines Wertes einschließt; diese Behauptung ist es eigentlich, die wir im Urteil wiedergeben. Dieses Urteil ist objektiv insofern, als wir seinem Gegenstand einen Wert zuschreiben, der ihm unabhängig davon zukommt, daß  wir  gerade ein Interesse an diesem Gegenstand haben. Nicht alle Interessen sind von dieser Art. Wenn uns der Geschmakc einer Speise angenehm ist, so ist das Interesse daran nicht objektiv, sondern bezieht sich nur auf unseren Empfindungszustand. Dem Gegenstand wird dadurch nur insofern ein Wert zugeschrieben, als er uns Genuß verschafft und also Gegenstand unseres Interesses ist. Wenn wir dagegen der Ehrlichkeit einen Wert zuschreiben, so meinen wir damit nicht, daß wir gerade ein Interesse an der Ehrlichkeit haben, sondern daß der Ehrlichkeit ansich ein Wert zukommt. Das Interesse, das wir an der Ehrlichkeit haben, schließt schon diese Behauptung ihres Wertes ein.

Wir müssen also zwei Klassen von Interessen unterscheiden, die wir als  subjektive  und  objektive  bezeichnen können. Diese schließen eine Behauptung ein, die wahr oder falsch sein kann, während jene sich in ihrem bloßen Dasein erschöpfen. Die einen hängen von der Einsicht der Menschen ab, die anderen dagegen nur von der Art, wie er empfindet. Die einen können gebildet, die anderen höchstens modifiziert werden. Wenn jemand Geschmack am Rauchen findet, nachdem er zuerst dabei Übelkeit empfand, so sehen wir darin keine Berichtigung eines Irrtums. Gewinnt dagegen jemand Interesse am Lesen guter Bücher, der sich vorher seine freie Zeit nur durch Kartenspielen zu vertreiben wußte, so beurteilen wir dies als einen Fortschritt seines Verständnisses.

Hieraus folgt ein für die Anwendung wichtiger Satz. Wenn sich der Wert des Gegenstandes des subjektiven Interesses nur durch die Stärke dieses Interesses bestimmt, so muß auch die Stärke des Interesses dem Wert des Gegenstandes notwendig entsprechen. Im anderen Fall behaupten wir dagegen, daß der Gegenstand einen Wert hat, der ihm unabhängig von unserem Interesse zukommt. Hier braucht sich also das stärkere Interesse nicht notwendig auf den wertvolleren Gegenstand zu beziehen.

Wenn wir nun nach dem Kriterium für die Beurteilung des Wertes der Interessen fragen, so finden wir, daß diese Beurteilung, wenn sie in besonnener Weise erfolgt, sich nur insofern auf einzelne Lebensäußerungen bezieht, als diese im Zusammenhang mit dem Ganzen unseres Lebens stehen und zum Wert dieses Ganzen beitragen. Dem Studium guter Bücher z. B. geben wir nicht an und für sich einen festen Wert, sondern schätzen es nur insofern, als es den einzelnen belehrt und auch das nur, insofern es dadurch seine Gesamtpersönlichkeit bereichert. Daher richtet sich auch unsere Schätzung nicht unmittelbar nach dem Grad der Belehrung, sondern sie hängt davon ab, wie weit wissenschaftliche Arbeit überhaupt zum Ganzen gerade  seines  Lebens paßt.

Insofern nun die Befriedigung (oder Verletzung)  jedes  Interesses ein Element im Ganzen unseres Lebens ist, kann sie objektiv gewertet werden. So gehört es z. B. zum Wert des Lebens, daß der Mensch nicht mit seinen sinnlichen Interessen im Kampf liegt, sondern daß er sie hinreichend befriedigt, um die Möglichkeit zu haben, sich auch höheren Interessen zuzuwenden.

Hier zeigt sich nun der Grund der Möglichkeit einer Vergleichung der Stärke mit dem Wert der Interessen. Wir führen die Vergleichung von Interessen überhaupt auf die Vergleichung von objektiven Interessen zurück, indem wir folgendes Kriterium aufstellen: Die Vorzugswürdigkeit eines Interesses gegenüber kollidierenden bestimmt sich durch die relative Stärke des Interesses, das eine vollkommen gebildete Person an seiner Befriedigung haben würde, wenn unter einer vollkommen gebildeten Person eine solche verstanden wird, die einerseits über vollkommene Einsicht verfügt und andererseits stets das als wertvoller Erkannte dem als weniger wertvoll Erkannten vorzieht. (Die vollkommene Einsicht ist nötig, um das angemessene Interesse an einem Gegenstand zu haben, denn das objektive Interesse hängt von der Einsicht ab. Ferner ist aber auch notwendig, daß dieses Interesse für den Willen bestimmend ist.)

