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RAFAEL SELIGMANN
Zur Philosophie der
Individualität


"Das, was das Individuelle am treffendsten kennzeichnet, ist das Sichbewähren, Sichbehaupten, das Gesetztwerden. Jedes Gesetztwerden ist aber zu gleicher Zeit ein  Unersetzbares,  denn in dem Moment, wo irgendein Inhalt durch einen anderen ersetzt wird, gibt er sich selber damit auf. Den Gegensatz zum Individuellen bildet das Ersetzbare, das Gleichgültige, das vorzugsweise durch Abstraktionen repräsentiert wird."

"In der  äußeren Erfahrung ist es besonders das Gebilde des  leeren Raumes, wo das Prinzip des Ersetzbaren am deutlichsten zutage tritt, denn dieses Gebilde des leeren Raumes erhalten wir dadurch, daß wir von den realen Bewegungen, die sich zwischen unsere Impulse und Zwecke einschieben, fortwährend abstrahieren. In der  inneren Erfahrung ist es der  Begriff, der das Prinzip des Ersetzbaren repräsentiert, denn der Begriff ist eine Vorstellung, an die der Gedanke ihrer Ersetzlichkeit durch eine andere, ihr ähnliche, geknüpft wird."

I. Das, wodurch ein Ding zu einem Individuum wird, kann nur in einem absolut individuellen Moment enthalten sein.

Erläuterung. - Denn wenn ich sage, dieses oder jenes Ding zeichnet sich vor allen anderen durch diese oder jene Eigenart aus, in manchen Stücken aber stimmte es mit allen übrigen überein, so kann dieses Ding, insofern es nämlich mit allen übrigen übereinstimmt, schon nicht mehr  dieses  Ding heißen. Will ich also das Ding als dieses und kein anderes denken, so muß ich es auf ein diesem Ding ausschließlich zukommendes Moment beziehen, das allein imstande wäre, dem letzteren seine Einzigkeit zu verleihen. Dieses absolut individuelle Moment muß gleichsam im Ding überall verbreitet sein, es darf vom Ding als konkreter Bestandteil nicht ausgeschieden werden können, sonst ging letzterem wiederumg seine Individualität verloren und es könnte nicht mehr als dieses gedacht werden. Es muß also das absolut individuelle Moment als eine Kraft gedacht werden, die das Ding in allen seinen Teilen durchdringt.

II. Das absolut individuelle Moment kann in einem Einzelding nicht enthalten sein.

Erläuterung. - Unter einem absolut individuellen Inhalt müßte nach dem oben Gesagten all das verstanden werden, was das ausschließliche Eigentum eben dieses Inhalts ausmacht, so daß alles, was sich von letzterem sagen läßt, aus ihm selber herstammen müßte, ohne daß dabei ein anderes zu Hilfe gezogen werden könnte, was von der Kehrseite gesehen die absolut negative Formel ergeben würde, daß besagter Inhalt in absolut keiner Beziehung mit irgendeinem anderen Ding übereinstimmen dürfte. So eigenartig gestaltet ist aber wahrlich kein Ding, daß es keine Berührungspunkte aufzuweisen hätte, in denen es mit manchem andern in irgendetwas zusammentreffen könnte. Jedenfalls müssen doch alle Dinge darin übereinkommen, daß sie sämtlich irgendeinen Eindruck ausüben, daß sie sämtlich perzipiert werden, daß sie irgendeine Reaktion im Bewußtsein hervorrufen - kurzum, daß sie sämtlich Inhalt eines Bewußtseins sein müssen. Und so gelangen wir zu dem Ergebnis, daß das absolut individuelle Moment in keinem Einzelding enthalten sein kann.

