cr-4ra-1ra-2 G. W. CampbellM. BakuninJ. VolkeltSchmalenbach    
 
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS
Der Begriff der Individualität
als fiktive Konstruktion

[1/2]

"Ein besonders häufiger Fall ist der, daß sich der Verstand in schnellstem Tempo entwickelt, während das Gefühlsleben fast auf derselben Stufe stehen bleibt, auf der es in einem früheren Lebensalter stand, so daß zwei verschiedene Persönlichkeiten entstehen, je nachdem der Verstand oder das Gefühl den Ton angibt. Gar mancher Gelehrte, der auf die Entstehung der Arten im Sinne Darwins schwört und lange den geozentrischen Standpunkt in der Astronomie zum alten Eisen geworfen hat, hält doch gefühlsmäßig am Kinderglauben fest. Entweder ist er sich dieser Spaltung zwischen Verstand und Gefühl bewußt und verwendet dann wohl gelegentlich seinen Scharfsinn dazu, durch dialektische Künste den Zwiespalt zu überbrücken oder zu beweisen, daß das Gefühl doch recht habe. Oder aber es laufen die beiden verschiedenen Persönlichkeiten, die aufgeklärte wissenschaftliche und die kindergläubige, getrennt nebeneinander her. Die oberflächliche Menschenbeurteiltung spricht in diesem Fall oft von Heuchelei."

Einleitung
Das Problem

Das Problem der Individualität oder - wie wir mit geringer Schattierung ebenfalls sagen - das Problem der Persönlichkeit ist trotz seiner außerordentlichen Wichtigkeit und Verzweigtheit von der Wissenschaft bisher sehr stiefmütterlich behandelt worden. Die Philosophen, bis auf wenige Ausnahmen, sahen meist vollkommen darüber hinweg. Nur das "allgemeine" Ich, das "erkenntnistheoretische Subjekt" oder sonst ein abstraktes Gebildet vertrat für ihre Forschungen die Stelle der individuellen, lebendigen Persönlichkeit in ihrer konkreten Vielspältigkeit. - Umso mehr Hochachtung erwiesen die älteren Historiker den Individualitäten. Sie sahen darin eine Art Mysterium, letzte Gegebenheiten, denen gegenüber jede wissenschaftliche "Erklärung" versagen müsse und denen sie das ganze Weltgeschehen aufbürdeten. - Die  Historiker neueren Schlags,  besonders wenn sie von  naturwissenschaftlichen  Methoden beeinflußt waren, erwiesen den Individualitäten bedeutend weniger Reverenz. Sie behandelten dieselben nicht als unnahbare Wesenheiten transzendenten Ursprungs, sondern gingen ihnen keck mit allerlei Erklärungsprinzipien zuleibe. Aber keinerlei, ob sie aus der "Rasse", der "Vererbung", dem "Milieu", aus wirtschaftlichen oder psychologischen Zeitverhältnissen die Persönlichkeit erklären zu können glaubten, es erwies sich doch, daß ihre Prinzipien viel zu allgemein und schematisch waren, um etwas so unendlich Kompliziertes, wie es jede Individualität ist, restlos erschöpfen zu können. - Das neueste Verfahren, der Individualität beizukommen, tritt wesentlich bescheidener auf. Die  differentielle Psychologie  will zunächst nicht "erklären", sondern vor allem "beschreiben" und das Gefundene in Typengruppen "ordnen". Es ist kein Zweifel, daß diese Methode das Problem am meisten zu fördern verspricht, und wir werden oftmals ihre Ergebnisse zu Rate zu ziehen. Indessen geht auch die differentielle Psychologie von Voraussetzungen aus, die vorher prinzipiell erörtert werden müssen. Vor allem setzt sie stillschweigend voraus, daß die Individualität überhaupt begrifflich zu fassen sei. Und damit kommen wir zu unserer Stellung des Problems. Wir beginnen mit dem Nachweis, daß jede Individualität letzten Endes eine  irrationale Größe  ist, die sich einer erschöpfenden begrifflichen Fassung überhaupt entzieht. Des weiteren erörtern wir, inwieweit dennoch von einer Rationalisierung der Individualität gesprochen werden kann; wir prüfen die Möglichkeiten und die bisherigen Lösungsversuche, denen wir eine eigene Lösung entgegenstellen, und wir unternehmen es zum Schluß, die Anwendbarkeit dieser Lösung auf die verschiedensten Lebensgebiete darzutun.

Als "rational" bezeichnen wir dabei einen Begriff, der sich scharf umgrenzen läßt und mit sich selbst identisch bleibt, kurz, der den Anforderungen der traditionellen Logik entspricht. "Irrational" dagegen heißt uns ein Tatbestand, der sich jenen Anforderungen entzieht. Fußend auf der Selbstanalyse und dem Nachweis der objektiven Widersprüche, in die man sich überall beim Versuch, die Individualität als rationalen Begriff zu fassen, verwickelt, stellen wir zunächst die Irrationalität des gemeinten Tatsachenkomplexes fest, um dann zu untersuchen, wie man trotzdem dazu gelangt, eine aus mannigfachen Gründen geforderte Rationalisierung vorzunehmen. Hinter dem so erörterten Einzelfall wird sich uns dabei das allgemeinere, erkenntnistheoretische Problem erheben, ob und wie weit es überhaupt möglich ist, das irrationale Sein, innerhalb dessen die als "individuell" bezeichneten Tatsachen nur einen Ausschnitt darstellen, in rationale Begriffe einzufangen. Insofern wird sich unsere Lösung des Einzelproblems zu prinzipieller Bedeutung ausweiten.