Die Richtigkeit einer rechtlichen Entscheidung hängt demnach von der Bildung des Urteilenden ab. Zur Bestimmung der Materie der Pflicht (oder des Inhalts des Rechts) genügt es nicht, nur den Tatbestand genau zu kennen, sondern um auch die Werte abwägen zu können, bedarf es der Ausbildung des Urteils über den Wert des Lebens überhaupt oder kurz der "praktischen Lebensansicht". - Die Moralität ist natürlich von dieser praktischen Lebensansicht unabhängig. Damit eine Handlung moralisch ist, ist ja nur notwendig, daß sie der subjektiven Überzeugung entspricht; eine ganz andere Frage ist es, ob diese Überzeugung richtig ist.

Hiermit sind die Fragen nach der Regel des Wertes eines Interesses und nach der Vergleichbarkeit von Stärke und Wert der Interessen beantwortet. Es bleibt noch die Frage übrig, wie sich die Rücksicht auf den Wert der Interessen mit dem Sittengesetz in Einklang bringen läßt. Wir können sie jetzt nach demselben Prinzip entscheiden wie jene Frage, die sich bei Betrachtung des wohlverstandenen Eigen-Interesses ergab. So wie dort das Interesse mit der Stärke ins Gewicht fällt, die es durch die Berichtigung des theoretischen Irrtums erhalten würde, so kommt hier noch die Korrektur des praktischen Irrtums hinzu.


III.

Die Frage nach der Berechtigung der durch die ausgeführte Abstraktion aufgewiesenen Voraussetzungen läßt sich nur entscheiden durch den Beweis der Existenz einer ihnen zugrunde liegenden unmittelbaren Erkenntnis, also durch eine  Deduktion.  Das Wort "Erkenntnis" wird hierbei im weiteren Sinne verstanden, indem man auch von einer praktischen Erkenntnis sprechen und also auch ein Interesse, insofern es auf Objektivität Anspruch macht, eine Erkenntnis (von Werten nämlich) nennen kann. In der Tat kann die fragliche Erkenntnis nur eine Werterkenntnis und also ein Interesse sein. Zu Bewußtsein kommt uns dieses Interesse nur im Urteil und also nur durch Reflexion; wenn auch nicht in der Form eines  abstrakten  Urteils, so doch in der Form eines  Wertgefühls.  Das subjektive Interesse kommt uns dagegen unabhängig von der Reflexion zu Bewußtsein, wenn wir es auch mittelbar im Urteil wiedergeben können. Nun sieht man aber, daß, wie hier dem Urteil ein subjektives Interesse zugrunde liegt, so auch im anderen Falle dem Urteil, das einen objektiven Wert behauptet, ein Interesse zugrunde liegen muß. Denn die Reflexion ist für sich nur ein logisches Vermögen und das Moment der  Schätzung,  das hier im Urteil zutage tritt, ist ansich der Reflexion völlig fremd. Aus der Reflexion stammt nur die Form des Urteils; der Gehalt muß schon für das theoretische Urteil aus einer anderen Quelle entlehnt werden und also erst reht auch für das praktische Urteil. Wenn daher auch das objektive Interesse nur durch Reflexion zu Bewußtsein kommen kann, so  entspringt  es doch darum ebensowenig  aus  der Reflexion wie das subjektive Interesse.

Wie wir unter den Erkenntnissen anschauliche und nicht-anschauliche unterscheiden, so müssen wir eine entsprechende Einteilung der Interessen vornehmen. Interessen, die unmittelbar bewußt sind, wollen wir "intuitive" Interessen, solche, die nur mittelbar (durch die Reflexion) bewußt werden, "nicht-intuitive" Interessen nennen. Das fragliche Interesse kommt uns nur durch Reflexion zu Bewußtsein: es ist ein nicht-intuitives Interesse.

Wir müssen also von der reflektierten Form des objektiven Interesses noch das unmittelbare objektive Interesse selbst unterscheiden und dieses ist, obgleich ein nicht-reflektiertes, so doch kein intuitives, sondern ein  ursprünglich dunkles Interesse. 

