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FRIEDRICH KUNTZE
Die kritische Lehre
von der Objektivität

[ 3/6 ]

Vorwort / Einleitung
Erstes Kapitel -
Die Objektivitätsbedingungen und die Platonismen des Ichbegriffs.
Zweites Kapitel -
Die Objektivitätselemente und die Platonismen der Seelenvermögen.
Drittes Kapitel -
Die Objektivitätsformen und die Platonismen des Normgedankens

"In seiner primitivsten Gestalt nimmt der Platonismus die konkrete Erscheinungswelt als eine Gegebenheit und mit ihr die konkreten Menschen, die sie bevölkern, womit zugleich die erkenntnistheoretische Grundgleichung zwischen zwei Konkretis angesetzt ist. Jeder einzelne Mensch ist eine  Camera obscura,  in die durch zwei Linsen, Raum und Zeit, ein Bild dieser Welt hineinfällt. Die Sinnlichkeit gibt dieses Bild als Halbfabrikat an den Verstand, der es dann durch eine eigentümliche Kategorientechnik zum fertigen Erkenntnisprodukt macht."

"Das Ich steht uns logisch um nichts näher, als die äußere Welt. Logisch ist es ebenso rätselhaft, wie sich Vorstellungen auf ein empirisches Subjekt, wie auf ein empirisches Objekt beziehen können."

"Die Subjektivität kann nur dann der Objektivität als ebenbürtiger Wert gegenübertreten, wenn sie alles Empirische abstreift und als  reine Subjektivität  dem  Gelten  der Wahrheiten die  Wirklichkeit  des Wissens verleiht."

"Die seelische Natur der Inhalte des Ich mag diese dem  Erleben  näher stellen; von der  Logik  haben die psychischen Inhalte den gleichen Abstand wie die physischen. Das Ich ist nichts, abgesehen von den Beschaffenheiten, die es einigt, so wenig wie der Gegenstand etwas ist, abgesehen von seinen Eigenschaften."

Erstes Kapitel
Die Objektivitätsbedingungen und die
Platonismen des Ichbegriffs.


1. Das Ich und der Gegenstand als konkrete Werte

Wir hatten früher gesagt, in der mittelalterlichen Philosophie sei der eigentliche Grund der Objektivität das  subjectum  gewesen. Fast möchte man glauben, dieser Gedanke sei noch lebendig, wenn man heute allerorten unter den Bedingungen der Objektivität in roher oder geläuterter Form den Begriff des erkennenden empirischen Subjekts findet. Ich lasse einen etwaigen historischen Zusammenhang dahingestellt und bemerke nur, daß KANT, der doch den Übergang hätte vermitteln müssen, den Begriff des psychologischen erfahrenden Ich stets mit der größten Vorsicht behandelt und ihn, wo er kann, durch unverdächtige logische Werte ersetzt. (9) Wir werden darum in diesem Abschnitt KANT gelegentlich gegen unberechtigte Angriffe zu verteidigen haben.

