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HANS CORNELIUS
Die Erkenntnis der Dinge ansich

"Wir alle wissen, daß ein Farbenblinder die Dinge anders sieht, als ein Normalsehender: das Beispiel zeigt deutlich daß der Farbeneindruck nicht durch das Ding allein, sondern auch durch Faktoren bedingt ist, die aus dem wahrnehmenden Individuum herstammen. Was für die Farbe, läßt sich ebenso für alle anderen sinnlichen Eigenschaft der Dinge zeigen: alle diese Eigenschaften, gerade  das  also, was wir am sichersten an den Dingen zu erkennen meinen, alles  das  ist durch unser Nervensystem mitbedingt. Ist dem so, dann dürfen wir eben diese sinnlichen Qualitäten, die unsere Wahrnehmung uns zeigt, nicht mehr für die richtigen, unverfälschten Abbilder der Eigenschaften der Dinge selbst halten."

"Wenn uns die Welt der Dinge ansich etwas völlig Unerkennbares ist, warum reden wir dann überhaupt noch von solchen Dingen? Dann ist es doch nur eben folgerichtig - so schwer es uns auch ankommen mag - auf diesen Begriff endgültig zu verzichten. Etwas, wovon wir absolut nichts wissen und nichts wissen können, hat in der Wissenschaft keine Stelle."

"Denn mit jener Erklärung der Dinge als bloßer Wahrnehmungssummen ist behauptet, daß die Dinge eben auch nur  soweit  bestehen, als die betreffenden Wahrnehmungen bestehen, und daß folglich die Dinge aufhören zu existieren, wenn sie nicht wahrgenommen werden. Dieser offenkundige Widerspruch gegen die Überzeugung des gesunden Menschenverstandes macht den Idealismus unannehmbar - so sehr, daß selbst der Idealist Schopenhauer feststellt, eine solche Ansicht ohne weitere Ergänzung könne nur im Tollhaus gefunden werden."


Wie alle Wissenschaft, so hat auch Philosophie, wenn sie Wissenschaft sein will, nicht von Annahmen oder Glaubenssätzen, sondern von Tatsachen auszugehen. Ich werde demgemäß auch in diesen Betrachtungen von Tatsachen ausgehen - und zwar von Tatsachen, die uns allen sehr bekannt sind.

Wir alle wissen was gemeint ist, wenn von den  Dingen  die Rede ist, die sich in unserer Umgebung im Raum finden. Und ebenso kennen wir alle die  Einwirkungen,  die wir von diesen Dingen durch die Wahrnehmung unserer Sinne empfangen. Von diesen beiden Arten von Tatsachen wollen wir ausgehen. Ein Ei soll uns als Beispiel eines  Dinges  dienen; und das Gesichtsbildung des Dinges, das wir in unserem Blickfeld finden, während wir auf das Ei blicken - und das sofort verschwindet, wenn wir die Augen schließen - sei unser Beispiel für den Wahrnehmungseindruck, oder, wie wir dafür kurz sagen wollen, für die  Erscheinung  des Dinges.

Der Unterschied beider ist wohl deutlich. Das Ding ist eines, seine Erscheinungen sind zahllose - je nachdem von welcher Seite und in welcher Beleuchtung wir es betrachten usw. -; die Erscheinung vergeht, wenn wir das Auge schließen oder den Finger wegziehen, das Ding aber bleibt dabei - so sind wir alle überzeugt - unverändert.

Diese beiden bekannten Tatbestände, das Ding und die Erscheinung, erregen nun aber bei näherer Betrachtung eine Reihe von Fragen, die das scheinbar so Bekannte rasch zu einem sehr Fragwürdigen stempeln.

Die Erscheinung ist die  Einwirkung,  die wir von einem Ding empfangen. Schon die Frage, wie diese Einwirkung stattfindet, ist eine äußerst rätselhafte. Das Ding wirft die Lichtstrahlen, die darauf fallen, auf die Netzhaut unseres Auges zurück; die dadurch erregten Nervenvorgänge pflanzen sich zur Großhirnrinde fort und irgendwo auf diesem Wege, so scheint es,  entsteht  die Erscheinung, die unser Bewußtsein uns als Bild des Dinges zeigt. Wie aber solche Entstehung zu begreifen ist: wie es zugehen soll, daß aus unserer Nervenerregung etwas derartiges wird, wie eine  bewußte  Wahrnehmung - das ist eine Frage, auf die wir zunächst vergeblich die Antwort suchen.

