ra-1p-4p-4 A. Messervon WieseH. HöffdingA. BrunswigA. Meinong    
 
THEODOR LIPPS
Einheiten und Relationen
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"Objektive Einheit besagt nichts als dies, daß meine apperzeptive Zusammenfassung durch das  Objekt,  d. h. den Gegenstand, bedingt, im Objekt begründet, durch das Objekt  gefordert  ist. Alles ist eine objektive Einheit, soweit es eine Einheitsapperzeption fordert. Auch hier ist die  Forderung  ein unmittelbares nicht weiter zurückführbares Bewußtseinserlebnis. Der letzte Sinn der  objektiven  Einheit, wie aller Objektivität überhaupt, besteht einzig in diesem Bewußtseinserlebnis."

"Welcher Art ein Gegenständliches auch sein, und wie es in sich selbst verbunden oder vereinheitlicht bzw. getrennt oder gesondert sein mag: in jedem Fall hindert mich nichts daran, dasselbe, so wie es ist, und ohne es im mindesten in seinem Bestand zu verändern, ihm etwas hinzuzufügen oder etwas von ihm hinweg zu nehmen, in eine Einheit zusammenzuschließen; es hindert mich nichts, nach Belieben dies oder jenes mit dem sachlich Nächstliegenden oder dem sachlich Fernliegenden  in meinen Gedanken,  d. h. apperzeptiv zu einer Einheit zusammenzufassen. Dann entsteht jedesmal die Beziehung des apperzeptiven Zusammen oder dieses allgemeinste Aufeinanderbezogensein. Ich habe diese Relation - nicht gefunden, sondern geschaffen. Das Einigende liegt nicht im Gegenständlichen, sondern im apperzipierenden Ich, in dem einen vereinigenden  Griff meiner Apperzeption." 

"Man beachte, daß es sich hier nicht um die  Tatsache  des apperzeptiven Herausgesondertseins handelt, sondern um das  Bewußtsein  davon. Unsere Frage lautet ja überhaupt, wie die  Bewußtseinserlebnisse  aussehen, um derentwillen wir von Relationen reden. So handelt es sich auch hier um das  Bewußtsein  des  Ohne,  des  Abgesehen von  etc. Zugleich ist doch selbstverständlich: Gäbe es ein solches Bewußtseinserlebnis nicht, so würde es das  Ohne  oder  Abgesehen von  für uns überhaupt nicht geben."

"Gegeben ist uns jederzeit nur ein so oder so Beschaffenes. Und unter den Beschaffenheiten findet sich nicht neben Hell und Dunkel, Süß und Sauer etc. auch noch Einheit oder Einheitlichkeit; so wenig als sich neben ihnen irgendwo Einzelheit findet. Sondern aus dem so oder so Beschaffenen, das wir vorfinden,  machen  wir einerseits Einzelnes, andererseits Gesamtinhalte oder Ganze. Wir tun Jenes durch eine isolierende, Dieses durch eine vereinheitlichende Apperzeption. Und wir machen zugleich aus den  isolierten  Bewußtseinsinhalten  Mengen  oder  Anzahlen." 


II.
Relationen zwischen Gegenständlichem


Einheit

Den einfachen Relationen, von denen bisher die Rede war, stehen die Relationen zwischen Gegenständlichem gegenüber. Als ein Beispiel derselben wurde schon erwähnt - die Ähnlichkeitsrelation. Diese beschäftigt uns auch hier noch nicht speziell. Aber wir können an ihr eine allgemeine Einsicht gewinnen.

Zweifellos kann ich das Bewußtsein der Ähnlichkeit zwischen zwei Farben nur haben, wenn beide gleichzeitig von mir wahrgenommen oder vorgestellt sind. Aber das genügt nicht. Ich muß auch auf beide zugleich achten, oder sie jedenfalls apperzipieren. Und auch das muß noch näher bestimmt werden. Ich muß auch die beiden Farben "in Beziehung zueinander setzen", oder muß sie "aufeinander beziehen". Und das heißt in jedem Fall, ich muß, indem ich die eine Farbe auffasse, beachte, kurz apperzipiere, unmittelbar, und  in demselben Akt,  auch die andere Farbe auffassen, beachten, apperzipieren. Ich muß beide apperzeptiv zusammennehmen, apperzeptiv vereinigen, in einen einzigen Apperzeptionsakt zusammenschließen.

Dieses Zusammennehmen eines Mehreren in einem einzigen Apperzeptionsakt bezeichne ich kurz als Einheitsapperzeption. Auch von einer solchen Einheitsapperzeption muß wiederum gesagt werden: Sie läßt sich nicht näher beschreiben, so gewiß sie von jedermann in jedem Augenblick seines Lebens unmittelbar erlebt wird. Wir können nur allerlei Ausdrücke gebrauchen, um auf das eigenartige Bewußtseinserlebnis hinzuweisen: Ich finde mich, nämlich das Ich des unmittelbaren Erlebens, bezogen auf ein Mannigfaltiges, aber nicht auf  dieses  und daneben auf  jenes,  oder jetzt auf  dieses  und dann auf  jenes,  sondern auf dieses und jenes zugleich. Es ist ein einziges Bezogensein, das das Mannigfaltige zusammennimmt, so wie ich ein mannigfaltiges Körperliches körperlich zusammennehme, wenn ich nicht mit einer Hand  dieses  ergreife und mit der anderen  jenes,  oder mit ein und derselben Hand jetzt  dieses  und dann  jenes,  sondern wenn ich beides in einen  einzigen Griff zusammenschließe. 

Diese Einheitsapperzeption ist es, wodurch für mich  alle Einheit entsteht.  Ich übe eine solche Einheitsapperzeption, wie gesagt, in jedem Augenblick meines Lebens. Und ich kann sie vollkommen nach Belieben üben allem Gegenständlichen gegenüber. Alles aber, dem gegenüber ich sie übe, oder alles, was ich in solcher Weise innerlich zusammennehme, ist eben damit für mich  zur Einheit geworden.  Es kann also für mich alles zur Einheit werden. Mögen gegenständliche Bewußtseinsinhalte beschaffen sein und sich zueinander verhalten wie auch immer, so hindert mich doch nichts, sie in einen Akt der Apperzeption zusammenzuschließen und eben damit für mich zur Einheit zu  machen. 

Ich sehe etwa eine Menge von Sternen vor mir. Davon nehme ich nach Belieben drei oder vier oder so viele ich will, und welche ich will, und fasse sie zusammen oder betrachte sie als zusammengehörig. Damit habe ich sie zur Einheit gemacht. Sie sind jetzt für mich eine Figur oder ein Sternbild. Sie sind zumindest für mich zur abgeschlossenen  Menge  oder  Anzahl  von Sternen geworden. Sie bilden in jedem Fall eine Einheit von Sternen, nicht ansich, aber für mich. Und es bedarf, damit eine solche Einheit entsteht, lediglich dieser meiner Zusammenfassung oder dieses Zusammenschlusses in einen einzigen Akt der Apperzeption. Die "Einheit" der Sterne, die jetzt für mich besteht, ist gar nichts als eben dieses einheitliche Apperzipiertsein oder dieses Stattfinden einer Einheitsapperzeption.

Und damit ist nun zugleich gesagt, daß der allgemeine Sinn des Wortes "Einheit"  überhaupt im Stattfinden einer solchen Einheitsapperzeption bestehen muß.  So mannigfaltig die Einheiten im übrigen sein mögen, ihr letzter Sinn muß überall derselbe sein, und dieser letzte Sinn des Wortes  Einheit  muß zusammenfallen mit dem, was im soeben bezeichneten Fall den  einzigen  Sinn des Wortes ausmacht.


Mehrheit.
Einheit der Mehrheit.

Das Bewußtsein der Einheit, so sagte ich, ist in jedem Fall das Bewußtsein des einheitlichen Apperzipiertseins oder des Zusammengefaßtseins in einen einzigen Akt der Apperzeption. Ich habe aber nicht nur ein Einheitsbewußtsein überhaupt, sondern auch ein Bewußtsein, daß  Mehreres  für mich eine Einheit bildet. Ich habe also auch ein Bewußtsein der Mehrheit. Hier frage sich: Wie kann etwas für mein Bewußtsein ein Mehreres sein? Stattdessen kann ich auch sagen: wie kann etwas für mein Bewußtsein ein Verschiedenes sein?

Darauf lautet die Antwort: So gewiß das Bewußtsein der Einheit im Bewußtsein der Einheitsapperzeption, so gewiß besteht das Bewußtsein der Mehrheit oder der Verschiedenheit im Bewußtsein einer Mehrheitsapperzeption, d. h. im bewußten Nebeneinander einzelner Apperzeptionsakte.