Wir setzen hier natürlich das Selbstvertrauen der Vernunft voraus, wenn wir den Existenzbeweis eines unmittelbaren Interesses für ausreichend zur Begründung seines Rechtsanspruchs halten.

Welcher Art ist nun dieses objektive Interesse? Wir kennen drei Arten von Schätzungen: sinnliche, sittliche, ästhetische. Sollte hier eine vierte Art vorliegen? Das untersuchte objektive Interesse kann nicht zur ersten Gruppe gehören, wie aus dem sowohl intuitiven als auch subjektiven Charakter der sinnlichen Interessen hervorgeht. Es ist vielmehr ein reines oder intellektuelles Interesse. - Zur zweiten Gruppe kann es nicht gehören, da wir es hier mit einer positiven Wertung zu tun haben, während die sittliche Schätzung nur negativen Charakter hat, wie dies bei der imperativischen Form, die das Wesen des sittlichen Urteils ausmacht, auch nicht anders sein kann. - Gegen die dritte Möglichkeit, daß das fragliche Interesse ästhetisch ist, scheint vielerlei zu sprechen. Zunächst gilt die ästhetische Schätzung als interesselos und das im doppelten Sinne. Erstens insofern sie von der Existenz des Gegenstandes unabhängig ist, nach der Lehre vom ästhetischen Schein und zweitens insofern sie die Möglichkeit eines ästhetischen Begehrens ausschließt, nach dem Wort: "Die Sterne, die begehrt man nicht, man erfreut sich ihrer Pracht." Ferner spricht dagegen die Unauflösbarkeit des ästhetischen Gefühls; das Interesse, mit dem wir es hier zu tun haben, läßt sich in Urteilen wiedergeben, die eine weitgehende logische Reduktion gestatten. So läßt sich z. B. die Schätzung der Geduld auf die der Selbstbeherrschung, die Schätzung der Ehrlichkeit auf die der Wahrheitsliebe zurückführen.

Diese Einwände gegen den ästhetischen Charakter des fraglichen Interesses sind indessen nicht stichhaltig. Was zunächst die behauptete Unabhängigkeit der ästhetischen Schätzung von Existenz betrifft, so werden hier zwei Bedeutungen des Wortes "Existenz" verwechselt. Existenz im physikalischen Sinn kann allerdings für den ästhetischen Gegenstand nicht gefordert werden, da ihre Bestimmung begriffliche Kriterien, nämlich Naturgesetze, voraussetzt, während es für den ästhetischen Gegenstand genügt, daß er anschaulich gegeben ist. Daß z. B. die Erscheinung des Regenbogen im physikalischen Sinne nichts Wirkliches ist, ist für ihre ästhetische Schätzung gleichgültig. Existenz in dem Sinne dagegen, daß der Gegenstand nicht nur vorgestellt, sondern auch sinnesanschaulich gegeben ist, ist eine notwendige Bedingung der ästhetischen Schätzung. (Das der ästhetische Gegenstand anschaulich gegeben sein muß, steht natürlich nicht in Widerspruch mit dem nicht-intuitiven Charakter der ästhetischen Schätzung.)

Die Behauptung ferner, daß es kein ästhetisches Begehren gebe, wird stets nur durch eine petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] begründet. Man begnügt sich nämlich mit dem Hinweis, daß die ästhetische Schätzung von sinnlichen und sittlichen Begehrungen unabhängig ist, während ja gerade die Frage ist, ob es nicht eigene ästhetische Begehrungen gibt. Und solche gibt es in der Tat; es gehört zu ihnen der Wunsch, sein Leben schön zu gestalten. Die Behauptung der Uninteressiertheit der ästhetischen Schätzung trifft also nicht zu und wir dürfen daher ohne Bedenken von einem ästhetischen Interesse sprechen.

Der Einwand endlich, daß sich die ästhetische Schätzung nicht auf allgemeine Regeln des Wertes zurückführen läßt, während man doch gewisse allgemeine Regeln darüber aufstellen kann, was zum Wert einer Persönlichkeit gehört, ist nur insofern richtig, als der ästhetische Gegenstand auf der Einheit einer  anschaulichen Form  beruth, so daß infolge der Zufälligkeit der mathematischen Zusammensetzung die Einheit und Abgeschlossenheit des ästhetischen Gegenstandes (eines Sternbildes z. B.) im allgemeinen nicht mit der Einheit und Abgeschlossenheit eines physikalischen Systems zusammenfällt. Wie aber schon der Organismus nicht nur eine ästhetische, sondern auch (als ein sich selbst erhaltendes System von Wechselwirkungen) eine wenigstens relative physikalische Einheit darstellt, so fällt auch bei der Persönlichkeit ästhetischer Gegenstand und Naturgegenstand zusammen und die Bedingungen ihrer Selbsttätigkeit lassen sich daher theoretisch bestimmen.