Für heute wollen wir eine andere Frage ins Auge fassen. Der Eindruck der sinnlichen Wahrnehmung kommt jedenfalls, gleichviel für jetzt auf welche Weise, zustande. Wie aber erkennen wir aus diesem Eindruck das  Ding Der Eindruck, so scheint es, ist doch etwas  in  uns und das Ding ist etwas  außer  uns; wie kommen wir von einem zum andern?

Man antwortet darauf wohl, es werde die im Gehirn erzeugte Empfindung durch irgendeinen uns unbekannten Mechanismuse in den Raum hinausprojiziert. Wie das zugehen soll, ist freilich noch Niemandem gelungen, klar zu machen.

Aber gesetzt auch, dies wäre gelungen, so tritt doch sogleich ein zweites Rätsel an die Stelle des ersten. Der Eindruck hängt nicht bloß vom Ding ab, sondern auch von der Beschaffenheit unseres Nervensystems. Wir alle wissen, daß ein Farbenblinder die Dinge anders sieht, als ein Normalsehender: das Beispiel zeigt deutlich daß der Farbeneindruck nicht durch das Ding allein, sondern auch durch Faktoren bedingt ist, die aus dem wahrnehmenden Individuum herstammen. Was für die Farbe, läßt sich ebenso für alle anderen sinnlichen Eigenschaft der Dinge zeigen: alle diese Eigenschaften, gerade  das  also, was wir am sichersten an den Dingen zu erkennen meinen, alles  das  ist durch unser Nervensystem mitbedingt.

Ist dem so, dann dürfen wir eben diese sinnlichen Qualitäten, die unsere Wahrnehmung uns zeigt, nicht mehr für die richtigen, unverfälschten Abbilder der Eigenschaften der Dinge selbst halten. Es ist ja das, was  vom Ding  herrührt, in ihnen mit etwas Anderem vermischt, das  aus uns  stammt. Um die wahre Beschaffenheit der Dinge kennen zu lernen, müßten wir also die verschiedenen Anteile sondern können: scheiden, was in der Qualität - etwa der Farbe - vom Ding, und was von  uns  herrührt. Aber diese Qualitäten sind einfache und es läßt sich an ihnen nichts sondern. Der Versuch kann also nicht gelingen. Es bleibt also vielmehr dabei, daß unsere Wahrnehmung uns ein verfälschtes Bild der Dinge gibt: wir erkennen in der Wahrnehmung die Dinge nicht, wie sie selber oder wie sie  "ansich"  sind.

Da aber andererseits die Wahrnehmung der Sinne doch die einzige Quelle zu sein scheint, durch die wir überhaupt etwas von der Welt der Dinge erfahren - man denke sich die Wahrnehmungen weg und sehe zu, was noch übrig bleibt! - so ist uns hernach überhaupt kein Material gegeben, woraus wir uns auch nur eine Vorstellung von der Welt der Dinge, wie sie ansich sind, oder kurz gesagt, von den "Dingen ansich" aufbauen könnten. Die Erkenntnis dieser Dinge ansich bleibt uns also verschlossen.

So wenig man sonst Übereinstimmung unter den Philosophen zu finden gewohnt ist, und so selten man sonst in der außerphilosophschen Literatur auf die Ergebnisse philosophischer Überlegungen Bezug genommen findet: gerade über den einen Satz herrscht heute in der philosophischen wie in der außerphilosophischen Wissenschaft fast allgemeine Übereinstimmung, der das Ergebnis der durchgeführten Betrachtung bildet - über den Satz, daß wir von den Dingen nur die Erscheinungen kennen, die Erkenntnis des wahren Wesens der Dinge aber, der Dinge ansich also, uns verschlossen bleibe.