Kapitel I.
Das Irrationale der Individualität

1. Versuchen wir es, diejenigen Tatbestände, die man gemeinhin, ohne die Berechtigung dazu nachzuprüfen, als "individuell", ansieht, gegen diejenigen abzugrenzen, die keinen Anspruch darauf haben, in den Kreis des Individualitätsbegriffs einbezogen zu werden, so stoßen wir auf unüberwindliche Schwierigkeiten.

Selbst wenn wir, was zuweilen geschieht, unsere Individualität gleichsetzen mit unserer  leiblichen  Individualität und eine geistige Individualität nur soweit gelten lassen, als sie von der leiblichen getragen wird, selbst dann ist die Grenze (in diesem Fall die Haut unseres Körpers) bedeutend abstrakter, als es auf den ersten Blick scheint. Denn der so umgrenzte Sachbestand kann zwar von bestimmten Umgebungen isoliert werden, keineswegs aber von einer Umgebung  überhaupt.  Nur abstrakt kann er als Absolutum gelten, realiter bildet er stets einen Teilbestand größerer Zusammenhänge, letzten Endes der Welt, mit denen er in beständiger und notwendiger Wechselbeziehung steht. Das Bestehen unserer leiblichen Persönlichkeit ist daran geknüpft, daß unablässig Atem, Speise und Trank durch sie hindurchgehen, daß sie einen Boden hat, auf dem sie fußt, daß beständige Reize ihre Sinnesorgane wachhalten und daß hundert andere Beziehungen zur Außenwelt vorhanden sind. Die Ausschaltung nur eines Teils derselben würde die Vernichtung des Leibes bedeuten.

Mit unserer  geistigen  Persönlichkeit ist's aber nicht anders. Verstehen wir darunter zunächst nur den an unseren Leib gebundenen Bewußtseinskomplex, so ergibt sich, daß sich auch um ihn höchstens eine abstrakte und in jedem Augenblick wechselnde Grenze ziehen läßt. Die Körperhaut kann hier noch weniger als beim Leib als Scheidewand dienen. Denn sind nicht bereits unsere Sinnesempfindungen jenseits der Haut lokalisiert,  zugleich  als  unser  Erleben und als etwas  außer uns  Liegendes charakterisiert? Nehme ich einen Stock zur Hand und taste ich mit seiner Spitze einen Gegenstand ab, so ist mein Empfinden in der Spitze des Stocks lokalisiert. Nehme ich ein Fernrohr zur Hand und erschaue ich damit einen Stern in der Tiefe des Himmelsraums, so beziehe ich diesen Stern gleichsam ein in meine Individualität, sein Licht wird  meine  Empfindung, meine Individualität reicht sozusagen bis zu jenem Stern. Man hat daher geistreich die Werkzeuge als Verlängerungen unserer Sinnesorgane bezeichnet; man könnte sie auch als Ausdehnungsmöglichkeiten unserer Individualität ansehen. Denn sie erweitern die Möglichkeit, das hypothetische Zentrum unserer Persönlichkeit mit der Außenwelt in Beziehung zu setzen, und in der Wirklichkeit besteht ja unsere Persönlichkeit fast ausschließlich aus solchen Beziehungen. Auch unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Willenshandlungen sind zum größten Teil solche Beziehungen zur Außenwelt, die diese gleichsam aufnehmen in den Kreis des Persönlichen. Die Kleider, die wir tragen, das Haus, das wir bewohnen, die Frau, die wir lieben, empfinden wir als verbunden mit unserer Persönlichkeit. Ich spreche von "meinem" Freund, wie ich von "meinem" Herzen spreche. Die Vorstellung des Malers ist ein Teil seines Selbst, sie bleibt es auch, wenn er sie zum Bild gestaltet. Wir sagen, "seine Persönlichkeit steckt in seinem Werk". Stirbt uns ein lieber Mensch, so haben wir das Gefühl, ein Teil unserer eigenen Persönlichkeit führe mit ihm in die Grube, und das ist mehr als eine bloße Metapher. Denn noch weniger als unsere leibliche ist unsere geistige Persönlichkeit von der äußeren Körperhaut umschlossen, sie hat überhaupt keine bestimmte Grenze. Sie steht in beständigem Zusammenhang mit wechselnden Teilen der Welt, die ebenso gut oder ebenso schlecht isolierbar sind wie sie selbst.  Kurz, höchstens durch Abstraktion, niemals realiter, läßt sich unsere Persönlichkeit, die geistige so wenig wie die leibliche, umgrenzen. 

