tb-1p-4J. EisenmeierC. GüttlerW. WundtA. KastilC. Göring    
 
LEONARD NELSON
Die kritische Methode
und das Verhältnis der
Psychologie zur Philosophie

[ 1 / 7 ]

    I. Die regressive Methode
II. Über die Begründung der Urteile
III. Theorie der Deduktion
IV. Über das Verhältnis der Kritik zum System
V. Über das konstitutive Prinzip der Metaphysik
- Anhang: Über das Verhältnis des sog. Neukantianismus

"Es gibt Gelehrte, denen die Geschichte der Philosophie (der alten sowohl, als neuen) selbst ihre Philosophie ist, vor diese sind gegenwärtige Prolegomena nicht geschrieben."

"Es ist ein ganz irriges logisches Vorurteil, daß sich alle Wahrheit beweisen lassen müsse. Durch alle Beweise können wir vielmehr nichts erkennen und entdecken, was nicht schon implizit in den Grundsätzen lag, wir können uns nur dieses deutlicher manchen und klarer zu Bewußtsein bringen. Beweise sind nur notwendig und möglich für mittelbare, abgeleitete Sätze, aber ebenso unnötg wie unmöglich für Grundsätze."


1. Da die Begriffe, um die es sich in den folgenden Untersuchungen handelt, mit Bestimmtheit zuerst von KANT in die Wissenschaft eingeführt worden sind, werde ich mich in der Terminologie streng an den Kantischen Sprachgebrauch anschließen. Demgemäß verstehe ich unter Metaphysik das System der synthetischen Urteile a priori aus bloßen Begriffen, als das System aller philosophischen, d. h. nicht auf Anschauung beruhenden (weder empirischen noch mathematischen) Urteile, unter Ausschluß der logischen. Und ich verstehe unter Kritik der Vernunft den Rechtsnachweis dieser metaphysischen Urteile aus Gründen ihrer Möglichkeit. Ich lege mir nun folgende Frage vor: Inwiefern bedarf die Metaphysik einer Kritik der Vernunft und welcher Methode wird die Kritik folgen müssen, um diesem Bedürfnis zu genügen?


I.
Die regressive Methode.
Induktion und Abstraktion.

2. Es ist ein alter und beliebter Satz: Contra principia negantem non est disputandum. Wer mit mir in den Prinzipien uneins ist, mit dem kann ich nicht streiten. Dieser Satz ist für die Philosophie grundfalsch. Jeder bedeutende Streit in der Philosophie ist ein Streit um Prinzipien. In der Anwendung derselben in der Erfahrung und im Leben sind wir alle einig; erst wenn wir anfangen, über sie in abstracto zu philosophieren, hebt der Streit an. So setzen wir bei unseren Rechnungen die Stetigkeit aller Bewegungen voraus, ohne uns durch ZENONs Beweis der Unmöglichkeit stetiger Bewegung daran irre machen zu lassen. So erwartet jeder Chemiker, daß seine Substanz beim Arbeiten in geschlossenen Gefäßen nach der Operation dasselbe Gewicht zeigen werde wie vorher, ohne sich auf die metaphysischen Schwierigkeiten des dabei angewandten Grundsatzes der Beharrlichkeit der Masse einzulassen. So beurteilt ein jeder seine und seiner Mitmenschen Handlungen, ohne zu bedenken, daß die dabei vorausgesetzte Verantwortlichkeit seinem vielleicht deterministischen Philosophem widerspricht. Der Materialist spricht vom Geist, der Atheist von Gott, der Fatalist von der Freiheit, der Atomist von der Stetigkeit, der Empirist vom Naturgesetz, der Skeptiker von der Wahrheit und nur in den Philosophenschulen herrscht eigentlich Streit über diese Dinge, dessen Entscheidung - sie mag fallen wie sie wolle - ein jeder nach beendigter Diskussion wieder verläßt, um zu seinen alten Überzeugungen zurückzukehren.

Unterscheiden wir danach die philosophischen Überzeugungen, wie sie unbewußt allen unseren Urteilen und Beurteilungen zugrunde liegen, vom Verfahren, sie für sich auszusprechen und in ein System zu bringen, mit anderen Worten, unterscheiden wir Philosophie als Naturanlage und als Wissenschaft, so können wir in ersterer Bedeutung sagen, daß um keinen philosophischen Satz eigentlich Streit stattfindet, daß dagegen alle Schwierigkeit darin liegt, die philosophischen Prinzipien unabhängig vom besonderen Fall der Anwendung in abstracto auszusprechen. Diese Unterscheidung gibt uns daher ein Mittel an die Hand, den Prinzipienstreit zu schlichten. Greifen wir nämlich aus den Erfahrungen des Lebens solche Urteile und Beurteilungen heraus, über die Einigkeit herrscht, so können wir diese zergliedern und so durch ein  regressives  Verfahren den philosophischen Prinzipien nachspüren, die in den vorliegenden Urteilen und Beurteilungen zur Anwendung kommen und gemeinsam vorausgesetzt werden. Durch fortgesetzte Zergliederung und Abstraktion von den besonderen Anwendungen müssen wir schließlich auf irgendwelche letzte und höchste Voraussetzungen kommen und diese werden wir dann für sich herausheben können.