Wie sehr dieser Satz gegen die natürliche Überzeugung, gegen das Weltbild jedes Unbefangenen streitet, darüber täuscht man sich wohl vielfach darum, weil man meint, mit dem Begriff des "Dings ansich" etwas anderes, viel geheimnisvolleres zu treffen, als mit dem Begriff des Dings, wie wir in alle zu kennen glauben. Allein man braucht nur die Überlegungen, die wir vorhin durchgeführt haben, im Auge zu behalten, um zu finden, daß eben die geläufige Vorstellung von der Welt der Dinge sogleich zur Welt der Dinge "ansich" wird, wenn man versucht, sich von der Einwirkung dieser Dinge auf unser Bewußtsein und von der Erkenntnis der Dinge aus diesen ihren Wirkungen Rechenschaft zu geben.

Die Paradoxie soll uns für den Augenblick nicht weiter beschäftigen. Ich bin zwar der Meinung, daß die Philosophie auf Paradoxien immer ein wachsames Auge haben sollte. Was dem gesunden Menschenverstand widerspricht oder zu widersprechen scheint, ist mindesten nicht zum Grad der Klarheit gebracht, den Philosophie, als Streben nach letzter Klarheit, immer erreichen sollte. Aber zunächst mag die Sache auf sich beruhen: es mag ja sein, daß die naive Anschauung im Unrecht ist und durch jene Überlegung eines Besseren belehrt wird.

Von der Erkenntnis der Dinge im Gegensatz zu derjenigen der Erscheinungen bleibt auf diesem Weg tatsächlich nichts übrig. Einen letzten Anhaltspunkt für die Überzeugung vom Dasein der ersteren scheint nur noch der Schluß von unseren Wahrnehmungen auf eine "Ursache" derselben zu bieten. Wie aber diese Ursache beschaffen sei, darüber vermag dieser Schluß nichts auszusagen; sie bleibt uns ein Unerkennbares, Unvorstellbares, Etwas, wovon wir tatsächlich nichts wissen und nichts aussagen können. Aber auch gegen diesen Schluß selber erheben sich Bedenken, die so triftig sind, daß KANT aufgrund derselben menschlichen Vernunft verbieten konnte, in die Welt solcher Dinge ansich auszuschweifen - ein Verbot, das er freilich selbst keineswegs konsequent befolgt hat.

Ich gehe auf diesen Punkt hier nicht weiter ein. Ich möchte vielmehr die Aufmerksamkeit auf die Konsequenzen lenken, die sich ergeben, wenn die Dinge ansich tatsächlich unerkennbar sind.

Wir brauchen nur mit diesem Ergebnis einmal Ernst zu machen, um die Konsequenzen sogleich zu erkennen. Wenn uns die Welt der Dinge ansich etwas völlig Unerkennbares ist, warum reden wir dann überhaupt noch von solchen Dingen? Dann ist es doch nur eben folgerichtig - so schwer es uns auch ankommen mag - auf diesen Begriff endgültig zu verzichten. Etwas, wovon wir absolut nichts wissen und nichts wissen können, hat in der Wissenschaft keine Stelle.

Es hat Philosophen gegeben, die mit dieser Konsequenz Ernst gemacht haben. BERKELEY ist hier vor Allen zu nennen. Auch SCHOPENHAUER steht zeitweise auf diesem Standpunkt, wenn er ihn auch nicht vollständig sich zu eigen macht.

Für diesen Standpunkt, den man denjenigen des  dogmatischen Idealismus  nennt, gibt es also keine Dinge ansich. Wir haben nur die Erscheinungen - wir sind, wie die gewöhnliche Redeweise lauten würde, auf unsere Innenwelt beschränkt. Empfindungen in unserem Bewußtsein sind uns als einzige Erkenntnis von der Welt der vermeintlichen Dinge gegeben; was wir von der Welt wissen, sind nur Wahrnehmungen unserer Sinne, die Dinge sind nur Summen solcher Wahrnehmungen.

Wir werden alsbald finden, daß auch diese Anschauung unhaltbar ist, weil sie nicht nur mit der naiven Überzeugung, sondern mit den Tatsachen der Erfahrung in Widerspruch gerät. Gerade der Punkt, an welchem dies stattfindet, wird uns den Weg erkennen lassen, der zur Lösung der Schwierigkeiten führt. Um aber diesen Punkt zu finden, müssen wir zuvor die Vorteile ins Auge fassen, die der dogmatische Idealismus gegenüber der vorher besprochenen Anschauung darbietet.