Damit nun ist wiederum eine neue Bewußtseinstatsache bezeichnet: Es besteht die Möglichkeit, daß ich Mehreres nebeneinander relativ für sich apperzipiere. Und ich habe, wenn das geschieht, davon ein unmittelbares Bewußtsein. Und wie das Bewußtsein der Einheit jederzeit ein Bewußtsein des Zusammengenommenseins in einen einzigen Apperzeptionsakt ist, so ist das Bewußtsein der Mehrheit oder Verschiedenheit jederzeit ein Bewußtsein vom gleichzeitigen Stattfinden mehrerer relativ gesonderter Apperzeptionsakte. Alle Mehrheit oder Verschiedenheit, von welcher ich ein Bewußtsein habe, hat in diesem unmittelbaren Bewußtseinserlebnis, dem Nebeneinander relativ gesonderter Apperzeptionsakte seinen gemeinsamen Sinn.

Und zu den beiden Bewußtseinserlebnissen, der Einheitsapperzeption und der Mehrheitsapperzeption, tritt nun endlich das dritte - die Vereinigung beider. Das Bewußtseinserlebnis der Mehrheitsapperzeption ist, wenn ich das Bewußtsein habe,  Mehreres  ist für mich oder bildet jetzt für mich eine  Einheit,  mit dem Bewußtseinserlebnis der Einheitsapperzeption zu einem einheitlichen Bewußtsein verbunden.

Es ist aber überhaupt gar nicht möglich, daß ich jenes Bewußtseinserlebnis habe ohne dieses. Ich kann nicht Mehreres nebeneinander für sich apperzipieren, ohne es jedesmal  zugleich  in einem einzigen Akt der Apperzeption zu vereinigen oder die einzelnen nebeneinander bestehenden Apperzeptionsakte einem einzigen allumfassenden Apperzeptionsakt einzuordnen.

Dies ist eine durchaus nicht selbstverständliche, sondern höchst merkwürdige Tatsache. Und man hat wohl ein Recht, zu fragen: Wie ist sie möglich? Wie kann es geschehen, daß ich mich ein und demselben Mannigfaltigen gegenüber gleichzeitig in der doppelten Weise verhalte, es in einen ungeteilten Akt der Apperzeption zusammenfasse und zugleich die Elemente des Mannigfaltigen für sich auffasse oder apperzipiere? Die einzig mögliche Antwort auf diese Frage aber lautet: Es ist möglich, so gewiß es in jedem Augenblick unseres Lebens stattfindet. Immer wieder fassen wir zusammen und sondern zugleich das Zusammengefaßte, oder immer wieder fassen wir Mehreres für sich auf und schließen es doch zugleich in einen einzigen Akt der Auffassung zusammen. Immer wieder ordnen sich einem einzigen umfassenden Akt der Apperzeption mehrfach gesonderte oder relativ gesonderte Akte der Apperzeption ein und unter. Und wir fügen gleich hinzu: Eine solche Unterordnung kann in mehrfachen Stufen geschehen.

Und noch  eines  muß gleich hinzugefügt werden: wir vollziehen nicht nur tatsächlich jederzeit eine solche Einheitsapperzeption und Mehrheitsapperzeption, sondern wir tun dies beides aufgrund eines allgemeinsten Zuges in der Natur des Geistes. Es gehört zum letzten Wesen des Geistes, daß wir nicht umhin können, das gleichzeitig Apperzipierte in einen einzigen Apperzeptionsakt zusammenzuschließen. Andererseits fordert doch zugleich jedes Einzelne, für sich oder gesondert, aufgefaßt zu werden. Das psychische Leben ist ein beständiges Ineinander dieser beiden Nötigungen. Das heißt zugleich: Es ordnet sich nicht nur die Mehrheitsapperzeption jederzeit einer Einheitsapperzeption ein, sondern es gilt auch das Umgekehrte. Jede Einheitsapperzeption, außer der absolut einfachen, schließt jederzeit eine Mehrheitsapperzeption, d. h. ein Nebeneinander relativ selbständiger Akte der Apperzeption in sich.


Kritisches zur
"Einheitsapperzeption"

Hier machen wir einen Augenblick Halt. Daß die Einheitsapperzeption eines Mannigfaltigen mehr oder minder zugleich ihr Gegenteil, d. h. eine relativ selbständige Apperzeption von Einzelnem ist, dies widerlegt eine Antwort auf die Frage, worin die Einheitsapperzeption besteht, nämlich die Behauptung, sie sei gar nichts als die  simultane  Apperzeption. Wäre es so, d. h. wäre die Zusammenfassung zur Einheit lediglich ein anderes Wort für die gleichzeitige Auffassung, so könnte offenbar die simultane Auffassung nicht Einheitsapperzeption und zugleich in einem höherem oder geringeren Grad  Mehrheits apperzeption, sein. Sondern die letztere könnte immer nur nacheinander stattfinden. Und dabei müßte das "Nacheinander" in einem strengen Sinn genommen werden, d. h. wir müßten sagen, eine gesonderte Auffassung von Teilen eines Mannigfaltigen ist möglich nur in der Weise, daß jetzt ein Teil für sich aufgefaßt wird, dann auf jede Auffassung oder Beachtung dieses Teils völlig verzichtet wird, und ein anderer Teil an die Stelle tritt, und seinerseits ausschließlicher Gegenstand der Beachtung wird. Wie man weiß, pflegt aber auch dasjenige, was wir so gewöhnlich eine sukzessive Auffassung der Teile eines Mannigfaltigen nennen, nicht so auszusehen. Sie ist wohl sukzessiv, d. h. ich gehe von einem Teil zum anderen apperzipierend fort, aber ich halte in diesem Fortgang das vorher Apperzipierte fest. Ich apperzipiere Teil zu Teil  hinzu,  mit dem Erfolg, daß ich schließlich ein Mehreres, dessen Teile für sich apperzipiert sind, nebeneinander, also gleichzeitig habe. Mit anderen Worten: diese sogenannte sukzessive Auffassung der Teile eines Mannigfaltigen ist eine sukzessive lediglich hinsichtlich ihrer  Entstehung;  dagegen ist sie hinsichtlich ihres Erfolges gleichfalls simultan. Ihr Erfolg besteht in einer Einheitsapperzeption, in welcher relativ selbständige Apperzeptionen von Teilen eingeschlossen liegen.


Subjektive und objektive
Einheit und Mehrheit

Bei der Apperzeption überhaupt unterschieden wir oben die beiden Möglichkeiten, daß sie objektiv und daß sie subjektiv bedingt ist. Diesen Gegensatz müssen wir übertragen auf die Einheits- und die Mehrheitsapperzeption und auf die Einheit beider. Soweit die Einheitsapperzeption willkürlich, d. h. nicht durch den "Gegenstand" der Apperzeption gefordert ist oder darin ihren Rechtsgrund hat, ist sie eine subjektiv bedingte Einheitsapperzeption, d. h. diejenige, die durch den apperzipierten Gegenstand gefordert ist. Durch sie entsteht die objektive Einheit. Objektive Einheit besagt nichts als dies, daß meine apperzeptive Zusammenfassung durch das "Objekt", d. h. den Gegenstand, bedingt, im Objekt begründet, durch das Objekt  "gefordert"  ist. Alles ist eine objektive Einheit, soweit es eine Einheitsapperzeption fordert. Auch hier ist die "Forderung" ein unmittelbares nicht weiter zurückführbares Bewußtseinserlebnis. Der letzte Sinn der "objektiven" Einheit, wie aller Objektivität überhaupt, besteht einzig in diesem Bewußtseinserlebnis.

Völlig gleichartig ist der Gegensatz der subjektiven und der objektiven  Mehrheit  oder  Verschiedenheit.  Ich kann ein als Einheit aufgefaßtes Mannigfaltiges, d. h. ein Mannigfaltiges, das mir zudem gegeben ist und simultan von mir aufgefaßt wird, unbeschadet der Einheitsapperzeption, die ich ihm gegenüber üben muß, willkürlich  mehr oder minder  vermehrheitlichen, d. h. ich kann seine Teile oder Elemente mehr oder minder apperzeptiv verselbständigen. Insofern ist die Mehrheit oder Verschiedenheit eine  subjektive.  Sie ist ein bestimmteres oder klareres Unterschiedensein  durch mich.  Auch die bestimmtere Unterschiedenheit der Teile des Ganzen, d. h. eines vereinheitlichten Mannigfaltigen, die mir aus der  Übung  entsteht, ist eine subjektiv bedingte Verschiedenheit.

Dagegen ist die Verschiedenheit oder Mehrheit bzw. Mehrheitlichkeit eine objektive, wenn und soweit die Unterscheidung, d. h. die gesonderte Apperzeption des Einzelnen, durch den Gegenstand von mir gefordert ist. Wiederum besteht alles Bewußtsein der objektiven Verschiedenheit oder Mehrheitlichkeit letzten Endes im bewußten Erleben dieser Forderung. Alle objektive Verschiedenheit hat darin, und darin allein, ihren ursprünglichen Sinn.

