ra-1Über GestaltqualitätenÜber Gegenstände höherer OrdnungÜber Annahmen    
 
ALEXIUS MEINONG
Zur Psychologie der
Komplexionen und Relationen


""An das Charakteristische hält sich der naive Mensch wie der Theoretiker, wenn er mit psychischen Tatbeständen einmal  operiert,  zu definieren vermag es aber keiner von beiden."


Zweierlei möchte durch die Stellung zum Ausdruck gelangen, welche der hier namhaft gemachten Abhandlung [CHRISTIAN von EHRENFELS, Über Gestaltqualitäten] an der Spitze der nachfolgenden Ausführungen eingeräumt erscheint, einmal mein Vorhaben, über den Inhalt derselben hier kurz Bericht zu erstatten, dann aber auch die Tatsache, daß, was ich im Anschluß an diesen Bericht zur Lösung einiger mir grundlegend scheinenden Fragen der Psychologie beizusteuern habe, zunächst den aus dieser Schrift geschöpften Anregungen entsprungen ist.

Anknüpfend an Ausführungen ERNST MACHs in dessen "Beiträgen zur Analyse der Empfindungen" erhebt der Verfasser die Frage, was Vorstellungsgebilde wie Gestalt und Melodie "in sich seien, - als bloße Zusammenfassung von Elementen oder etwas diesen gegenüber Neues, welches zwar  mit  jener Zusammenfassung, aber doch  unterscheidbar  von ihr vorliegt?" (Seite 250) Die Frage ist auch so zu präzisieren: Faßt einerseits ein Individuum  S  eine Melodie auf, die aus  n  Tönen besteht, stellen andererseits  n  Individuen je einen der  n  Töne (mit der zugehörigen Zeitbestimmung) vor, stellt dann  S  mehr vor, als die  n  übrigen Individuen zusammengenommen? (Seite 252f), analog bei Figuren (Seite 253). Antwort hierauf gibt die "Ähnlichkeit von Melodien und Figuren bei durchgängiger Verschiedenheit ihrer tonalen oder örtlichen Grundlage". Melodien und Figuren können häufig derart transponiert respektive verschoben werden, daß von den ursprünglichen Ton- respektive Ortsbestimmungen auch nicht eine erhalten bleibt. Man kann aber "von vornherein behaupten, daß verschiedene Komplexe von Elementen, wenn sie in sich nichts anderes darstellen, als die Summen derselben, um so ähnlicher sein müssen, je ähnliicher ihre einzelnen Elemente untereinander sind". Besteht gleichwohl in den obigen Fällen Ähnlichkeit, ja Gleichheit trotz größerer oder geringerer Unähnlichkeit der Elemente, so beruht jedenfalls "die Ähnlichkeit von Raum- und Tongestalten auf etwas anderem ..., als auf der Ähnlichkeit der Elemente, bei deren Zusammenfassung sie im Bewußtsein erscheinen. Es müssen daher jene Gestalten auch etwas anderes  sein  als die Summe der Elemente". (Seite 258f) Was so mit "unausweichlicher Stringenz" erwiesen ist, findet eine weitere Stütze an der Tatsache, daß man sich Melodien so wenig ihren absoluten Höhen nach merkt, daß vielmehr umgekehrt die Erinnerung an bestimmte Melodien manchen als Hilfsmittel dient, absolute Tonhöhen zu reproduzieren. Auch Figuren-Reproduktion erscheint nicht an den subjektiven Ort der ersten Wahrnehmung gebunden: gelten also die herkömmlichen Reproduktionsgesetze, so muß etwas anderes als die tonalen oder lokalen Komponenten das in solchen Fällen Reproduzierte sein (Seite 260f). Dieses andere nennt der Verfasser "Gestaltqualitäten" und versteht darunter "solche positive Vorstellungsinhalte, welche an das Vorhandensein von Vorstellungskomplexen im Bewußtsein gebunden sind, die ihrerseits aus voneinander trennbaren (d. h. ohne einander vorstellbaren) Elementen bestehen". Jene Komplexe sollen Grundlage der Gestaltqualitäten heißen. (Seite 262f)

Die Mannigfaltigkeit vorhandener Gestaltqualitäten teilt der Verfasser in "zeitliche", die sich auf verschieden zeitlich bestimmte Vorstellungsobjekte gründen und "unzeitliche", wo solches nicht der Fall ist. Hier kann die ganze Grundlage, dort höchstens  ein  Element derselben in Wahrnehmungsvorstellung gegeben sein. (Seite 263f) Als unzeitliche Gestaltqualitäten werden Gestalt (vom Verfasser den "Tongestalten" als "Raumgestalt" gegenübergestellt), Harmonie und Klangfarbe in Anspruch genommen, dann aber auch Farbenharmonie und -disharmonie (die farbige Gestaltqualität nicht getrennt neben der räumlichen, sondern "beide untereinander und mit ihrer Grundlage zu einem anschaulichen Ganzen verbunden"), sowie Qualitäten, welche, wie die sogenannte Empfindung des Nassen, verschiedene Sinnesgebiete einbeziehen, gleichsam überbrücken. (Seite 264f) Zeitliche Gestaltqualitäten findet man bei allen Veränderungen nach bestimmter Richtung (Steigen, Erröten, Abkühlen und vieles andere, wofür meist Namen fehlen): dem Gesicht erweist sich hier (im Gegensatz zu den unzeitlichen Gestaltqualitäten) das Gehör weit überlegen; überreich im Vergleich mit den vorhandenen sprachlichen Ausdrücken ist, was aus dem Gebiet der übrigen Sinne hierher gehört. Auch an Kombinationen fehlt es nicht; dazu kommt noch das Gebiet der inneren Wahrnehmung: als Grenzfall der Veränderung erscheint die Dauer. (Seite 268) Auch Ähnlichkeit und Widerspruch gehören in diesen Zusammenhang und führen zugleich auf Gestaltqualitäten höherer Ordnung, wie uns solche in den Ähnlichkeiten entgegentreten, an denen man Komponisten oder Autoren erkennt, dann aber auch in vielen Begriffen des täglichen Lebens, mit denen man trotz des Mannigfaltigen, das ihr Inhalt darzubieten scheint, wie mit "einheitlichen Elementen" operiert. (Seite 273f)

Zwischen lesenswerten Erwägungen über die psychologische und selbst metaphysische Bedeutung der Gestaltqualitäten erhebt der Verfasser (Seite 285f) noch die wichtige Frage, ob die Gestaltqualitäten mit ihren Grundlagen sofort mitgegeben oder etwa als Produkt einer auf ihre Hervorbringung besonders gerichteten Tätigkeit zu betrachten sind. Der Autor entscheidet sich für die erste Möglichkeit: scheinbare Gegeninstanzen legt er mangelhafter Beschaffenheit der Grundlagen zur Last, welche sich oft nicht ohne besondere Anstrengung und auch dann nur unter Voraussetzung ausreichender Befähigung beseitigen lasse.

