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PAUL NATORP
Kant und die Marburger Schule (1)
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"Der feste Ausgangspunkt, der unverrückbare Leitgedanke unseres ganzen Philosophierens ist die  transzendentale  Methode."

"Cohens  Prinzip des Ursprungs  will besagen: nichts dürfe als  gegeben,  das heißt, ohne Rückführung, ohne wenigstens überhaupt abzusehende Rückführbarkeit bis auf den letzten Einheitsgrund schaffender Erkenntnis hingenommen werden. Ein  Gegebensein  darf nichts mehr bedeuten wollen, als den Charakter der noch zu lösenden Aufgabe."

"Wirklichkeit ist Kategorie, Hypothesis für  mögliche Erfahrung." 

"Es darf von keinem gegebenen  Mannigfaltigen,  das der Verstand, gebunden überdies an die gegebenen Anschauungsformen, bloß aufzureihen, zu verbinden und - nachträglich - zu rekognoszieren hätte, mehr die Rede sein."

"Die radikale Feststellung Kants, der der aller Sinn, alles Recht der kritischen Methode sich begründet: daß überhaupt alle Beziehung auf den Gegenstand, aller Begriff vom Objekt und also auch vom Subjekt, allein in der Erkenntnis, ihrem Gesetz zufolge, entspringt; denn der Gegenstand muß sich nach der Erkenntnis richten, nicht die Erkenntnis nach dem Gegenstand, wenn eine gesetzmäßige Beziehung zwischen beiden überhaupt begreiflich werden soll."

"So bleibt  Anschauung  nicht länger als denkfremder Faktor in der Erkenntnis dem Denken gegenüber- und entgegenstehend, sondern sie  ist  Denken, nur nicht bloßes Gesetzesdenken, sondern volles Gegenstandsdenken; sie verhält sich zum Denken des Begriffs, wie zum Gesetz der Funktion die Funktion selbst in ihrer Ausübung, im Vollzug."
   

Die Gesellschaft, in der ich zu sprechen die Ehre habe, bezeugt schon durch ihren blühenden Bestand und ihren weithin geachteten Namen, wie sehr die Philosophie KANTs, die so oft totgesagte und totgeschriebene, doch noch unter uns lebendig ist. Eine Auseinandersetzung mit ihr erkennt noch jeder, der in der Philosophie vorwärts will, als seine erste Pflicht. In besonderem Maße aber muß dieser Verpflichtung eine philosophische Schule sich bewußt sein, welche ursprünglich von der Absicht ausgegangen ist, die Lehre KANTs erst einmal in ihrer unverrückbaren historischen Gestalt zu verstehen und an diesem ihrem Prinzip, nicht an irgendwelchen von außen herzugebrachten Maße zu messen.

Nie zuvor war es hierbei die Meinung, an den Lehrsätzen KANTs unbedingt festhalten zu sollen oder zu wollen. Die Rede von einem orthodoxen Kantianismus der Marburger Schule war niemals begründet; sie hat mit der Weiterentwicklung dieser Schule auch jeden fernsten Schein von Berechtigung verloren. Richtig ist, daß HERMANN COHEN in seinen drei der Interpretation KANTs gewidmeten Grundwerken unablässig darauf gedrungen hat: es gelte erst einmal den buchstäblichen Sinn der Kantischen Sätze klarzustellen und aus ihren eigenen, urkundlich feststehenden Prinzipialgedanken zu verstehen, bevor man es unternehmen dürfe, über KANT hinauszugehen. Dabei wurde nicht geleugnet (wie es denn in der Tat nicht zu leugnen ist), daß in KANT mehr als nur eine Tendenz wirksam, ein reiner Ausgleich unter den mancherlei in ihm arbeitenden Motiven aber nicht erreicht ist. Allein gerade diese Einsicht mußte zu der Frage führen: was war denn seine entscheidende Tat, worin liegt die größte sachlich Wucht seines Gedankens und (was damit nicht identisch, aber eng verknüpft ist): was mußte historisch seine ausschlaggebende Wirkung sein; was in seinen Lehren war bestimmt, als nicht lebensfähig, abzusterben, was dagegen, eben seiner inneren Lebensenergie zufolge, fortzuleben und sich weiter zu entwickeln? Mit dieser Frage aber, die wenigsten kein Historiker der Philosophie, der selbst Philosoph ist, sich zu stellen unterlassen konnte, zurückgehen wollen, um in der Richtung der durch ihn unverlierbar gewonnenen Grunderkenntnis, in der reinen Konsequenz der durch ihn errungenen Vertiefung ihrer ewigen Fragen dann weiterzugehen. Philosophie ist, nach der klassischen Bedeutung dieses Namens, ewiges Streben nach fundamentaler Wahrheit, nicht der Anspruch, in ihrem Besit zu sein. Gerade KANT, welcher Philosophie als Kritik, als Methode versteht, hat zwar Philosophieren, nicht aber "eine" Philosophie lehren wollen. Ein schlechter Schüler KANTs, der es anders verstände!