Hierbei ist nur hinzuzufügen: Da, wie oben gesagt, die Mehrheitsapperzeption oder die gesonderte Apperzeption des Einzelnen ihren Grund hat im  Anspruch  jedes Einzelnen, für sich apperzipiert zu werden, - welcher Anspruch seinerseits eine allgemeinste und letzte, nicht weiter zurückführbare psychologische Tatsache ist - so muß ein solcher Anspruch jedesmal bestehen, wo eine Mehrheitsapperzeption stattfinden soll. Das heißt: die Mehrheitsapperzeption muß jederzeit im Gegenständlichen einen Anlaß haben. Sie kann nie eine  rein willkürliche  sein. Das heißt jedoch nicht, daß sie jederzeit eine in irgendeinem Grad durch den  Gegenstand  bedingte oder in ihm liegende, von ihm geforderte, kurz eine  objektive  sein muß.

Dies zeigt der Fall der Identität. "Ein und dasselbe" kann in verschiedene Beziehungen verflochten oder kann Element sein in verschiedenen Komplexen. Es kann psychisch auftreten als Teil verschiedener Einheiten. Apperzipiere ich dann diese Einheiten auf einmal und doch, weil sie verschieden sind, jede für sich, dann apperzipiere ich "Dasselbe" doppelt. Damit ist das Identische für mich von sich selbst unterschieden oder ein Mehreres. Es bleibt aber "objektiv"  Dasselbe.  Das heißt: die Apperzeption des Gegenstandes schließt die Forderung einer absoluten Einheitsapperzeption und das unbedingte Verbot einer Mehrheitsapperzeption in sich. Hierin besteht das  Bewußtsein der Identität.  Es ist das Bewußtseinserlebnis, daß sich die subjektive Mehrheit als objektive Einheit ausweist.


Arten der Relationen zwischen
Gegenständlichem

Aber auch von dieser Identität ist hier noch nicht die Rede. Es handelt sich zunächst um andere Einheiten und Relationen, nämlich Relationen zwischen Gegenständlichem.

Was sind diese Relationen? Ich antworte sogleich allgemein: Sie sind nichts als Weisen der apperzeptiven Vereinigung und Besonderung. Sie sind, genauer gesagt, Weisen, wie das Gegenständliche in meiner Apperzeption vereinigt, bzw. gesondert  erscheint,  oder wie es  sich  vereinigt oder  sich  besondert. Sie sind die Bestimmtheiten, welche das Gegenständliche in meinem zusammenfassenden und sondernden Apperzipieren  gewinnt,  die wechselseitige Stellung, welche dem Gegenständlichen in meinem zusammenfassenden und sondernden Apperzipieren zuteil wird.

Damit ist schon der durchgehende Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Relationen angedeutet. Eine subjektive Relation oder Beziehung ist die wechselseitige Stellung, welche ich dem Gegenständlichen durch mein Apperzipieren  anweise;  die objektive ist die wechselseitige Stellung, welche sich der apperzipierte Gegenstand vermöge irgendwelcher ihm anhaftender Bestimmtheiten gibt, d. h. die er aufgrund dieser Bestimmtheiten von mir, dem Apperzipierenden fordert. Sie ist das Ergebnis meines Apperzipierens, sofern dasselbe durch den Gegenstand bestimmt ist.

Andererseits kann diese wechselseitige Stellung doppelter Art sein. Daraus ergeben sich zwei Arten subjektiver bzw. objektiver Relationen. Wir können sie kurz unterscheiden als positive und negative Relationen. Oder bestimmter gesagt: Es besteht ein Gegensatz der Relationen oder Beziehungen des Zusammen und der Relationen des Auseinander, der Relationen der Einheitlichkeit und der Relationen der Gegensätzlichkeit. Die Vergleichung etwa ergibt Gleichheit oder Verschiedenheit. Dabei ist die Verschiedenheit ebensogut eine Relation wie die Gleichheit. Ebenso sind räumliche Nähe und räumliche Ferne in gleicher Weise Relationen. Und die erfahrungsgemäße Nichtzusammengehörigkeit ist ebensowohl eine Relation wie die erfahrungsgemäße Zusammengehörigkeit. Schließlich sind zwei Gegenstände auch dadurch, daß ich weiß, sie haben in keiner Hinsicht irgendetwas miteinander zu tun, seien also absolut "ohne jede Beziehung", eben dadurch für  mich  zueinander  in Beziehung gesetzt.  Es besteht zwischen ihnen eine Relation und zwar eine objektive Relation, nämlich eben die Relation der absoluten Beziehungslosigkeit oder der völligen wechselseitigen Fremdheit. Nur ist dies eben eine "negative" Relation.

Und dazu fügen wir schließlich auch gleich noch eine weitere Unterscheidung hinzu. Der Gegensatz der positiven und der negativen, oder der vereinheitlichenden und der sondernden Relationen ist entweder ein ausschließlicher, wie der Gegensatz von Ja und Nein, oder er ist ein solcher, der einen stetigen Übergang gestattet. So schließen die Relationen der kausalen Abhängigkeit und der kausalen Unabhängigkeit einander aus. Dagegen sind einander ähnliche Objekte einander zugleich relativ unähnlich; und es führt eine stetige Brücke von der vollsten Ähnlichkeit zur vollsten Unähnlichkeit.


Die Relation des Zusammen.
Gleichgewicht und Unordnung.

Die hier wiederum nur des Beispiels wegen genannten Relationen sind es nun aber nicht, die uns zuerst beschäftigen. Wir nehmen erst einmal an, es sei irgendein Mannigfaltiges irgendwie zur Einheit zusammengefaßt. Dann ist in jedem Fall eine allgemeinste Relation zwischen Gegenständlichem gegeben, nämlich die einfache Relation des  apperzeptiven Zusammen  eines Mannigfaltigen. Diese Relation ist die  Grundrelation  aller Relationen zwischen  Gegenständlichem,  entsprechend der Grundrelation aller Relationen zwischen mir und einem Gegenständlichen, die in der einfachen Apperzeption eines Gegenständlichen gegeben war.

Diese Grundrelation oder dieses apperzeptive Zusammen, ist eine Daseinsweise des zusammen Apperzipierten oder apperzeptiv Vereinigten, die nichts zu tun hat mit der Beschaffenheit des Apperzipierten. Wie schon oben gesagt: Welcher Art ein Gegenständliches auch sein, und wie es in sich selbst verbunden oder vereinheitlicht bzw. getrennt oder gesondert sein mag, in jedem Fall hindert mich nichts daran, dasselbe, so wie es ist, und ohne es im mindesten in seinem Bestand zu verändern, ihm etwas hinzuzufügen oder etwas von ihm hinweg zu nehmen, in eine Einheit zusammenzuschließen; es hindert mich nichts, nach Belieben dies oder jenes mit dem sachlich Nächstliegenden oder dem sachlich Fernliegenden "in meinen Gedanken", d. h. apperzeptiv zu einer Einheit zusammenzufassen. Dann entsteht jedesmal die Beziehung des apperzeptiven Zusammen oder dieses allgemeinste Aufeinanderbezogensein. Ich habe diese Relation - nicht gefunden, sondern geschaffen. Das Einigende liegt nicht im Gegenständlichen, sondern im apperzipierenden Ich, in dem einen vereinigenden  "Griff meiner Apperzeption. 

Hier aber begegnen uns nun sofort zwei einander entgegengesetzte, übrigens stetig ineinander übergehende Möglichkeiten. Wie auch im übrigen die Elemente des Mannigfaltigen sich zueinander verhalten mögen, in jedem Fall bestehen zwei entgegengesetzte Weisen, wie dieselben in meiner Einheitsapperzeption sich zu einander verhalten können. Die Elemente des Mannigfaltigen sind einander apperzeptiv gleichwertig oder halten sich das  Gleichgewicht,  oder aber sie sind einander  über-  und  untergeordnet. 

Eine Reihe von Bäumen, gleich an Wuchs und Größe, seien von mir im Ganzen, also als diese Reihe, aufgefaßt. In dieser Reihe seien ansich oder "objektiv" alle Bäume koordiniert. Sie stehen, objektiv betrachtet, in einem apperzeptiven Gleichgewicht. Dann hindert mich doch nichts, dieses Gleichgewicht aufzuheben und alle die Bäume einem oder zweieN oder dreien apperzeptiv unterzuordnen. Ich fasse etwa den ersten Baum speziell ins Auge und reihe in meinen Gedanken die übrigen an ihn an. Ich betrachte jenen wie einen Führer, wie den Kopf; diese wie die Nachläufer, wie den Körper oder den Schwanz. Oder ich fasse in analoger Weise einen mittleren Baum als den Hauptbaum, an den sich die anderen rechts und links anfügen, so wie Arme oder Flügel beiderseits sich an einen Körper anfügen. Kurz, ich hebe ganz beliebig einen Baum apperzeptiv heraus, stelle ihn in die Mitte meines Interesses, betrachte die anderen mit Rücksicht auf ihn, mit Bezug auf ihn, in ihrem Verhältnis zu ihm. Damit habe ich das geschaffen, was ich als apperzeptive Unterordnung und spezielle als "monarchische" Unterordnung zu bezeichnen pflege. Ich habe künstlich und willkürlich diese unterordnende Apperzeption an die Stelle der "indifferen Einheitsapperzeption" gesetzt, d. h. an die Stelle derjenigen Einheitsapperzeption, bei welcher zwischen dem Einzelnen, das der Einheitsapperzeption eingeordnet ist, Gleichgewicht besteht.