Da der Grundgedanke der vorstehend skizzierten Untersuchung, wie dem Autor wohl bekannt, schon bei verschiedenen Gelegenheiten und aufgrund verschiedenster Bedürfnisse in Erwägung gezogen worden ist, so kommt hier zunächst alles darauf an, inwieweit der Verfasser mit dem vor ihm kaum einmal in so bestimmter Weise erhobenen Anspruch Recht behält, für seine Aufstellung den zwingenden Beweis erbracht zu haben. Und wirklich wird man es als Hauptverdienst der vorliegenden Untersuchung anerkennen müssen, im Ähnlichkeitsgedanken ein Moment herangezogen zu haben, dem in unserer Sache eine Beweiskraft zukommt, wie solche sonst der psychologischen Forschung, der nicht-experimentellen zumal, keineswegs allzuhäufig erreichbar ist. Abgeänderte Formulierung hätte dies leicht noch schärfer ergeben: denn daß sich aus Ungleichem oder Unähnlichem Gleiches oder Ähnliches summieren könnte, eine solche Annahme schließt meines Erachtens nicht weniger Unverträglichkeit in sich, als die Annahme eines gelben Blau oder eines runden Vierecks; damit aber erscheint der negative Teil der Position in einer Weise gesichert, welche "more geometrico" buchstäblich jeden Zweifel ausschließt.

Aber allerdings nur der negative Teil und auf den positiven, demgemäß das, was zu den Bestandstücken der betreffenden Komplexionen noch hinzukommen muß, ein Vorstellungsinhalt ist, hätte der Autor nicht ohne weiteres überspringen dürfen. Es gibt ja noch andere Möglichkeiten zu erwägen; und glückt es auch schwerlich, deren ganzen Umkreis mit der Garantie der Vollständigkeit im Voraus zu überblicken, so kann doch, was anderweitige psychologische Forschungspraxis an Eventualitäten nahe legt, nicht einfach unberücksichtigt bleiben. Ich will kurz zusammenstellen, was ich in diesem Sinne beizubringen weiß:

a) Haben die ähnlichen Komplexionen wirklich ganz unähnliche Bestandstücke? Praktisch käme dieses Auskunftsmittel am ehesten bei den in diesem Sinne vom Autor auch gelegentlich berührten Ortbestimmungen in Frage, namentlich könnte man sich einiges von Bewegungsvorstellungen versprechen. Aber die große Mannigfaltigkeit der Gebiete, welche der Verfasser für sich in Anspruch nimmt, läßt es doch ziemlich aussichtslos erscheinen, für jedes dieser Gebiete mit besonderen Mitteln der allgemein beobachteten Tatsache gerecht zu werden.

b) Die Melodie in der Originaltonart stimmt mit der transponierten Melodie in gewissen Relationen zwischen den sie ausmachenden Tönen; was liegt näher, als eben in diesen Relationen dasjenige zu suchen, was beim Zusammentreten der Bestandstücke noch hinzukommt, ja naturgemäß noch hinzukommen muß? Ohne Zweifel ist dieser vom Verfasser ebenfalls gelegentlich gestreifte Gedanken der sozusagen populärste und gar mancher, dem die Ähnlichkeit des sonst Unähnlichen keineswegs entgangen ist, wird sich mit der Berufung auf die Relationen als Lösung des Problems zufrieden gegeben habe. Gleichwohl ist leicht einzusehen, daß man zwischen Relationen, welche zwar "bestehen", von denen man aber nichts weiß, so wenig Gleichheit oder Ähnlichkeit konstatieren kann, als zwischen anderen Inhalten, die man nicht gegenwärtig hat. Und darüber wird doch kein Zweifel vorliegen, daß ich beim Hören einer Melodie nicht etwa jeden Ton mit jedem anderen in Vergleich ziehe; man denke nur, wie viele Relationsvorstellungen auf diese Art entstehen müßten. Minder bedenklich wäre nach dieser Seite der Versuch, sich auf die Beziehung je zweier zeitlich benachbarter Töne, als auf die Tonschritte zu berufen, durch welche ja in der Tat im Verein mit den erforderlichen Zeitdaten eine Melodie für "gegeben" erachtet werden kann; aber auch dem widerspricht die musikalische Erfahrung, zumal bei ausreichend raschen Tonfolgen, - davon ganz abgesehen, daß hier jedenfalls die Intervalle im musikalischen Sinn das Maßgebende sein müßten, diese Intervalle aber keineswegs mit den Tonhöhen-Verschiedenheiten oder Tondistanzen zusammenfallen, an die ein Vertreter des in Rede stehenden Ausweges zunächst denken dürfte. Noch auffallender tritt unterdessen die Aussichtslosigkeit eines solchen Versuchs bei Gestalten zutage. Hier liegen an den Ortsbestimmungen normalerweise Diskreta, welche den Tönen der Melodie entsprächen, gar nicht vor; man kann deren endlich oder unendlich viele heraus- oder vielleich richtiger hineinanalysieren. Bevor solches aber geschehen ist, fehlt für Relationsvorstellungen die unentbehrliche Voraussetzung. - Zum Überfluß ist die fragliche Lösung keine Entkräftung, sondern vielmehr eine Spezifikation der vom Autor vertretenen Theorie. Verschiedenheit oder Ähnlichkeit von  x  und  y  oder sonst eine Relation zwischen ihnen vorstellen, heißt eben außer  x  und  y  noch etwas anderes vorstellen. Und der ganze Vorzug dieser Spezifikation besteht darin, sich anstelle des Allgemeinen auf ein Besonderes zu stützen, in welchem die Position des Verfassers im Grunde längst schon allgemeine Anerkennung gefunden hat.

c) Ist das Übereinstimmende nicht die besondere Form, in der das Verschiedene sich kompliziert? Was der vielgebrauchte und -mißbrauchte Ausdruck "Form" in diesem Zusammenhang besagen soll, ist an Beispielen leicht genug zu ersehen (1): zwei Inhalte dürfen sicher in anderer Weise verknüpft heißen, wenn sie nacheinander, als wenn sie zugleich auftreten, wenn sie eine anschauliche und keine unanschauliche Vorstellung ausmachen und dgl.; aber unser Fall ist einer Auffassung in diesem Sinne wenig günstig. Zwar bietet das Gleichnis, dem der Ausdruck "Form" entstammt, nur wenig zuverlässige Gewähr für die Vormeinung, als müßten verschiedene Inhalte gleiche Form annehmen, verschiedene Formen durch den gleichen Inhalt ausgefüllt werden können. Daß aber die Form, in welcher etwa Töne zu einer Melodie verknüpft sind, eine andere werden sollte, sobald durch Veränderungen an den Tönen die Melodie eine andere wird, das widerspricht doch aller Erfahrung, falls man sich in dem, was man "Form" nennt, irgendwie durch Erfahrung bestimmen läßt.