Nur ganz kurz sei hier das Problem des Verhältnisses der leiblichen zur geistigen Persönlichkeit gestreift, ohne daß wir uns an die schwierigen metaphysischen Fragen, die sich an dieses Problem knüpfen, zu verwickeln gedenken. Einerlei, ob man sich für den Parallelismus oder die Wechselwirkung entscheidet, zugeben muß man, daß enge Beziehungen zwischen leiblicher und seelischer Persönlichkeit bestehen, zugleich aber, daß die geistige Persönlichkeit viel weiter reicht als die leibliche. Das zeigt sich vor allem daran, daß die geistige Persönlichkeit den leiblichen Tod zu überdauern vermag. Wir meinen das hier nicht im Sinne einer transzendenten Unsterblichkeitslehre, sondern bleiben ganz im Diesseits, wenn wir konstatieren, daß die Persönlichkeiten CHRISTI, LUTHERs, GOETHEs noch heute lebendig sind und wirken, obwohl die körperlichen Träger schon lange dahin sind, ja zum Teil - wie bei CHRISTUS - in ihrer Existenz überhaupt bezweifelt werden. Dabei ist diese weiterlebende geistige Persönlichkeit nun keineswegs fest in sich begrenzt, sondern auch sie wächst noch weiter, ändert sich und breitet sich aus. Man denke nur, wie die Persönlichkeit CHRISTI nach seinem Tod an Größe, Würde und Universalität noch immer gewonnen hat und sich auch heute noch weiter wandelt. Oder welche Wandlungen auch jetzt noch die Persönlichkeit GOETHEs durchmacht! Denn die Wirkungen der Individualität gehören zu ihr selber wie die Strahlen der Sonne zur Sonne gehören. Eine feste Grenze zu ziehen, ist da nirgends. Die Peripherie der Persönlichkeit ist nirgends festzustellen. Man wende nicht ein, daß es sich um eine bloße Metapher handelt, wenn wir von einer Fortdauer der Persönlichkeit im eben ausgeführten Sinn reden. Wir handeln hier über den  "Begriff der Persönlichkeit und dieser ist nicht an die reale Existenz gebunden. Indessen wollen wir im weiteren Verlauf unserer Untersuchungen das Thema nicht so weit ausdehnen und sprechen auch von geistiger Persönlichkeit nur in dem Sinne, daß wir damit die Bewußtseinssphäre des noch lebenden Menschen meinen, und unser Hauptproblem ist die Möglichkeit, diese begrifflich zu fassen.

2. Noch in anderer Hinsicht ist es unmöglich, eine feste Grenze unserer Individualität zu ziehen. Nicht nur gegen das Außerindividuelle, auch innerhalb des  Überindividuellen,  also dessen, was zu gleicher Zeit vielen Individualitäten gemeinsam ist, gibt es keine feste Grenze. Vieles, was wir als Element unserer Individualität ansehen, haben wir nichtsdestoweniger gemein mit anderen Individualitäten. Auch das gilt vom Leiblichen wie vom Geistigen. Unsere äußere Gestalt, unser ganzer Körper, ist nur ein Teilglie einer Kette, die aus grauester Vorzeit in eine dunkle Zukunft hinübergleitet. Vieles, was wir als Allerpersönlichstes in unserer physischen Konstitution ansehen, ist Erbe von unseren Ahnen und geht weiterhin über auf unsere Nachfahren. Durch die Zeugung sind wir physisch Teile eines überindividuellen Zusammenhangs. - Und geistig sind wir das nicht minder. Wir sind Träger von Gedanken und Willensströmungen, die keineswegs nur uns angehören, sondern die wir gemeinsam mit Tausenden von anderen Indviduen haben. Und selbst unsere Gefühle, die scheinbar ganz aus dem Innern unserer Persönlichkeit stammen, können in einen seltsamen Konnex mit denen anderer Menschen treten. Bei sogenannten Massensuggestionen hört die Individualität plötzlich auf, Individualität zu sein, sie ist nur Teil der Masse, fühlt und handelt durchaus als Glied eines überindividuellen Komplexes. Was in solchen Fällen besonders grellt heraustritt, ist aber auch sonst allenthalben der Fall. Auch wo wir uns dessen nicht bewußt werden, fühlen, wollen, handeln wir durchaus als Teile eines überindividuellen Ganzen, mögen diese nun die Familie oder die Berufskaste oder der Staat oder die Menschheit sein. Unser Bewußtsein täuscht uns da oft über den wahren Sachverhalt. Mancher Mensch, der glaubt, nur für seine individuellen Interessen zu handeln, besorgt gerade damit die Geschäfte der Allgemeinheit. Auch die stärksten Individualitäten der Geistesgeschichte erscheinen, aus größerer Entfernung betrachtet, durchaus als Angehörige ihres Zeit- und Nationaltypus. Ja, ihre scheinbar individuelle Leistung stellt sich, historisch gesehen, oft als die notwendige Konsequenz zeitlich gegebener Vorbedingungen dar. MICHELANGELO oder CORREGGIO führen den Renaissancestil, indem sie als Vollender von gewissen immanenten Tendenzen desselben erscheinen, kraft ihrer Individualität in das Barock hinüber. Daher erscheint für manche Geschichtsphilosophen das Individuum nur als Träger allgemeiner Ideen. Die Berechtigung einer solchen Betrachtungsweise werden wir später beleuchten. Vorläufig stellen wir nur fest,  daß jede Indidivualität zumindest zum Teil in überindividuelle Zusammenhänge hineingehört, ja, daß es schier unmöglich ist, Individuelles und Überindividuelles einander entgegenzusetzen.  Die von GOETHE halb scherzhaft aufgeworfene Frage: "Was ist denn an dem ganzen Kerl original zu nennen?" birgt sehr weitschichtige psychologische und philosophische Probleme.