Der Gegensatz dieser beiden Relationen, des Gleichgewichts und der Unterordnung ist ein allgemeiner, nie fehlender. Die äußersten Grenzen sind bezeichnet durch das absolute apperzeptive Gleichgewicht, das freilich lediglich ein Ideal ist, einerseits, und die absolute Unterordnung, wie sie z. B. in der reinen ästhetischen Apperzeption stattfindet, andererseits. In der ästhetischen Apperzeption ist der sinnliche Faktor dem ästhetischen Inhalt, dem darzustellenden Leben, absolut untergeordnet. Hierfür verweise ich auf meine Schrift von der Form der ästhetischen Apperzeption. (1)


Apperzeptive Heraussonderung

Offenbar stehen diese beiden Relationen des apperzeptiven Gleichgewichts und der apperzeptiven Unter- und Überordnung einander nicht entgegen, wie positive und negative Relationen, sondern wir werden sie beide als positive Relationen zu bezeichnen haben. Wohl aber müssen wir nun ihnen beiden eine negative Relation entgegenstellen.

Neben der Möglichkeit der Einheitsapperzeption eines irgendwie Gegebenen, der indifferenten und der unterordnenden, steht die Möglichkeit der apperzeptiven Heraussonderung oder Herauslösung. Ich betrachte einen Baum rein für sich, ohne irgendetwas sonst mit zu apperzipieren, vor allem ohne ihn apperzeptiv in seine räumliche Umgebung hineinzustellen. Ich fasse also nur eben diesen Baum auf. Auch hier liegt eine Einheitsapperzeption vor. Ich fasse zusammen oder vereinheitliche den Stamm, die Äste, die Zweige etc. Aber darauf kommt es hier nicht an. Es handelt sich jetzt nicht um die Beziehung der Teile des Baums, sondern um die Beziehung zwischen dem Baum und seiner Umgebung.

Diese Beziehung nun ist eine Beziehung der apperzeptiven Isolierung, eine Beziehung des "Ohne", des "Abgesehen von". Ich fasse den Baum auf "ohne" seine Umgebung, oder "abgesehen von" seiner Beziehung zur Umgebung. Diese Beziehung hat alles Recht, eine negative Beziehung zu heißen. Zugleich ist sie ganz besonderer Art.


Apperzeptive Heraussonderung
und Einheitsapperzeption

Die fragliche Relation scheint zunächst dem zu widersprechen, was oben über die Relation zwischen Gegenständlichem überhaupt gesagt wurde: Sie setze allemal eine Einheitsapperzeption voraus und sei die Stellung, welche das Gegenständliche in derselben gewinnt oder sich gibt. In Wahrheit ist hier kein Widerspruch. Auch bei der hier in Rede stehenden Relation ist die Einheitsapperzeption die Basis; und auch bei ihr macht eine wechselseitige Stellung in der Einheitsapperzeption das Wesen der Relation aus. Nur hat jene allgemeine Regel bei dieser, wie bei allen negativen Relationen, ihren besonderen Sinn.

Man beachte zunächst, daß es sich hier nicht um die  Tatsache  des apperzeptiven Herausgesondertseins handelt, sondern um das  Bewußtsein  davon. Unsere Frage lautet ja überhaupt, wie die  Bewußtseinserlebnisse  aussehen, um derentwillen wir von Relationen reden. So handelt es sich auch hier um das  Bewußtsein  des "Ohne", des "Abgesehen von" etc. Zugleich ist doch selbstverständlich: Gäbe es ein solches Bewußtseinserlebnis nicht, so würde es das "Ohne" oder "Abgesehen von" für uns überhaupt nicht geben.

Ich sage nun, auch bei der apperzeptiven Herauslösung des Baumes aus seiner Umgebung sei eine Einheitsapperzeption vorausgesetzt. Dies trifft zu, sofern die herauslösende Apperzeption eben die Herauslösung aus einer  Einheit  ist. Der Baum bildet mit seiner Umgebung eine  objektive,  er bildet damit zumindest eine objektive  räumliche  Einheit. Das heißt, der wahrgenommene räumliche Sachverhalt fordert die Einheitsapperzeption. Und diese Forderung der Einheitsapperzeption erlebe ich. Oder: - Ich erlebe die Einheitsapperzeption als geforderte,  als  objektiv sein sollende, als etwas, worauf ich durch den Gegenstand hingewiesen bin. Und aus dieser geforderten Einheitsapperzeption nun löse ich den Baum heraus. Ich löse ihn im Gegensatz zu jener erlebten objektiven Forderung von der Umgebung los. Eben im Bewußtsein hiervon besteht die Relation des "Ohne" oder des "Abgesehen von". Sie ist das Bewußtseinserlebnis der apperzeptiven  Abwendung von  etwas im Bewußtsein Gegebenen, das die Mitapperzeption  fordert. 

Es ist aber diese apperzeptive Abwendung, es ist also der Akt der apperzeptiven Heraussonderung, in der Tat ein unmittelbares und eigentümliches  Bewußtseinserlebnis.  Indem ich den Baum aus seiner Umgebung apperzeptiv herausnehme, also mich von der Umgebung apperzeptiv abwende, ist es nicht so, als gäbe es diese Umgebung für mein Bewußtsein gar nicht, sondern ihr Dasein ist eine für den Charakter meines Apperzipierens in Betracht kommender Faktor. Was ich erlebe, ist nicht einfach dies, daß ich den Baum apperzipiere und sonst nichts, sondern es bleibt im Apperzipieren für mein Bewußtsein der Zusammenhang mit dem Nichtapperzipierten, es bleibt also die Einheit, nämlich als eine beständig aufzuhebende und aufgehobene, es bleibt die beständige  Überwindung des Anspruchs  der Umgebung, mitapperzipiert zu werden, oder die beständige Aufhebung einer objektiv geforderten Einheit. Eben dies macht das Apperzeptionserlebnis zum Erlebnis einer  negativen Beziehung. 


Apperzeptive Herauslösung
und Abstraktion

Natürlich ist dieses Moment der Negativität umso ausgeprägter, je bestimmter die Umgebung den Anspruch erhebt, mitapperzipiert zu werden. Demnach ist auch das Bewußtsein, die Apperzeption sei eine herauslösende, bald mehr, bald minder ausgeprägt.

Offenbar gehört unter den Begriff der herauslösenden Apperzeption jede Art der Abstraktion oder abstrahierende Apperzeption. Wir können sogar  jede  solche Herauslösung überhaupt als Abstraktion bezeichnen. Doch  pflegen  wir dies nicht zu tun. "Abstraktion" im üblichen Sinne setzt voraus, daß der Zusammenhang des abstrahierend Herausgelösten, und dessen, wovon abstrahiert wird, ein engerer ist. Im Begriff der Abstraktion kommt danach jenes Moment der Herauslösung aus der objektiv geforderten Einheit oder der Gegensatz zu dieser Forderung in spezifischer Weise zur Geltung.

So kann ich, wenn ich bei der Betrachtung des Baumes von der Umgebung absehe, dies eine Abstraktion nennen. Aber nicht im engeren Sinne. Dies darum, weil sich die Umgebung des Baumes nicht in genügend unmittelbarer Weise zur Mitapperzeption herandrängt, oder weil hier die Forderung der Einheitsapperzeption eine relativ wenig dringende ist. Dagegen liegt eine Abstraktion im engeren Sinne vor, wenn ich bei der Betrachtung eines Dinges absehe von einer seiner Eigenschaften, etwa bei der Betrachtung einer Frucht von dem mir wohlbekannten und für die Frucht charakteristischen Geschmack. Hier ist eben die objektive Einheitsbeziehung eine innigere. Eine Abstraktion im engsten Sinn endlich ist es, wenn ich bei der Betrachtung eines Tones absehe von seiner Lautheit und Tonfärbung, und die Tonhöhe allein apperzipierend heraussondere oder herauslöse. Dies darum, weil hier die objektive Einheitsbeziehung die denkbar innigste ist. Ein Ton trägt jederzeit für meine Vorstellung eine bestimmte Stärke und Klangfarbe unmittelbar in sich. Es fügt sich nicht nur, wie beim Baum, dem apperzeptiv Herausgehobenen etwas  an,  sondern es stehen in diesem einen Ton die Tonhöhe, die Lautheit und die Tonfärbung in einem eigentümlichen Verhältnis der Durchdringung. Und dieser Durchdringung nun, oder der in ihr liegenden besonders innigen Einheit zum Trotz geschieht die abstrahierende Apperzeption der Tonhöhe. Hier ist darum auch dies, daß die herauslösende Apperzeption nicht einfach die Apperzeption des Herausgelösten ist, sondern eine solche, die aus einem Gegebenen, der in ihm liegenden Forderung der Einheitsapperzeption zuwider, etwas  herausnimmt,  am meisten deutlich. Es steckt hier am meisten in der herauslösenden Apperzeption die Einheit,  aus  welcher herausgelöst wird, und damit das Charakteristische der negativen Beziehung.