Systematisch wollen wir drei Typen dieses Platonismus behandeln, die mit der Ausprägung seiner einfachsten Form beginnen und mit der seiner höchsten enden. Die innere Form des Fortschrittes vom ersten Typus zum letzten ist gekennzeichnet durch einen bestimmt geordneten Wechsel in der gegenseitigen Zuordnung der Typenbestandteile. Im ersten Typus werden zwei Konkreta, im zweiten Typus ein Konkretum und ein Abstraktum, im dritten Typus zwei Abstrakta zueinander ins Verhältnis gesetzt. In seiner primitivsten Gestalt nimmt dieser Platonismus die konkrete Erscheinungswelt als eine Gegebenheit und mit ihr die konkreten Menschen, die sie bevölkern, als womit die erkenntnistheoretische Grundgleichung zwischen zwei Konkretis angesetzt ist. Jeder einzelne Mensch ist eine  Camera obscura,  in die durch zwei Linsen, Raum und Zeit, ein Bild dieser Welt hineinfällt. Die Sinnlichkeit gibt dieses Bild als Halbfabrikat an den Verstand, der es dann durch eine eigentümliche Kategorientechnik zum fertigen Erkenntnisprodukt macht. Diese Ansicht wird mancherorten für kantisch gehalten. EDUARD von HARTMANN hat sie in seiner Kategorienlehre mit überzeugenden Gründen bekämpft, allerdings auch in der Meinung, in diesem Kampf KANT als Gegner zu haben. Halten wir uns von diesem Irrtum frei, so können wir HARTMANNs weiterführende Einwände mit Vorteil unserem vorhin mitgeteilten Programm dienstbar machen, immer eine systematische Projektion des historischen Verlaufs zu geben, das heißt, aus dem Ungestalteten der ersten Ansicht, also hier aus diesem grotesken Idealismus nach und nach das formbeherrschte letzte Bild herauszuarbeiten. HARTMANN wirft diesem Idealismus vor, er sei unvermögend, objektive und speziell zeitliche Reihen zu konstruieren. (10)
    "Findet in mehreren Bewußtseinen ein zeitlicher Empfindungsablauf statt, so besteht, falls die Zeitlichkeit bloß subjektiv ist, zwischen der Zeitlichkeit dieser verschiedenen Scheinvorgänge keinerlei zeitliche Beziehung, auch dann nicht, wenn der Schein in beiden übereinstimmt. ... Zeitlich könnte man das so ausdrücken: wenn zwei Schläfer dasselbe träumen, so ist es gleichgültig für beide, ob diese Träume objektiv zeitlich koinzidieren oder um eine Million Jahre auseinanderfallen. ... Im ruhenden (11), sich selbst gleichen Wesen des Subjekts kann niemals ein Bestimmungsgrund liegen, warum die Empfindung  B  auf die Empfindung  A  folgen sollte und nicht umgekehrt."
Diese Einwürfe treffen einen Idealismus, der eine Vielheit subjektiver Scheinwelten annimmt und um eine Einheit dieser verlegen ist. KANT aber, gegen den sich die angezogene Stelle eigentlich richtet, hat gegen diese Art zu argumentieren einen wuchtigen Protest erlassen: "Nach dieser notwendigen Berichtigung (daß uns die Sinnlichkeit nämlich die Welt nur als Erscheinung zeigt) regt sich ein aus unverzeihlicher und beinahe vorsätzlicher Mißdeutung entspringender Einwurf, als wenn mein Lehrbegrif alle Dinge der Sinnenwelt in lauter Schein verwandelt."

Ich sehe von einem historischen Streit gegen HARTMANNs Kritik einstweilen ab, denn ich halte die aktengemäße Darstellung der kantischen Lehre für ihre beste Verteidigung und dieser Art der Verteidigung wird der ganze zweite Teil unseres Buches gewidmet sein. Für unsere systematischen Zwecke können wir diesen Idealismus, der jedenfalls eine mögliche Stellungnahme bezeichnet, ruhig namenlos lassen. Wir wollen sehen, zu welchen Verbesserungen der "namenlose" Idealismus durch HARTMANNs Einwände gezwungen wird oder vielmehr, welche Geständnisse er machen und welche ausdrücklichen Bestimmungen er treffen muß, um überhaupt erörterungsfähig zu werden.

HARTMANN sagt, für zwei Schläfer sei es gleichgültig, ob sie ihren Traum zugleich träumten oder durch unendliche Zeiten geschieden. Dieser Satz hört sich ungemein einfach an und macht doch eine ganze Reihe von Voraussetzungen, denn er nimmt nicht nur zwei Schläfer mit irgendwelchen Traumgesichten an, sondern läßt diese beiden Schläfer auch auch zu ihrem Traum Stellung nehmen, wenn auch nur die Stellung der Gleichgültigkeit. Dabei aber müssen sie, um einerseits ihre Träume vergleichen und um andererseits die Zeitbestimmung dieser Träume gleichgültig finden zu können, mindestens zwei  Urteile  fällen.
    Erstens. Diese Gesichte, die sie sehen, seien  ihre  Gesichte, denn geschieht das nicht, so ist nicht einzusehen, wieso überhaupt zwischen den beiden Träumen, die doch als inhaltlich gleich gesetzt werden, ein Verhältnis konstruiert werden kann, wenn nicht durch den Unterschied getrennter Bewußtseine.

    Zweitens: Diesen Gesichten entspreche nichts Reales, es seien  Traum gesichte, denn das ist nach der Voraussetzung der Grund, weshalb sie gegen die Zeitbestimmung des Traumes gleichgültig sein sollen.
Damit es also zum "daß" des Urteils der Gleichgültigkeit überhaupt kommt, müssen die beiden Träumer die Form ihres Trauminhalts auf ihr Subjekt beziehen, da sonst überhaupt der Akt der Vergleichung unmöglich wäre, damit das "was" des Urteils, nämlich die Gleichgültigkeit gegen die Zeitbestimmung stattfinde, müssen die beiden Träumer die Materie ihres Trauminhaltes als ein nur subjektive Zustände anzeigendes Gesicht berurteilen. Es sind daher sogar für den Akt der Gleichgültigkeit zwei Urteile nötig.