Wenn wir uns auf den idealistischen Standpunkt stellen, so fällt zunächst  eine  Unklarheit der früheren Ansicht sofort weg: die Behauptung einer "Projektion der Empfindungen in die Außenwelt" hat für den konsequent durchdachten Idealismus keinen Sinn. Er kennt ja keine Dinge ansich, also auch kein Gehirn,  worin  die Empfindungen wären. Und in der Tat: man braucht sich nur darüber klar zu werden, was mit der Frage nach dem  Ort  einer Erscheinung gemeint ist, um alsbald zu finden, daß jene Behauptung, die Empfindungen seien zunächst im Gehirn, nicht bloß für den Idealismus eine völlig haltlose ist. Jedes "Wo" kan nur durch die Angabe  räumlicher Beziehungen zu gegebenen Ausgangspunkten  seine Bestimmung finden. Will ich bestimmen, wo eine Erscheinung - etwa ein Gesichtsbild dieser schwarzen Tafel hier - sich befindet, so kann ich das nur, indem ich die räumlichen Beziehungen dieser Erscheinung zu anderen in der Nähe befindlichen Erscheinungen angebe. Diese Erscheinung der Tafel ist  neben  derjenigen der weißen Wand,  über  derjenigen des Pultes usw.; dadurch bestimmt sich ihr Ort. Niemalsaber finden wir neben der Erscheinung eines gesehenen Dinges solche Erscheinungen, die wir als die  Bilder von Teilen unseres Gehirns  zu bezeichnen hätten: es ist also vollkommen falsch, zu behaupten, daß die gesehene Erscheinung "im Gehirn lokalisiert" wäre.

Die Erscheinungen sind vielmehr für die idealistische und für jede logisch richtige Überlegung genau da, wo das naive Bewußtsein sie vorfindet - neben und übereinander, wie eben die Dinge, die wir im Raum vor uns sehen, ihre Bilder neben und über einander zeigen. Die Erscheinungswelt ist uns als eine räumliche jenseits unseres Körpers unmittelbar gegeben. Jene fundamentale Unklarheit, die auf einer Verwechslung der Empfindung mit einer ihrer  Bedingungen  beruth, ist also durch den Idealismus beseitigt.

Der zweite große Vorteil aber, den der Idealismus schafft, ist der, daß er zum ersten Mal konsequent die Frage stellt - wenn er sie auch nicht richtig beantwortet - woher wir unsere Kenntnis von der Welt der Dinge erhalten. Jene Überlegung nämlich, welche zur Behandlung der Unerkennbarkeit der Dinge ansich führt, hatte diese Frage nur scheinbar gestellt, tatsächlich aber schon als beantwortet vorausgesetzt; denn sie geht bei ihrem Versuch zur Lösung des Problems bereits von der  Voraussetzung  aus, daß  ein Ding da ist,  das auf unser Nervensystem wirkt. Indem sie von dieser Voraussetzung aus die Frage zu beantworten sucht, begeht sie tatsächlich einen logischen Zirkel. Die Überlegung, durch die der dogmatische Idealismus seinerseits die Frage zu beantworten unternimmt, ist von diesem Zirkel frei; daß sie nicht zur richtigen Lösung führt, liegt an einer Einseitigkeit, die, einmal erkannt, sogleich zu ergänzen ist.

Wenn nämlich der Idealismus die Frage nach der Herkunft unseres Wissens von den Dingen mit dem Hinweis auf unsere sinnlichen Wahrnehmungen beantwortet und die Dinge für bloße Summen solcher Wahrnehmungen erklärt, gelangt er dadurch zwar, wie wir sehen, zu einer räumlich ausgedehnten Welt, die sich mit dem Wahrnehmungsbild des Naiven deckt: aber nur mit seinem Wahrnehmungsbild, nicht mit seinem  Denken.  Denn mit jener Erklärung der Dinge als bloßer Wahrnehmungssummen ist behauptet, daß die Dinge eben auch nur  soweit  bestehen, als die betreffenden Wahrnehmungen bestehen, und daß folglich die Dinge aufhören zu existieren, wenn sie nicht wahrgenommen werden. Dieser offenkundige Widerspruch gegen die Überzeugung des gesunden Menschenverstandes macht den Idealismus unannehmbar - so sehr, daß selbst der Idealist SCHOPENHAUER feststellt, eine solche Ansicht ohne weitere Ergänzung könne nur im Tollhaus gefunden werden. Ich bemerke, daß der Ausweg, den SCHOPENHAUER aus dem Tollhaus zu finden meinte, wieder in dasselbe zurückführt. Wenn er den "Willen" als Ding ansich der Erscheinungswelt zugrunde legt, so übersieht er, daß uns auch der Wille stets nur in den jedesmaligen Willens phänomenen  in unserer augenblicklichen Wahrnehmung gegeben ist; er zeigt nicht, wie wir von diesem Phänomen aus zur Erkenntnis eines Willens kommen können, der auch noch bestünde,  während wir ihn nicht wahrnehmen. 