III. Das absolut individuelle Moment, als absoluter Unterschied gedacht, hebt den Unterschied selber auf.

Erläuterung. - Wenn das absolut individuelle Moment überhaupt existieren soll, so kann es unmöglich in irgendetwas Apartem, Besonderem, Einzelnem - kurzum in irgendetwas Derartigen bestehen, was irgendetwas außer sich haben könnte, denn im letzteren Fall müßte doch das absolut individuelle Moment in  einem  Punkt zumindest und namentlich in dem des Seins mit einem anderen koinzidieren [übereintreffen - wp], was nach dem Vorhergesagten ausgeschlossen ist. Es muß also das absolut individuelle Moment so beschaffen sein, daß seine Existenz absolut nichts außer sich haben darf. Es darf überhaupt kein Außersich dulden können, oder mit anderen Worten, das absolut individuelle Moment muß eine absolute Selbständigkeit für sich in Anspruch nehmen, muß ein lauter Selbst, ein lauter Fürsichsein darstellen, muß als das einzige Ding, das eine Ding schlechthin, das All-Eine Ding gedacht werden.

IV. Das absolut individuelle Moment ist allen Dingen gemeinsam.

Erläuterung. - In keinem von allen möglichen Einzeldingen, die als ein "Besonderes", "Unterschiedenes" auftreten, kann das absolut individuelle Moment enthalten sein. Vielmehr drückt das Besondere nur eine gewisse Art und Weise aus, wie die Selbständigkkeit des absolut Individuellen hervortritt und sich geltend macht. Als absolutes Fürsichsein muß es jede Sonderung ausschließen, muß überall seine Macht ausüben können, muß als der transzendente Grund gedacht werden, von dem alle Dinge insgesamt getragen sind. Jedes Einzelding als Solches aber ist nur ein mehr oder weniger unvollkommener Ausdruck dieses allgemeinen individualisierenden Prinzips, das in allen Dingen sein Wesen offenbart und die verborgene Quelle darstellt, aus der jedes Ding seine Selbstäußerung schöpft.

V. Der Extremste Individualismus und der weiteste Universalismus fallen zusammen.

Erläuterung. - Daß der tiefste Kern des Einzeldings im gesamten Grund aller Dinge wurzelt, wird der gewöhnlichen Auffassung, die das Individuelle im Besonderen, im Unterschiedensein zu suchen geneigt ist, sehr befremdend erscheinen müssen. Indessen, wenn das Individuelle in einem Unterschiedensein von einem anderen dem vergleichenden Verstand sich zunächst kundgibt, so ist doch dieses Unterschiedensein die negative Form eines an und für sich positiven Tatbestandes und trifft nicht im Geringsten das Charakteristische des Individuellen als solchen, das vorzugsweise im Behaupten seiner selbst, dem Sichbewähren, der schöpferischen Setzung besteht, und ebenso im Gleichen wie im Unterschiedenen aufzutreten vermag. Jedes Ding ist von Natur aus bestrebt, seine bestimmte Form, die es von allen anderen Dingen unterscheidet, in allen Fällen womöglich zu erhalten. Wenn in irgendetwas die Selbständigkeit des Dings voll und deutlich zum Ausdruck gelangt, so ist es gewiß in diesem Bestreben sich zu behaupten, das doch allen Dingen gemeinsam ist, während die bestimmte Form nur dem einzelnen Ding angehört. Und die Undurchdringlichkeit, vermöge deren zwei materielle Gegenstände von anscheinend  ganz gleicher  Natur ein und denselben Raum nimmermehr einnehmen können, gibt doch die prägnanteste Form ab, in der die Individualität der Materie sich am schärfsten äußert. Wenn vollends von menschlichen Individuen die Rede sein soll, so ist doch derjenige Grundzug ihres Wesens, in dem sie sich alle gleichen, dem Gefühl von ihrem eigenen Selbst nämlich, als dasjenige Moment zu bezeichnen, wo ihre Individualität am heftigsten hervortritt. Unter dem absolut individuellen Moment verstehen wir also das absolute Behaupten, das absolute Setzen, von dem jedes Ding gleichsam seine Nahrung zieht.