Die Möglichkeit einer logischen Reduktion der ästhetischen Urteile erklärt sich also hier durch das Zusammenfallen von ästhetischem Gegenstand und Naturgegenstand. Wir werden nach alledem kein Bedenken tragen, das untersuchte Interesse als ein ästhetisches anzusehen.

Dieses Ergebnis gestattet uns zugleich, den Inhalt der besonderen uns beschäftigenden Art der Schätzung zu bestimmen. Schönheit ist, nach SCHILLERs Ausdruck, überall Freiheit in der Erscheinung, Schönheit der Persönlichkeit also Unabhängigkeit der Lebenstätigkeit von zufälligen, d. h. dem Wesen des vernünftigen Geistes fremden Antrieben oder, positiv ausgedrückt, vernünftige Selbstbestimmung. Die ästhetische Schätzung gibt uns daher, auf die Persönlichkeit angewandt, das  Ideal der Bildung,  d. h. der vernünftigen Selbstbestimmung. Für die Gesellschaft folgt daraus von selbst das  Ideal der persönlichen Freiheit,  d. h. eines Zustandes, in dem niemand von Seiten anderer in der Möglichkeit der Bildung beschränkt wird.

Durch diese Deduktion finden auch die Fragen eine Lösung, die die Abstraktion noch zurückließ. Der Unterschied von wirklichem und wahrem Interesse erklärt sich durch die ursprüngliche Dunkelheit des reinen Interesses. Sie bedingt das Auseinandertreten von reflektiertem und unmittelbarem Interesse. Der Irrtum beruth auf der Abweichung des reflektierten Interesses vom unmittelbaren. Das unmittelbare Interesse selbst ist als solches irrtumsfrei, kraft des Prinzips des Selbstvertrauens der Vernunft.

Zugleich klärt sich hier vollends die Frage auf, wie die Abweichung des Kriteriums der Vorzugswürdigkeit von der relativen Stärke der Interessen im Sittengesetz begründet ist. Wir brauchen tatsächlich bloß wirkliche Interessen zu vergleichen, wenn wir nur die  unmittelbaren  Interessen berücksichtigen und nicht nur ihre reflektierte Form. Daß sich also die Vorzugswürdigkeit nicht ohne weiteres nach der relativen Stärke der Interessen bestimmt, beruth nur auf der Unvollkommenheit des Bewußtseins  um  das unmittelbare und als solches auch wirkliche Interesse. Das vorhin als Kriterium eingeführte und insofern bloß fingierte Interesse einer vollkommen gebildeten Person findet sich hier sein wirkliches Korrelat.

Auch der zunächst schwierigste Fall, wo anscheinen überhaupt kein Interesse auf der anderen Seite steht, zugunsten dessen wir unser Interesse zurücksetzen, wird jetzt verständlich. Es steht tatsächlich doch ein Interesse auf der anderen Seite, das unser Interesse einschränkt. Es ist nur nicht bewußt, aber doch wirklich und hat als solches Anspruch auf unsere Achtung.


IV.

Was leistet nun diese Theorie des wahren Interesses für den Aufbau des Systems der Ethik, für Rechtslehre und Politik?

Es gibt keinen Rechtskodex aus reiner Vernunft. Wir erhalten bestimmte Rechtssätze nur durch die Anwendung des Sittengesetzes auf die wirklichen Interessen, die in der Gesellschaft bestehen und die wir als solche nur empirische kennen lernen können. Die entwickelte Theorie lehrt uns aber, daß es  ein  Interesse gibt, das seinem Gegenstand nach  a priori  bestimmt werden kann. Das ist das wahre Interesse jedes vernünftigen Wesens am Wert seines Lebens. Insofern konstituiert das wahre Interesse das einzige  Naturrecht,  wenn darunter ein seinem Inhalt nach a priori bestimmtes Recht verstanden wird.