Die Nutzanwendung dieser Gedanken auf den namenlosen Idealismus zeigt, daß er überhaupt gar keine wissenschaftliche Äußerung tun kann, ohne mindestens über die Gesamtheit seiner Inhalte zwei Grundvoraussetzungen zu machen. Die erste Voraussetzung betrifft die Form der Inhalte; sie sagt: Wenn Inhalte gegeben sind, so sind sie immer als  Bewußtseinsinhalte eines Subjekts  gegeben. Die zweite Voraussetzung betrifft die Materie der Inhalte; sie sagt: Wenn Inhalte gegeben sind, so zeigen sie immer  subjektive Zustände  an. Durch das Aussprechen dieser bislang verschwiegenen Voraussetzungen ist der namenlose Idealismus nicht mehr er selbst geblieben, sondern ein anderer geworden. Es wird sich herausstellen, daß er in seiner neuen Form nicht mehr zwei Konkreta, sondern ein Konkretum und ein Abstraktum vereint. Seine weitere Behandlung gehört darum nicht in diesen, sondern erst in den nächsten Abschnitt. Der Schluß dieses Abschnittes mag dazu verwendet werden, KANTs oben erwähnten Protest gegen eine Verwechslung seiner Grundvoraussetzungen mit den Voraussetzungen des von HARTMANN bekämpften Idealismus zu rechtfertigen und zu zeigen, wie wenig KANT von HARTMANN getroffen werden kann. Die erste der fraglichen Voraussetzungen ist eine psychologische Selbstverständlichkeit, aus der aber für den deskriptiven Inhalt der Urteile, ob er auf ein Subjekt oder ein Objekt geht, einen Traum oder ein Wachen anzeigt, nicht das mindeste folgt, daher denn dieses noetische [geistige - wp] Datum überhaupt nicht zur Transzendentalphilosophie gehört. Die zweite Voraussetzung ist eine erkenntnistheoretische Idiosynkrasie [Eigenmischung - wp], die KANT jedenfalls, der uns gelehrt hat, Vorstellungen gingen durchaus nicht von Natur aus auf das empirische Subjekt, sondern würden erst darauf durch ein Urteil bezogen, durchaus von sich gewiesen hat.

Das fatale Träumergleichnis mitsamt dem Einwand, in den es mündet, paßt also nicht auf KANT. Außerdem wäre den Gegnern des kritischen Idealismus zu raten, es nicht so ausgiebig als Kampfmittel gegen KANT zu benutzen. Es ist nämlich - zwei Andeutungen bei HERAKLIT ausgenommen - von PLATO, dem Vater allen Idealismus, erschaffen worden, der es im  Theatet  als Durchgangsstufe zu einer höheren Ansicht aufstellt. Die Wahrscheinlichkeit aber dafür, daß KANT auf einen Standpunkt zurückgeglitten sei, über den sich schon PLATO erhoben hatte, ist wohl nicht sehr groß.

2. Das Ich als konkreter, der Gegenstand als abstrakter Wert.

Die Besprechung der HARTMANNschen Einwände hat den "Idealismus" in eine Form gebracht, in der er anfängt, diskutabel zu werden. Wir haben wenigstens den Ausgangspunkt aller Erkenntnistheorie bestimmen können. Statt uns, wie früher üblich, auf physische oder psychische Realitäten zu berufen, begannen wir damit, alle theoretischen Untersuchungen auf  logische  Voraussetzungen zu gründen. Nach dieser Auffassung werden Subjektivität und Objektivität überhaupt erst da zu Problemen, wo eine  logische Zuordnung  der erlebten Wirklichkeit zum Subjekt des Erlebens stattfindet. Der nächst höhere Platonismus, zu dem wir nunmehr schreiten, beginnt darum nicht mit einer psychologischen Konstruktion, sondern mit einer  Definition,  die das objektive und subjektive Sein der Dinge in ein bestimmtes Verhältnis setzt.