3. Aber selbst wenn wir von diesen Schwierigkeiten absehen und unsere Individualität, wie es in der Praxis des Lebens vielfach geschieht, als isolierbares Etwas ansehen, so sind damit nicht alle Fragen gelöst. Wir stehen dann vor dem Zwiespalt, daß die Individualität einerseits als etwas Konstantes, mit sich selbst Identisches angesehen wird, daß aber andererseits mannigfache Tatsachen diese Konstanz und Identität in Frage stellen. - Betrachten wir zunächst die eine Seite dieses Widerspruchs! Keine Individualität ist konstant mit sich selbst identisch, jede ist eine sich beständig wandelnde Variable! Da sind zunächst die  "typischen"  Abwandlungen: aus dem unmündigen Kind wird der Jüngling (oder die Jungfrau), es folgt das Alter der Reife und die Zeit des Hinsinkens im Greisenalter. Wir bezeichnen diese Wandlungen als die  Stufen der Reifung.  Zum Teil mit ihnen eng verknüpft und doch nicht identisch damit ist die Erscheinung der  geschlechtlichen Differenzierung;  das allmähliche Hervortreten (und spätere Zurücktreten) der sexuellen Funktionen kann als selbständiges Sondermoment innerhalb des Gesamtphänomens der Reifung angesehen werden. Derartiger Sondererscheinungen können wir indessen noch andere unterscheiden. Denn fast alle seelischen Funktionen sind nach ihrem Hervortreten und Zurücktreten  Teilfaktoren der Reifung.  Nur einige typische Fälle können hier genannt werden: der Überschwang des Gefühls und der Phantasie im Jünglings- (bzw. Jungfrauen-) Alter, das Überwiegen der ruhigen Überlegung im Mannesalter, das allmähliche Erlöschen der Leidenschaften im Greisenalter sind solche Teilerscheinungen der Reifung. Zu diesen Änderungen der seelischen Funktionen kommen die Einflüsse der  von außen  in die Seele eintretenden  Inhalte.  So ist das allmähliche Anwachsen des Erfahrungsschatzes (zunächst bloß nach seiner quantitativen Seite) ebenfalls ein Wandlungsphänomen; denn die Erfahrungen, die wir machen, sind nicht bloß äußerlich aufgenommene Materialien, die wir mitführen wie ein Wagen seine Ladung. Sie bilden unsere Persönlichkeit um, indem sie auf die erlebende Individualität zurückwirken. Ferner kommen mannigfache  Anpassungserscheinungen  hinzu: man lernt Leidenschaften beherrschen, man bildet spezifische Organe aus, man stellt sich ein auf bestimmte Lebensverhältnisse. Die Berufswahl z. B. ist eine typische derartige Einstellung.