Als den Kerngedanken nun, zu dem alles andere in KANT in Beziehung zu setzen, von wo aus es zu verstehen und zu bewerten sei, begriff COHEN den Gedanken der  transzendentalen Methode.  Auf sie fiel darum in seinen Darstellungen stets das entscheidende Gewicht; die einzelnen Lehrstücke waren ihm von Bedeutung genau nur in dem Maße, wie sie ein reiner Ausdruck dieser Methode sind. Die drei Bücher COHENs über KANTs Erfahrungstheorie, Ethik und Ästhetik zielen daher in straffer Konsequenz, in bewußter Einseitigkeit immer nur auf dieses Eine: die Methode als die bewegende, die vorwärtstreibende, die schöpferische Kraft der Gedankenbildungen KANTs herauszustellen. Gerade damit mußten die einzelnen Lehrstücke sich eine immer tiefer einschneidende Kritik gefallen lassen; denn sie sind ein reiner, restloser Ausdruck der Methode wirklich nicht; so sicher diese überall in ihnen wirksam ist, sie vermögen vielfach nicht ohne beträchtliche Abstriche und Umbiegungen sich ihr zu fügen.

Überhaupt konnte die Philosophie KANTs, so wie sie ist, als Ganzes, als System, unmöglich wie ein einmal vom Himmel gefallener Gesetzeskodex angesehen werden. So gewiß diese Philosophie auch als Ganzes eine geniale Tat bedeutet, wie nur je eine in der Geschichte menschlichen Denkens zu verzeichnen gewesen ist, so gewiß doch fügt sie sich ein in den Gesamtstrom der Entwicklung der Philosophie, der Wissenschaft, der humanen Kultur. Sie gehört einer großen geistigen Familie an, deren Ahnenregister mindestens bis zu PLATO und PARMENIDES hinaufreich; zu der unter den Neueren nicht bloß DESCARTES und LEIBNIZ, sondern ebenso GALILEI, HUYGHENS, NEWTON, EULER, die philosophie gerichteten Forscher fast ohne eine einzige Ausnahem, zu rechnen sind. Darauf war COHEN von Anfang an aufmerksam. Seine Arbeit an PLATO reicht literarisch selbst hinter die an KANT zurück; die Spezialstudie über das Infinitesimalprinzip aber verriet in einem einzelnen Durchblick, bis zu welcher Tiefe die Geschichte der exakten Wissenschaft nach der philosophischen Seite ihn fort und fort beschäftigte; meine Studien an GALILEI, DESCARTES usf. CASSIRERs Leibniz-Buch und seine ganz große Arbeit über das Erkenntnisproblem von NIKOLAUS CUSANUS bis auf KANT herab, wie noch so manches, was in unserer Schule zur Geschichte und Kritik der Wissenschaften seither ist beigetragen worden - es war die Frucht COHENscher Anregungen; was wir über die Philosophie des PLATO, des ARISTOTELES, des DEMOKRIT, der Skepsis usf. in diesen drei Jahrzehnten geforscht und dargestellt haben, es liegt alles in derselben Richtung. So ist es kein Wunder, wenn schon die vollständig erneuerte "Erfahrungstheorie" COHENs aus dem Jahr 1885, gegenüber der von 1871, die Ansätze zu einer sehr selbstständigen Weiterbildung zunächst der theoretischen Philosophie erkennen ließ; fast noch freier verfuhr mit den Lehren KANTs die Darstellung seiner Ethik und seiner Ästhetik. COHENs eigener Systembau aber, von dem die drei mächtigsten Pfeiler nun bereits stehen, hat ja jede Meinung von etwas wie einem starren Kantianismus der Marburger Schule wohl gründlich entwurzelt. Ohne diese sachlich vollkommen freie Stellung gegen den Buchstben der Kantischen Lehre und auch gegen die COHENsche Lesung dieses Buchstabens wäre es weder mir, noch der ganzen Schar der jüngeren Forscher, die sich unserer Schule beirechnen, möglich gewesen in jene Arbeitsgemeinschaft mit unserem verehrten Führer einzutreten, die es überhaupt nur rechtfertigt von einer Schule zu reden. Schüler COHENs im äußeren Sinne bin z. B. ich nie gewesen; aber auch, die es sein durften, haben, eben seinen Grundsätzen und der ganzen Art seiner Lehre gemäß, die Schülerschaft nie in dem Sinne verstehen können, als gälte es hier "eine" Philosophie und nicht bloß die Methode des Philosophierens sich anzueignen und zu propagieren. Die Methode allerdings sind wir alle uns bewußt bei ihm gelernt zu haben; darin liegt aber die Gewähr dafür, daß unser aller Arbeit, auch in ihrer gänzlichen Freiheit, ja gerade durch sie, stets förderlich ineinandergreifen und einen übereinstimmenden Charakter zeigen wird, wie es nicht allzuoft in der Geschichte der Philosophie der Fall gewesen ist.

So hat besonders auch das sich ungesucht von selbst ergeben, daß über die  notwendigen Korrekturen an der Lehre Kants  unter uns, trotz mancher Unterschiede der Formulierung im einzelnen, doch eine große sachliche Übereinstimmung obwaltet. Darüber Rechenschaft zu geben, ist die Aufgabe, die ich für diesen Vortrag mir zu stellen gewagt habe und für deren Lösung ich Ihre freundliche Aufmerksamkeit erbitte.