Der zweite typische Platonismus in den Bedingungen der Objektivität verbindet, wie angekündigt, in seinem Grundprinzip ein Konkretum mit einem Abstraktum. Dies geschieht ihm dadurch, daß er das ganze erkennende Subjekt mit all seiner empirischen Zufälligkeit in die erkenntnistheoretische Grundformel aufnimmt. Der klassische Ausdruck dieser Formel ist der bekannte SCHOPENHAUERsche Satz: "Die Welt ist meine Vorstellung". Es kommt nicht auf das an, was in den Vorstellungen erscheint, sondern allein auf die Form, in der es erscheint, das ist auf den Vorstellungscharakter. Das psychische Erlebnis der Vorstellung wird dadurch zur eigentlichen Substanz der Wirklichkeit. das ist Materialismus mit umgekehrtem Vorzeichen. Wie der Materialismus die unmittelbar wahrgenommenen Beschaffenheiten der Dinge für Schein erklärt und alle Realität in die  Atomkomplexe  zurückschiebt, so ersetzt diese Lehre all die Mannigfaltigkeit des Erlebens immer nur durch eine Allwertigkeit:  Vorstellung . Dieser psychologische Materialismus hat vor dem physischen Materialismus nur den einen Vorteil, daß die Vorstellung als letzte Weltsubstanz innerhalb des Erfahrens selbst angetroffen wird und nicht, wie das Atom des physischen Materialismus, dem Anschauen wie dem Denken gleichmäßig unfaßbar ist. Mit dieser Methode des "psychologischen Materialismus" wiederholt SCHOPENHAUER also nur BERKELEY. Durch BERKELEYs Verfahren bringt er die Wirklichkeit auf einen Generalnenner. Darf ich hier der Nationalökonomie einen Ausdurck entlehnen, so will ich die derart umgeformte Wirklichkeit eine Materiatur der Wirklichkeit nennen und darunter etwas dem Ähnliches verstehen, was KARL MARX die Materiatur der Arbeit nannte: Die gesellschaftliche, nur zeitgemessene Arbeit, die Arbeit unter Abzug von Person, Beschaffenheit, Gegenstand.

Als eigene Zugabe setzt SCHOPENHAUER zu dieser gleichgültigen und strukturlosen Materiatur das besitzanzeigende Fürwort "mein". Bei dieser Neuerung kommt heraus, daß das reale Subjekt die, durch einen logischen Prozeß umgeformte Wirklichkeit, als reales Erlebnis in sich trägt. Damit macht SCHOPENHAUER das Abstrakte zu etwas Existenzialem und das Konkrete zu einem logischen Attribut. Das ist logisch unstatthaft, denn dieser Aufbau setzt ein Konkretum und ein Abstraktum in ein Verhältnis, wie es nur zwischen zwei Abstraktis bestehen kann. Diese innere Unmöglichkeit verwickelt den Satz, der sie ausspricht: Die Welt ist meine Vorstellung, sofort in eine äußere Reihe unsinniger Folgerungen.

Entweder ist in dem Satz das "Ich", welches die Welt vorstellen soll, auch nur eine Vorstellung; dann ist nicht zu begreifen, wieso eine Vorstellung eine Vorstellung vorstellen soll. Oder das "Ich" in dem Satz ist keine Vorstellung; dann ist, da das "Ich" doch auch zur Welt gehört, erstlich etwas in der Welt, das nicht Vorstellung ist, was der Voraussetzung: "Die Welt ist Vorstellung", widerspricht und es entsteht zweitens die umgekehrte Schwierigkeit, daß man die Vorstellungen von etwas getragen werden läßt, was nicht Vorstellung ist, eine Schwierigkeit, die ziemlich alt ist, da schon PLATO ihrer im Parmenides gedenkt, aber gleichwohl noch ungelöst. In beiden Fällen sieht man, wie aussichtslos der transzendentale Gedanke ist, die Vorstellungsinhalte von einem Irgendetwas gewissermaßen ausstrahlen zu lassen und in der Nachweisung dieses Ursprungs eine Erklärung zu sehen; wie zwecklos es ist, vom nächsten und natürlichsten Verfahren abzuweichen, das das Inhaltliche als letzte unzurückführbare Gegebenheit behandelt.

Das Mißlingen des SCHOPENHAUERschen Versuchs schreibt sich also vom Gebrechen seiner Grundformel her. Es ist, wie schon angedeutet, ganz etwas anderes, ob ich sage: Vorstellungen sind immer nur als Vorstellungen des Subjekts möglich oder ob ich sage: Vorstellungen sind immer nur subjektive Vorstellungen. Das erste Urteil ist, ja nach der Bedeutung des Subjektbegriffes, entweder ein psychologischer Gemeinplatz oder ein Urteil über die logische Möglichkeit von Vorstellungen, das nur ihre Form betrifft; es sagt dann: wenn Vorstellungen gegeben sind, so sind sie immer in der Weise gegeben, daß sie als  obersten Einheitspunkt  ein Subjekt haben: "das  Ich denke  muß alle meine Vorstellungen begleiten können". Das zweite Urteil ist ein Urteil über die Bedeutung von Vorstellungen, das über ihren Inhalt etwas ausmacht; es sagt: Wenn Vorstellungen gegeben sind, so stellen sie immer nur mein Ich vor.