Neben diesen typischen, d. h. in jedem Menschenleben aufzeigbaren Wandlungen steht die unübersehbare Fülle der  individuellen.  Hat doch im einzelnen Fall schon jede der typischen Wandlungen ihr individuelles Gesicht, insofern als die Phänomene der Reifung oder der sozialen Anpassung sich bei jedem Menschen in verschiedener Weise vollziehen. Erwägt man nicht nur die Menge der Erfahrungen, sondern ihre unendlichen  qualitativen  Variationsmöglichkeiten, so steigt die Wandelbarkeit der Individualität ins Ungeheure.  Bestimmte Erlebnisse,  eine Liebe, eine Freundschaft, eine Willensreizung, können tiefgreifend den ganzen Charakter beeinflusen.  Krankheiten,  besonders solche des Nervensystems, können den Menschen umwandeln, einen SAULUS zu einem PAULUS machen.  Wechsel der klimatischen, landschaftlichen, sozialen Umgebung  können abfärben auf die Individualität. Das HORAZische: "Coelum non animum mutant qui trans mare currunt" [Den Himmel, nicht ihr Bewußtsein, ändern diejenigen, die übers Meer fahren. - wp] Sehr oft finden wir, daß ein Wechsel der Umgebung (und sie es nur ein zeitweiser) auch einen Wechsel in der Individualität mit sich zieht: Wievielen Deutschen ist Italien zum "Erlebnis", also zum charakterumbildenden Faktor, geworden, d. h. sie kamen als ganz andere wieder, denn als sie hinabgezogen waren. Und zwar ist ein solcher Einfluß nicht immer ein einfaches Übernehmen fremder Einwirkungen, oft handelt es sich auch um eine  Reaktion  des bisherigen Ich gegen die neue Umwelt, so daß das Resultat des Zusammentreffens gerade der Richtung des Einflusses entgegengesetzt ausfällt. Oft hat sich der Deutsche in der Fremde erst selber gefunden, gerade  durch den Widerspruch! 
    Ich nenne eine solche Einwirkung eine  reaktive.  Sie gilt auch von der Beeinflussung durch andere  Menschen.  Nur allzuoft ist in den Geisteswissenschaften übersehen worden, daß dort, wo man von Einwirkungen einer Persönlichkeit auf eine andere spricht, nicht die Wirkung der Ursache adäquat ist. Die Einwirkung hat oft einen ihrer ursprünglichen Tendenz gerade entgegengesetzten Erfolg. Es ist ganz falsch, in diesem Fall von  "Mißverstehen"  zu sprechen. Wenn Kant auf Fichte einwirkt in einer Richtung, die er selbst als adäquat nicht anerkennen kann, so bleibt es doch eine oberflächliche Beurteilung, wenn man glaubt, das Ganze als ein "Mißverständnis" von seiten Fichtes abtun zu können. Einerlei, ob man Fichtes Philosophie, wie sie sich unter dem Anstoß durch die Kantische Philosophie herausgebildet hat, als Fortschritt oder Rückschritt ansieht: abstreiten kann man nicht, daß etwas ganz  Neues  entstanden ist. Der Einfluß der fremden Individualität ist hier derart gewesen, daß die eigene sich unter Anregung von seiten der fremden weiterentwickelt hat, aber nicht in der Richtung des Anstoßes, sondern in der ihr innewohnenden eigenen Richtung, die jenem Anstoß ganz unadäquat war. Nicht immer wird diese Richtungsverschiedenheit den beteiligten Persönlichkeiten klar. Gar viele Lehrer haben nie erkannt, daß ihr Einfluß den Schüler keineswegs in der vom Lehrer gewollten Richtung förderte, und mancher Jünger hat nie gewußt, daß er den Anstoß des Meisters ganz umbog. Paulus hat sicher immer geglaubt, den Gedanken Christi in dessen Richtung weiterzudenken, während wir heute der Meinung sind, er habe ihn sehr wesentlich umgedacht. Der Einfluß der Positivisten, vor allem Langes und Paul Rées, auf Nietzsche konnte diesen wohl eine Weile ablenken von seiner ursprünglichen Bahn, forderte dann aber dessen eigentliche Tendenz zur Reaktion heraus, sodaß Nietzsche gerade in der Bekämpfung des Positivismus sich selber fand, freilich aber als einen durch den erkannten Gegensatz reicher und stärker Gewordenen. Wir könnten in diesem Sinne die äußeren Beeinflussungen der Individualitäten unterscheiden in solche, die in der  gleichen  Richtung des Anstoßes fortwirken, solche, die in  anderer  Richtung verlaufen und solche, die  direkten Widerspruch und Gegensatz  hervorrufen. Ja, so kompliziert liegen die Verhältnisse, daß mehrere dieser Fälle  neben einander oder  nach einander in Erscheinung treten können. Immerhin, auch dort, wo sich die Individualität im Widerspruch gegen Fremde in ihrer eigenen Richtung bewußter findet und sich bereichert, wandelt sie sich: sie bleibt im gleichen Typus, aber ändert sich doch innerhalb dieses Kreises.
4. Bei den bisher erörterten "Wandlungen" der Individualität hatten wir es mit Fällen zu tun, in denen sich die scheinbare Identität in ein Nacheinander mehrerer Individualitäten auflöste. Merkwürdiger noch sind die  Spaltungen  der Individualität, bei denen es sich nicht um ein  Nach einander, sondern um ein  Neben einander handelt, wo also zwei Seelen in der gleichen Brust leben. Dieses "Nebeneinander" kann eine tatsächliche Verdopplung sein. Meist handelt es sich jedoch um ein rasches Alternieren zweier Zustände. Wir denken dabei nich an jene vorübergehenden "Schwankungen", von denen wir später sprechen werden: Wir haben jene Fälle im Auge, wo dauernd nebeneinander gleichsam zwei (oft noch mehr) verschiedene, ja entgegengesetzte Sphären der Persönlichkeit im gleichen Menschen bestehen.
    Ein besonders häufiger Fall ist der, daß sich der Verstand in schnellstem Tempo entwickelt, während das Gefühlsleben fast auf derselben Stufe stehen bleibt, auf der es in einem früheren Lebensalter stand, so daß zwei verschiedene Persönlichkeiten entstehen, je nachdem der Verstand oder das Gefühl den Ton angibt. Gar mancher Gelehrte, der auf die Entstehung der Arten im Sinne Darwins schwört und lange den geozentrischen Standpunkt in der Astronomie zum alten Eisen geworfen hat, hält doch gefühlsmäßig am Kinderglauben fest. Entweder ist er sich dieser Spaltung zwischen Verstand und Gefühl bewußt und verwendet dann wohl gelegentlich seinen Scharfsinn dazu, durch dialektische Künste den Zwiespalt zu überbrücken oder zu beweisen, daß das Gefühl doch recht habe. Oder aber es laufen die beiden verschiedenen Persönlichkeiten, die aufgeklärte wissenschaftliche und die kindergläubige, getrennt nebeneinander her. Die oberflächliche Menschenbeurteiltung spricht in diesem Fall oft von Heuchelei. Indessen, um gerecht zu sein, wird man diesen Begriff nur dort verwenden können, wo es sich um ein  bewußtes Vorspiegeln  einer anderer Persönlichkeit handelt. So ist z. B. im englischen "cant" [scheinheilig reden - wp], das dem Nichtengländer häufig als Heuchelei vorkommt, diese sicherlich vielen Briten nicht als solche bewußt: Es stecken in ihm nur zwei Persönlichkeiten nebeneinander, der brutale Geschäftsmann des Werktags und der puritanisch Fromme des Sonntags. Weniger grell, aber dennoch vorhanden, besteht eine solche Spaltung der Persönlichkeit bei jedem Menschen. Wir alle haben eine Sonntags- und eine Werktagspersönlichkeit, die oft nur in losem Konnex stehen. Typisch ist auch die Spaltung zwischen Berufspersönlichkeit und bürgerlicher Persönlichkeit. Derselbe im Beruf ehern strenge Beamte oder Offizier ist im Familienkreis vielleicht ein weicher, zarter Vater und Gatte. Liest man z. B. Bismarcks Briefe an seine Braut und spätere Gattin, so wird man nicht leichtes Spiel haben, das dort sich ergebende Persönlichkeitsbild mit dem vom "eisernen Kanzler" zu vereinigen. Bei Dichtern gehört die Fähigkeit zur "Spaltung" der Persönlichkeit zu den Voraussetzungen ihrer Begabung. Man hat oft darauf hingewiesen, daß Faust wie Mephistopheles, Tasso wie Antonio gleichsam "Spaltungen" der Individualität Goethes sind.
Besonders grell treten solche Bewußtseinsspaltungen in gewissen, neuerdings oft beschriebenen  pathologischen  Fällen hervor. Derartige sind von RIBOT, JANET, BINET, SOLLIER, KRISHABER, OESTERREICH und anderen beschrieben und analysiert worden. (1) Hier handelt es sich nicht mehr um ein Abwechseln zweier Persönlichkeiten, sondern um eine wirklich gleichzeitige Spaltung oder auch Verdoppelung. Die Kranken äußern sich, sie seien "doppelt", sie hätten "zwei Iche", es wäre noch ein "zweites Persönlichkeitsgefühl" in ihnen.