Der feste Ausgangspunkt, der unverrückbare Leitgedanke unseres ganzen Philosophierens ist, wie gesagt, die "transzendentale Methode". Wir unterscheiden sie - durchaus entsprechend der mehrseitigen Richtung des Terminus "transzendental" bei KANT selbst - sowohl von der psychologischen, wie von der metaphysischen, wie von einer bloß logischen im alten, Aristotelischen und etwa Wolfischen Sinne, von dem die moderne "Logistik", trotz sehr bedeutender Fortschritte in den Einzelpositionen, doch der Grundrichtung nach sich kaum entfernt, wenn sie von letzten, undeduzierbaren Begriffen oder beweisunfähigen und -unbedürftigen Sätzen ausgehen und auf dieser alleinigen Basis dann in reinen Identitätsurteilen ("analytische" Urteilen in KANTs Sinne) fortschreiten will. So sehr es anzuerkennen ist, daß man es mit der Pflicht der Begründung streng nimmt; so ganz wir auch damit übereinstimmen, daß diese Begründung auf einem rein objektiven Wege zu suchen sei, so ist es doch nur zu offenkundig, daß der alte Weg der Aristotelischen Apodeixis [des arist. Beweises - wp] in der Prinzipienlehre der menschlichen Erkenntnis nicht zum Ziele führen kann; mit vollem Recht hat KANT es abgelehnt, für seine Grundsätze "Beweise" im Sinne der Aristotelischen Apodeixis zu geben.

Was also meinen wir, wenn wir statt dessen, mit KANT und nur strenger noch als er, für jede philosophische Aufstellung eine "transzendentale" Begründung oder Rechtfertigung, eine  deductio iuris  [rechtfertigende Ableitung - wp] (wie KANT sagt) verlangen? - Diese Forderung schließt zwei wesentliche Stücke ein. Das erste ist die sichere Zurückbeziehung auf die vorliegenden, historisch aufweisbaren Fakta der Wissenschaft, der Sittlichkeit, der Kunst, der Religion. Denn Philosophie vermöchte nicht zu atmen im "luftleeren Raum" des reinen Gedankens, in dem der bloße Verstand auf den Flügeln der Ideen sich emporschwingen möchte; sie scheut, nach jenem kräftigen Wort KANTs, die "hohen Türme" der metaphysischen Baumeister, um welche "gemeiniglich viel Wind ist"; sie sucht das "fruchtbare Bathos" (Tiefland) der Erfahrung im weiten Sinne des Wortes, d. h. sie strebt sich fest einzuwurzeln in die gesamte schaffende Arbeit der Kultur: im theoretisch wissenschaftlichen "Buchstabieren der Erscheinungen"; im praktischen Gestalten sozialer Ordnungen und eines menschenwürdigen Lebens innerhalb dieser auch für die Individuen; im künstlerischen Bilden, ästetischer Lebensgestaltung; im innerlichsten Gestalten selbst des religiösen Lebens. Denn: "Im Anfang war die Tat", die schöpferische Tat der Objektgestaltung jeder Art, in der allein der Mensch sich selber, sein Menschenwesen aufbaut und, indem er sich darin objektiviert, das Gepräge seines Geistes seiner Welt - vielmehr einer ganzen Welt solcher Welten, die alle er die seinen nennen darf - zutiefst und vollkommen einheitlich aufprägt.

Der schöpferische Grund aber aller solchen Tat der Objektgestaltung ist das  Gesetz;  zuletzt jenes Urgesetz, das man noch immer verständlich genug als das des  Logos der  Ratio,  der  Vernunft  bezeichnet. Und das nun ist die zweite, die entscheidende Forderung der transzendentalen Methode: zum Faktum den Grund der "Möglichkeit" und damit den "Rechtsgrund" nachzuweisen, das heißt: eben den Gesetzesgrund, die Einheit des Logos, der Ratio in all solcher schaffenden Tat der Kultur aufzuzeigen und zur Reinheit herauszuarbeiten. Denn wenn die Tat der Gestaltung selbst allerdings das Erste ist, so garantiert doch nicht sie ohne weiteres schon ihre eigene Reinheit, d. i. die strenge, nie aus ihrer Bahn weichende Gesetzmäßigkeit der Gestaltung. Indem also die Methode, in welcher Philosophie besteht, auf die schaffende Tat der Objektgestaltung jeder Art immer streng und ausschließlich gerichtet bleibt, sie aber in ihrem reinen Gesetzesgrund erst erkennt und in dieser Erkenntnis sichert, so erhebt sie sich freilich, dem Gesichtspunkt nach, über sie, "transzendiert" sie in diesem rein methodischen Sinn; aber dieses methodische Hinaufsteigen zu einer höheren Stufe der Betrachtung, auf welches das Wort "transzendental" hindeutet, streitet gar nicht mit der Immanenz des echten Erfahrungsstandpunktes, sondern deckt sich gerade mit ihr; denn sie will nicht von außen her der Tat der Erfahrung Gesetze aufzwingen, nicht vorgreifend ihr die Geleise legen, in denen sie zu laufen habe, sondern nur eben das Gesetz, durch das sie überhaupt, selbst als Aufgabe, "allein möglich" ist, in seiner Reinheit herausstellen, um im sicheren Bewußtsein dieses ihres eigenen Gesetzes sie auch für ihren weiteren Fortgang gerade in ihrer Selbständigkeit zu sichern und vor fremder Ablenkung zu bewahren. So wird die transzendentale Methode zur "kritischen": kritisch gegen metaphysische Übergriffe, kritisch auch gegen einen gesetzlosen, gesetzesflüchtigen Empirismus. Sie macht die Autonomie der Erfahrung geltend ebenso sehr gegen die Heteronomie eines sie meistern wollenden Metaphysizismus, wie gegen die Anomie [Normlosigkeit - wp] eines gesetzesbaren, wohl gar gesetzfeindlichen Empirismus.