Im ersten Fall ist das "Ich" etwas vollkommen Ausdehnungsloses, Punktuelles, es ist eine  Form , in die jeder Inhalt, ob dieser nun auf die Innerlichkeit des Subjekts oder auf die Äußerlichkeit der Welt bezogen wird, gleichmäßig eingehen muß, im zweiten Fall ist das Ich identisch mit dem empirischen Subjekt, mithin ebenso "vielfarbig" wie dieses.

Die logische Fassung des ersten Satzes ist kantisch und man kann sich wohl mit ihr einverstanden erklären, wenn man für das Ich mit KANT: "Die absolute (obzwar bloß logische) Einheit" aller Mannigfaltigkeit des Erlebens setzt.

Der zweite Satz ist ein erkenntnistheoretisches Trugbild, denn er schiebt dem rein logischen Ich-Begriff, "der alle meine Vorstellungen muß begleiten können", den empirischen Ich-Begriff unter, der, wie die einfache Erfahrung lehrt, aus einer Unmenge von Vorstellungen, zum Beispiel aus allen, die die äußere Welt betreffen, wegbleibt. Diese Einbeziehung der ganzen Welt in das empirische Ich widerspricht daher der Tatsächlichkeit des Erfahrens, aber auch dessen Logik. Das empirische Ich ist eine Erscheinung unter Erscheinungen und es ist immer ein eigener Urteilsakt nötig, ob eine Vorstellung auf mich selbst oder auf äußere Gegenstände bezogen werden soll. Die Vorstellungen sind an sich indifferent und erhalten ihren spezifischen Charatker erst durch die hinzutretenden Urteile: "Diese Vorstellung ist eine Vorstellung, die nicht über mich hinausweist", oder: "diese Vorstellung ist die Vorstellung eines äußeren Gegenstandes". Das Ich steht uns logisch um nichts näher, als die äußere Welt. Logisch ist es ebenso rätselhaft, wie sich Vorstellungen auf ein empirisches Subjekt, wie auf ein empirisches Objekt beziehen können.


3. Das Ich und der Gegenstand als abstrakte Werte

SCHOPENHAUERs Lösung war unmöglich gewesen, da sie die Gleichung zwischen einem Abstraktum und einem Konkretum aufgestellt hatt. Unser Prinzip sagt, der Fortschritt über SCHOPENHAUER zum dritten typischen Platonismus der Objektivitätsbedingungen geschehe dadurch, daß man in der erkenntnistheoretischen Grundformel das eine, stehengebliebene Konkretum gleichfalls durch ein Abstraktum ersetzte. Um diesen neuen Platonismus zu erhalten, hat man nicht mehr das empirische Ich und den Inbegriff der Erfahrung, sondern die reine Form des Ich und die Wissenschaft zu verbinden. Dieser Schritt führt mitten hinein in die moderne Erkenntnistheorie. Hier ist von undurchdachtem Psychologismus keine Rede mehr, denn hier stellt man das abstrakte Ich mit vollem  logischen  Bewußtsein als Bedingung der Objektivität auf. Die Motive hierfür sind sehr begreiflich und ansprechend. Die Objektivität, so überreden sie, ist nichts, sofern sie nicht erlebt ist. Ihre jeweilige und zufällige Verwirklichung in einem empirischen Bewußtsein ist jedoch keine vollwertige Verwirklichung, denn eine solche liegt nur dann vor, wenn eine notwendige Beziehung zwischen dem Ansichsein der objektiven Wahrheiten und der Subjektivität der sie erfahrenden Menschen besteht. Die Subjektivität kann nur dann der Objektivität als ebenbürtiger Wert gegenübertreten, wenn sie alles Empirische abstreift und als  reine Subjektivität  dem  Gelten  der Wahrheiten die  Wirklichkeit  des Wissens verleiht.