Komplexionen und Relationen

Kehren wir nun aber zur apperzeptiven Zusammenfassung eines Mannigfaltigen zurück. Zunächst eine weitere kritische Bemerkung. Die oben allgemein festgestellte und hier an einem besonderen Beispiel aufgezeigte Existenz negativer oder absondernder Relationen verträgt sich nicht wohl mit MEINONGs Prinzip der "Koinzidenz der Komplexionen und Relationen": MEINONG sagt: "Liegt zwischen  a  und  b  eine Relation  r  vor, so ist damit ipso facto auch eine Komplexion zwischen den Relationsgliedern als Bestandstücken gegeben."

Dieser Satz trifft zu unter einer doppelten Voraussetzung. Erstens: Die Relation muß eine positive oder "vereinheitlichende" sein. Man wird nicht sagen, daß eine mathematische Formel und Wohlriechendheit eine Komplexion bilden. Und doch besteht zwischen mathematischen Formeln und Wohlriechendheit eine Relation, nämlich die Relation der Unzusammengehörigkeit oder der vollkommenen Fremdheit. Und dies ist nicht nur eine Relation überhaupt, sondern, wie schon oben mit Bezug auf einen ähnlichen Fall gesagt wurde, eine objektive Relation. Dieselbe besteht für mich unweigerlich und erscheint jedesmal durch den Gegenstand bedingt, wenn ich beides, die mathematische Formel und die Wohlriechendheit zusammenfasse, etwa in dem Urteil, daß mathematische Formeln und Wohlriechendheit nichts miteinander zu tun haben. Beide sind dann für mich durch die Relation der Unverträglichkeit aufeinander bezogen.

Aber nicht nur dies liegt im Begriff der Komplexion, daß ihre Objekte durch  positive  Relationen aneinander gebunden sein müssen, sondern es liegt darin zugleich, und vor allem, daß das Mannigfaltige  in bestimmter Weise  zur Einheit vereinigt sein muß, nämlich so, daß es sich zu einem  Ganzen  verbindet.

Ich vergegenwärtige mir die Philosophen ARISTOTELES und LEIBNIZ, jeden durchaus für sich, ohne an die räumliche, oder die zeitliche, oder die Abhängigkeitsbeziehung zwischen beiden zu denken. Ich mache also beide zum Gegenstand einer heraussondernden oder herauslösenden Apperzeption. Zugleich schließe ich beide in einen Akt der Apperzeption zusammen, d. h. ich ordne jene beiden Apperzeptionen einer einzigen Apperzeption ein. Dann habe ich ein Bewußtsein einer  Zweiheit;  nämlich von Philosophen.

Und damit besteht für mein Bewußtsein zugleich eine Beziehung, nämlich die Beziehung, die durch das Wort "und" bezeichnet ist, die Beziehung des Zusammen eines Mehrfachen und apperzeptiv Herausgesonderten in einem einzigen Apperzeptionsakt.

Und dazu treten zum Überfluß noch andere Relationen. Beide Personen sind in diesem einen Apperzeptionsakt einander koordiniert. Außerdem schließt dies, daß ich sie beide als Philosophen bezeichne, eine Relation der Übereinstimmung oder Ähnlichkeit in sich. Es besteht also für mein Bewußtsein nicht nur eine einfache, sondern eine dreifache Beziehung: die Beziehung eines einfachen Zusammen, das wir gleich als "numerisches" bezeichnen können, die Beziehung der Koordination und die Beziehung der Ähnlichkeit. Bei all dem aber bilden ARISTOTELES und LEIBNIZ keine Komplexion in dem Sinne, in dem wir das Wort natürlicherweise nehmen werden, in dem Sinne etwa, in welchem die Ereignisse der französischen Revolution eine Komplexion von Ereignissen bilden, oder auch nur in dem Sinne, in dem eine Gruppe von Bäumen eine Komplexion, nämlich eine räumliche Komplexion bilden.


Zwei Hauptarten der Einheit

Doch am Wort "Komplexion" ist uns hier nichts gelegen. Wie es auch mit dem Sinn des Wortes bestellt sein, oder welche Bedeutung man ihm zuerkennen mag, in jedem Fall ist in dem hier Gesagten ein Unterschied zwischen zwei Möglichkeiten der Einheitsapperzeption angedeutet; und zwar ein solcher, der für uns, d. h. für die Lehre von den Einheiten und Relationen, grundlegende Bedeutung hat.

Dieser Unterschied wurde schon früher gestreift. Ich sehe am Himmel Sterne. Diese kann ich in doppelter Weise zur Einheit zusammenschließen. Das eine Mal apperzipiere ich die einzelnen Sterne, jeden für sich, und abgesehen von allen räumlichen Beziehungen, und füge sie zur Einheit zusammen. Das Ergebnis ist eine  Menge  oder eine  Anzahl  von Sternen. Das andere Mal apperzipiere ich die Sterne, so wie ich sie sehe, d. h. innerhalb des räumlichen Kontinuums, dem sie angehören, oder ich apperzipiere sie zumindest so, daß ich die verbindenden  Strecken  mitapperzipiere. Hier ist das Ergebnis nicht eine Menge oder eine Anzahl von Sternen, sondern ein  Sternhaufen  von bestimmter Gestalt bzw. ein  Sternbild.  Es ist ein einheitliches  "Ganzes"  in einem besonderen Sinne, nämlich im Sinn des  "Verwobenseins"  zu einem Ganzen.

Ebenso kann ich mehrere nebeneinanderstehende Bäume das eine Mal betrachten lediglich als  Menge  von Bäumen, das andere Mal als Baumgruppe; eine Folge von Tönen das eine Mal als eine Anzahl von Tönen, das andere Mal als eine Tonfolge. Wiederum sind im ersteren Fall die Bäume bzw. die Töne aus dem räumlichen bzw. zeitlichen Kontinuum, dem sie angehören, apperzeptiv herausgelöst und diese Apperzeptionen einer Einheitsapperzeption untergeordnet. Es sind im anderen Fall die Bäume bzw. die Töne durch dazwischenliegende räumliche oder zeitliche Strecken miteinander apperzeptiv  verwoben. 

Zu diesen Beispielen füge ich schließlich noch ein drittes Beispiel: Ich apperzipiere die Höhe, die Lautheit, die Tonfärbung eines Tones jedesmal für sich, also so, daß ich sie aus der Einheit des Tones apperzeptiv herauslöse, und fasse sie apperzeptiv zusammen. Damit habe ich lediglich eine Dreiheit von Tonquantitäten. Ein ander Mal betrachte ich sie als Tonhöhe, Lautheit, Tonfärbung dieses einen Tones. Wenn ich jetzt zusammenfasse, so gewinne ich das Bewußtsein eines Zusammenhangs der Qualitäten in dem einen Ton.

Das Gemeinsame des Gegensatzes in allen diesen Fällen ist einleuchtend. Jedesmal vollziehe ich einerseits Einzelapperzeptionen, die ihren Gegenstand isolieren, d. h. loslösen von dem, was sie mit anderen vereinheitlicht oder verwebt. Solche isolierenden Apperzeptionen ordne ich dann zugleich in eine Einheitsapperzeption ein. Dieser Möglichkeit steht eine zweite gegenüber: Ich vollziehe Einzelapperzeptionen in eine Einheitsapperzeption derart, daß sie in dieser Einheitsapperzeption durch die ihnen anhaftenden vereinheitlichenden Elemente miteinander verwoben sind.

Damit haben wir nun zunächst zwei Arten von Einheiten gewonnen. Die ersteren bezeichnete ich schon als Mengen oder Anzahlen. Statt Mengen kann ich auch sagen Mehrheiten, Vielheiten, wenn ich diese Worte im konkreten Sinn nehme. Die Anzahl ist die bestimmte Menge. Beispiele sind: eine Menge von Sternen, eine Vielheit von Menschen, drei Bäume etc. Die zweite Art der Einheiten wird gebildet von den Einheiten des Mannigfaltigen, in welchen zur  "Menge"  von Elementen verbindende oder vereinheitlichende Faktoren hinzugetreten sind. Offenbar sind es diese letzteren, die wir allein als Komplexionen bezeichnen dürfen. Es gehören hierhin die Einheiten, die wir bezeichnen als eine Folge von Tönen, als eine Gruppe von Bäumen, oder als einen Wald, als eine Einheit aus Sinnesqualitäten etc.