Indem sie aber, als immanente Methode, das Gesetz der objektiven Gestaltung nirgends anders aufsuchen kann, als in dieser objektiven Gestaltung selbst, in der immer im Werk befindlichen, nie abgeschlossenen Schöpfung des Kulturleben der Menschheit, bewahrt sie zugleich streng  objektiven  Charakter; scheidet sie sich also scharf von jedem "Psychologismus". Hat KANT und so auch COHEN in seinen ersten Schriften, die Sprache der Psychologie nicht ängstlich gemieden, so wurde doch die abgründliche Verschiedenheit des transzendentalen Gesichtspunkts vom psychologischen fort und fort betont; es blieb uns daher in dieser Beziehung auch von HUSSERLs schönen Ausführungen (im ersten Band der "Logischen Untersuchungen"), die wir nur freudig begrüßen konnten, doch nicht gar viel erst zu lernen übrig. Nicht als wäre es unsere Meinung, die Psychologie überhaupt von der Philosophie auszuschließen, sie bedingungslos der Empirie überweisen zu wollen; nur zur Basis der Philosophie kann sie uns nicht taugen. Der Psyche den Logos, der Seele die Sprache zu geben, ist nicht die erste, sondern gerade die allerletzte Aufgabe der Philosophie. Nicht unmittelbar läßt sich dem Unmittelbaren des seelischen Erlebens beikommen, sondern nur im Rückgang von seinen Objektivierungen, die darum voraus in ihrer selbst rein objektiven Begründung schon gesichert sein müssen.

Doch birgt sich in der Forderung der Rückgangs auf das unmittelbare, konkrete "Leben" des Bewußtseins von allen bloßen Abstraktionen, sei es der Wissenschaft oder der Philosophie  ein  berechtigtes Motiv: die sehr gegründete Verwahrung gegen den Anspruch abolutistischer Philosophie, mit einer fertigen Summe begrifflicher Elemente das unendlich flutende Leben des Bewußtseins rein logisch zu bewältigen, das heißt in Wahrheit zu vergewaltigen; den ewig bewegten Strom dieses Lebens stillzustellen. Die transzendentale Methode, als immanente, ist in solcher Gefahr nicht; sie ist selbst  fortschreitend, entwickelnd,  auch  unendlicher  Entwicklung gewachsen; nicht starr, in einem eleatischen Weltstillstand erstarrt, auch nicht um einen fixen Punkt bloß, in fixen Bahnen, gleich der Gestirnwelt der antiken Astronomie, in ewig gleichem Kreislauf sich bewegend. Gerade das besagt uns die Philosophie als  "Methode":  alles fixe "Sein" müsse sich lösen in einen "Gang" eine  Bewegung  des Denkens. Damit erst verliert die eleatische und überhaupt idealistische Gleichsetzung von Sein und Denken den Schein der öden Tautologie, die eigentlich das Sein im Denken nur gründet, indem sie das Denken zu einem neuen dinghaften Sein gefrieren läßt. Der echte Idealismus ist mitnichten der des eleatischen "Seins", oder der immer noch eleatisch starren "Ideen" als PLATOs Frühzeit, sondern der der "Bewegung", des "Wandels" der Begriffe nach PLATOs "Sophist", der "Begrenzung des Unbegrenzten", des ewigen "Werdens zum Sein" nach dem "Philebus". Das spricht sich in KANT aus, wenn er das Denken als Spontaneität, d. i. als Erzeugung aus einem Unendlichkeitsgrund, darum als Handlung, als Funktion erklärt; es spricht sich aus im Resultat der transzendentalen Analytik: daß der Verstand, hinsichtlich der "Form", das heißt eben: der gesetzmäßigen Funktion, der Urheber, nicht bloß der Dolmetscher der Natur (nämlich der Natur der Naturwissenschaft) sei; es spricht sich besonders klar und ergreifend aus in der Auflösung der Antinomie, welche die "Erfahrung" als unendliche Aufgabe von jeder dogmatischen Absperrung befreit und, im Hinblick eben auf den unendlichen Fortgang der Erfahrung, das "Ding an sich" aus der starren Schranke, die es anfangs noch zu bedeuten scheinen konnte, zum reinen Grenzbegriff wandelt, der die Erfahrung in nichts anderem mehr als ihrem eigenen schöpferischen Gesetz begrenzt; so wie der "unendlich ferne Punkt" der Mathematiker nur der Ausdruck ist für die unaufheblich fortbestehende Richtungseinheit der unendlichen Geraden, die mit dieser selbst uranfänglich gesetzt, nicht von außen her ihr vorgeschrieben ist. Denn freilich richtungslos darf der "Gang" der Erfahrung auch in seiner Unendlichkeit nicht gedacht werden. Im Wort "Methode", im  methienai,  liegt nicht bloß überhaupt ein "Gehen", ein Sichfortbewegen; auch nicht, wie HEGEL meint, ein bloßes Mit- und Nebenhergehen, sondern es bedeutet Gehen nach einem Ziele hin oder jedenfalls in sicherer Richtung: "Nachgehen". Auch fragt Philosophie nicht bloß nach irgendwelcher Methode, die allenfalls für jede neue Aufgabe eine neue sein könnte, sondern nach "der" Methode, nach der schließlichen Einheit der Methode, in der der "die" Erkenntnis, die schließliche Einheit der Erkenntnis und damit der schaffenden Tat der Kultur, sich begründe. Diese Einheit eines unerschöpflichen Quells gesetzmäßiger Gestaltung hat COHEN in seinem Prinzip des "Ursprung" zu starkem und reinem Ausdruck gebracht; es will besagen: nichts dürfe als "gegeben", das heißt, ohne Rückführung, ohne wenigstens überhaupt abzusehende Rückführbarkeit bis auf den letzten Einheitsgrund schaffender Erkenntnis hingenommen werden. Ein "Gegebensein" darf nichts mehr bedeuten wollen, als den Charakter der noch zu lösenden Aufgabe - Aufgabe eben des Ursprungsnachweises aus dem Einheitsgrund der Erkenntnis. Diese Aufgabe mag unendlich sein, sie ist es in letztem Betracht immer; aber eben darum besteht sie auch immer als Aufgabe; ein Gegebenes im Sinne des Fertigen, Abgeschlossenen, der weiter und weiter vordringenden Bearbeitung der Erkenntnis Entzogenen gibt es nicht, darf es nicht geben. In wesentlich gleichem Sinn betone ich den  Prozeß charakter der Erkenntnis, ihren Charakter als  Fieri,  nicht starres, abgeschlossenes Faktum, das heißt, als Werden, eben nach PLATO: zum-Sein-Werden, als Bewegung auf ein Sein hin, nicht Stillstand bei einem ruhenden Sein. Die Forderung der schließlichen Einheit der Methode aber auch im unendlichen Fortgang ist gegeben mit der Forderung der Methode selbst; denkt man sie nicht darin mit, so wird es sofort zweifelhaft, ob Philosophie überhaupt auch nur als Aufgabe bestehe; wie denn ihr Bestand von jeher allen denen zweifelhaft geworden ist, die nicht zu dieser strengen Einheitsforderung sich erheben konnten.

