tb-2tb-1A. RiehlR. HönigswaldK. LewinC. PrantlP. Natorp     
 
ERNST CASSIRER
Galilei

"Ich danke Dir - schreibt Galilei an Kepler - daß Du, wie es von der Schärfe und dem Freimut Deines Geistes nicht anders zu erwarten war, schon nach dem ersten kurzen Einblick, den Du in meine Forschungen genommen hast, zuerst, ja fast als Einziger, meinen Behauptungen vollen Glauben beigemessen hast. Was aber wirst  Du  zu den ersten Philosophen unserer hiesigen Hochschule sagen, die trotz tausendfacher Aufforderungen in eiserner Hartnäckigkeit sich dagegen sträubten, jemals die Planeten oder den Mond oder das Fernglas selbst zu betrachten und die somit ihr Auge mit Gewalt gegen das Licht der Wahrheit verschlossen? Diese Sorte Menschen glaubt, die Philosophie sei ein Buch, wie die Aeneis oder die Odyssee: und die Wahrheit sei nicht in der Welt oder in der Natur, sondern (dies sind ihre eigenen Worte!) durch die Vergleichung der Texte zu erforschen. Wie würdest Du lachen, wenn Du hören könntest, wie der angesehenste Philosoph unserer Hochschule sich abmüht, die neuen Planeten durch logische Argumente, als wären es Zaubersprüche, vom Himmel wegzudisputieren und loszureißen."

In der Geschichte des modernen Geistes gehört der Briefwechsel zwischen KEPLER und GALILEI zu den anziehendsten und charakteristischsten literarischen Zeugnissen. Die Kraft des neuen wissenschaftlichen Bewußtseins und die sittliche Rückwirkung, die aus ihm floß, stellt sich hier an einem vollendeten Beispiel dar. Es bleibt für immer denkwürdig, wie die beiden Begründer der mathematischen Naturwissenschaft trotz aller äußeren Einwirkungen und Intrigen, die sie zu entzweien trachten, sich alsbald im gleichen sachlichen Ziel und dem gleichen  philosophischen  Eros zusammenfinden. Der Briefwechsel knüpft an GALILEIs Entdeckung des Fernrohrs und an die neuen Himmelsbeobachtungen an, die sich unmittelbar an sie anschlossen. Wir sehen, wie diese Beobachtungen, in denen GALILEI selbst die letzte empirische Bestätigung für die Wahrheit des neuen Weltsystems sieht, von allen Seiten und mit allen Mitteln bekämpft werden, wie selbst der Zweifel an der subjektiven Wahrhaftigkeit GALILEIs sich hervorwagt. Nicht nur die Gegner der kopernikanischen Lehre, auch ihre festesten und frühesten Anhänger, wie KEPLERs Tübinger Lehrer MAESTLIN, sind in diesem Verwerfungsurteil einig. An KEPLER selbst drängt sich immer von neuem die Zumutung heran, sich bestimmt gegen die neuen Ergebnisse zu erklären; ja ein früherer Schüler von ihm, MARTIN HORKY, glaubt sich durch eine Schmähschrif, die er gegen GALILEI richtet, seinen Beifall verdienen zu können. Sogleich bricht jedoch KEPLER jede Gemeinschaft mit ihm ab: nichts kann ihm schmerzlicher sein - schreibt er in seinem ersten Brief - als das Lob eines Mannes, der in seiner Beurteilung GALILEIs sein Unvermögen, wahre geistige Größe zu schätzen, so offen bekundet hat. Und es bleibt nicht bei dieser persönlichen Annäherung: sondern es drängt ihn dazu, öffentlich für den Charakter GALILEIs und für die Wahrheit seiner Beobachtungen Zeugnis abzulegen. Er setzt sofort sein ganzes wissenschaftliches Ansehen für dieses Ziel ein: noch ehe er das neue Instrument mit eigenen Augen geprüft hat, ist er - der als der Begründer der modernen Optik die theoretischen Grundlagen der Entdeckung sogleich durchschaut - von seinem Wert überzeugt und sucht ihn gegen die "grämlichen Krittler des Neuen", denen alles unerhört heißt, was über die Enge des aristotelischen Systems hinausliegt, zu verteidigen. In der schlichten Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit, die den Grundzug seines persönlichen und wissenschaftlichen Wesens bildet, gesteht er sogleich eigene, ältere Irrtümer ein, die nunmehr durch die neuen Erfahrungen berichtigt sind. Ein Zweifel an diesen aber kann ihm nicht aufkommen: schon der Stil GALILEIs bürgt ihm für ihre Sicherheit. Der Stil GALILEIs: das ist der Ausdruck und Reflex der methodischen Denkart, die KEPLER als die seinige wiedererkennt (1).