Solche pathologischen Fälle offenbaren nur in besonderer Zuspitzung Erscheinungen, die auch der Normalmensch in sich erlebt. Die meisten ethischen und religiösen Schriftsteller kennen solche Spaltungserscheinungen, wenn sie von inneren Konflikten reden, in denen sich zwei Persönlichkeiten im gleichen Menschen um die Oberherrschaft streiten. Jedenfalls wird man sich nach der Erkenntnis dieser Tatbestände sehr ernsthaft fragen müssen, ob der Begriff der Individualität, wenn man seinen Grundsinn der "Ungeteiltheit" dabei mitdenkt, noch zu Recht bestehen kann.

5. Neben die dauernden "Wandlungen" der Persönlichkeit und die ebenfalls eine gewisse Dauer zeigenden "Spaltungen" der Persönlichkeit stellen wir als dritte Erscheinungsgruppe die  "Schwankungen",  die sich deutlich als bloß  vorübergehend  kennzeichnen. Auch bei diesen Schwankungen kann man typische, allen oder wenigstens sehr vielen Menschen gemeinsame aufzeigen, und individuelle, die sich aus der besonderen Konstellation des Einzelmenschen ergeben, davon unterscheiden.

Zu den  typischen  rechne ich z. B. alle jene Schwankungen, die durch den Wechsel der Tages- oder der Jahreszeit bedingt sind. Fast alle Menschen sind des Morgens anders gestimmt als des Abends, im Frühling anders als im Herbst. Ausgeschlafenheit oder Müdigkeit, Ärger oder Verliebtheit und tausend andere vorübergehende Stimmungen bringen auch Schwankungen des gesamten persönlichen Verhaltens mit sich, Schwankungen, die doch gewisse typische Gleichmäßigkeiten aufweisen.