In diesem Grundgedanken also der Philosophie als Methode und zwar Methode einer unendlichen, schöpferischen Entwicklung, glauben wir den Kern, den unzerstörlichen Grundgehalt der "transzendentalen" Methode" als der Methode des Idealismus und somit den unzerstörlichen Grundgehalt der Philosophie KANTs, festzuhalten und erst zur reinen Durchführung zu bringen. Dieses Grundmotiv aber ist nun zwar in KANT überall wirkend, ja letztentscheidend; durch es wird die Gesetzlichkeit der Natur und wird auch die sittliche Gesetzlichkeit zur Selbstgesetzgebung der Vernunft, wird auch die künstlerische Gestaltung, wird Religion selbst zur ewigen, eigenen Tat des Menschengeistes; wird die Welt unser, nach dem scharf trennenden Wort des Kantianers unter den Dichtern: "Es ist nicht  draussen,  da sucht es der Tor, Es ist  in  dir, du  bringst  es ewig hervor." Dennoch sind es weder wenige noch unwichtige Punkte, in denen die Lehre KANTs, so wie sie in ihrer geschichtlichen Bedingtheit vorliegt, sich diesem Kerngedanken nicht restlos fügt und also einer Korrektur, nach der unerbittlichen Forderung ihres eigenen tiefsten und letzten Prinzips, bedarf.

Da stoßen wir gleich im Eingang der "Kritik" auf die alte Schwierigkeit: die Gegenstellung der  "Anschauung",  als besonderer, unterschiedlicher Art der Gegebenheit vonseiten eines affizierenden Objekts, der Empfänglichkeit (Perzeptivität) vonseiten eines affizierenden Subjeks, gegen das  Denken  als allein eigene Funktion der Erkenntnis, als reine Spontaneität. Diesen Dualismus der Erkenntnisfaktoren in solcher Fassung stehen zu lassen, ist schlechthin unmöglich, wenn es mit dem Kerngedanken der transzendentalen Methode ernst sein soll.

Es muß aber dann, mit der Rezeptivität des Subjekts und dem Affizieren des Objekts überhaupt, auch die Gegebenheit der  Empfindung  als der "Materie" der Erkenntnis fallen. Es darf von keinem gegebenen "Mannigfaltigen", das der Verstand, gebunden überdies an die gegebenen Anschauungsformen, bloß aufzureihen, zu verbinden und - nachträglich - zu rekognoszieren hätte, mehr die Rede sein. Damit aber muß auch der ganze Sinn der "Synthesis", der "Apperzeption", kurz beinahe alles und jedes in KANTs Aufstellungen sich ändern.