Das wahre Interesse hat nun das Eigentümliche, daß seine Befriedigung nur durch Selbsttätigkeit möglich ist. Es kann also nie die Pflicht entstehen, dieses Interesse bei einem anderen Menschen zu befriedigen, sondern es kann nur Pflicht sein, ihm die Möglichkeit zu gewähren, es selbst zu befriedigen. Hierzu gehört auch die Pflicht, Hindernisse der Selbsttätigkeit, die den Menschen von anderer Seite in den Weg gelegt werden, hinwegzuräumen. Das folgt daraus, daß ich anstelle solcher Menschen nicht einwilligen könnte, daß andere Menschen, die die Möglichkeit dazu hätten, mich von diesen Hindernissen nicht befreien. Jeder weitergehende Versuch aber (das wahre Interesse eines anderen zu befriedigen) würde sein wahres Interesse, insofern es auf Selbsttätigkeit gerichtet ist, vielmehr verletzen und ist daher nicht einmal als ein  erlaubter  Dienst der Freundschaft möglich.

Die Pflicht dem sinnlichen Interesse anderer gegenüber geht darin weiter, daß sie seine unmittelbare Befriedigung verlangen kann. In anderer Beziehung geht aber die Pflicht dem wahren Interesse gegenüber weiter. Das sinnliche Interesse ist dem wahren gegenüber darin gleichsam im Vorteil, daß es sich immer selbst geltend macht. Daher kann es sich nie auf sich selbst richten: Es kann nie im sinnlichen Interesse eines Menschen liegen, ein sinnliches Interesse in sich zu entwickeln. Dagegen bezieht sich das wahre Interesse auch auf sich selber, darauf, daß es zum Bewußtsein geweckt wird. Denn es liegt im wahren Interesse eines Menschen an der Selbstbestimmung, daß er sich seines Interesses an der Selbstbestimmung bewußt wird. Daher die Pflicht, das wahre Interesse auch insofern zu berücksichtigen, als das Bedürfnis nach seiner Befriedigung (nach Selbsttätigkeit also) erst geweckt werden muß.

Indem wir das wahre Interesse an der Selbstbestimmung unter das Rechtsgesetz subsumieren, erhalten wir den Naturrechtssatz:  Alle ihrer Natur nach bildungsfähigen Wesen haben das gleiche Recht auf die äußere Möglichkeit, zur Bildung zu gelangen. 

Der Objektivität des reinen Interesses zufolge ist dieser Rechtsanspruch unabhängig davon, ob er durch ein wirkliches Bedürfnis vertreten wird. Jede Beschränkung der persönlichen Freiheit muß daher als eine Rechtsverletzung gelten, ohne alle Rücksicht darauf, ob dem berechtigten wahren Interesse an der Freiheit ein wirkliches Bedürfnis entspricht und es hebt also auch die tatsächliche Einwilligung eines Menschen in eine solche Beschränkung nicht deren Widerrechtlichkeit auf. Der Satz: "volenti non fit injuria" [Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht. - wp] gilt daher für das wahre Interesse nicht.

Hiermit ist die  Unveräußerlichkeit  des Rechts auf Selbstbestimmung begründet. Seine Geltung kann durch keinen Vertrag und durch kein positives Gesetz eingeschränkt oder aufgehoben werden. Wenn sich also jemand als Sklave verkauft, so hat dieser Vertrag keine Rechtskraft. Und wenn auch ein ganzes Volk durch Parlamentsbeschluß darin einwilligt, von Priestern bevormundet zu werden, so ist dieser Beschluß null und nichtig.

 Bevormundung,  d. h. Entziehung der Möglichkeit der Selbstbestimmung ist gegenüber Wesen, die verständiger Selbstbestimmung überhaupt fähig sind, als eine Beschränkung ihres wahren Interesses anzusehen. (Vom Strafrecht können wir hier, nach dem bereits früher Gesagten, absehen.) Die Erlaubnis zur Bevormundung besteht daher nur gegenüber Wesen, die verständiger Selbstbestimmung nicht fähig sind, sei es, daß ihnen diese Fähigkeit ihrer Natur nach fehlt, wie den  Tieren 3 sei es, daß sie diese Fähigkeit nicht mehr besitzen, wie die  Geisteskranken,  sei es, daß sie ihnen noch nicht zukommt, wie den  Kindern.  Man sieht leicht, daß diese Erlaubnis insofern sogar zur Pflicht werden kann, als die Unfähigkeit eines Wesens zu verständiger Selbstbestimmung es ihm unmöglich macht, sein sinnliches Interesse zu befriedigen. Die Rücksicht auf das wahre Interesse schränkt diese Erlaubnis aber auf die Bedingung ein, daß die Bevormundung so ausgeübt wird, daß sie das bevormundete Wesen, sobald es die Umstände gestatten, zur Fähigkeit verständiger Selbstbestimmung gelangen (oder wieder gelangen) läßt.