Indessen selbsti innerhalb dieser typischen Schwankungen zeigen sich  individuelle  Besonderheiten. Jeder Mensch hat seine besondere Art, verliebt oder geärgert zu sein. Der Alkohol- oder Nikotingenuß erzeugen zwar gewisse typische Wirkungen, daneben aber auch durchaus individuelle. Dasselbe Musikstück kann den einen Menschen erheitern, den anderen aufregen; ja, es kann auch in demselben Menschen ganz verschiedene Stimmungsschwankungen, je nach der zufälligen Disposition, hervorrufen. Auch hier kommt die oben gekennzeichnete Dreiheit der Wirkungsmöglichkeiten in Betracht: die in  gleicher Richtung  bewegende, die in  andere  Richtung treibende und die eine direkte  Reaktion  hervorlockende.
    Auch  gradweise  unterliegen die verschiedenen Individualitäten solchen Schwankungen in verschiedenem Ausmaß. Nervöse Menschen, Künstler, Frauen, Kinder, sind solchen Schwankungen besonders zugänglich, sowohl was die Häufigkeit als auch was die Stärke der Schwankung anlangt. Es gibt Fälle, in denen die Schwankung so stark ist, daß das Individuum selber, wenn es in den normalen Zustand zurückgekehrt ist, gar nicht mehr begreifen kann, wie es zu den in jenem Schwankungszustand begangenen Handlungen gekommen ist. Wiederholen sich diese Schwankungszustände in gewisser Regelmäßigkeit in gleicher Weise, so nähert sich die Erscheinung der oben beschriebenen "Spaltung" der Persönlichkeit. Solche Schwankungen werden oft durch die äußere Umgebung hervorgerufen. Beweglich Menschen geben sich im Verkehr mit jedem anderen Menschen als besondere Individualitäten, reagieren auf jeden ganz anders. Liest man z. B. den Briefwechsel Richard Wagners und vergleicht man, wie grundverschieden er sich oft am selben Tag in seinen Briefen an Mathilde Wesendonk und Liszt gibt, so zweifelt man oft an der Identität des Briefschreibers. Ebenso pflegt die Lektüre eines wirksamen Buches oft zeitweise "einen ganz anderen Menschen" aus einem empfänglichen Leser zu machen. Die ganze Art des Denkens und Fühlens scheint sich unter dem Einfluß des Kunstwerks zu ändern. Das ist gradweise verschieden. Es gibt jedoch einen ganz bestimmten Typus von Kunstgenießenden, den ich an anderer Stelle als den "Mitspieler" bezeichnet habe, der sich Kunstwerken gegenüber seiner eigenen Persönlichkeit fast ganz entäußert, während "der Zuschauer" weit mehr er selbst bleibt. (2)
6. Noch ein Weiteres kommt hinzu, die Variabilität des Individualitätsbegriffs ins Unendliche zu steigern. Im Leben handelt es sich ja nicht um die Individualität  "ansich",  sondern um die  "Erscheinung"  derselben, d. h. die Spiegelung im eigenen Bewußtsein oder dem anderer Individualitäten. Bedenken wir nun, daß keiner Spiegel "objektiv" ist, sondern aus den verschiedensten Gründen mehr oder weniger das zu spiegelnde Bild einseitig auffaßt und verzerrt, so scheinen wir uns einer fast burlesken Phantasmagorie gegenüber zu finden.

Die Gründe, aus denen jeder Mensch eine fremde Individualität nicht getreu "spiegelt", sind teils intellektueller, teils emotionaler Natur. Da nur ganz geringe feste Anhaltspunkte gegeben sind, in der Hauptsache sich unsere Vorstellung von anderen Individualitäten auf Schlüssen mancherlei Art aufbaut, so ist ganz klar, daß schon ein starker Intellekt dazu gehört, um hier eine richtige Schlußkette zu bilden. Dazu urteilen wir in den meisten Fällen sehr aus der Ferne, sehen nur gröbste Umrisse. Kein Wunder also, daß die meisten Vorstellungen, die wir von anderen haben, grobe, ganz allgemeine Schemata sind, die voll von Irrtümern stecken. Da zudem jede Vorstellung und jeder Begriff danach strebt, etwas Dauerndes, Konstantes zu sein, das Objekt der Vorstellung und des Begriffs in unserem Fall aber ein beständig sich wandelndes Etwas ist, so ergibt sich, daß selbst das, was vor einem Jahr annähernd richtig war, heuer ganz falsch sein kann. Es ist z. B. bekannt, daß Eltern selten richtige Bilder von ihren Kindern haben, weil die einmal geprägten Vorstellungen aus früheren Zeiten sich immer wieder vordrängen, so daß sie die unbefangene Erkenntnis versperren. Handelt es sich um eine hervorragende, außerordentliche Persönlichkeit, so wird die Sache vollends schlimm. "Comprendre c'est égaler!" [Verstehen heißt gleichmachen. - wp] Wir nehmen letzten Endes alle Maßstäbe für andere aus uns selber. Reichen diese nicht aus, so werden die Dimensionen falsch. Bedenken wir nur, was harmlose Pedanten und enge Köpfe für Bilder von großen Genies entworfen haben! Wie ist da alles banalisiert und ins Kleine herabgezogen! Mit vollem Recht erwidert HEGEL auf den bekannten Satz, daß niemand von seinem Kammerdiener ein Held sei, - das sei nicht deshalb so, weil der Held kein Held, sondern weil der Kammerdiener ein Kammerdiener ist!

Zu diesen intellektuellen Schwierigkeiten treten die  emotionalen!  Nichts färbt, entstellt und verzerrt unsere Vorstellungen von anderen Menschen so sehr als unsere Gefühle. Die Liebe verklärt, der Haß verhäßlicht. Nicht nur von WALLENSTEIN gilt, was SCHILLER von ihm sagt, daß sein Charakterbild von der Parteien Gunst und Haß entstellt in der Geschichte schwanke. Die Nachwelt urteilt ebenso subjektiv wie die Mitwelt, nur aufgrund anderer Gefühle. Wenn schon die Weltgeschichte das Weltgericht ist, so gilt doch auch von ihr, daß keines ihrer Urteile endgültig ist. Wie hat sich z. B. gerade SCHILLERs Bild, der jenen Satz geprägt hat, im Urteil der Nachwelt gewandelt, und welche Wandlungen wird es noch weiter erfahren! Wie sehr hat sich unser Begriff von BOECKLIN z. B. im Laufe des letzten Menschenalters gewandelt. Erst war er ein seltsamer Sonderling, dann ein überragendes Genie, dann ein mittelmäßiger Maler, der das Wesen seiner Kunst gar nicht erfaßte! Bei alledem handelt es sich nicht um bloße gefühlsmäßige Werturteile, nein, um ganz greifbare Sachurteile! Denn nicht nur die Werturteile werden durch die sachlichen Urteile bedingt, sondern mindestens ebensosehr hängen die Sachurteile von den Werturteilen ab. Die meisten Menschen sind blind für die Vorzüge ihrer Feinde und die Fehler ihrer Freunde. So kommt es denn, daß es genau soviel Vorstellungen von einer Persönlichkeit gibt, als es vorstellende Personen gibt!