Diese Gemeinsamkeit bewährt sich zunächst in negativer Richtung in der Stellung, die KEPLER sowohl wie GALILEI zum herrschenden Schulsystem einnehmen. Es ist literarisch interessant zu verfolgen, wie beide sich gegenseitig die Waffen schmieden und darreichen, mit denen sie die Überlieferung bekämpfen: wie hier ein bezeichnendes Argument, das der  eine  prägt, vom anderen aufgegriffen und weitergeführt wird, wie dort eine epigrammatische Wendung des  einen  noch nach Jahren in den Schriften des andern fortklingt und nachwirkt. In solchen Zusammenhängen enthüllt sich uns gleichsam die Stilgeschichte der neueren Wissenschaft (2). Einig sind beide vor allem im Streit gegen die  Syllogistik  und ihren Geltungsanspruch.
    "Ich danke Dir - schreibt GALILEI an KEPLER - daß Du, wie es von der Schärfe und dem Freimut Deines Geistes nicht anders zu erwarten war, schon nach dem ersten kurzen Einblick, den Du in meine Forschungen genommen hast,  zuerst,  ja fast als Einziger,' meinen Behauptungen vollen Glauben beigemessen hast. Was aber wirst  Du  zu den ersten Philosophen unserer hiesigen Hochschule sagen, die trotz tausendfacher Aufforderungen in eiserner Hartnäckigkeit sich dagegen sträubten, jemals die Planeten oder den Mond oder das Fernglas selbst zu betrachten und die somit ihr Auge mit Gewalt gegen das Licht der Wahrheit verschlossen? . . . Diese Sorte Menschen glaubt, die Philosophie sei ein Buch, wie die  Aeneis  oder die  Odyssee:  und die Wahrheit sei nicht in der Welt oder in der Natur, sondern (dies sind ihre eigenen Worte!) durch die Vergleichung der Texte zu erforschen. Wie würdest Du lachen, wenn Du hören könntest, wie der angesehenste Philosoph unserer Hochschule sich abmüht, die neuen Planeten durch  logische Argumente,  als wären es Zaubersprüche, vom Himmel wegzudisputieren und loszureißen."
Wie getreu und typisch diese Schilderung ist, darüber werden wir in KEPLERs Diskussionen mit den Aristotelikern der Zeit Schritt für Schritt belehrt. Es ist besonders bezeichnend, wenn CHIARAMONTI, in einem Streit über die Natur der Kometen, KEPLER mit dem Vorwurf abzufertigen meint, er habe den "methodus arguendi" mit dem "methodus respondendi" verwechselt, er habe das Verfahren der Mathematik auf die Topik angewandt usw. (3) Nach der geschichtlichen Problemlage, die durch diese Beispiele erleuchtet wird, begreift man, wie die Logik immer mehr als der wahre Gegensatz und das eigentliche Hemmnis der empirischen Forschung empfunden werden mußte. Es galt zunächst das scholastische  Ideal des Begreifens  zu entwurzeln: jenes Ideal, das seinen naivsten und schlagendsten Ausdruck bei einem der peripatetischen [aristotelianischen - wp] Gegner GALILEIs gefunden hat, der sich weigerte, durch das Fernglas zu blicken, weil dies "seinen Kopf nur verwirren würde" (4). Der leeren Allgemeinheit des Schulbegriffs tritt die Forderung exakter Einzelbeobachtung, der "trockenen Abstraktion" das konkrete sinnliche Bild des Seins entgegen (5). Wahrnehmung und Denken, Naturwirklichkeit und Verstandesbegriff: in der Trennung und Gegenüberstellung dieser Momente scheint nunmehr das Problem der neuen Wissenschaft und das Schicksal des neuen Erfahrungsbegriffs beschlossen zu sein.