d) Könnten nicht Gefühle dasjenige sein, was hinzukommt? Man denkt am natürlichsten an ästhetische Gefühle, vor allem an das sogenannte Harmoniegefühl bei Zusammenklängen. Aber wer ausreichend viel Musik treibt, hat sich sicher schon oft in der Lage befunden, einem einzelnen Akkord gegenüber gerade so wenig etwas zu fühlen, als einem einzelnen Ton oder Klang gegenüber, wenigstens ist von derlei Gefühlen oft genug nicht das Mindeste zu merken. Das mag dem gut musikalisch veranlagten Naiven gegenüber immerhin als eine Folge von Abstumpfung erscheinen; die Fähigkeit aber, die Akkorde richtig zu agnostizieren, zeigt sich bekanntlich beim geübten Musiker nichts weniger, als herabgesetzt. Auffallender noch ist solches bei Melodien; und daß es Gestalten gibt, bei denen kein Unvoreingenommener etwas von Gefühlen weiß, bezeugt die tägliche Erfahrung, so oft man sie nur befragen will. Ein zwingender Gegenbeweis ist das freilich nicht uns so hat denn das Gefühl schon über manche theoretische Verlegenheit hinaushelfen müssen. Empfehlend aber ist diese Eignung keineswegs; wenigstens sollte man die Verlegenheit ausreichend anwachsen lassen, ehe man zu diesem Auskunftsmittel greift.

Zusammenfassend kann man sagen: Ist im Vorstehenden nicht gerade die entscheidende Eventualität übersehen geblieben, so wird der Autor wohl auch im positiven Teil seiner Aufstellung Recht behalten. Versucht man freilich eine direkte Verifikation an der Empirie in der Weise, daß man sich etwa bemüht, den Inhalt der Vorstellung "Gestalt" der Gesamtheit der sie ausmachenden Ortbestimmungen gegenüberzustellen, so ist das Ergebnis nicht sofort günstig: mir war beim Experiment zuerst zumute, als ob es evident wäre, daß die Gestalt in die Gesamtheit der Ortsbestimmungen restlos aufgehen  müßte.  Aber solches ginge bereits gegen den negativen Teil der Position, mit dem ja doch kein Kampf aufzunehmen sein wird; überdies merkt man bald den Schein, der da irre führt. Verfolge ich etwa in Gedanken oder auch mit dem Auge die Konturen eines Ornaments, so kann ich das leicht so einrichten, daß dabei keine Stelle unberührt bleibt; daß ich aber, indem ich so gleichsam das ganze Ornament nach seiner Gestalt absuche, diese an keiner einzigen Stelle antreffe, sondern allenthalben Ortsbestimmungen und nichts als diese, ist im Grunde doch etwas recht Selbstverständliches. Mein Verfahren gleicht dabei nur allzusehr dem des Anfängers, der die einfache Melodie, die er in Noten vor sich hat, mühsam aufs Klavier überträgt, Ton um Ton, und doch so, daß er am Ende der mühseligen Arbeit von der Melodie keine Ahnung hat. - Dagegen liegt etwas von empirischer Bestätigung im Gefühl von Unbefriedigung, das den Ergebnissen von Analyse und Definition gegenüber unbeschadet aller ihrem Wert gezollten Anerkennung oft übrig bleibt: die zerpflückte Blume hat eben streng genommen aufgehört, Blume zu sein.

Die Zustimmung, die ich sonach der Sache des Autors nicht versagen kann, läßt sich indessen nicht wohl auch auf den von ihm gewählten Namen ausdehnen. Der Weg freilich, der ihn auf den Ausdruck "Gestaltqualität" führte, ist nicht eben schwer zu überblicken. Vor allem macht sich bei Gestalten im engsten Wortsinn, bei deren geometrischer Betrachtung das quantitative Moment oft mehr als billig in den Vordergrund gerückt wird, sicherlich nicht selten das Bedürfnis geltend, das wesentlich Qualitative der betreffenden Inhalte zu betonen: der Inhalt der Gestaltsvorstellung ist den Inhalten der konstitutiven Ortsvorstellungen gegenüber qualitativ eigenartig; den Orts-Qualitäten steht sonach jedesmal eine Gestalt-Qualität zur Seite. Dann aber kommt dem Ausdruck Gestalt allem Anschein nach eine gewisse Eignung zu, übertragene Bedeutungen anzunehmen: ERNST MACH konnte, ohne daß es allzu gewaltsam erschienen wäre, von "Tongestalten" reden und das gewöhnliche Leben spricht von "Gestaltung der Dinge" und dgl. in ganz unräumlichem Sinne. Es lag unter solchen Umständen gar nicht so fern, das Wort "Gestalt" zur Bezeichnung des unter anderem auch an den Gestalten im eigentlichen Sinn aufgefundenen qualitativen Momentes zu benutzen und dann konsequenterweise nicht nur bei Melodien, sondern, falls keine sachlichen Bedenken vorliegen, auch bei Akkorden, Klangfarbe, Veränderungen in bestimmter Richtung (einschließlich Konstanz als Grenzfall), bei  Ähnlichkeit,  Widerstreit, einheitlichen Begriffsgebilden und vielem anderen von "Gestalt-Qualitäten" zu reden.

Aber gerade der umfassenden Anwendung gegenüber fühlt man nun auch recht deutlich, was damit dem Sprachgefühl zugemutet wird und wie wenig das, was man sonst bei "Gestalt" und "Qualität" zu denken gewohnt ist, der neuen Ausdrucksweise zu Hilfe kommt. Zum Überfluß verdanke ich einem Zufall die Belehrung darüber, daß die fragliche Benennung für manche auch die Gefahr eines Mißverständnisses birgt. Ich weiß einen Leser des vorliegenden Aufsatzes, der hinter den "Gestalt-Qualitäten" objektive, außerpsychisches Realitäten vermutete, so daß außer mit den Tönen noch einmal mit der aus ihnen sich zusammensetzenden Melodie zu schaffen hätte: kein Wunder, daß er unter dieser Voraussetzung der ganzen theoretischen Aufstellung die gewichtigsten Bedenken entgegenzustellen hatte.