Damit zugleich aber haben wir auch zwei verschiedene Arten der Beziehung gewonnen: die Beziehung, die jenen numerischen Einheiten, den Mengen oder Anzahlen entspricht, ist die Beziehung des numerischen Zusammen, die ihren einfachsten sprachliche Ausdruck im "und", und ihren mathematischen Ausdruck im Pluszeichen findet; die andere Beziehung ist die Beziehung des durch ein vereinheitlichendes Element vermittelten Zusammen, die wir einstweilen als die Beziehung des gegenständlichen Vereinheitlicht- oder Verwobenseins bezeichnen. Durch jene Beziehung des "und" oder des  + entstehen  die numerischen Einheiten. Die Definition des Drei ist  1 + 1 + 1.  Durch dieses gegenständliche Vereinheitlicht- oder Verwobensein entstehen die Komplexionen oder die "Ganzen".


Mengen und Anzahlen

Der Unterschied dieser beiden Arten von Einheiten und Relationen muß aber noch näher bestimmt werden. Zunächst eine Vorbemerkung. Die Einheit der Menge oder Anzahl ist eine Einheit des isoliert Apperzipierten. Die Einheit, aus welcher die  Komplexion  besteht, ist eine solche, in welcher die Elemente nicht isoliert apperzipiert, sondern vereinheitlichende Elemente mitapperzipiert sind. Das Letztere könnte so genommen werden, als entstehe die Komplexion für uns einfach dadurch, daß wir das Gegebene so auffassen, wie es uns entgegentritt. Denn es gibt überall in der Welt des Gegenständlichen Vereinheitlichendes. Es gibt das räumlich und zeitliche Kontinuum; und es gibt die Einheitspunkte der Qualitäten eines Tones, einer Farbe etc.

Bei dieser Meinung scheinen sich Einige zu beruhigen. Man pflegt jetzt wohl darüber klar zu sein, daß uns keine isolierten Bewußtseinsinhalte gegeben sind. Also meint man, seien uns nur einheitliche Gesamtbewußtseinsinhalte gegeben; oder genauer, was wir gleichzeitig vorfinden, sie uns jedesmal unmittelbar und zunächst gegeben  als  ein einziger "Gesamtbewußtseinsinhalt".

Diese Meinung ist indessen genauso falsch wie die entgegengesetzte, die isolierte Bewußtseinsinhalte ursprünglich gegeben sein läßt. Gegeben ist uns jederzeit nur ein so oder so Beschaffenes. Und unter den Beschaffenheiten findet sich nicht neben Hell und Dunkel, Süß und Sauer etc. auch noch Einheit oder Einheitlichkeit; so wenig als sich neben ihnen irgendwo Einzelheit findet. Sondern aus dem so oder so Beschaffenen, das wir vorfinden,  machen  wir einerseits Einzelnes, andererseits Gesamtinhalte oder Ganze. Wir tun Jenes durch eine isolierende, Dieses durch eine vereinheitlichende Apperzeption. Und wir machen zugleich aus den  isolierten  Bewußtseinsinhalten  Mengen  oder  Anzahlen. 

Diese letzteren nun wollen wir zunächst genauer betrachten. Einheitsapperzeption und Mehrheitsapperzeption, d. h. gesonderte Apperzeptionen des Einzelnen, können, so sagte ich, angesichts desselben Mannigfaltigen gleichzeitig stattfinden und finden jederzeit gleichzeitig statt. Dabei ist doch zu bedenken: Einheitsapperzeption eines Mannigfaltigen und gesonderte Apperzeption des Einzelnen sind ansich Gegensätze. Sie müssen sich danach wechselseitig teilweise aufheben, wenn sie ein und demselben gegenüber stattfinden. Das heißt: die Weise, wie ich ein und dasselbe apperzipiere, kann immer nur eine Mehrheitsapperzeption oder Apperzeption des Einzelnen sein, soweit sie nicht eine Einheitsapperzeption ist, und umgekehrt.

Nun ist die Apperzeption der Elemente einer Menge, nach oben Gesagtem, eine  absolute  Mehrheitsapperzeption, d. h. die Elemente der Menge sind in sich vollkommen abgeschlossen, oder sind jedesmal Gegenstände eines einzigen in sich vollkommen abgeschlossenen Apperzeptionsaktes. Die Bäume, die lediglich als Elemente einer Menge oder Anzahl gefaßt sind, stehen jeder einzelne absolut für sich. Indem ich den einzelnen Baum auffasse oder den Apperzeptionsakt vollziehe, durch welchen das numerische Element, "ein Baum" genannt, entsteht, fasse ich den Baum ohne Rücksicht auf irgendetwas außer ihm, auch ohne Rücksicht auf jeden anderen Baum der Welt, also ohne irgendeine Einheitsbeziehung der Bäume zueinander. Hierin eben besteht der Sinn des "ein Baum", wenn nämlich das "ein" numerisch genommen ist, d. h. so wie es dem Zahlzeichen  1  entspricht.

Und bei diesem Sachverhalt bleibt es auch, wenn die Zusammenfassung zur Einheit der Anzahl, oder wie wir, um Mißverständnissen vorzubeugen, lieber sagen wollen, wenn die Zusammenfassung zur "Summe" von Einheiten oder die "summierende" Apperzeption hinzutritt. Das heißt jede der elementaren Einheiten ist auch jetzt hinsichtlich der Weise, wie ich ihren Inhalt auffasse, genau das, was sie sein würde, wenn sie einzig wäre. Die Einheiten, die ich als Baum bezeichne, bleiben auch jetzt genau so in sich abgeschlossen, d. h. der Inhalt jeder Einheit, in unserem Fall jeder Baum, bleibt genau ebenso absolut besondert und von allem außer ihm absolut losgelöst. Es kommt insbesondere keinerlei Beziehung zwischen den  Bäumen  hinzu, dadurch, daß ich die Bäume in die Summe oder Anzahl von Bäumen zusammenschließe, sondern nach wie vor bleibt jeder Gedanke an eine solche Einheitsbeziehung zur Seite. Es bleibt von der Betrachtung der Bäume, sofern sie nur als Menge oder Anzahl betrachtet werden, jede Beziehung derselben aufeinander ausgeschlossen. - Trotzdem ist der Zusammenschluß zur Anzahl auch eine  Einheitsapperzeption.  Wir haben also hier eine Einheitsapperzeption, die der gesonderten Apperzeption der Elemente, oder der absoluten apperzeptiven Isolierung ihrer Inhalte, keinerlei Eintrag tut.

Dieser Widerspruch nun löst sich in der Einsicht, daß die zusammenfassende Apperzeption, wodurch die Summe der Einheiten entsteht, gar nicht auf den  Inhalt  der elementaren Einheiten als  solchen,  geht, also  nicht dasselbe  zum Gegenstand hat, was den Gegenstand der  gesonderten  Apperzeptionen bildet. Dies liegt unmittelbar in der Tatsache, daß, wie ich sagte, die zusammenfassende - also  Einheit  bildende - Apperzeption in die Inhalte, die Bäume,  keine  Einheitsbeziehung hineinbringt. Sondern die "summierende" Zusammenfassung geht auf die  Apperzeptionen,  die den Inhalt  haben,  auf die - nicht abstrakt, sondern konkret zu nehmenden "Akte", oder auf die Bäume,  sofern  sie in solche Akte  befaßt  sind. Diese "Akte" werden von der Zusammenfassung getroffen, und sie werden davon betroffen nicht als durch den Inhalt irgendwie näher bestimmte, sondern lediglich als Apperzeptionen oder als Einzelakte der Apperzeption überhaupt. Die Zusammenfassung der Bäume zur Anzahl ist also in keiner Weise eine Zusammenfassung der  Einheiten,  d. h. desjenigen, was die Bäume zu Einheiten macht, und dies sind eben die Einzelapperzeptionen oder die einzelnen Akte der Apperzeption. Nicht mit dem so oder so bestimmten  Gegenständlichen,  Bäume genannt, nehme ich etwas vor, wenn ich zähle: Ein Baum und ein Baum und ein Baum, sondern ich zähle die numerischen Elemente. Und diese sind nun einmal nicht die "Bäume", sondern das "ein" und "ein" und "ein". Und es ist für mein Zählen oder Addieren oder Summieren, kurz, mein numerisches Zusammenfassen völlig zufällig, d. h. es ändert daran nichts, daß das "ein und ein und ein" "ein Baum und ein Baum und ein Baum" ist. Das numerisch Zusammengefaßte sind, so können wir sagen, die inneren Taktschläge, gleichgültig, worauf sie fallen. Das Mannigfaltige jedes einzelnen der Bäume ist zur Einheit zusammengefaßt in den einzelnen Apperzeptionen, und nun erfährt - nicht etwa die Gesamtheit dieses Mannigfaltigen eine neue Zusammenfassung in einer, dieses Gesamte in sich schließenden  Einheitsapperzeption,  sondern die  Apperzeptionen,  deren Inhalt jedesmal das Mannigfaltige eines Baumes ist, werden Gegenstand einer umfassenderen Einheitsapperzeption, einer Einheitsapperzeption von ganz anderer  Art,  sofern sie eben nicht Gegenständliches, sondern wiederum diese  Apperzeptionen  zum Inhalt hat. Die Einheitsapperzeption, drei Bäume, trifft die Bäume nur indirekt und zufällig, d. h. sofern Bäume den zufällligen Inhalt der Einzelapperzeption bilden.