Einen Menschen zu bevormunden, kann also nur aus demselben Grund erlaubt sein, aus dem es zugleich Pflicht ist, nämlich aus Rücksicht darauf, daß er verständiger Selbstbestimmung unfähig ist. Nennen wir daher eine rechtlich nicht notwendige Bevormundung "künstlich", so können wir zusammenfassen sagen, daß jede künstliche Bevormundung widerrechtlich ist. Diesen Satz müssen wir anwenden, wenn die Frage ensteht, wie weit es erlaubt sei, einen Menschen zu bevormunden. Man könnte hier sagen, verständige Selbstbestimmung sei ein bloßes Ideal und also bedürften eigentlich alle Menschen der Bevormundung; da das aber eine Unmöglichkeit einschließt, so sollte wenigstens die große Menge der Menschen von denen, die dem Ideal am nächsten kommen, bevormundet werden. Es hat aber jeder Mensch, der nicht verständiger Selbstbestimmung überhaupt  unfähig  ist, ein wahres Interesse an der Selbsttätigkeit, das durch Bevormundung verletzt würde. Da nun jede über das Maß des rechtlich Notwendigen hinausgehende Beschränkung der Freiheit widerrechtlich ist, so folgt, daß es eines nachweislichen Grundes der Notwendigkeit bedarf, um einen Menschen unter Vormundschaft zu stellen und zu halten, nicht aber eines solchen, um ihm die Freiheit der Selbstbestimmung zu geben. Es hat daher jeder als mündig zu gelten, der nicht nachweislich verständiger Selbstbestimmung überhaupt unfähig ist, nicht aber umgekehrt.


V.

Wenden wir die Theorie des wahren Interesses auf die  Politik  an, so erhalten wir eine ganz neue Ansicht von ihren Aufgaben, und zwar gilt das nicht nur von der Kulturpolitik, sondern auch von der Wirschaftspolitik. Bisher entlehnte die Politik ihre philosophischen Kriterien einzig dem Gesetz der Gleichheit der Personen. Wir haben aber neben dem Ideal der Gleichheit auch noch das der Freiheit eingeführt. Es kommt daher hier alles auf die richtige Bestimmung des Verhältnisses dieser Ideale der Gleichheit und der Freiheit an.

Man kann nicht von der dogmatischen Annahme ausgehen, daß eine prästabilisierte Harmonie in der Durchführbarkeit dieser beiden Ideale bestehe. Da wir vor der Möglichkeit einer Kollision beider keineswegs sicher sind, so haben wir grundsätzlich zu entscheiden, welches Ideal im Falle einer solchen Kollision den Vorrang hat. Diese Entscheidung ist darum schwierig, weil hier nicht ein Ideal mit einer Pflicht, sondern zwei Ideale mit einander kollidieren. Es besteht zwar die Pflicht für den einzelnen, seinerseits keine widerrechtliche Handlung zu begehen, aber es ist nur ein Ideal, einen gesellschaftlichen Zustand zu verwirklichen, in dem keine widerrechtlichen Handlungen geschehen. Es läßt sich aber dennoch zwischen beiden Idealen eine Entscheidung treffen. Der Wert des Rechtszustandes und der Wert der Freiheit sind von ganz verschiedenem Ursprung. Nach dem Sittengesetz kann ein Zustand der Gesellschaft, der nicht der Bedingung der Freiheit genügt, keinen Wert haben, auch wenn er dem Ideal der Freiheit noch so nahe kommt. Denn die Notwendigkeit, die nach dem Sittengesetz dem Rechtszustand zukommt, erteilt jedem ihm widersprechenden Zustand einen unendlichen Unwert, also einen solchen, der durch keinen noch so großen positiven Wert wieder aufgehoben werden kann. Die Rechtlichkeit ist folglich die einschränkende Bedingung des Wertes eines gesellschaftlichen Zustandes überhaupt. Das Ideal der Gleichheit hat daher im Kollisionsfall den Vorrang.