Das Gesagte reicht wohl aus, die Überzeugung zu begründen, daß der Name "Gestalt-Qualität" den Sinn der EHRENFELSschen Positionen eher verdunkelt, als beleuchtet, von der Zustimmung zu denselben eher abhält, als solche fördert. Eine angemessene Umnennung wäre hier also durchaus wünschenswert und der Verfasser selbst hat hierzu, indem er auf die "Grundlagen" der von ihm festgestellten Vorstellungstatsachen hinweist, den Weg geebnet. Dieser Hinweis trifft hier so sehr den Nerv der Sache und läßt deren theoretischer Untersuchung gleichwohl immer noch so viel Spielraum, daß eine Benennung, die zugleich möglichst charakteristisch und doch möglichs wenig präokkupierend sein will, wohl an keinen Punkt besser einsetzen kann, als hier. Es handelt sich eben kurzweg um Inhalte, die eine solche "Grundlage" haben, sonach wohl in einfachster und verständlichster Weise mit dem Namen "fundierte Inhalte" belegt werden können. Vorstellungen solcher fundierter Inhalte aber werden dann folgerichtig fundierte Vorstellungen heißen müssen. Sie sind, weil auf die sie fundierenden Grundlagen als Voraussetzungen angewiesen, diesen gegenüber unselbständig; nicht-fundierte Vorstellungen können ihnen daher auch als "selbständige" zur Seite gestellt werden, so daß fundierte und selbständige Vorstellungen im eben präzisierten Sinne eine vollständige Disjunktion ausmachen. Nur darf durch solche Gegenüberstellung darüber nichts vorausbestimmt sein, ob das Vorstellen der fundierenden Inhalte und das Vorstellen des durch sie Fundierten  einen  Akt ausmache oder mehrere. Jeder inhaltlichen Mannigfaltigkeit gegenüber erhebt sich ja die oft voreilig entschiedene Frage, ob man  eine  Vorstellung mit relativ komplexem Inhalt oder mehrere Vorstellungen mit relativ einfachem Inhalt vor sich habe und je enger sich die Inhalte verbunden zeigen, desto mehr wird die erstere Auffassung an Boden gewinnen. Wer das Farbige, wie er muß, ausgedehnt vorstellt oder das Ausgedehnte farbig, von dem sagt niemand, er habe mehrere Vorstellungen; ebenso könnte in noch zu berührenden Fällen, wo die fundierenden Inhalte recht eng mit dem fundierten Inhalt verknüpft sind, es angemessener sein, trotz der inhaltlichen Mannigfaltigkeit nur von  einer  Vorstellung zu reden. Der Ausdruck "fundierte Vorstellung" bleibt dann freilich immer noch ebenso statthaft, als man anstandslos von Farbenvorstellung oder Ausdehnungsvorstellung spricht; genauer und darum vielfach ratsamer mag es unterdessen bleiben, die Gegenüberstellung "fundierend und fundiert" "selbständig und unselbständig" nur auf die Inhalte zu beziehen, von denen sie jedenfalls gilt.

Es ist schwerlich ein Nachteil der eben vorgeschlagenen Bezeichnungsweise, daß sie sofort dazu drängt, den in Rede stehenden Tatsachen einen bestimmten Platz im großen Bereich verwandter Erscheingungen anzuweisen, dem sie augenscheinlich angehören. Längst ist der Ausdruck "Fundament" als Korrelat zum Ausdruck "Relation" geläufig; wie verhält sich hierzu die Korrelation zwischen fundierendem und fundiertem Inhalt? Ich lasse einige Ausführungen folgen, die einer ersten Orientierung in dieser Sache dienlich sein wollen.

Nimmt man, wozu allgemeinste Geneigtheit bestehen dürfte, den Ausdruck Relation so weit als möglich, nennt man sonach Relation alles das, was, soll es einem zugeschrieben werden, stets noch ein anderes heranzuziehen zwingt, so fällt sogleich in die Augen, wie nahe doch jede relative Tatsache dem stehen muß, was man eine komplexe Tatsache nennt. Relation kann nicht bestehen, wo nur ein Einfaches vorliegt: also keine Relation ohne Komplexion. Aber auch eine Komplexion, deren Bestandstücke nicht mindestens insofern zueinander und zur Komplexion als Ganzem in Relation stünden, daß sie eben Teile dieses Ganzen ausmachen. Es ist eben streng genommen der nämlich objektive Tatbestand, der sich als Komplexion und als Relation präsentiert, je nach dem Standpunkt gleichsam, von dem aus derselbe betrachtet wird: Relation zumal ist die Komplexion vom Standpunkt eines (oder mehrerer) der Bestandstücke aus besehen. Der Eigenartigkeit des Relations- wie des Komplexionsgedankens, ihrer Unzurückführbarkeit aufeinander (2) und wohl auch auf andere Inhaltstatsachen, vermöge deren wohl beide unter die letzten, undefinierbaren Daten zählen werden, geschieht durch Anerkennung dieser Sachlage nicht der geringste Eintrag. Aber die Einsicht in dieselbe läßt einerseits Gefahren, das sich so Nahestehende zu verwechseln, voraussehen und ihnen begegnen; andererseits gestattet sie der Untersuchung freiere Bewegung, indem dieselbe bald am Komplexions-, bald am Relationsgedanken geeignetere Anknüpfungspunkte finden mag.

An Komplexion und Relation ist die Psychologie in doppelter Weise interessiert. Komplexionsvorstellungen und Relationsvorstellungen, d. h. Vorstellungen von Komplexionen und von Relationen sind gleich allen anderen Vorstellungen Gegenstand psychologischer Untersuchung nach Beschaffenheit, Entstehung usf.; weist das psychische Leben aber neben den vorgestellten noch wirkliche Komplexionen und Relationen auf, so hat sich die Psychologie natürlich auch mit diesen zu beschäftigen. Wie bekannt, zeigt uns die psychologische Erfahrung im Grunde überhaupt nur komplexe Tatsachen: solche Erfahrung, sofern sie uns z. B. das Urteilen auf einen Vorstellungsinhalt gerichtet, zwei Urteile in einem Schluß verbunden, ein Wollen auf Gefühl und Urteil begründet zeigt, kann darum unbedenklich auch als Quelle von Komplexions- und Relationsvorstellungen in Anspruch genommen werden. Aber nicht als  die  Quelle, sondern nur als  eine  Quelle; denn Komplexionen und Relationen zeigt auch das Vorstellungsgebiet der sogenannten äußeren Wahrnehmung, sofern hier jederzeit Farbe mit Ausdehnung, jede Ortsbestimmung in einer kontinuierlichen Verbindung mit örtlicher Umgebung auftritt usf. Ob in Fällen, wo solches an Wahrnehmungsvorstellungen bemerklich wird, (3) auch das zugehörige Wahrnehmungsurteil berechtigt ist, ob und inwiefern man also die betreffenden Komplexionen und Relatioinen auch auf außerpsychischem Gebiet voraussetzen darf, das geht natürlich die Psychologie nichts mehr an; wichtig ist für sie nur, anhand der eben berührten Tatsachen dem Irrtum vorzubeugen, als sei die Reflexion auf psychische Zustände erforderlich, um Komplexionen oder Relationen vorzustellen. Wer sich die Farbe ausgedehnt vorstellt, stellt sich eine Komplexion vor und wer einsieht, daß Farbe an Ausdehnung gebunden sei und Ausdehnung an Farbe, der denkt an eine bestimmte Relation der beiden Bestandstücke zueinander. Dabei gehen die Gedanken über Farbe und Ausdehnung keinen Schritt hinaus und wer an Ausdehnung und Farbe denkt, hat anderes im Sinn, als wer sich etwa mit der  Vorstellung  von Farbe und der  Vorstellung  von Ausdehnung befaßt.