Ich verglich ehemals die Einheitsapperzeption mit Griffen der Hand. Bleiben wir bei diesem Vergleich, dann können wir sagen, jede der Einzelapperzeptionen, durch welche "ein Baum" entsteht, ist ein Griff, der ein Mannigfaltiges zusammenschließt. Mehrere Einzelapperzeptionen, wie sie in "ein Baum und ein Baum und ein Baum" liegen, sind eben so viele Einzelgriffe oder Griffe einzelner Hände. Und tritt nun die "summierende" Apperzeption hinzu, so heißt das nicht, daß nun die Gegenstände der mehreren Griffe auch noch durch den einzigen Griff, oder von einer einzigen Hand zusammengenommen werden, sondern es heißt, daß die Griffe, oder die greifenden Hände, zusammengenommen werden, und die Inhalte nur, sofern sie darin befaßt sind.


Das numerische Element

Und hiermit ist nun zugleich gesagt, welcher Art die Apperzeption ist, durch welche die numerischen Elemente entstehen. Solange diese nichts sind als numerische Elemente, d. h. Gegenstände der numerischen Zusammenfassung, sind sie - weder qualitative, noch empirische, noch räumliche oder zeitliche oder sonst irgendwie bestimmte Apperzeptionen, sondern Apperzeptionen, d. h. einzelne "Akte" der Apperzeption überhaupt. Sie sind also Apperzeptionen, in denen keine Bestimmtheit des Apperzipierten mitapperzipiert ist, oder Apperzeptionen, in denen von allen Bestimmtheiten des Gegenständlichen abstrahiert ist. Was übrig bleibt, ist dies, daß überhaupt apperzipiert ist. Dies können wir auch mit HUSSERL so ausdrücken: Das numerische Element der Anzahl ist ein bloßes "Etwas". Denn es ist der Sinn dieses "Etwas", ein Gegenstand der Apperzeption zu sein, ohne jede Bestimmung,  was für ein  Gegenstand es sei, oder abgesehen von jeder gegenständlichen Bestimmtheit. Fügen wir hinzu, daß der Akt der Apperzeption des "Etwas" ein einziger ist, so wird das Etwas zu Einem, d. h. zum Element der Anzahl oder zur elementaren numerischen Einheit. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß dieses Etwas tatsächlich so oder so bestimmt ist. Aber wie schon gesagt, diese Bestimmung ist für das numerische Element oder den Begriff der "Eins" zufällig.

Ich füge hinzu, daß ich hinsichtlich der Bestimmung des numerischen Elements nicht nur mit HUSSERL, sondern wohl auch vor allem mit WUNDT und mit SIGWART mich einstimmig wissen darf. WUNDT sagt, das in der Zahl Gezählte sei der Denkakt. Damit meint er wohl, was ich den "konkreten" Apperzeptionsakt nenne.


Die Anzahl und das Rechnen

Aus dem bezeichneten Sachverhalt ist nun auch allein die Bedeutung und Verwendung der Zahlbegriffe verständlich. Nur aufgrund desselben ist es beispielsweise möglich, daß "ein Baum und ein Baum und ein Baum" genau ebensowohl drei sind, wie "ein Wald und ein Wald und ein Wald" drei sind, d. h. daß die Dreiheit oder das Resultat der summierenden Apperzeption dasselbe ist, welchen Inhalt auch die summierten Einheiten haben mögen. Es kann dasselbe sein, nur weil die Summierung mit der Besonderheit dieser Inhalte nichts zu tun hat, sondern nur die Einheiten, d. h. die Einzelapperzeptionen, die Summierung erfahren.

Insbesondere ergibt sich aus jenem Sachverhalt, daß und warum die Einheit der Anzahlen keine von der Natur des Gegenständlichen abhängigen  Grade  der Einheitlichkeit kennt. So ist insbesondere etwa die Dreiheit - also die numerische Einheit - von drei Teilen eines Baumes nicht eine innigere Einheit, als die Dreiheit von Bäumen; so gewiß die Einheit der Teile eines Baumes - als Einheit nicht von Apperzeptionsakten, sondern als gegenständliche Einheit oder als Einheit des Gegenständllichen, allerdings eine innigere Einheit ist, als die Einheit von Bäumen. So hat überhaupt die Einheit einer Anzahl, ebenso wie die Einheit ihres Elementes, keine Grade. Jene ist immer dieselbe unterschiedslose Dreiheit, oder Vierheit, oder Anzahl, so wie dieses numerische Element immer dieselbe unterschiedslose Einheit ist. Kein Wunder, da jene Anzahlen jedesmal  Dasselbe  zum Inhalt haben, nämlich dieselben isolierenden Einzelapperzeptionen; und da sie diese Einzelapperzeptionen zu Inhalten haben, noch sofern diese ihrerseits  dieses  oder  jenes  Gegenständlich zum Inhalt haben, sondern lediglich sofern sie die allen anderen Apperzeptionen der Welt gleichartigen Apperzeptionen eines Inhaltes überhaupt sind.

Und aus dieser Natur der Anzahl und ihres Elementes verstehen wir auch einzig, daß  2 + 2 = 2 mal 2,  so wie  1 + 1  gleich  2 mal 1,  d. h. daß jenes eine Zweiheit ist, freilich nicht von elementaren Einheiten, sondern von Zweiheiten, aber darum doch an sich dieselbe Zweiheit wie diese, als Zweiheit ihr vollkommen gleich. Es sind eben die Zweiheiten, die hier summiert werden, auch Einheiten, d. h. zusammenfassende Apperzeptionen. Darum ergibt auch ihre Zueinanderhinzufügung und Befassung in einen neuen einheitlichen Apperzeptionskat dasselbe Resultat, wie die Zueinanderhinzufügung elementarer Einheiten.

Und weil es sich so verhält, d. h. weil für die Summierung jede Einheit, gleichgültig ob elementare Einheit oder Anzahl, in gleicher Weise Einheit, also mögliches Element einer Anzahl ist, so wird auch nichts geändert, wenn die Einheit, die zuerst als  1  bezeichnet wurde, dann auch wiederum betrachtet wird als Zweiheit oder Vielheit, d. h. wenn ich etwa den Inhalt der Einheit 1 durch weitere Einzelapperzeptionen in ½ + ½ verwandle. das Zeichen  1  ist arithmetisch vollkommen zufällig. Es bezeichnet nicht  mehr  eine Einheit, als  2,  und so bezeichnen auch die  ½  nicht  minder  eine Einheit, als  1. ½  und  ½  sind nur andere Namen für Einheiten, nämlich solche, die besagen, daß man die Einheit  ½ + ½  mit dem Namen  1  bezeichnet hat oder bezeichnen will. Mit einem Wort, da das Zählen lediglich ein Spiel ist mit in sich abgeschlossenen Einheitsapperzeptionen, ein Befassen von Einheitsapperzeptionen unter neue Einheitsapperzeptionen, wobei die Einheitsapperzeptionen jedesmal nur eben als solche genommen, also ansich einander gleich sind, so können endlos Einheitsapperzeptionen einander über- und untergeordnet werden, ohne daß sich jemals die Spielregel ändert.

Und endlich gelten nur unter der gemachten Voraussetzung die Zahlgleichungen, etwa  2 + 2 = 4,  oder 2 Bäume und 2 Bäume sind 4 Bäume. Die Definition der  4  ist  1 + 1 + 1 + 1.  Dies ist für mein Bewußtsein oder seinem Sinn nach keineswegs identisch mit  2 + 2.  In beiden liegt ein anderes Zusammengefaßtsein. Die Bedeutung jener Gleichung besteht aber eben gar nicht in der Gleichsetzung des  2 + 2  und des  4  als solcher, sondern dieselbe besagt, daß  2 + 2  und  4 inhaltlich  oder hinsichtlich des  Gegenständlichen  für einander gesetzt werden können, d. h. daß am Gegenständlichen, das in der einen und in der anderen Weise zusammengefaßt ist, dadurch nichts geändert ist. Dies aber ist nur möglich, wenn  2 + 2  und  4  nicht verschiedene Weisen der Zusammenfassung des Gegenständlichen sind, sondern lediglich verschiedene Weisen der Zusammenfassung von Akten der Apperzeption, die das Gegenständliche nicht berühren. Denn verschiedene Weisen der Zusammenfassung des Gegenständlichen machen allerdings aus dem Gegenständlichen etwas Verschiedenes. Betrachte ich die Folgen von Silben, die ein Wort ausmachen, im Ganzen, so sind sie Träger eines Sinnes. Betrachte ich die einzelnen Silben, ohne sie zur Einheit zusammenzuschließen, so haben sie diesen Sinn verloren.