Hieraus ergibt sich z. B. eine wichtige Konsequenz für die  Wirtschaftspolitik.  Verstehen wir unter einer kommunistischen Wirtschaftsordnung eine solche, in der die Verteilung der Güter durch den Staat erfolgt, so läßt sich die Behauptung, der Kommunismus sei als eine Bedingung der Durchführung der Gleichheit notwendig, nicht durch den Hinweis auf die mit ihm verbundene Beschränkung der Freiheit widerlegen, sondern, wenn überhaupt, so nur durch die Nachweisung, daß dieses Wirtschaftssystem vielmehr nicht einmal die Gleichheit zu garantieren vermöge.

Wenn man überhaupt mit der Anwendung des Prinzips der Gleichheit auf die Wirtschaftspolitik Ernst macht, so stellt man gewöhnlich die Forderung, daß der Staat jedem die gleiche Möglichkeit sichere, zum  Wohlstand  zu gelangen. (Daß man nicht für jeden Wohlstand, sondern nur die gleiche Möglichkeit fordern darf, folgt daraus, daß es von der zufälligen Größe des ingesamt verfügbaren Gütervorrats abhängt, ob bei seiner Verteilung jeder zu Wohlstand gelangen kann.) Nach der Theorie des wahren Interesses ist diese Forderung jedoch falsch, wenn man wie üblich unter "Wohlstand" die Möglichkeit der Befriedigung der wirklichen Bedürfnisse versteht. Vielmehr sind auch die kulturellen Bedürfnisse zu berücksichtigen, die sich unter günstigen äußeren Bedingungen  würden:  es sind das die auf die Befriedigung des wahren Interesses gerichteten. Zum Wohlstand müssen folglich die wirtschaftlichen Bedingungen der Entwicklung und Befriedigung dieser Bedürfnisse (als Bedingungen eines "menschenwürdigen" Lebens) hinzugerechnet werden.

Hiermit ist ohne weiteres zugleich auch die  obere  Grenze bestimmt, bis zu der die Bedürfnisse Anspruch auf Berücksichtigung haben. Denn die wirklichen Bedürfnisse haben auf der anderen Seite auch  nur  in dem Maße Anspruch auf Berücksichtigung, als ihre Befriedigung im wahren Interesse des einzelnen liegt. Der Wohlstand muß daher als dasjenige Maß von Besitz definiert werden, das notwendig und hinreichend ist, um dem einzelnen zu ermöglichen, zu der mit Rücksicht auf seine Anlagen überhaupt erreichbaren Bildung zu gelangen.

Geht man nicht von der Theorie des wahren Interesses aus, so muß man konsequenterweise zu ganz anderen, augenscheinlich falschen Resultaten kommen. Einerseits würde es, um jedem die gleiche Möglichkeit der Befriedigung seiner wirklichen Bedürfnisse zu sichern, genügen, durch geeignete Maßnahmen darauf hinzuwirken, daß die wirtschaftlichen Ansprüche der einzelnen unter eine hinreichend niedrige Grenze herabsinken, um durch ein beliebig geringes Maß von Besitz befriedigt zu werden. So könnte man es z. B. durch künstliche Bevormundung stets erreichen, daß die Armen, in Erwartung eines ums reicheren Entgelts im Jenseits, desto zufriedener sind, in je drückenderer Not sie ihr Leben im Diesseits fristen. Ein Verfahren, für dessen Widerrechtlichkeit ohne die Theorie des wahren Interesses ein Beweis unmöglich ist.

Andererseits gäbe es ohne die Theorie des wahren Interesses auch keine Möglichkeit, zwischen Bedürfnissen wie solchen, deren Befriedigung zur Erhaltung des Lebens notwendig ist und bloßen Luxusbedürfnissen einen Unterschied im Anspruch auf Berücksichtigung zu machen, da es ja nur auf die Stärke ankommen könnte daher auch das minderwertigste Interesse von der Berücksichtigung nicht ausgeschlossen werden, wenn es nur mit hinreichender Stärke auftritt.

Als Aufgabe der  Kulturpolitik   sehen wir es an, einem jeden sein Recht auf geistige Freiheit zu sichern. (Daß hier nicht Freiheit schlechthin, sondern nur das  Recht  auf Freiheit und also auch hier nur  Gleichheit  gefordert werden kann, versteht sich nach dem Früheren von selbst.)