VI. Das absolut individuelle Moment ist die absolute Kraft.

Erläuterung. - Da das absolut Individuelle ein absolutes Setzen ist, jedes Setzen aber im Grunde genommen eine Kraftentfaltung bedeutet, so muß das absolut individuelle Moment als absolute Kraft gedacht werden. Unter absoluter Kraft verstehen wir die reine Aktivität, im Gegensatz zur gehemmten, die sich unserem fragmentarischen Bewußtsein offenbart, und die eine gebrochene Linie von Impulsen und Zwecken, Bewegungsansätzen und Haltepunkten darstellt. Zu diesem Begriff der absoluten Kraft müssen wir notwendig gelangen, wenn wir die Kraft als solche konsequent und widerspruchslos durchdenken wollen, denn dann muß die Kraft als solche, als etwas rein Tätiges gedacht, diese fixen Punkte, zwischen die sie eingeschoben wird, und die als Ruhepunkte eine Verneinung der Kraft bedeuten, notwendig von sich ausschließen.

VII. Das absolut individuelle Moment muß als ein ewig Unfertiges gedacht werden.

Erläuterung. - Denn jedes Fertige und Abgeschlossene müßte ihm notwendig eine Grenze und einen Haltepunkt setzen, was den Begriff der absoluten Kraft aufheben würde.

VIII. Das absolut individuelle Moment muß als Etwas gedacht werden, das sich immer von selbst erneuert, um immer wieder in ewig verjüngter Gestalt zu erscheinen.

Erläuterung. - Da das absolut individuelle Moment überall gegenwärtig und allen Dingen gemeinsam ist, so kann ihm von nirgends her etwas Neues zufließen. Das Neue muß also aus ihm selber stammen.

Das absolut individuelle Moment ist etwas absolut Verschiebbares, so daß man nicht sagen kann, diese oder jene Form sei ihm eigen. Es birgt in seinem Schoß immer neue Tiefen und Hintertiefen, und indem es einerseits in  dieser  Gestalt erscheint, kann es gleichzeitig auch anders hervortreten: Eine vom Mond beschienene Landschaft ist zugleich eine mehr oder weniger melancholische Stimmung und eine bestimmte Folge von in einer gewissen Weise geordneten Tönen ist zu gleicher Zeit eine heitere oder traurige Melodie.

IX. Die Mannigfaltigkeit der Dinge, ihr Unterschiedensein voneinander, ist nur eine besondere Form, in der das absolut individuelle Moment dem Bewußtsein sein Wesen offenbart.

Erläuterung. - Durch das bloße Faktum seines Auftretens muß schon jedes Sein ein Verdrängen bedeuten, denn das Auftauchen von irgendeinem Sein ist eine Setzung in einer bestimmten Richtung, jede Bestimmtheit aber ist ihrer Natur nach verdrängend und ausschließend, da jede Bestimmtheit ein So- und Nichtanderssein besagt. Die Ausschließlichkeit gehört also zum Wesen des Seins, und es sit nur eine eigenartige Form, in der diese Ausschließlichkeit zum Ausdruck gelangt, wenn das Sein als eine Mannigfaltigkeit voneinander verdrängenden und aufhebenden Inhalten dem Bewußtsein erscheint. Der starre logische Verstand, der Einheit und Vielheit, Identität und Verschiedenheit, nur als Gegensätze zu fassen vermag, denkt sich ein endloses Neben- und Nacheinander von Seinsmomenten, die in ursprünglicher Verschiedenheit ihm von Haus (Natur) aus gegeben sind, und die erst hinterher vermöge eben dieser Verschiedenheit sich gegenseitig ausschließen. Dabei muß er aber auf einen harten und unlösbaren Widerspruch stoßen, indem er sich bald überzeugen muß, daß diese ineinander ausschließenden Inhalte in einem durchgängigen, innerlichen Zusammenhang miteinander stehen, und indem er vergebens aus der Verschiedenheit die Einheit zu deduzieren sucht. Allein mögen alle diese Inhalte in noch so eigenartiger Gestaltung auftreten, es ist doch ein und dasselbe Moment des Seins, das überall im Spiel ist. Es ist ein und dasselbe individualisierende Prinzip, das allen Dingen zugrunde liegt, dessen schaffende, selbstsetzende und deshalb auch ausschließende Natur, indem es in die Zweiheit von Impuls und Zweck auseinanderfällt, im Bewußtsein den Anschein erweckt, als ob ihm zuerst das eine Sein, und dann ein anderes Sein gegeben wäre, die sich erst hinterher gegenseitig verdrängen und ausschließen.