Inzwischen wird die in einer Hinsicht eben abgelehnte Frage nach der erkenntnistheoretischen Dignität der Komplexions- und Relationsvorstellungen in einer anderen Hinsicht doch noch für die Psychologie sehr wichtig sein. Man wird darauf aufmerksam, wenn den obigen Ausführungen etwa die skeptische Frage entgegengehalten wird, ob, was da unter dem Namen Komplexion als Vorstellungstatsache sui generis [eigener Art - wp] in Anspruch genommen wurde, auch wirklich mehr sei, als eben die Bestandsstücke zusammengenommen. Wenn eben von der Komplexion von Farbe und Ausdehnung die Rede war, konnte damit mehr gesagt sein, als daß etwa unter bestimmten Umständen sowohl Farbe als Ausdehnung gegeben sei? An sich ist natürlich nichts leichter, als die Frage zu verneinen, denn das "sowohl, als auch" paßt nicht nur auf Farbe und Ausdehnung in der oben gemeinten Relation, sondern nicht minder auf die Farbe des Veilchens einerseits und die Ausdehung der Wüste Sahara andererseits, am Ende auch auf eine Kunstschöpfung BEETHOVENs und auf eine Kröte. Erwägenswert aber bleibt, was denn dieses "sowohl-als auch" an sich ist und inwieweit die obigen Komplexionsfälle ihm gegenüber ein "mehr" bedeuten könnten. Wäre vor allem, selbst wenn unsere skeptische Frage das Rechte getroffen hätte, damit der Komplexionsgedanke überhaupt aus der Welt geschafft? Offenbar nicht; denn auch dieses "sowohl-als auch", dieses "zusammengenommen", die Summe oder wie man sonst sagen mag, kann zuletzt nichts als eine Komplexion bedeuten. Aber allerdings eine von besonderer Art und was an ihr vor allem auffällt, ist ihre augenscheinliche Bedeutungslosigkeit für das, was etwa in dieser Weise "zusammengenommen" wird. Läge in den obigen Beispielen von Komplexion zwischen Vorstellung und Urteil, Urteil und Urteil usf. nichts vor als dieses "zusammengenommen", dann brauchte die Psychologie die zweite der ihr oben zugewiesenen Aufgaben vielleicht gar nicht in Angriff zu nehmen und nur etwa mit jener Vorstellung des "zusammengenommenen" hätte sie als mit einer Komplexionsvorstellung und wäre es auch der einzig vorkommenden, zu tun. Diese wäre wohl Erkenntnisobjekt, doch nicht, wie solches bei Vorstellungen sonst die Regel, auch Erkenntnismittel, und zwar deshalb nicht, weil sie als bloßes Erzeugnis des vorstellenden Subjektes unfähig scheint, mit der vom Vorstellen unabhängigen Wirklichkeit in engere Fühlung zu treten.

Vielleicht entspricht übrigens im gegenwärtigen Falle der Schein nicht völlig der Wahrheit; so viel aber erhellt ohne weiteres, daß von den mancherlei Komplexions- und Relationsvorstellungen, welche uns begegnen, manche der Wirklichkeit in der Weise der Wahrnehmungsvorstellungen näher, manche ihr ferner stehen. Dabei kommt es zunächst nicht auf die Besonderheit der miteinander komplizierten Bestandstücke an, sondern darauf, ob am Zustandekommen der betreffenden Vorstellung das Subjekt vorwiegend passive oder aktiv beteiligt ist. Wie das Vorstellen in den Urteilsakt, wie das Gefühl in den Willensakt einbezogen ist, das lehrt uns die Wahrnehmung und Beobachtung ebenso, als wir nur durch diese wissen, was die Bestandstücke, Vorstellen, Urteilen, Fühlen, Wollen sind; im Falle der Zusammenfassung dagegen war zunächst ich es, der Komplexion und Relation gleichsam erst in die Wirklichkeit hineingetragen hat und nur sofern ich dies verkenne, kann ich jene Komplexion oder Relation für ein Stück dieser Wirklichkeit nehmen.

Wie gleichwohl bei Komplexionen und Relationen der letzteren Beschaffenheit anstelle der ihnen mangelnden direkten Erkenntnisbedeutung so viel von indirekter treten kann, daß gerade sie für die Erkenntnistheorie von grundlegender Wichtigkeit werden, muß hier unerörtert bleiben; um so wichtiger ist für uns ein anderer Umstand, der zunächst gleichfalls an Tatbeständen dieser zweiten Gruppe hervortritt. Vergleich ich  A  mit  B,  so ist dadurch ein komplexer psychischer Tatbestand geschaffen, vermöge dessen die Vorstellung des  A  und die des  B  sich zueinander und zur ganzen Komplexion in bestimmter Relation befinden, über dessen Eigenart psychologische Beobachtung Aufschluß gibt. Aber außerdem führt die Vergleichung noch meist zu etwas, das man das Ergebnis der Vergleichung nennen kann: das  A  erweist sich dem  B  gleich oder mehr oder minder ähnlich oder unähnlich und diese Ausdrücke bezeichnen Vorstellungsinhalte, welche ihrem Wesen nach so wenig dem Forum der inneren Wahrnehmung zugehören, so wenig etwa auf Reflexion über den Vergleichungsakt zurückzuführen sind, daß sie vielmehr augenscheinlich mit dem  A  und  B  gleichsam auf derselben Stufen rangieren. Niemand meint das Gebiet der Farben verlassen und erst in den Bereich psychologischer Vorstellungen abschweifen zu müssen, um zwei gegebene Farben ähnlich zu finden. Ja nichts kann im Grunde unpsychologischer sein, als eine solche Aussage, in welcher, ohne auf die bedingenden psychologischen Umstände auch nur im mindesten Rücksicht zu nehmen, das Vergleichungsergebnis von den verglichenen Inhalten wie eine Eigenschaft der letzteren prädiziert wird. Aber ein solches Urteil repräsentiert eine Grundgestalt menschlichen Erkennens und es wird wohl damit zusammenhängen, daß man solche als besondere Inhalte prädizierbare Ergebnisse beziehender Tätigkeit in besonderem, gewissermaßen prägnanten Sinne Relationen genannt hat, wenigstens an sie zunächst zu denken pflegt, wenn von Relationen die Rede ist. Es ist dann ganz angemessen, die aufeinander bezogenen Inhalte, von deren Beschaffenheit das Ergebnis in unverkennbarer Weise abhängt, jener "Relation" als "Fundamente" gegenüberzustellen; aber es versteht sich, daß dann auch dem Ausdruck "Fundament" die Grenzen gesteckt sind, in welchen sein Korrelat "Relation" verstanden wird. Kehrt man dann wieder zum weiten Gebrauch des Ausdruckes Relation zurück, so liegt es nahe, die Korrelativität des Ausdruckes "Fundament" dadurch festzuhalten, daß man auch ihn seiner engeren Bedeutung entkleidet: die Bestandstücke der im Relationsfall niemals fehlenden Komplexion bieten sich dem fraglichen Terminus jederzeit als Anwendungsobjekte völlig ungezwungen dar.