Besonders die kritische Philosophie mit ihren beiden Polen, dem Tun und dem Gelten, scheint die Ichform zur Vermittlung beider nicht entbehren zu können. Die kritische Philosophie behauptet, eine nicht "getane" Wahrheit sei schlechterdings ein Unding. Dann muß der Kritizismus, sofern seine mögliche Wahrheit eine wirkliche Wahrheit werden soll, so seinen reinen Befehlen einen ebenso reinen Täter finden, der die Linien zieht, welche jene vorschreibt, der die Wahrheit aus ihrem Ansichsein in ein Fürunssein umformt. Der historisch erste Versuch, einen solchen normativen Täter aufzustellen, der zwischen den beiden Polen des kantischen Objektvitätsideals, dem Wahrsein und Tatsein vermittelt, ist das "reine Ich". Dieses ist eine dem reinen Tun in der kritischen Philosophie unterbaute konkrete Form, es ist, nach der eben gebrauchten mathematischen Fiktion, ein sich bewegender Punkt, der die objektiven Wahrheiten aus ihrem bloßen Gelten in die Wirklichkeit des Erkennens übersetzt, sowie der mathematische Punkt durch seine regelbestimmte Bewegung aus dem Begriff "Kreis" die Figur "Kreis" macht. Das reine Ich ist ein Versuch, zwischen dem Gelten und dem Sein vom Sein aus zu vermitteln. Wir werden später sehen, daß man auch in der umgekehrten Richtung vom Gelten zum sein kommen kann, statt vom Sein zum Gelten. Einstweilen sind die Aussichten des erstgenannten Versuchs zu prüfen und diese scheinen mir nicht auf eine befriedigende Lösung hinauszulaufen.

Wenn man das reine Ich, statt nach seinem stets betonten  Amt,  einmal nach seiner  Herkunft  und damit nach dem Recht auf sein Amt fragt, so ergibt sich, daß es nur durch ein Abstraktionsverfahren aus dem empirischen Ich entstanden ist. Man hat aus diesem bestimmte Teile als rein individuelle weggelassen, andere als allgemeine beibehalten. Dann ist das reine Ich ärmer als das empirische Ich und wenn das empirische Ich die theoretischen Wahrheiten nicht realisieren kann, so ist nicht zu begreifen, wieso das reine Ich durch seine bloße Verarmung eher dazu imstande sein soll. Diese Schwierigkeit schwindet natürlich nicht, wenn mann das reine Ich als die Gattungsidee bestimmt, sie wird dann nur aus einer Schwierigkeit zu einer Inkonsequenz, die im weiteren Verlauf dieser Betrachtungen noch erledigt werden wird.

Das einzige, was  logisch  von diesem reinen Ich übrig bleibt, gegendas übrigens schon Kant einen berechtigten Verdacht hatte, sind die Werte oder Wertzusammenhänge aufgrund deren es aus dem empirischen Ich herausgehoben wird. Die Theorie dieser Werte hat unter anderem Namen in der deutschen Philosophie eine sehr sorgsame Entwicklung erfahren. Ich deute, zunächst aus rein systematischen Einteilungsmöglichkeiten heraus und ohne Bezugnahme auf die wirklichen Verhältnisse der Philosophiegeschichte, zwei dieser Entwicklungsreihen an.

Diesen beiden Reihen ist eine gewisse Tendenz gemeinsam, die auf die Feststellung eines  systematischen Vorzuges  des reinen Ich vor dem empirischen ausgeht. Verschieden aber ist in beiden Reihen die Art, wie sie das Ich aus einem Aggregat zu einem System machen. Die erste der aufzuführenden Theorien verwendet einen materialen, die zweite einen formalen Einteilungsgrund.

Unter einem materialen Einteilungsgrund verstehe ich, speziell für das Problem des Ich, einen solchen, der die Zugehörigkeit der Ich-Bestandteile zu dem sie umfassenden Ich auf eine besondere, deskriptiv genau zu kennzeichnende psychologische oder metaphysische  Grundqualität  des Ich zurückführt. Solche Einteilungsgründe verwenden MAINE de BIRAN und SCHOPENHAUER, wenn sie das Wesen des Menschen als Willen bezeichnen, DESCARTES und LEIBNIZ, wenn sie umgekehrt das Triebleben in Vorstellungsbeschaffenheiten auflösen. Gegenwärtig treten die metaphysischen Einheitsmomente mehr und mehr zugunsten der psychologischen zurück, weswegen wir hier nur die psychologischen Einheitsmomente näher besprechen wollen. Man setzt heute die Einheit des Ich in ein einfaches, nicht weiter zurückführbares Grundgefühl, das etwa den einzelnen Farbenqualitäten vergleichbar ist, die auch eine Zerlegung in einfachere Empfindungselemente nicht mehr zulassen. Dieses Grundgefühl besteht nirgends für sich, begleitet aber eine jede Denkhandlung, die wir vollziehen. Verselbständigen wir es zu einem gesonderten Gebilde, so unterliegt dieses reine Ich nicht mehr unserem früheren Einwand, es sei ärmer, als das empirische Ich, denn das  reine  Grundgefühl enthält mehr, als im empirischen Ich je angetroffen werden kann.