3. Dieses abstrahierende Verfahren kehrt den gewöhnlichen Gedankengang der objektiven Beweisführung, der Ableitung der Folgen aus ihren Gründen, gerad um und steigt von den Folgen aufwärts zu den Gründen zurück. Wir können also nicht sagen, daß wir dabei die Prinzipien beweisen, sondern nur, daß wir sie als soche aufweisen. Wir weisen nur ad hominem [Polemik in Bezug auf die Person des Gegners - wp] dem Empiriker aus seinem Schlagwort der Erfahrung synthetische Urteile a priori als Bedingungen ihrer Möglichkeit - dem Ethiker aus seinem Schlagwort der Sittlichkeit den Glauben an die Freiheit des Willens gleichfalls als Bedingung ihrer Möglichkeit auf. Wir beweisen dadurch nicht, sondern wir suchen umgekehrt die logischen Gründe zu gegebenen Folgen. Diese Folgen sind die zugestandenen Urteile und Beurteilungen, diese zergliedern wir, sie denen uns als Data für die Berufung ad hominem.

Es ist ein ganz irriges logisches Vorurteil, daß sich alle Wahrheit beweisen lassen müsse. Durch alle Beweise können wir vielmehr nichts erkennen und entdecken, was nicht schon implizit in den Grundsätzen lag, wir können uns nur dieses deutlicher manchen und klarer zu Bewußtsein bringen. Beweise sind nur notwendig und möglich für mittelbare, abgeleitete Sätze, aber ebenso unnötg wie unmöglich für Grundsätze. Solange die Prämissen irgendwelcher Sätze keine Grundsätze sind, kann ich sie bwzweifeln, so lange erreiche ich keine vollständige Gewißheit. Will ich zu dieser gelangen, so muß ich bis zu den höchsten Prinzipien, den Grundsätzen hinaufsteigen. Da diese aber zum großen Teil nur dunkel unseren Urteilen und Beurteilungen zugrunde liegen, ohne daß iwr sie besonders aussprechen und uns ihrer klar bewußt werden, wird eben ein künstlich regressives Verfahren erforderlich sein, um uns in ihren Besitz zu bringen. Bei denjenigen unserer Urteile, die sich auf Anschauung gründen, hat dies nun keine Schwierigkeit; denn sie drängen sich mit Evidenz und Klarheit unserem Bewußtsein auf. Aber unsere Erkenntnis entspring eben nur zum Teil aus der Anschauung. Gerade der nicht anschaulichen Erkenntnis, die wir nur durch Begriff im Urteil festhalten, fehlt die Evidenz und Klarheit. Dunkel liegt sie in uns und es bedarf einer besonderer Methode, sie an das Licht des klaren Bewußtseins zu bringen. Das also wäre die Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft: die Grundsätze, soweit sie sich nicht auf Anschauung gründen, sondern rein aus Begriffen entspringen, ausfindig zu machen und von ihrer ursprünglichen Dunkelheit zur Klarheit des Bewußtseins zu erheben. Gelingt es, sie vollständig in unseren Besitz zu bringen, so hätten wir damit die prinzipielle Entscheidung aller überhaupt möglichen philosophischen Probleme in der Hand. Ohne diese regressive Untersuchung dagegen bleiben wir allen Willkürlichkeiten dogmatischer Metaphysik preisegegeben. Denn die Unbeweisbarkeit haben die Grundsätze mit allen  falschen  Sätzen, mit allen Irrtümern gemein. Nur mit dem Unterschied, daß letztere sich widerlegen und durch Vergleichen mit den Grundsätzen in ihrem Irrtum bloßstellen lassen. Der Dogmatiker braucht daher nur seine Sätze für Grundsätze auszugeben, sobald er nicht imstande ist, sie zu beweisen und wir werden uns nur dann vor seinen unrechtmäßigen Absprüchen schützen können, wenn wir im Besitz des System aller wirklichen Grundsätze sind, und ihm so die Nichtigkeit seiner Sätze durch den Nachweis ihrer Mittelbarkeit geradezu gleichsam handgreiflich zu machen vermögen.