Aber natürlich unter Verlust des charakteristischsten Teiles der engeren Wortbedeutung und nichts kann geeigneter sein, die Größe solchen Verlustes ins rechte Licht zu setzen als die oben ausgezogene Abhandlung von EHRENFELS', auf die wir uns nunmehr wieder zurückgeführt finden. Indem vor allem der Autor einerseits "Vergleichungsrelationen" und am Ende auch "Verträglichkeitsrelationen" als "Gestaltqualitäten", andererseits die verglichenen oder auf Verträglichkeit untersuchten Inhalte als "Grundlagen" in Anspruch nimmt, ist sicher gestellt, daß mit diesen "Grundlagen", das "Fundament" im engeren Sinne gemeint ist: mein Vorschlag, diesen fundierenden Inhalten "fundierte" gegenüberzustellen, hat innerhalb dieser Grenzen sonach kaum den Charakter eines terminologischen Reformversuches. Indem aber der Autor den Fundamentgedanken auf Gebiete anwendbar erweist, denen dieser Gedanke bisher fern geblieben ist, wird ein Verwischen diesselben durch allzuweite Anwendung des ihn tragenden Terminus um so weniger ratsam, je weiter und bedeutsamer die ihm gleichsam neu erschlossenen Gebiete sind. Die praktische Nutzanwendung heraus zu ziehen, fällt um so weniger schwer, als der von mir vor Jahren akzeptierte weite Gebrauch, demzufolge es keine Relation ohne Fundament geben könnte, offenbar auch sonst nicht allenthalebn befriedigt hat und ein einfacher Abänderungsvorschlag seitens eines literarischen Berichterstatters (4) vorliegt. Es kann diesem stattgegeben werden, indem man die keiner Relation fehlenden Komplexionsbestandstücke mit dem Ausdruck "Glieder" der betreffenden Relation belegt.

Weiter lehrt nun aber die vorliegende Abhandlung, daß der "fundierte Inhalt" auch nicht kurzweg mit Relation im engeren Sinne zusammenfällt. Gerade dort, wo der Hinweis auf fundierte Inhalte sich in besonderem Maße als neue und zu Bedenken am wenigsten herausfordernde Feststellung darstellt, bei Gestalten und Melodien, redet niemand von Relation. Umso natürlicher freilich von Komplexion; und ist das oben über das Zusammengehen der Komplexions- und Relationstatsachen Gesagte zutreffend, so beweist dieser terminologische Unterschied sicherlich nichts gegen die Verwandtschaft zwischen den verschiedenen Anwendungsfällen des Fundierungsgedankens. Erwiesen ist damit aber jedenfalls, daß den Fundamenten statt der Relation eventuell auch die Komplexion gegenübertreten kann. Wann das eine, wann das andere, ist natürlich Sache der Untersuchung, über deren Ergebnis mir indessen eine Vermutung nicht wohl abzuweisen scheint. Nachdem STUMPF (5) in meines Erachtens völlig überzeugender Weise auf die Tatsache der Verschmelzung zwischen gleichzeitig gegebenen Inhalten sowie auf die dabei vorkommenden graduellen Verschiedenheiten aufmerksam gemacht hat, liegt angesichts der Simultaneität der fundierten mit den fundierenden Inhalten nichts näher, als auf Verschmelzung oder ein derselben ähnliches Verhältnis zwischen ihnen gefaßt zu sein. Je enger dann etwa die Verschmelzung, je schwieriger daher die Analyse, desto ferner wird es der außerpsychologischen Betrachtung und Sprachbildung liegen, die Bestandstücke in jener Weise voneinander zu isolieren, welche erforderlich scheint, um der Relationen zwischen ihnen zu gedenken. Wirklich sind "Melodie" wie "Gestalt" Namen für die Gesamthit der betreffenden Fundamente  nebst  dem durch sie fundierten Inhalt; und wie eng dieser mit jenen verknüpft ist, darauf weist nicht nur die Tatsache, daß er sich psychologischer Feststellung so lange entzogen hat, sondern noch mehr die oben berührte Schwierigkeit, ihn direkt heraus zu analysieren, die, auch nachdem er auf indirektem Weg erwiesen ist, immer noch fortbesteht: indem sich die Analyse den fundierenden Inhalten zuwendet, entschlüpft ihr gleichsam, was sie gerade sucht. Ganz anders beim Vergleichen: wer Rot und Orange ähnlich findet, dem ist die Ähnlichkeit sicherlich auch in bestimmter Weise an Rot und Orange geknüpft; aber die Verbindung ist eine erheblich weniger innige, so daß es nicht schwer fällt, die Ähnlichkeit den verglichenen Inhalten gegenüberzustellen, während hier kein Wort vorliegt, welches Rot, Orange und deren Ähnlichkeit zusammen zum Ausdruck bringt.

Damit sollen natürlich etwa konkurrierende Umstände nicht ausgeschlossen sein. Leicht mag es Bedürfnisse geben, denen es mehr entgegenkommt, das in einer Melodie als das in zwei beliebigen nur voneinander verschiedenen Inhalten gegebene Vorstellungsganze durch ein Wort gleichsam permanent zu machen. Noch wichtiger könnte ein anderer Umstand sein: je sicherer gewisse Inhalte, wenn sie zusammentreffen, einen bestimmten anderen Inhalt fundieren, desto sicherer wird sich ihre  Komplexion  der Beachtung und Benennung aufdrängen; je mehr dagegen das Subjekt gleichsam aus Eigenem hinzutun muß, damit der fundierte Inhalt auftritt, desto natürlicher mag sich der Anteil der Fundamente durch einen  Relations-Terminus ausdrücken lassen.