Diese Meinung macht die Ergebnisse der neueren und besonders der Wundtschen Psychologie, zu Grundpfeilern der Erkenntnistheorie. Dadurch bringt sie in das Wahrheitsproblem ein Zufälligkeitsmoment aus einer ganz anderen Provinz des menschlichen Erfahrens, aus der psychologischen herein, denn offenbar ist es ein psychologischer Zufall, daß es ein solches reines Ich-Gefühl gibt. Es widerspricht jedoch der Logik, das, was überhaupt erst konstatierbar wird aufgrund der einmal bestehenden Wahrheit, nachher wieder zu ihrer Bedingung zu machen.

Man kann diese, bislang ganz abstrakt gehaltene Möglichkeit, das Ich als einfaches Gefühl zu denken, leicht durch konkrete Lehrstücke aus der Philosophie unserer Tage ersetzen. Von den großen Logikern der Gegenwart vertritt SIGWART die eben schematisch angedeutete Theorie in der Form, daß er das Ich als einfaches Identitäts- und Gewißheitsgefühl alle Urteile begleiten läßt. SIGWART schreibt: "Die Gewißheit, daß es bei einem Urteil bleibt, ... kann nur dann vorhanden sein, wenn erkannt ist, daß die Gewißheit nicht auf momentanen und mit der Zeit wechselnden psychologischen Motiven ruht, sondern auf etwas, was jedesmal, wenn ich denke, unabänderlich dasselbe und von allem Wechsel unberührt ist und das ist einerseits mein Selbstbewußtsein selbst, die Gewißheit  Ich  bin und denke, die Gewißheit  Ich  bin ich, derselbe, der jetzt denke und früher gedacht hat, der dieses und jenes denkt; und andererseits das, worüber ich urteile." (11a) Selbstbewußtsein und Gewißheit gehören in die Psychologie. Da die Gewißheit außerdem hier als Ich-Gewißheit auftritt, so kann SIGWART durchaus als Vertreter der in Rede stehenden Theorie gelten. Seine Ausführungen aber bringen nichts, was unsere Kritik revisionsbedürftig machen könnte.

Die zweite formale Möglichkeit ist, die  logische Verfassung,  sozusagen die innere Form des Ich, als Bedingung der Objektivität aufzustellen. Das reine Ich ist hier die vom Empirischen abgezogene logische Erscheinungsweise des wirklichen Ich. Da diese nirgends in der Empirie angetroffen wird, so ist abermals das reine Ich etwas Neues gegenüber dem empirischen Ich. Diese Lehre ist nicht durch so einfache Überlegungen abzutun, wie die vorhin genannte. Wir wollen ihre Besprechung an die Kritik einer konkreten Ausführung knüpfen, die die Philosophiegeschichte diesem Gedanken des formgeeinten Ich gegeben hat. Als eine solche konkrete Ausgestaltung wählen wir die Formulierung RIEHLs, der die Objektivität von der Identität des Bewußtseins abhängig macht. Nun hängt die Regel der Reproduktion zunächst und vor allem von der Identität des Bewußtseins in der Reproduktion ab. Also ist die synthetische Einheit des Bewußtseins der formale Grund aller Begriffe. Auch der Begriff eines Objektes überhaupt entspringt seiner Form nach aus der Einheit des Bewußtseins." (12)