Nennen wir danach  dogmatisch  das Verfahren einer Wissenschaft, die von der Aufstellung ihrer Prinzipien ausgeht,  kritisch  das Verfahren einer Wissenschaft, die auch ihre Prinzipien einer Prüfung unterwirft, so werden wir sagen können, daß für die Philosophie alles auf ein kritisches Verfahren ankomme und daß der Kritizismus in der Philosophie in der Befolgung der regressiven und daß der Kritizismus in der Philosophie in der Befolgung der regressiven Methoden besehe.

4. Suchen wir das noch genauer zu bestimmen.

Alle Wissenschaft hat zum Ziel die Form der progressiven Ableitung der Folgen aus ihren Gründen, die Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine, der Tatsachen unter die Gesetze, d. h. die Systemform der  Theorie.  Um aber erst zu den allgemeinen Gesetzen zu gelangen, bedarf es oft der Vorarbeit; es läßt sich nicht überall, wie in der Mathematik, unmittelbar mit der Aufstellung der allgemeinen Gesetze beginnen. Die Naturwissenschaften bedürfen erst einer regressiven Erforschung ihrer Gesetze aus den Tatsachen, ehe sie daran gehen können, in einer Theorie diese aus jenen zu erklären. Diese regressive Erforschung der Naturgesetze aus den beobachteten Tatsachen ist die Aufgabe der  Induktion.  Aber die Induktion führt niemals auf Grundsätze, sondern immer nur auf Lehrsätze. Auch um induktiv verfahren zu können, muß ich schon gewisse allgemeine Gesetze voraussetzen. Auch die Induktion gründet auf die Voraussetzung des Allgemeinsten ein weniger Allgemeines, das also im Gegensatz zu den Grundsätzen ein Besonderes ist. Die Induktion ist nicht der Weg zu den notwendigen Wahrheiten, sondern zur Verbindung der notwendigen Wahrheiten mit den zufälligen. Denn die notwendigen Wahrheiten bilden die höchsten Obersätze, die aller Induktion aus den Beobachtungen bereits a priori zugrunde liegen. Der Weg zu den notwendigen Wahrheiten ist vielmehr die  Abstraktion. 

NEWTONs Entdeckung des Gravitationsgesetzes z. B. führte zur Begründung der Theorie der Planetenbewegungen. Dieses Gesetz ist aber kein Grundsatz, sondern ein Lehrsatz; seine Gültigkeit konnte nicht a priori eingesehen, sondern sie mußte induktorisch erwiesen werden. Für diese Induktion mußte NEWTON aber gewisse allgemeine Grundsätze der Mechanik  anwenden.  Er mußte z. B. aus den Prinzipien der mathematischen Naturphilosophie die Voraussetzung entlehnen, daß alle Bewegungsänderungen Wirkungen stetig beschleunigender Kräfte sind, die unter dem Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung stehen. Daß aber die Beschleunigung dem Quadrat der Entfernung der wirkenden Massen umgekehrt proportional ist, mußte erst aus der empirisch gegebenen Figur der Planetenbahnen erforscht werden.

So verknüpft das NEWTONsche Gravitationsgesetz die astronomischen Beobachtungen mit den Grundsätzen der Mechanik. Ohne  diese  würde dem Gesetz die Allgemeinheit und Notwendigkeit und ohne  jene  würde ihm die empirische Gültigkeit fehlen.

Suchen wir hingegen durch Zergliederung des NEWTONschen Gedankenganges die Voraussetzungen des Gravitationsgesetzes, so kommen wir zuletzt auf jene allgemeinsten Grundsätze der Mechanik, die selbst die Prinzipien und Bedingungen der Möglichkeit aller Induktion und eben darum selbst nicht induktorisch erweislich sind.

Es gibt also zwei verschiedene regressive Methoden; wir müssen die regressive Methode der  Abstraktion  noch von derjenigen der  Induktion  unterscheiden. Es ist mithin das zergliedernde Verfahren zur Auffindung der philosophischen Grundsätze ganz verschieden von allem Beweisverfahren, nicht nur vom progressiven der Mathematik, sondern auch vom regressiven der Induktion.

5. Da alles Philosophieren selbst Denken und Erkennen ist, so werden wir dabei notwendigerweise schon gewisse Prinzipien anwenden und voraussetzen müssen, die wir doch erst suchen. Das ist nun ein Zirkel, an dem jede dogmatische Methode des Beweises unvermeidlich scheitern und dem Skeptizismus verfallen muß. Denn sie setzt voraus, was sie beweisen will, sei es regressiv, wie die Induktion, sei es progressiv, wie die Mathematik schließt. Einzig und allein die kritische Methode ist frei von diesem Zirkel und kann darum auch nicht von der Skepsis angefochten werden. Denn sie will ja die Prinzipien nicht beweisen, sondern nur als solche aufweisen. Sie beweist nicht, sondern sucht vielmehr gerade das, was wir bei allen Beweisen schon voraussetzen und notwendigerweise voraussetzen müssen.