Denn  das  ist, wie sich nun unzweideutig ergibt, der Gegensatz, der zwischen der Überzeugung des Naiven und derjenigen des BERKELEYschen Idealismus besteht: daß die erstere auch Dinge kennt, die  bestehen, während wir sie nicht wahrnehmen.  Die Paradoxie des Idealismus führt uns so zu einer neuen Formulierung des alten Gegensatzes: Das  Ding ansich  im Gegensatz zur Erscheinung ist das Ding, das auch besteht, während es nicht wahrgenommen wird. Dieser Gegensatz kommt nicht erst durch jene Überlegung in unser Denken, die wir oben betrachtet haben und die man als Begründung für die Unerkennbarkeit der Dinge ansich zu betrachten pflegt; wenn wir die Voraussetzungen betrachten, von welchen jene Überlegung ausgeht, so ist auch in ihr das "Ding-ansich" von vornherein nur als das Ding charakterisiert, das auch besteht, während wir es nicht wahrnehmen.

Diese neue Bestimmung des "Dings ansich" leidet nicht an den Unklarheiten, die jenem früheren Begriff anhaften: sie ist nicht aus einem logischen Zirkel hervorgegangen, der tatsächlich schon das Ding ansich und überdies den unklaren Begriff von Ursache und Wirkung voraussetzte; während jener frühere Begriff das Ding ansich als ein unvorstellbares, ja undenkbares erscheinen ließ, bleibt dieses neue Ding ansich durchaus im Rahmen des erfahrungsmäßig Bekannten. wir alle wissen von solchen Dingen - und des bleibt nur die Aufgabe, genauer nachzuweisen, worin dieses Wissen besteht. Im Gegensatz zu jenem "transzendenten", alle mögliche Erfahrung überschreitenden Dinge ansich ist dieses in unserer Erfahrung gegebene Ding ansich folgerichtig als ein "immanentes" Ding ansich zu bezeichnen.

Die Lücke, welche der dogmatische Idealismus nicht bloß gegenüber der Überzeugung des Naiven, sondern gegenüber der tatsächlichen Erfahrung läßt, ist eben diese, daß er nicht Rechenschaft davon zu geben weiß, wie wir zur Überzeugung von der Existenz der Dinge während der Pausen unserer Wahrnehmung kommen und daß er demgemäß keine Auskunft über den tatsächlichen Unterschied schaffen kann, der zwischen der vermeintlichen Vernichtung des Dinges durch den  Wegfall der Wahrnehmung  und der Vernichtung desselben durch  physische Einwirkungen  besteht. Es ist doch erfahrungsgemäß etwas anderes, ob ich dieses Stück Holz nur eben nicht wahrnehme, weil ich wegblicke, oder deshalb, weil es verbrannt ist.

Von jener Erkenntnis wie von diesem Unterschied kann der Idealismus aber nur deshalb nicht Kunde geben, weil er sich einseitig nur auf die augenblickliche Wahrnehmung als Quelle für unsere Erkenntnis der Dinge beruft. Unsere Erfahrung aber, der wir unsere Kenntnis der Welt verdanken, besteht nicht nur aus unseren jeweiligen Wahrnehmungen, sondern aus dem Zusammenwirken der früheren mit den gegenwärtigen Wahrnehmungen mittels der Erinnerung und der  Begriffe,  durch die unser Verstand die Wahrnehmung verarbeitet. Ohne dieses Zusammenwirken würden wir niemals vergangene Erfahrungen verwerten - also stets auf dem Standpunkt neugeborener Kinder verharren.