Komplexionen. Ganze Teile.

Mit dem Vorstehenden ist nun zugleich gesagt, wodurch sich die Komplexionen von den Anzahlen unterscheiden. Sie sind kurz gesagt Zusammenfassungen des  Gegenständlichen.  Sie sind Ganze und bestehen - nicht aus abgeschlossenen Elementen, sondern aus  "Teilen".  Das Ganze aus Teilen aber oder die Komplexion besagt, daß ein Mannigfaltiges Gegenstand der Einheitsapperzeption ist und daß  eben dieses  Mannigfaltige zugleich relativ auseinander gehalten, d. h. an eine Mehrheit von Apperzeptionen  "verteilt"  ist. Es werden nicht mehrere für sich abgeschlossene Apperzeptionen vollzogen und nun diese Apperzeptionen durch eine übergeordnete Apperzeption zusammengefaßt, sondern in die Einheitsapperzeption kommt unmittelbar das Gegenteil hinein, die Mehrheitsapperzeption, oder die relative apperzeptive Verselbständigung. Oder umgekehrt: Der Einheitsapperzeption haftet dies an, daß sie nicht  reine  Einheitsapperzeption, sondern in sich selbst zugleich mehr oder weniger Apperzeption des Einzelnen ist. Sie ist mit einem Wort eine in sich differenzierte oder gegliederte Einheitsapperzeption. Einheits- und Mehrheitsapperzeption durchdringen sich, mit dem Resultat, daß die gesamte Weise des Apperzipierens mehr oder weniger den einen oder den anderen Charakter hat.

Und durch diese Gliederung der Einheitsapperzeption nun entstehen für uns die  "Teile".  Das Bewußtsein, etwas sei Teil, besteht im Bewußtsein dieser Gliederung. Und daß die gegliederte Apperzeption dennoch zugleich eine Einheitsapperzeption ist, dies macht den Sinn des Begriffs des "Ganzen" aus Teilen, oder macht den Sinn des Begriffes der Komplexion. Ein Ganzes und Teile, dies sind korrelate Begriffe, sowie das Element der Anzahl und die Anzahl korrelate Begriffe sind. Und wie es keine Anzahl und kein Element der Anzahl, oder keine gezählten Einheiten gibt, ohne die in sich abgeschlossenen oder die isolierenden Einzelapperzeptionen und die Zusammenfassung derselben in eine einzige übergeordnete Einheitsapperzeption, so gibt es für kein Ganzes und keine Teile, außer in so einer gegliederten oder sich gliedernden Einheitsapperzeption. Beiden Gegensätzen von Begriffen gemeinsam ist, daß dasjenige, was sie bezeichnen, in etwas besteht, das wir apperzipierend  schaffen. 

Will man schließlich noch ein Bild für den Gegensatz zwischen der Einheit der Anzahlen und der Einheitlichkeit des Ganzen aus Teilen, so nehme man das eine Mal an, es stehen nebeneinander und voneinander isoliert, zwei nach unten offene Halbkreise und darüber befinde sich ein gleichfalls nach unten offener Halbkreis, der jene nebeneinander stehenden Halbkreise umschließt. Und man denke sich ein andermal die beiden kleinen Halbkreise mit dem großen so vereinigt, daß sie als Ausbauchungen desselben erscheinen. Jene Figur ist ein Bild der Anzahl von Einheiten, diese ein Bild des Ganzen aus Teilen.

Numerische Relationen

Wie schon gesagt, sind mit den Einheiten der Menge und Anzahl oder der numerischen Zusammenfassung zugleich entsprechende Relationen gewonnen; zunächst die positive Relation des numerischen Zusammen; die in einem "und" oder  +  ihren einfachsten Ausdruck findet.

Dieser positiven Relation haben wir aber jetzt die entsprechende negative Relation zur Seite zu stellen. Es ist die Relation, die enthalten liegt im arithmetischen Minuszeichen oder in einem "Außer", dem "Ohne", dem "Ausgenommenen" etc., wenn damit ein Abzug oder eine Ausscheidung aus einer Menge oder einer Anzahl, ein nicht in Rechnung Ziehen von Elementen einer Menge oder Anzahl bezeichnet ist. Das Bewußtseinserlebnis, in welchem das Bewußtsein dieser Beziehung besteht, ist dies, daß aus einer Menge, also aus einer Einheitsapperzeption, der mehrere isolierende Einzelapperzeptionen irgenwelchen Inhalts eingeordnet sind, eine oder mehrere dieser Apperzeptionen mit ihrem Inhalt ausgeschieden werden, also auf ihre Mitbefassung unter die "summierende" Einheitsapperzeption verzichtet wird, daß sich die Einheitsapperzeption dementsprechend verengt und einschränkt. Das Bewußtsein des Minus oder des "Ohne", des "Außer", des "Ausgenommen", besteht im Erleben dieses apperzeptiven Vorgangs oder dieser apperzeptiven Bewegung, dieses Fallenlassens einer oder mehrerer der isolierenden Apperzeptionen und demgemäß ihres Verschwindens aus der Einheitsapperzeption, der all die isolierenden Apperzeptionen eingeordnet sind. Das  3 - 1  etwa besagt, die einheitliche Apperzeption, die erst drei gesonderte Apperzeptionen umschloß, verzichtet auf eine derselben und schränkt sich auf den Rest ein. Das Zahlensymbol bezeichnet das Außerachtlassen oder Außerbetrachtlassen, das nicht mehr in Rechnung Ziehen der einen isolierenden Apperzeption mit ihrem Inhalt innerhalb der summierenden Einheitsapperzeption, die erst die drei "Akte" umfaßte. Der Sinn des Minuszeichens liegt in dieser eigenartigen apperzeptiven Bewegung. Wie man sieht, ist dabei die numerische Einheitsapperzeption, die den Sinn der  3  ausmacht, und die in einem  1 + 1 + 1  ihren vollen symbolischen Ausdruck findet, vorausgesetzt.


Subjektivität der Anzahl

Bei der Erwähnung der Beziehungen des Gleichgewichts und der Unterordnung, wie des apperzeptiven Herausgesondertseins oder der Abstraktion, wurde betont, daß diese Beziehungen oder Relationen ansich subjektiv seien, frei hergestellte Beziehungen, nicht Beziehungen, in deren Natur es läge, irgendwie durch das Gegenständliche bedingt oder gefordert zu sein. Dies gilt nun auch von den numerischen Beziehungen. Wie gesagt, numerische Beziehungen haben ansich oder ihrem Sinn nach nicht das Mindeste zu tun mit irgendwelchen objektiven Tatbeständen am apperzeptiv Vereinigten oder Getrennten. Weder mit ihrer Räumlichkeit oder Zeitlichkeit, noch mit Ähnlichkeit oder Kausalität etc.

Dies schließt doch nicht aus, sondern ein, daß sie einen Objektivitätscharakter sekundär gewinnen, d. h. daß jetzt  dies  und dann  jenes  zur numerischen Zusammenfassung oder Herauslösung  Anlaß  gibt. Dann entstehen, sekundärer Weise,  objektive  numerische Einheiten, Mengen, Anzahlen, andererseits die objektiv bedingten numerischen Einheiten, Mengen, Anzahlen, andererseits die objektiv bedingten numerischen Aussonderungen. Es entsteht die objektive Fünfheit von Dingen, die hier, räumlich getrennt, und doch zu einer Gruppe vereinigt, vor mir stehen, die objektive Menge von Tönen, die als Töne, oder vermöge des Gemeinsamen, das im Wort liegt, zugleich vermöge ihrer unmittelbaren zeitlichen Folge, die Zusammenordnung fordern. Es entsteht die objektive Zweiheit von Subjekt und Prädikat, oder die objektive Zweiheit verschiedener, kausal zusammenhängender Erlebnisse, oder die objektive Mehrheit der Glieder einer einzelnen Familie. Es entsteht auch das objektive  5 - 3,  wenn 5 Menschen sich zu einer Aufgabe vereinigt haben und 3 von ihnen derselben überdrüssig werden, und nun von mir, der ich an die Aufgabe denke, nicht weiter in Betracht gezogen oder in Rechnung gestellt werden  dürfen. 

Gibt es für die numerischen Einheiten, die Mengen und Anzahlen, kein in ihnen selbst liegendes und ihnen spezifisch zugehöriges Moment, das sie objektiv macht, so gibt es doch für sie im praktischen Gebrauch und Denkverkehr, ein außerhalb ihrer liegendes, objektivierendes Moment, das für sie eine spezifische Bedeutung besitzt. Dasselbe besteht in den Begriffen, in deren sprachgebräuchlich feststehendem Sinn es liegt, bestimmte numerische Zusammenfassungen zu fordern. Davon soll jedoch hier nicht weiter geredet werden.
LITERATUR - Theodor Lipps, Einheiten und Relationen [eine Skizze zur Theorie der Apperzeption] Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) THEODOR LIPPS, Von der Form der ästhetischen Apperzeption, Halle 1902