Hier müssen wir nun den Satz von der Widerrechtlichkeit rechtlich nicht notwendiger Bevormundung anwenden. Inwiefern kann aber Bevormundung überhaupt rechtlich notwendig sein? Einem Wesen gegenüber, das verständiger Selbstbestimmung noch nicht fähig ist, ist Bevormundung  erlaubt  und mit Rücksicht nicht nur auf sein sinnliches, sondern auch auf sein wahres Interesse  Pflicht.  Es kann natürlich hier so wenig wie sonst Pflicht sein, sein wahres Interesse unmittelbar zu befriedigen, sondern  nur,  das Bedürfnis nach Befriedigung seines wahren Interesse in ihm zu wecken und es in den Stand zu setzen, durch Selbsttätigkeit zu dieser Befriedigung zu gelangen. (Jede weitergehende Bevormundung müßte schon als künstlich und damit als widerrechtlich gelten.) Dieses  Recht auf Bevormundung  begründet die Notwendigkeit des Schulzwanges einerseits und die Notwendigkeit der staatlichen Aufsicht über  jeden  Unterricht andererseits. Dieses zu dem negativen Zweck, jede künstliche Bevormundung von den Kindern fernzuhalten, jenes zu dem positiven, sie durch Ausbildung ihres Verstandes in den Stand zu setzen, sich später selbst gegen solche Versuche zu schützen.

Jeder dogmatische Unterricht, als ein solcher, der keine Einsicht in die Gründe der vorgetragenen Lehren verstattet und jeder Gebrauch des pädagogischen Autoritätsprinzips, d. h. der Vorstellung der unmittelbaren Verbindlichkeit von Befehlen, enthält daher als eine Verletzung des wahren Interesses eine widerrechtliche Bevormundung.

Es versteht sich von selbst, daß künstliche Bevormundung, wenn sie von den  Eltern  ausgeübt wird, nicht weniger widerrechtlich ist. Ein Recht der Eltern z. B., die Konfession ihrer Kinder festzusetzen, ist unmöglich. Denn einem anderen vorzuschreiben, was er glauben soll, ist unter allen Umständen eine künstliche Bevormundung.

Geht man nicht von der Theorie des wahren Interesses aus, so muß man schließen, daß der Staat die Kultur nicht fördern darf. Denn das könnte ja nur so geschehen, daß einige Personen, die daran nicht wirklich interessiert sind, zu bloßen Mitteln für die Zwecke anderer gemacht werden. Beachtet man hingegen, daß der Fortschritt der Kultur im wahren Interesse eines jeden liegt, so folgt, daß ihre Förderung die grundsätzliche Kompetenz des Staates nicht überschreitet. Man sieht ohne weiteres, daß von dieser Kompetenz die Begünstigung dogmatischer Lehren, dem Begriff der Kultur zufolge, ausgeschlossen ist. Hieraus folgt z. B., daß konfessionelle Fakultäten an staatlichen Hochschulen widerrechtliche Einrichtungen sind und daß diese Widerrechtlichkeit selbst dann bestehen bliebe, wenn wir eine uneingeschränkte konfessionelle Einheit des ganzen Volkes voraussetzen dürften.

Staatliche Förderung der  Kultur  kann nur in Begünstigung freier Selbsttätigkeit bestehen, nie in Parteinahme bei einem Widerstreit kultureller Bestrebungen.

Das schließt jedoch einen Eingriff des Staates in das freie Spiel der Kräfte insofern nicht aus, als er zur Durchführung des  Rechts  notwendig sein kann. Wie gegen wirtschaftliche Ausbeutung, so soll der Staat die einzelnen auch gegen künstliche Bevormundung schützen. Die Berufung auf das Prinzip der Toleranz wäre hier so falsch angebracht, wie auch sonst Verbrechern gegenüber. Das kulturelle Manchestertum ist daher eine nicht weniger verwerfliche politische Doktrin als das wirtschaftliche Manchestertum, da uns ja vielmehr im Gegenteil die Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse als eine zwar notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung eines menschenwürdigen Lebens gilt.

Das gilt nun insbesondere für das Verhältnis von Staat und Kirche. Eine Hierarchie, als Glaubensgemeinschaft auf der Grundlage ethischer Heteronomie und also künstlicher Bevormundung, ist mit den Prinzipien eines Rechtsstaates unmittelbar im Widerspruch, mag im übrigen ihre höchste Autorität durch eine Person oder durch ein Dokument vertreten sein.
LITERATUR - Leonard Nelson, Die Theorie des wahren Interesses und ihre rechtliche und politische Bedeutung, Göttingen 1913