Nicht jene Begriffe freilich, die PLATON einst zu Hilfe rief um gegen die idealistische Skepsis der Sophisten das beharrliche Sein zu erweisen - nicht die Gattungs- und Artbegriffe können uns von der flüchtigen Erscheinung zum dauernden Sein des Dings die Brücke schlagen. Wohl geben auch sie uns ein Beharrliches, das über die Dauer unserer augenblicklichen Wahrnehmung hinausreicht: was der Begriff "Zwei" oder "Dreieck"  meint,  ist heute dasselbe wie gestern, und bleibt dasselbe, gleichviel ob irgendjemand diese Begriffe jetzt denkt oder nicht. Aber das beharrliche Sein der Dinge ist mit dem Beharrlichen solcher begrifflichen Bedeutungen nicht identisch und läßt sich daraus nicht herleiten. Darum blieb PLATONs Ideenlehre zur Unfruchtbarkeit verurteilt; PLATON konnte das Problem nicht lösen, weil er nur jene eine Art von Begriffen kannte, während der Begriff des beharrlichen Dings jenseits der Erscheinung einer völlig anderen Art der Verstandestätigkeit seinen Ursprung verdankt.

Um uns diese andere Art der Begriffsbildung zu verdeutlichen, müssen wir noch einmal unser Augenmerk auf das erste Beispiel unserer Betrachtung, das Ei, lenken. Dieses Ei zeigt, von irgendeiner Seite her betrachtet, einen bestimmten Umriß, die Form seiner Erscheinung; von der einen Seite diesen, von der anderen jenen. Aber indem wir das Ei von verschiedenen Seiten nacheinander betrachten, folgen sich diese Umrisse nicht beliebig, sondern nach einem bestimmten  Gesetz:  umkreisen wir die große Achse des Eis, so folgt auf eine ovale Ansicht stets wieder eine gleiche ovale Form; bewegen wir uns in einer zur ersten senkrechten Ebene um das Ei, so wechseln die Erscheinungsformen in völlig anderer Weise, immer aber hängt der Wechsel derselben genau von der Folge der Bedingungen ab, die wir für die Betrachtung des Gegenstandes erfüllen. Die Erkenntnis dieses Zusammenhangs aber, des Gesetzes also, nach welchem sich bei Erfüllung dieser Bedingungen diese, bei der Erfüllung jener Bedingungen jene Erscheinungen aneinanderreihen, ist eben dasjenige, was wir die Erkenntnis der Form des Dinges nennen. Diese Form - d. h. also dieses  Gesetz  für den Wechsel der Erscheinungsformen bei der bestimmten Änderung der Bedingungen -  bleibt bestehen,  wie auch die Erscheinungen selbst wechseln mögen, und bleibt ebenso bestehen, wenn keine dieser Erscheinungen vorliegt, wenn wir mit anderen Worten das Ding  nicht  wahrnehmen. Sie ist somit ein Beharrliches jenseits der Erscheinung -  eine Eigenschaft also des Dinges, wie es ansich ist. 

Diese Art der Verstandestätigkeit - die Zusammenfassung dessen, was in der Erscheinung sich bei Erfüllung bestimmter Bedingungen in gesetzmäßiger Weise aneinanderreiht, unter einen Begriff, der somit einen  gesetzmäßigen Zusammenhang der Erscheinungen  bezeichnet - ist uns so geläufig, daß wir sie unwillkürlich fortwährend anwenden. Wir sagen, "der Zucker ist süß" und meinen damit keineswegs, daß er jetzt süß  erscheint,  sondern daß diese Erscheinung sich jedesmal bei der Erfüllung einer bestimmten Bedingung einstellen wird - nämlich wenn wir ihn uns zu Munde führen. Wir reden von der  unveränderlichen  Farbe eines Gegenstandes, obwohl wir sehr genau wissen, daß die Erscheinung dieser Farbe bei Tag eine andere ist, als in der Dämmerung oder bei Nacht. Bei Nacht sind alle Katzen grau - und bei völliger Finsternis schwarz; aber niemand sagt doch, daß die gelbe Katze in der Nacht ihre Farbe geändert habe und eine schwarze Katze geworden sei - sondern wir benennen sie nach wie vor als die gelbe Katze, indem wir eben in diesen Begriff gelber Farbe das  Gesetz  miteinbeziehen, daß der so gefärbte Gegenstand bei dieser Beleuchtung  diese,  bei einer anderen  jene  bestimmte Nuance der Erscheinungsfarbe zeigt. Ein gesetzmäßiger Zusammenhang der Erscheinungen ist es also auch hier wieder, was wir als die beständige Eigenschaft des Dings im Gegensatz zur veränderlichen Qualität der Erscheinung kennen und benennen - so wenig wir uns für gewöhnlich über diese Bedeutung unserer Benennungen im Klaren sind.