Freilich tritt nun aber diese letzte Annahme der Meinung unseres Autors entgegen, es müsse sich mit den fundierenden Inhalten stets auch der fundierte einstellen; ich zweifle indessen, daß diese Ansicht sich als haltbar erweisen wird. Daß zum Perzipieren etwa der Ähnlichkeit das Subjekt ganz Wesentliches beitragen müsse, erkennt er Seite 273f ausdrücklich an, und das wäre mit der in Rede stehenden allgemeinen Aufstellung in keiner Weise in Einklang zu bringen, ginge damit nicht der Versuch des Verfassers Hand in Hand, die fraglichen Relationsvorstellungen statt durch die verglichenen Inhalte durch die innere Wahrnehmung des Vergleichungsaktes fundiert sein zu lassen. Aber der Umweg über die Reflexion, der in Sachen der Relationen ja auch sonst schon versucht worden ist, (6) scheint mir wenigstens im vorliegenden Fall gegenüber der Empirie ganz unnatürlich, die, wie bereits berührt, deutlich zeigt, daß das Vergleichungsurteil das Gebiet nicht verläßt, dem das zu vergleichende angehört. Zudem ist es ja gerade ein Vorteil der Theorie der fundierten Inhalte, solchen Umweg entbehrlich zu machen; nur muß dann freilich eingeräumt werden, daß der fundierte Inhalt seine Fundamente nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen begleitet. Augenfällig wäre dann, daß beim Vergleichen das Subjekt beträchtlich mehr hinzutun muß, als beim Wahrnehmen von Gestalt oder Melodie; indessen dürfte auch hier den fundierenden Inhalten nicht alles zu überlassen sein. Bei Auffassung einer Melodie kommt es nicht nur darauf an, zu hören und zu reproduzieren, sondern auch darauf, daß das Zusammengehörige zusammen bleibt, d. h. wohl, daß nur gewisse Töne in eine fundierende Komplexion zusammentreten, nicht aber was vorhergeht, folgt oder etwa noch gleichzeitig gegeben ist. Wer im einstimmigen Satz die Phrasen nicht sondern oder falsch abgrenzt, wer im mehrstimmigen Satz etwas in den Cantus firmus [die feststehende Melodie - wp] hereinnimmt, was nur Kontrapunkt sein will, der hat das Tonstück noch nicht aufgefaßt. Es gibt Kunstregeln für Komposition und Vortrag, welche dem Hörer seine Aufgabe zu erleichtern bestimmt sind; aber was sollten diese Erleichterungen, wenn der Hörer streng genommen gar keine Aufgabe hätte, als etwa möglichst aufmerksam zuzuhören? Immerhin besteht hier einiger Schein, als ob unser Autor durch seine Ausführungen Seite 285f für Fälle dieser Art bereits vorgesehen habe, sofern die diesen eigentümliche Tätigkeit sozusagen auf die Herbeischaffung der geeigneten Grundlagen gerichtet sein möchte, nicht aber auf das Zustandekommen des fundierten Inhaltes bei einmal gegebener Grundlage. Aber wenn einer etwa dem Vortrag eines einstimmigen Tonstückes zum erstenmal aufmerksam lauscht, muß man da nicht annehmen, daß ihm normalerweise alle einzelnen Töne gleichgut "gegeben" sein werden? Wenn sich gleichwohl ein bestimmter Ton im Falle richtiger "Auffassung" mit seinen Vorgängern, ein anderer mit seinen Nachfolgern zum Ganzen einer Tonphrase zusammenschließt, da ist solche Verschiedenheit doch nur so zu verstehen, daß das Subjekt - nicht nach Belieben, sondern etwa aus objektiven Anlässen - eben die und die Töne zu einer Gruppe zusammengefaßt hat, unter welcher Voraussetzung erst der in der betreffenden Tonphrase vorliegende fundierte Inhalt zustande kommen zu können scheint.

Noch schwerer wird es sein, der besonderen Ausgestaltung zuzustimmen, welche dem fraglichen Gedanken bei Analyse der Unverträglichkeits-Relation zuteil wird. Der Inhalt "Widerspruch" gründet sich nach Seite 275f auf die innere Wahrnehmung dessen, was man beim Mißglücken des Versuches, gewisse Inhalte in anschaulicher Vorstellung zu vereinigen, erlebt. So ansprechend die Schilderung dieser Erlebnisse ist, die Auffassung des Autors scheint keinen Weg frei zu lassen, den Einwand zu entkräften, daß ihr gemäß eigentlich nicht "rund" und "viereckig" die fundierenden Inhalte sind, sondern die innerlich wahrgenommenen Inhalte "Vorstellung des Runden" und "Vorstellung des Viereckigen". Zwar können auch diese Vorstellungen unter gewissen Voraussetzungen für unverträglich gelten, aber wer über Gestalten oder sonstige räumliche Bestimmungen urteilt, urteilt nicht über Vorstellungen und umgekehrt, wer von Vorstellungen handelt, hat anderes im Auge, als wer von räumlichen Bestimmungen spricht. Im besonderen merken wir das auch daran, daß "rund" und "viereckig" unverträglich sind unter Voraussetzung gleicher Orts- und Zeitbestimmung, während für die Unverträglichkeit der bezüglichen Vorstellungen auch noch eine nähere Angabe über die Art ihrer Verbindung - Anschaulichkeit nämlich - erforderlich ist. Wer dies einräumt, braucht die Bedeutung der vom Verfasser beschriebenen oder ihnen ähnlicher Vorgänge zum Zustandekommen des Unverträglichkeitsgedankens darum nicht geringer anzuschlagen, nur wird er sie mit der des Vergleichungsaktes bei der Ähnlichkeitsrelation auf gleiche Linie stellen. Was das Subjekt hier und dort dazu tut, das stellt die dem betreffenden Fundierungsfall angemessenen Bedingungen dar, ohne daß die Wahrnehmung dieses Tuns dazu irgendwie erforderlich wäre oder der Inhalt solcher Wahrnehmung die fundierenden Inhalte ausmachte.