Wie darf überhaupt - das ist der alte, voll begründete Anstoß - ausgegangen werden von einer affizierenden Einwirkung des Objekts, der eine bestimmte Weise der Empfänglichkeit auf Seiten des Subjekts entspricht; wie darf ein Subjekt und ein Objekt, vor der Erkenntnis voraus, und zwischen diesen eine kausale Wechselbeziehung: Geben, Affizieren von der einen Seite, Empfangen, Affiziertwerden nach einer besonderen Natur des Aufnehmenden auf der anderen, aus welcher die Erkenntnis erst entspringe, überhaupt angenommen und gar an den Anfang gestellt, also allem weiteren zugrunde gelegt werden? Das heißt ja gerade, von außen die Erkenntnis konstruieren wollen, da doch kein Standpunkt außerhalb ihrer gegeben, noch denkbar ist, von dem aus man sie, in einem kausalen Verhältnis offenbar transzendenter Art, entstehen lassen könnte. Das ist Rückfall in einen Metaphysizismus, der mit transzendentaler Methode schlechterdings unverträglich ist. Das ist ja doch gänzlich aufgelöst durch die radikale Feststellung KANTs, der der aller Sinn, alles Recht der kritischen Methode sich begründet: daß überhaupt alle Beziehung auf den Gegenstand, aller Begriff vom Objekt und also auch vom Subjekt, allein in der Erkenntnis, ihrem Gesetz zufolge, entspringt; denn der Gegenstand muß sich nach der Erkenntnis richten, nicht die Erkenntnis nach dem Gegenstand, wenn eine gesetzmäßige Beziehung zwischen beiden überhaupt begreiflich werden soll.

Gleichwohl bleibt KANTs Unterscheidung von Anschauung und Denken einerseits, Form und Materie andererseits von tiefer sachlicher Begründung. Was zunächst das Erste betrifft, so bedeutete es für KANT eine große, ja entscheidende Errungenschaft, daß Zeit und Raum als Formen der Anschauung von reinen Denkbegriffen scharf unterschieden, dennoch nicht sinnliche Gegebenheiten seien; er empfindet dies mit gutem Grund als einen überaus wichtigen Schritt über PLATO und LEIBNIZ hinaus gerade in der Richtung des Idealismus, indem er damit ein Apriori sogar der Sinnlichkeit entdeckt zu haben glaubt. Rein sachlich aber, als "Faktum" der Wissenschaft, lag dieser Unterschied unwidersprechlich vor, zwischen Zeit und Raum als einzelnen, singulären Gebilden und einem begrifflichen "Generikum", wie es bereits EULER (1748) scharftreffend formuliert hatte. Allein, sind denn Zeit und Raum, als schlechthin einzelne, singuläre Gebildet, uns - gegeben? Gewiss, die Weltzeit, der Weltraum NEWTONs waren solche singuläre Gebilde, feststehende Stellenordnungen, die nicht selbst wieder ihre Stelle wechseln durften, darum notwendig, ihrem Begriff, ihrer ganzen Funktion in der Erkenntnis zufolge, schlechthin einzig, unverrückbar, absolut -  gedacht  werden mußten. In der Tat: so ist es  gefordert  zur Möglichkeit auch nur des Begriffs einer "Tatsache", welche ohne sicheren Zeit- und Ortsbezug der eindeutigen Bestimmtheit, die ihren Begriff eben ausmacht, ermangeln würde. Aber daß jene Gebilde, in dieser, so notwendig zu denkenden Absolutheit, doch nichts weniger, als  gegeben  sind, das wird schon bei NEWTON selbst klar genut, und es ist geerade durch KANT in schlagender Argumentation dargetan worden. Sie müßten gegeben sein, wenigstens gegeben werden können, wenn je ein Gegenstand in der Erfahrung, wenn eine "Tatsache" schlechthin gegeben, d. h. abschließend bestimmt sein sollt; denn dazu gehörte ohne Frage ihre Bestimmtheit in Hinsicht des Ortes und der Zeit, die selbst als Forderung keinen Sinn hätte, wenn nicht die Raum- und Zeitstelle selbst festbestimmt, also gegeben gedacht würde. Daher macht Naturwissenschaft getrost diese Voraussetzung, legt sie zugrunde, da sie ohne diese Voraussetzung eben nicht fortkommen, vielmehr überhaupt nicht beginnen könnte; denn was sollte sie ohne "Tatsachen" wohl anfangen. Gleichwohl ist diese Festigkeit und Absolutheit der zeitlich-räumlichen Ordnung nicht gegeben und könnte auch nie gegeben werden. Sondern, was durch das Faktum der Wissenschaft sicher steht, ist allein die  Intention  auf sie hin. Diese allerdings liegt zwingend in aller Empirie, selbst schon in ihrem Begriff. Gegebenheit  heißt  Bestimmtheit in einziger Weise, also, als zeitlich-räumliche, auch hinsichtlich der einzigen Zeit, des einzigen Raumes. Aber diese "Gegebenheit" selbst ist nicht - gegeben, sondern gefordert- vom Denken. Denn Denken heißt Bestimmen; bestimmt ist für die Erkenntnis nichts, das nicht sie selbst bestimmt hätte; gefordert aber ist die Bestimmung an sich ohne Einschränkung; eine Bestimmung also, die  nichts unbestimmt lasse.  Diese vom Denken geforderte Bestimmtheit des Gegenstandes (als "Tatsache") ist also auch vom Denken zu leisten - so wie sie überhaupt nur geleistet werden kann. Geleistet werden kann sie aber nur im Sinne des  Wagnisses der Hypothesis.  Dieses Wagnis ist unumgänglich, soll überhaupt der Prozeß der Erfahrung in Gang kommen und im Gang bleiben; so wie mein Fuß einen Stand nehmen muß, wenn er soll gehen können; dieses Standnehmen ist notwendig, aber der Stand muß immer wieder verlassen werden. So allein ist alle empirische "Feststellung" zu verstehen; und so nur setzt sie die Wegpunkte der Zeit und des Raumes selbst als fest; schon ihre Festigkeit ist bloß Hypothesis und kann, wie die moderne, radikale Relativierung der Zeit- und Raumbegriffe über und über bewiesen hat, über diese Hypothesisgeltung niemals hinausgebracht werden. Angesichts der "Faktums der Wissenschaft", wie es zumal seit KANT sich gestaltet hat, würde sicher dieser selbst es voll begriffen haben (denn er war von vielen Seiten dazu vorbereitet), daß in den Grundbestimmungen der Zeit und des Raumes in geradezu typischer Weise das  Denken als "Funktion"  und nicht eine "Anschauung, die noch irgendetwas vom Charakter bloßer Rezeptivität behielte, sich ausprägt. Die "Gegebenheit" selbst wird zum  Problem  - zum Problem des  Denkens.  - In KANT selbst, sage ich, ist diese Wendung von allen Seiten vorbereitet. In der "transzendentalen Deduktion (2. Auflage) wird es völlig klar, daß die Einheit der Zeit und des Raumes, die in der transzendentalen Ästhetik nicht bloß (wie er sagt) "zur Sinnlichkeit gezählt" wurde, sondern gerade den unterscheidenden Charakter der sinnlichen Anschauung ausmachen sollte, vielmerh erst auf einer Leistung des Denkens beruth, durch welche  "der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt",  und so Raum und Zeit  "als Anschauungen  zuerst gegeben werden" (Anmerkung zu § 26). Der systematische Ort für diese Leistung des "Verstandes" aber wären offenbar die  Modalität,  die Modalitätskategorie der Wirklichkeit, welche letztere, eben als Kategorie, nicht einen Abschluß der Erkenntnis, sondern nur eine  "Bedingung - möglicher - Erfahrung"  bedeuten will.