X. Es gibt weder vollständige Gleichheit noch vollständige Verschiedenheit, sondern jede Gleichheit ist in einem Unterschied, und jeder Unterschied in einer Gleichheit begründet.

Erläuterung. - Da Einheit und Vielheit, Identität und Verschiedenheit in einem absoluten individuellen Moment zusammenlaufen und sich vereinigen, indem letzteres vermöge der ihm innewohnenden selbstsetzenden und ausschließenden Kraft als eine Mannigfaltigkeit von Formen dem Bewußtsein erscheint, so gibt es in der Natur weder eine absolute Gleichheit noch absolute Verschiedenheit, sondern jede Gleichheit stellt sich als ein Unterschied und jeder Unterschied als eine Gleichheit heraus. In der Tat, wenn wir zwei Inhalte einander gleichsetzen wollen, so ist dies nur unter der Bedingung möglich, daß wir zunächst von ihrer Zweiheit abstrahieren, denn wenn der Dinge zwei sind, so müssen sie doch in irgendeinem Punkt voneinander verschieden sein. Auch dann, wenn wir ein und dasselbe Ding mit sich selber identifizieren, so wird es doch zuerst in eine Zweiheit von Zeitmomenten auseinandergerückt, Und von dieser Zweiheit der Zeitmomente gilt es ebenfalls abzusehen, wenn die Identifikation ausgeführt werden soll. Das ist aber keine vollständige Gleichheit, denn eine absolute Gleichheit wäre die, wo die zwei miteinander verglichenen Dinge nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch ihren Raum- und Zeitbeziehungen nach gleich wären, oder mit anderen Worten, wo eine Zweiheit von Momenten in ein einziges Moment zusammengezogen wäre. Da nun jede Gleichheit eine Zweiheit von zu vergleichenden Inhalten notwendig fordert, so würde letztere Voraussetzung die Gleichheit vollständig aufheben. Ähnliches gilt in Bezug auf den Unterschied, denn auch der Unterschied, absolut gefaßt, muß ebenfalls sich selber aufheben. Denn je mehr ein Ding sich von einem anderen unterscheidet, desto weniger Punkte muß es aufzuweisen haben, in denen dieses Ding mit dem andern zusammentreffen kann; will ich also den Unterschied absolut fassen, so darf ich absolut keinen einzigen Punkt entdecken können, worin sich dieses Ding mit einem andern berührt; dann aber muß der Unterschied selber verschwinden, denn damit ein Unterschied eines Dings von einem andern überhaupt möglich sein soll, so muß doch dieses Ding notwendig mit dem andern verglichen werden, muß also notwendig in irgendeine Beziehung zu dem andern geraten - kurzum es muß mit dem andern Ding in ein und demselben Bewußtseinszentrum zusammentreffen.

XI. Den Gegensatz zum Individuellen bildet nicht das Gleichartige, sondern das Gleichgültige.

Erläuterung. - Denn da das Charakteristische des Individuellen nicht im Unterschiedensein besteht, so kann auch natürlich sein Gegensatz nicht im Gleichsein bestehen. Das, was das Individuelle am treffendsten kennzeichnet, ist, wie wir bereits ausgeführt haben, das Sichbewähren, Sichbehaupten, das Gesetztwerden. Jedes Gesetztwerden ist aber zu gleicher Zeit ein  Unersetzbares,  denn in dem Moment, wo irgendein Inhalt durch einen anderen ersetzt wird, gibt er sich selber damit auf. In In der Natur nimmt demnach jedes Ding eine besondere, nur ihm zukommende Stellung ein, und wenn wir auch häufig zu gewissen Zwecken statt  dieses  bestimmten Dings ein anderes ihm ganz gleiches nehmen, das eine also durch ein anderes ersetzen, so hört doch ersteres deshalb nicht auf zu sein und seine Dingheit zu bewahren. Den Gegensatz zum Individuellen bildet das Ersetzbare, das Gleichgültige, das vorzugsweise durch Abstraktionen repräsentiert wird. In der äußeren Erfahrung ist es besonders das Gebilde des leeren Raumes, wo das Prinzip des Ersetzbaren am deutlichsten zutage tritt, denn dieses Gebilde des leeren Raumes erhalten wir dadurch, daß wir von den realen Bewegungen, die sich zwischen unsere Impulse und Zwecke einschieben, fortwährend abstrahieren. In der inneren Erfahrung ist es der Begriff, der das Prinzip des Ersetzbaren repräsentiert, denn der Begriff ist eine Vorstellung, an die der Gedanke ihrer Ersetzlichkeit durch eine andere, ihr ähnliche, geknüpft wird.