Diese RIEHLsche Auffassung ist auf den ersten Blick so einleuchtend, daß sie fast das Aussehen einer Selbstverständlichkeit gewinnt. Dennoch kann dieser Satz einen Doppelsinn haben und zwei gänzlich verschiedene Probleme meinen. Das erste Problem betrifft nur die Frage, ob die Ich-Form nötig sei, damit etwas  für mich  Objekt werde. Das zweite Problem geht auf die gegebenen, vom Subjekt ablösbaren  Inhalte.  Hier handelt es sich darum, ob die Ich-Form zu diesen - unabhängig zu denkenden Inhalten - hinzutreten müsse, damit aus ihnen ein Objekt werde. Die erste Frage wird man bejahen müssen; nur ist das Problem, das sie enthält, kein erkenntnistheoretisches, sondern ein psychologisches, oder wenn man so will, ein noetisches [geistiges Erkennen - wp]. Der Zumutung, die das zweite, logische Problem stellt, könnte nur dann nachgegeben werden, wenn das Ich ein logisch unverwechselbares Verhältnis zu seinen Inhalten aufwiese. Man könnte dann das Ich vielleicht als logischen Prototyp hinstellen, in dem die Zusammenfassung des Mannigfaltigen zur objektiven Einheit in durchaus vorbildlicher Weise erfolgte. Den Grund dieser Vorbildlichkeit hätte man etwa in einer vollkommenen Restlosigkeit der Synthesis zu suchen, die ihrerseits wieder gegründet wäre in die Alldurchdringlichkeit und unbegrenzte Formbarkeit ihres Materials. Die seelische Natur der Ich-Bestandteile könnte der logischen Einigung und Durchdringung einen erheblich geringeren Eigensinn entgegensetzen, als die Äußerlichkeit der Gegenstandsteile. Es steht aber, wie bereits KANT gesehen hat, die Ich-Einheit in nichts über der Gegenstandseinheit. Die Ich-Form stellt darum keine logisch originale Form der Einigung von Inhalten dar. Die seelische Natur der Inhalte des Ich mag diese dem  Erleben  näher stellen; von der  Logik  haben die psychischen Inhalte den gleichen Abstand wie die physischen. Das Ich ist nichts, abgesehen von den Beschaffenheiten, die es einigt, so wenig wie der Gegenstand etwas ist, abgesehen von seinen Eigenschaften. Da die Ich-Form nichts logisch Originales ist, so ordnet sie sich der allgemeinen Gegenstandsform unter. Hiermit ist die letzte Variationsmöglichkeit von FICHTEs reinem Ich aus den Bedingungen der Objektivität ausgeschieden.

Was wir hier auf dem Weg der Polemik erreicht haben, hat die Geschichte auf dem Weg der Entwicklung vollzogen. Unter den Denkern der Gegenwart, die sich um die Fortbildung FICHTEscher Gedanken bemüht haben, macht RICKERT den Begriff, den FICHTE das reine Ich nannte, auf eine eigentümliche Weise unschädlich und unangreifbar. Das reine Ich ist bei RICKERT zu einem Grenzbegriff geworden, nämlich zum letzten, erkenntnismäßig nie vollziehbaren Glied der Subjektreihe, dem auf seinen der Objektreihe das Ding ansich entspricht. Das reine Ich ist als letztes Glied der Subjektreihe "ein namenloses, allgemeines, unpersönliches Bewußtsein, das einzige, das niemals Objekt, Bewußtseinsinhalt werden kann." (13) Das Ding ansich ist, als letztes Glieder der Objektreihe, die ideale Summe der Kenntnisse aller Eigentümlichkeiten, die man überhaupt von den Dingen erwerben könnte. Auf diese Reihe werden reines Ich und Ding ansich zu asymptotischen [nicht übereinstimmend - wp] Werten mit entgegengesetzten Vorzeichen, die schon dadurch, daß sie nie eine Realität ausdrücken können, jenseits von aller Psychologie und Metaphysik stehen. RICKERT selbst hat übrigens den Ausdruck "Ding ansich" aus naheliegenden Gründen vermieden und auch den Ausdruck "reines Ich" mit Vorbehalten gebraucht. RICKERTs Verbindung des erkennenden und wollenden Ich kümmert uns hier noch nicht. Das erkennende Ich jedenfalls ist, auch durch die Geschichte, aus den  Bedingungen  der Objektivität definitiv ausgeschieden. Wir sind nun bei rein logischen Inhaltsverhältnissen angekommen, von denen es vollkommen gleichgültig ist, ob sie als Bewußtseinsinhalte von Individuen je das Vorzeichen der Existenz bekommen oder nicht.  Vom empirischen Ich, und sei es noch so sublimiert, führt keine Brücke hinüber zum S, der logischen Subjekt der Urteile.  Die alte scholastische Verkettung von  subjectum  und Subjekt ist jetzt gesprengt. Derart haben wir uns auf das eigentlich kantische Niveau hinaufgearbeitet. Wir beginnen wieder von unten, wenn wir uns den wichtigen Platonismen zuwenden, die die Elemente der Objektivität betreffen.

LITERATUR - Friedrich Kuntze, Die kritische Lehre von der Objektivität - Versuch einer weiterführenden Darstellung des Zentralproblems der kantischen Erkenntniskritik, Heidelberg 1906