So bleibt "Anschauung" nicht länger als denkfremder Faktor in der Erkenntnis dem Denken gegenüber- und entgegenstehend, sondern sie  ist  Denken, nur nicht bloßes Gesetzesdenken, sondern volles Gegenstandsdenken; sie verhält sich zum Denken des Begriffs, wie zum Gesetz der Funktion die Funktion selbst in ihrer Ausübung, im Vollzug. Dieser fordert in jedem einzelnen seiner Stadien streng eindeutige Bestimmung, Bestimmung aber stets in Hinsicht der gesetzmäßigen Funktionen des Denkens selbst: Bestimmung des Einzelnen, der Quantität, der Qualität, der kausalen Wechselrelation nach und deren Gesetz gemäß. Damit  wird  erst "gegeben", was als ein Fixum gegeben zu  sein  schien; völlig durchsichtig wird damit der merkwürdig aufklärende Satz (im Abschnitt vom obersten Grundsatz der synthetischen Urteile): "Einen Gegenstand  geben  - das ist  unmittelbar in der Anschauung darstellen,  ist nichts andere, als: dessen Vorstellung  auf Erfahrung  (es sei wirkliche oder doch  mögliche) beziehen";  auf Erfahrung - deren "Möglichkeit" im System der Grundsätze nachzuweisen KANT an jener Stelle erst im Begriff ist. Die Gegebenheit wandelt sich so zum -  Postulat  der Wirklichkeit; sie gewinnt rein  modale  Bedeutung.

Das allein ist reiner Idealismus. Es hieße gerade das Tiefste der Vernunftkritik preisgeben, wenn man diese radikale Berichtigung, die im Kern nach als Selbstberichtigung in KANT bereits vorliegt, nicht aufnehmen und rein durchführen würde, bloß um die längst unhaltbar gewordenen, aus der Inaugural-Dissertation von 1770 (d. h. einer noch halb, ja mehr als halb dogmatischen Position) stehen gebliebenen Bestimmungen der transzendentalen Ästhetik um jeden Preis zu retten.