Der alte, von LOCKE betonte Gegensatz der primären und sekundären Qualitäten gewinnt hier eine völlig neue Bedeutung. Nicht die Farbe ist sekundäre Qualität, sondern die  Farbe der Erscheinung  ist die sekundäre Qualität,  die  Farbe aber, die wir dem  Ding  beilegen und mit welcher wir nach dem eben Gesagten jederzeit das Gesetz für die Farbe der Erscheinungen bezeichnen, ist eine  primäre  Qualität - sie besteht unabhängig von unserer Wahrnehmung.

Denn was oben für die Form des Dings gezeigt wurde, gilt für alle diese Gesetzesbegriffe, in welchen wir die Eigenschaften des beharrlichen Dinges erkennen: sie alle bestehen unabhängig davon, ob irgendeine der darunter fallenden Erscheinungen gerade wahrgenommen wird. Auch wenn ich jetzt das Ding nicht sehe, bleibt doch das Gesetz bestehen, daß es mir,  wenn  ich es von dieser Seite betrachten werde, diese, von jener Seite jene Form der Erscheinung darbieten wird; daß,  wenn  ich es unter dieser Beleuchtung betrachte, es diese, wenn unter jener, eine andere bestimmte Farbennuance der Erscheinung zeigen wird. Jedes dieser Gesetze ist von der augenblicklichen Wahrnehmung unabhängig - wir erhalten in ihnen also eben das, was der dogmatische Idealismus nicht zu geben wußte: den Aufschluß darüber,  was das Ding ist, während ich es nicht wahrnehme. 

Alles in der Tat, was nicht nur die alltägliche Erfahrung, sondern auch was die Naturwissenschaft, was Physik und Chemie uns von den Dingen lehren: all das ist nichts anderes, als ein immer weiter sich ausdehnendes Gewebe solcher Gesetze für unsere Wahrnehmungen. Jede chemische und physikalische Eigenschaft eines Dinges bezeichnet ein Gesetz für die unter bestimmten Bedingungen vorzufindenden Erscheinungen - jede solche Eigenschaft kommt somit einem Ding zu, wie es ansich ist, und gibt uns also eine Erkenntnis des "Dinges ansich".

So haben wir also im Gesetzesbegriff das Material gefunden, aus dem wir die Erkenntnis der Dinge ansich aufzubauen vermögen: durch den allmählich weitere und weitere Erfahrungen zusammenfassenden und niemals endenden Prozeß der Bildung von Begriffen gesetzmäßiger Zusammenhänge der Erscheinungen gewinnen wir die Erkenntnis der Welt, wie sie jenseits der augenblicklichen Wahrnehmung dauernd besteht. Die Vorstellung beharrlicher Dinge jenseits der Wahrnehmung erweist sich somit nicht, wie HUME meinte, als eine Täuschung durch unsere Einbildung, sondern sie ist der Ausdruck für die erfahrungsmäßig erkannten Gesetze der Erscheinungen.

Mit diesem Ergebnis ist nicht bloß die Paradoxie des dogmatischen Idealismus, sondern ebenso diejenige der eingangs betrachteten Ansicht beseitigt. Die Behauptung der Unerkennbarkeit der Dinge ansich erweist sich als ein Vorurteil, das seinen Ursprung nur unklaren Voraussetzungen verdankt, die statt der tatsächlichen Erfahrungen der Überlegung zugrunde gelegt waren. Diese Behauptung muß daher aus der Wissenschaft ausgemerzt werden.
LITERATUR - Hans Cornelius, Die Erkenntnis der Dinge ansich, Logos Bd. 1, Tübingen 1910-11