Aber nicht allein die anderen Menschen haben keine adäquaten Begriffe von unserer Individualität -  wir selber  haben sie in der Regel nicht. Eine völlige Erkenntnis vom eigenen Ich ist unmöglich! Gewiß, unsere einzelnen Seelenerregungen erleben wir unmittelbar, sobald wir aber über das Momentanerlebnis hinaus eine Vorstellung oder einen Begriff unseres Selbst zu bilden versuchen, verarbeiten wir das unmittelbar Erlebte unter Zuhilfenahme mannigfacher Kategorien und heben so jene Unmittelbarkeit vollkommen auf. Dazu treten emotionale Färbungen. Jeder Mensch spielt mehr oder weniger vor sich selbst Theater, unbewußt, aber auch zuweilen bewußt. Man sieht sich so, wie man sich sehen  möchte!  Jeder Mensch trägt ein Idealbild von sich selbst im Herzen und modifiziert danach seine Realvorstellung von sich. Vor allem handelt es sich dabei um Wertverhältnisse, die aber auch die rein tatsächlichen Gegebenheiten verschieben! Die Geschichte erzählt, welch seltsame Vorstellungen manche Menschen von sich selber hatten! Selbst ein so glänzender Selbstbeobachter wie GOETHE hat sich - so urteilt die Nachwelt aufgrund von Tatsachen - über sich selber in vielen Punkten getäuscht. Wie unendlich viel mehr muß das bei schlechten Selbstbeobachtern der Fall sein!

7. Wir haben, ohne Vollständigkeit auch nur anzustreben, an bezeichnenden Beispielen aufzuzeigen versucht, wie außerordentlich schwer faßbar die "Individualität" ist. Sie erscheint als ein Komplex, der kein festes Zentrum und noch weniger eine feste Peripherie hat, der sich mit anderen verwandten Komplexen kreuzt und schneidet, der seine Art beständig wandelt, der sich zu spalten scheint, und von dem zwar zahlreiche Erscheinungsformen existieren, von dem aber außerordentlich schwer festzustellen ist, was er denn wirklich und "ansich" ist. Man muß sich angesichts dieser Tatsachen wundern, daß dennoch im Leben überall stillschweigend eine Faßbarkeit und konstante Identität der Persönlichkeit angenommen wird. Man redet von jenem Knaben, JOHANN WOLFGANG GOETHE, der seines Vaters Geschirr zum Fenster hinauswarf, und jenem Greis, der den "Chorus mysticus" schrieb, als  "demselben"  Menschen. Und jener andere, der für deutsche Gotik schwärmend das Straßburger Münster erklomm, und jener andere, der sich in Rom als Römer fühlte und jener, der Frau von STEIN liebte und bald darauf CHRISTIANE VULPIUS heiratete, was das immer "dieselbe" Individualität? Ist es nicht eine noch größere Willkür, wenn wir hier von "Identität" sprechen, als wenn wir ein paar Gletscherbäche am St. Gotthart und den breiten, trüben Strom, der durch Hollands Deiche flutet, mit demselben Namen als "Rhein" bezeichnen?

Nein, täuschen wir uns nicht darüber! Die Individualität, wie sie sich einer genaueren Analyse darstellt, ist etwas durchaus  Irrationales.  Sie entzieht sich der logischen Fassung, weil sie weder scharf umgrenzt werden kann, noch eine konstante Identität aufzuweisen hat. Und dabei haben wir uns in unseren Betrachtungen nur auf dem Boden der Erfahrung bewegt! Alles Transzendente und Metaphysische schieden wir streng aus, obwohl unter diesen Gesichtspunkten das Irrationale der Persönlichkeit noch stärker hervortreten würde. Indessen wollen wir auch weiterhin im wesentlichen allein uns an die psychologische Analyse halten und allein unter diesen Gesichtspunkten das Problem erörtern.

LITERATUR: Richard Müller-Freienfels, Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion - eine psychologische Untersuchung, Annalen der Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1919
    Anmerkungen
    1) RIBOT, Les Maladies de la personalité. KRISHABER, De la néuropathie cérébrocardiaque, 1873. P. JANET, Les Obsessions et la Psychasthénie, 1903. OESTERREICH, Die Entfremdung der Wahrnehmungswelt, Journal für Psychologie und Neurologie VII, derselbe, Phänomenologie des Ich, 1911, besonders Seite 379f.
    2) Vgl. meine  Psychologie der Kunst,  Bd. 1, Kap. IV, 1912