Ganz dem Entsprechendes wird aber dann auch gelten müssen von der Gegebenheit der  "Materie"  der Erkenntnis, welche in den gleichen Anfangsbestimmungen der transzendentalen Ästhetik, die den Begriff der "Anschauung" aufstellen, die  "Empfindung"  vertritt. Auch diese Gegebenheit hat die Modalitätskategorie der Wirklichkeit und nur sie auf sich zu nehmen; damit wird die Empfindung selbst zum bloßen Ausdruck des  Problems  der Erfahrungsbestimmtheit, der  Intention  der Wirklichkeitsaussage auf das Einzelne der Quantität, der Qualität und der Relation. Im Grunde wird auch schon in der transzendentalen Deduktion die Empfindung zur Setzung des Einzelnen in der "Apprehension", wie die Wahrnehmung zum Prozeß der "Reproduktion", die in Wahrheit vielmehr Produktion des Wahrnehmungsbildes wird, als Ausdruck gerade der letzten Bestimmtheit des Empirisch-Wirklichen aber vollendet sich der Empfindungsbegriff erst im bestimmenden Akt der "Rekognition", die nicht "Wiedererkenntnis" voraus gegebener Identität, sondern nur schlechthin ursprüngliche Setzung von Identität bedeuten darf, wenn doch, nach der klaren Konsequenz der transzendentalen Methode, dem Denken bestimmt nichts sein kann, was nicht es selber bestimmt hat.

Es fällt demnach der unterscheidende Charakter der "Anschauung" und vollends der "Empfindung" nicht etwa ersatzlos weg; er hört nur auf, einen zweiten, schlechthin unabhängig und schließlich beherrschend dem Denken gegenübertretenden Erkenntnisfaktor, ein Denkfremdes zu bedeuten, dem das Denken sich lediglich zu fügen hätte. Bestimmung ist Denken, Erfahrungsbestimmtheit also muß selbst Denkbestimmtheit sein, nämlich die volle, gegenüber der abstrakten Denkbestimmtheit der allgemeinen Gesetze, die vielmehr nur Anweisung auf Bestimmung, Bestimmungsmöglichkeit, als wirkliche Bestimmung, ist. "Spontaneität" ist beides, aber das eine als Gesetz, das andere, als wirklicher Vollzug der immer spontanen, nichts von außen rezipierenden Bestimmung, dem Gesetz gemäß;  "Ausübung der Spontaneität"  heißt es einmal sehr bezeichnend bei KANT (transzendentale Deduktion, § 24; 2. Auflage, Seite 151).

Man hat eine besondere Schwierigkeit darin finden wollen, was wir wohl, bei dieser Behauptung der reinen Spontaneität der Erkenntnis, mit dem  Experiment  anfangen. Aber wie will man leugnen, daß die Aussage, welche das Ergebnis des Experiments formuliert, aus Denkbestimmungen, nichts als Denkbestimmungen sich zusammensetzt? Da wird ausgesagt über Identität und Verschiedenheit und zwar allemal innerhalb eines Kontinuums; über Zahlbestimmtheiten; vor allem aber Relationsbestimmtheiten: Wenn  A,  dann  B,  wenn nicht  A,  dann nicht  B,  usw.; welches alles außer dem Denken, anders als Bestimmung des Denkens, überhaupt keinen Sinn hätte.

Was den Schein des Herausfallens aus dem Denken immer wieder hervorruft, ist eben jener von uns betonte Unterschied: es ist das Wagnis einer vollen Bestimmung, die freilich das "bloße" Denken (im Sinne des Gesetzesdenkens) für sich nicht rechtfertigen könnte. Was der Sinn und das Recht dieses Wagnisses ist, wurde gesagt; daß es aber ein Wagnis und zwar des Denkens ist, wird klar in jedem neuen Experiment, welches das vermeintlich feststehende Ergebnis eines früheren berichtigt; Unbestimmtheiten aufdeckt, wo man volle Bestimmtheit schon erreicht glaubte und nun engere, zugleich vorsichtigere, etwa bloße Grenzbestimmungen an ihre Stelle setzt. Gewiß ist keine solche Bestimmung willkürlich, schlechthin in unserer Hand; aber was besagt das anderes, als die Voraussetzung, daß in der Natur durchweg Ursachbeziehung walte; was doch eben Voraussetzung - des Denkens ist; denn Kausalität soll doch wohl nicht, HUME zum Trotz, "gegeben" sein, sondern ganz besonders sie wird vom Denken erst gesetzt und, wenn erkannt, nur hypothetisch, also doch gewiß denkend, erkannt. Diese Erkenntnis ist ersichtlich Denkleistung, Versuch der Einheitskonstruktion, nichts anderes. Ein verstiegender Anspruch liegt hier nicht aufseiten des kritischen Idealismus, der in aller Erfahrung überhaupt nur hypothetische Setzungen kennt, sondern er liegt aufseiten eines solchen Empirismus, der absolute Data behauptet, welche doch die tiefer eindringende Forschung nirgends verifiziert, sondern immer wieder als Täuschung entlarvt. Der dem Idealismus sich entgegenstemmende Empirismus enthüllt sich immer wieder als falscher Absolutismus, während der transzendentale Idealismus gerade den echten Empirismus bedeutet, der ein Absolutes in der Erfahrung schlechterdings nicht anerkennt.
LITERATUR - Paul Natorp, Kant und die Marburger Schule, Kantstudien 17, Berlin 1912
    Anmerkungen
    1) Vortrag, gehalten in der Sitzung der Kantgesellschaft zu Halle am 27. April 1912 (etwas erweitert)