Während also die dogmatische Philosophie von irgendwelchen beliebig aufgerafften und vermeintlichen Prinzipien unbefangen ausgeht, steigt die kritische hinauf zu den Prinzipien und sucht sie sich erst. Jene geht von  Hypothesen  aus, diese einzig und allein von  Tatsachen,  indem sie den Tatbestand unserer Urteile hinnimmt, wie sie ihn vorfindet und ihn sichtet und zergliedert, um explizit auszusprechen, was schon implizit darin enthalten war. Die kritische Philosophie hat also auch gar keinen besonderen Teil der Dinge zum Gegenstand ihrer Forschung. Sie überläßt deren Erkenntnis ganz den Induktionen der Naturwissenschaft. Weder die Erkenntnis physischer noch die psychischer Dinge will sie ihr streitig machen, noch eine Wissenschaft vom Übersinnlichen sein. Sondern die Prinzipien der Erkenntnis selbst sind ihr Thema und zwar der Erkenntnis aller Dinge, sei es der physischen oder der psychischen, der sinnlichen oder der übersinnlichen. Sie will nichts erklären, sondern die obersten Gründe aller Erklärung suchen. Sie hat kein eigenes Gebiet zu erkennen, sondern lehrt in der Erkenntnis aller Gebiete den Irrtum vermeiden. Zu diesem Zweck nimmt sie die Erkenntnis hin, wie sie sie als  Faktum  vorfindet, weder um ihre Wahrheit zu beweisen, noch um ihre Entstehung zu erklären, sondern um aus ihr die rein begriffliche Erkenntnis zu abstrahieren und auf ihre obersten Prinzipien zurückzuführen. Hat sie diese gefunden, so stellt sie sie als System der Philosophie auf.

6. Diese Methode ist schon von SOKRATES und PLATON gefordert worden. Aber bereits ARISTOTELES hat die Sokratische Methode der Abstraktion unter dem Namen der  epagoge  mit der Induktion verwechselt. Dieses Mißverständnis ist in der Geschichte der Philosophie stehen geblieben bis auf KANT. (1) KANT hat zuerst die kritische Methode mit Bestimmtheit angewandt, in bewußtem Gegensatz zum progressiv-mathematischen Verfahren seiner deutschen, wie zum induktiv-psychologischen seiner englischen Vorgänger. Er nannte diese Aufsuchung der Prinzipien durch logische Zergliederung der mit dem Anspruch auf Apodiktizität auftretenden Urteile und Beurteilungen  Grundlegung  oder auch  metaphysische Erörterung  und unterschied sie noch von der  transzendentalen Deduktion  der Prinzipien, die sich mit ihrem Rechtsnachweis beschäftigt.
LITERATUR - Leonard Nelson, Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie - Ein Kapitel aus der Methodenlehre, Hessenberg/Kaiser/Nelson (Hg), Abhandlungen der Fries'schen Schule, Neue Folge, Bd. 1, Göttingen 1906
    Anmerkungen
    1) Indem ARISTOTELES durch diese Verwechslung veranlaßt wurde, die Induktion als die regressive Methode dem  syllogismos  entgegenzusetzen, blieben ihm als ursprüngliche Erkenntnisquellen nur die Logik und die Empirie. Er übersah so die Leerheit der formalen Logik einerseits und die Unselbständigkeit der bloßen Empirie andererseits. Dadurch ist er der gemeinsame Vater der beiden entgegengesetzten Irrtümer in der Geschichte der Wissenschaft geworden: der Begründer des logischen Dogmatismus in der Philosophie sowohl alsl auch der Begründer des naturwissenschaftlichen Empirismus, d. h. der irrigen Lehre von der Selbstständigkeit der Induktion  neben  dem Syllogismus, der sich die meisten Naturforscher der neueren Zeit angeschlossen haben und die am hartnäckigsten von den englischen Philosophen verteidigt worden ist. Es ist dies derselbe Fehler, auf dem die noch heute in der Logik populäre Entgegensetzung von Induktion und Deduktion beruth. Dieser zweite Fehler der aristotelischen Logik ist erst durch APELTs "Theorie der Induktion" verbessert worden. -
    Wie nun APELT die aristotelische Theorie des progressiven Syllogismus der  dogmatischen  Methode durch die Theorie des regressiven Syllogismus ergänzt und dadurch die  induktorische  Methode der Naturforschung philosophisch begründet hat, so bleibt als die dritte und letzte Aufgabe der Logik noch die Theorie der  kritischen  Methode aufzuführen, als die Lehre von der wissenschaftlichen Begründung philosophischer Grundurteile. Diese ist es, die wir hier suchen.