XII. Je zentralisierter ein Naturgebilde ist, desto deutlicher kommt in ihm das absolut individuelle Moment zur Geltung.

Erläuterung. - Durch die bloße Tatsache seines Seins ist jedes Ding eine Setzung. Mit der markierteren Form und ausgeprägteren Gestaltung, in welcher sich das Sein eines Dings äußert, tritt auch gleichzeitig die schärfere Zuspitzung und Zentralisierung von mannigfachen Funktionen und Verrichtungen auf, die dieses Ding als ein relativ Unabhängiges und Fürsichseiendes erscheinen läßt, so drückt sich darin eine ganz spezielle Form einer gesteigerten Setzung aus: die Setzung wird nämlich zur Selbstsetzung. Deshalb ist jeder Organismus ein Individuum. Der vollkommenste Organismus, den wir kennen, ist zugleich Ichbewußtsein, Persönlichkeit.

XIII. Lust ist diejenige allgemeine Form, welche die Natur des absolut individuellen Moments am reinsten symbolisiert.

Erläuterung. - Denn die Lust als solche ist Selbstbejahung. Selbstbejahung ist aber der höchste Punkt, worin eine Setzung gipfeln kann.

XIV. Die Lust gibt die Richtung an, in welcher der Mensch sich vervollkommnen soll.

Erläuterung. - Die unendliche Mannigfaltigkeit der Formen, in denen das absolut individuelle Moment zur Äußerung gelangt, kann es mit sich bringen, daß diese oder jene gesteigerte Setzung, gerade für dieses oder jenes Wesen, und von einem höheren Standpunkt betrachtet, auch für die Menschheit im allgemeinen, der Grund einer weiteren Herabsetzung werden könnte. Deshalb kann man nicht die Behauptung aufstellen, daß alles, was lustbringend ist, eben damit auch wünschenswert sein soll. Wohl aber darf und soll das Prinzip der Lust als Richtschnur für alle menschlichen Bestrebungen dienen, in  dem  Sinn nämlich, daß nichts Derartiges angestellt werden darf, was den Charakter der Lust in sich vermißt. Denn da das menschliche Streben im Grunde genommen nur ein Ringen nach einer gesteigerten Setzung ist, so kann ihm auch nur dasjenige entsprechen, worin sich letztere am prägnantesten äußert: das ist die Lust. Und zwar ist es die reinste Form der Lust, die Freude nämlich, die als Norm zu gelten hat. Deshalb befinden sich alle diejenigen im Irrtum, welche in der Meinung, daß zugunsten eines höheren Zwecks die natürlichen Triebe gezähmt und niedergehalten werden müssen, schließlich dazu gelangen, das Element der Lust gänzlich zu ignorieren. In einem noch ärgeren Irrtum befinden sich aber diejenigen, welche vermeinen, die Vollkommenheit könne durch eine ausschließliche Stellung erreicht werden, die ein menschliches Wesen seinen Mitwesen gegenüber einnehmen würde. Denn da eine derartige Stellung eines beständigen Hintergrundes bedarf, von dem sie sich vorteilhaft abheben könnte, so wird sie keine wahre Selbstsetzung ausdrücken können. Der Mensch strebe vielmehr danach, was ihn und seine Mitwesen mit höchster Freude erfüllen kann.
LITERATUR - Rafael Seligmann, Zur Philosophie der Individualität, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge der "Philosophischen Monatshefte", Bd. 15, Berlin 1909