Inzwischen möchte dieser Einwurf nicht als eine Verteidigungsaktion zugunsten meiner einschlägigen Aufstellungen in den "Humestudien II" aufgefaßt sein. Denn wenn der Autor diesen entgegenhält, sie bestimmten zwar den Umfang des Begriffs "Widerspruch", nicht aber ebenso dessen Inhalt, so wird er in dieser Hauptsache voraussichtlich Recht behalten. Man läuft eben nur zu sehr Gefahr, zu meinen, man habe reduziert und erklärt, wo man im Grunde nur eine einfachere, direkte aber eigenartige Bestimmung durch eine kompliziertere indirekte ersetzt hat, die zwar umfangsgleich, vielleicht durch größere Präzision und dergleichen praktisch nützlich ist, nur eben das nicht beschreibt, was unbeschreiblich ist. Ob sich nicht am Ende Ähnliches auch noch in betreff der Relation der Notwendigkeit herausstellen wird, bei der ich für die Zurückführung auf Unmöglichkeit des Gegenteils eingetreten bin? Das Bedürfnis nach einer positiven Fassung ist unzweideutig zum Ausdruck gelangt; (7) was die vorliegende Abhandlung in betreff der Inhaltsfundierung festgestellt hat, mag geeignet sein, die Bahn frei zu machen, auf der diesem Bedürfnis Rechnung getragen werden kann.

Eine Bemerkung pro domo [unter Fachleuten - wp] mag indessen in einer Nebensache immerhin gestattet sein. Ich habe von der Anschaulichkeit einer Vorstellung unter bloßer Berücksichtigung der in ihr komplizierten Bestandstücke eine Definition zu geben versucht, der zufolge eine komplexe Vorstellung anschaulich heißen kann, "sofern sie nach jeder Richtung frei von Unverträglichkeit ist", (8) unser Autor findet darin einen Zirkel, "weil der Begriff der Unverträglichkeit ... den zu definierenden Begriff der Anschaulichkeit bereits voraussetzt (9) - eben deshalb nämlich, weil, um die Unverträglichkeit zweier Inhalte zu erkennen, man versuchen muß, sie anschaulich miteinander zu verbinden. Allein in den Inhalt eines Begriffes gehören sicher nicht die Umstände, unter denen er unserer Erkenntnis zugänglich oder besonders geläufig ist oder dgl.; auch im Begriff der Gleichheit oder Ähnlichkeit spielen die Bedingungen keine Rolle, unter denen Vergleichungen, mithin Urteile über Ähnlichkeit oder Gleichheit möglich sind. Wollte man aber selbst solche Bedingungen in Frage stellen, wieso könnte der  Begriff  der Anschaulichkeit unter dieselben gerechnet werden, da doch der naive Mensch so oft anschaulich vorstellt und bald mit seinem Willen, bald ohne diesen, anschaulich verbindet, ohne irgendwie im Besitz eines solchen Begriffes zu sein, - von der Besonderheit noch ganz abgesehen, daß meine Definition den Gedanken des täglichen Lebens ebenso fern liegen könnte, wie die Auffassung des Kreises als Resultat der Bewegung einer starren Linie oder der Ellipse als Kegelschnitt. Wie Kreis und Ellipse, so hat auch das Anschauliche als solches Eigenschaften, die theoretisch sehr wichtig sein können, sich aber dem unmittelbaren Anblick, wenn man so sagen darf, durchaus nicht aufdrängen: meine Definition benützt solche Eigenschaften, ohne deshalb zu verkennen, daß die besondere Art, zunächst die größere Innigkeit, mit der die Bestandstücke der anschaulichen Vorstellungskomplexion aneinander gebunden sind, für das Anschaulichkeits- Phänomen  viel charakteristischer ist, als die Relation, in welche man etwa einzelne erst durch Analyse herauszusondernde Bestandstücke künstlich und probeweise zueinander setzen mag. An das Charakteristische hält sich der naive Mensch wie der Theoretiker, wenn er mit psychischen Tatbeständen einmal  operiert,  zu definieren vermag es aber keiner von beiden.

Auf weitere Einzelheiten einzugehen, muß ich mir, wenigstens an dieser Stelle, versagen. Daß von der großen Zahl von Tatbeständen, welche der Verfasser unter dem Gesichtspunk der "Gestaltqualitäten" oder "fundierten Inhalte" in Betracht gezogen hat, sich nicht jede einer Subsumtion unter diesen Gedanken gleich willig fügen wird, läßt sich von vornherein annehmen; überall hat am Ende die Detailuntersuchung das entscheidende Wort zu sprechen und daß diese nicht durchweg zugunsten der "fundierten Inhalte" ausfallen wird, diese Vermutung könnte einstweilen schon der wohl nach Abschluß der vorliegenden Abhandlung ausgegebene zweite Band von STUMPFs Tonpsychologie begründen, dessen Ausführungen über Klangfarbe das Bedürfnis, in Sachen der letzteren auf fundierte Inhalte zu rekurrieren, auf alle Fälle beträchtlich herabgesetzt haben werden. An einem ausreichend großen und ausreichend wichtigen Anwendungsgebiet wird es dem vom Autor vertretenen Grundgedanken darum noch lange nicht fehlen; in der Verwertung der Ähnlichkeit der Komplexion bei Unähnlichkeit der Bestandstücke dürfte überdies auch die Forschungstechnik der Komplexionspsychologie eine Bereicherung von dauerndem Wert erfahren haben.
LITERATUR - Alexius Meinong, Zur Psychologie der Komplexionen und Relationen Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Band 2, 1891
    Anmerkungen
    1) Vgl. übrigens meinen Aufsatz "Phantasievorstellung und Phantasie" in der "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 95, 1889, Seite 173
    2) In gewissem Sinne freilich erscheint die Komplexion gegenüber der Relation als das Primäre; aber das "Beziehen" eines Bestandstückes auf ein anderes bedeutet auch dann ein Eigenartiges, ein bestimmtes Tun vielleicht, für das jedenfalls die Vorstellung der Komplexion ansich allein noch nicht aufzukomen vermag. Von Fällen, in denen sich der Relations- vom Komplexionsgedanken völlig zu emanzipieren scheint, einiges weiter unten.
    3) Über die Bedeutung dieses Ausdruckes vgl. meine Untersuchungen "Über Begriff und Eigenschaften der Empfindung", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1888, Seite 478
    4) ALOIS HÖFLER in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1883, Seite 484, Anmerkung 1
    5) CARL STUMPF, Tonpsychologie II
    6) Vgl. namentlich SIGWARTs "Logik", Bd. I, 2. Auflage, Seite 36ff. Mir selbst schwebte bei der Abfassung der einschlägigen Ausführungen in den  Hume-Studien  II zunächst Seite 44f Ähnliches vor, aber so unsicher, daß ich es vermied, in der Sache ausdrücklich Stellung zu nehmen.
    7) Vgl. K. ZINDLER, "Beiträge zur Theorie der mathematischen Erkenntnis, Sitzungsbericht der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien 1889, Philosophisch-historische Klasse, Bd. CXVIII, Sonderabdruck, Seite 17f
    8) A. MEINONG, "Über Phantasievorstellung und Phantasie, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 95, 1889, Seite 213
    9) A. Meinong, "Über Phantasievorstellung ... etc." Seite 275, Anmerkung