Dennoch ist in dieser Formel, die die Renaissance bevorzugt, nur der subjektive Ausdruck des Gegensatzes gegeben, ist gleichsam nur der  Affekt  beschrieben und festgehalten, in dem sich die neuere Zeit vom Mittelalter loslöst. Die selbständigen, sachlichen Ziele der Forschung jedoch werden durch sie nicht aufgehellt, der systematische Sinn der neuen Fragestellung wird durch sie nicht positiv bestimmt und festgestellt. Denn einmal ist der Reichtum an empirischem Gehalt, der sich aristotelischen Natursystem verdichtet hat, wie auch die Schätzung die dem Faktor der  Erfahrung  im Ganzen der aristotelischen Erkenntnislehre zufällt, unverkennbar: GALILEI und KEPLER selbst sind es, die diesen Umstand hervorheben und die ihn den modernen Peripatetikern entgegengehalten. (6) Sodann aber - und dies ist die entscheidende sachliche Erwägung -: wie wäre es möglich, die "Abstraktion" zu verbannen und von der Grundlegung der Wissenschaft auszuschließen? Ein Blick auf das Ganze von GALILEIs Forschungen lehrt sogleich, daß gerade die Zerlegung komplexer Erscheinungen in ihre Teilbedingungen und die isolierte Verfolgung jeder einzelnen dieser Bedingungen es ist, worauf seine wissenschaftliche Genialität beruth. Das Vermögen der Analyse, das Vermögen der rein gedanklichen  Sonderung  der bestimmenden Momente des konkreten Einzelvorgangs, ist es, was für sein Verfahren charakteristisch ist. Und so wird dann auch hier die "Abstraktion" in einem neuen fruchtbaren Sinn gebraucht und anerkannt. In der Tat ist es lehrreich zu verfolgen, wie die Einwände, die an diesem Punkt gegen das Schulsystem erhoben werden, von ihm aus sofort eine eigenartige  Rückwendung  erfahren. Immer von neuem wird gegen GALILEI der Vorwurf erhoben, daß er in seinem Bemühen, die Natur unter  allgemeinen  Gesetzen und Prinzipien zu begreifen, den  Einzelfall  in seiner Unterschiedenheit und Bestimmtheit vernachlässige. Die Kraft und Eigentümlichkeit des Besonderen werde verkannt, wenn man, wie er, alle denkbaren Fälle der  Bewegung  von Körpern, wenn man den Flug der Vögel, wie das Schwimmen der Fische, die Fortbewegung der "einfachen" und der "zusammengesetzen" Körper, in eine einzige Formel zusammendrängen wolle. Sei es doch eben das Auszeichnende der  physikalischen  Betrachtungsweise, daß sie von diesen Unterschieden nicht absehen kann, daß sie schon vermöge ihrer ersten  Fragestellung  an sie gebunden und auf sie angewiesen bleibt. Die wahre Aufgabe der physikalischen Induktion, so betonen die Gegner nunmehr, besteht in der getreuen Sammlung und Sichtung des  Einzelnen:  man vermag ihr nicht gerecht zu werden, wenn man die Natur, statt sie durch all ihre Besonderungen hindurch zu verfolgen, in ein System allgemeiner mathematischer Beziehungen und -  Abstraktionen  auflöst. Jetzt also erscheint der Gegensatz in einem neuen Licht: - denn GALILEI ist es nunmehr, dem man vorhält, daß er die Fülle der empirischen  Wirklichkeit  in einen Zusammenhang bloßer  Begriffe  verwandelt. Während sich im biologischen System des ARISTOTELES die Einheit und der Stufengang der organischen Formen vor uns enthüllte, ist jetzt nur die nackte "mechanische" Gesetzlichkeit zurückgeblieben - während dort die Natur in ihrer individuellen Lebensfülle den Vorwurf bildete, tritt sie uns nunmehr nur in der Leere und Allgemeinheit der mathematischen Formeln entgegen. Man sieht, wie sich die Rollen im Streit unmerklich vertauscht haben wie GALILEI, der davon ausging, der Syllogistik eine neue Ansicht der konkreten Wirklichkeit entgegenzustellen, eben dadurch mit Notwendigkeit zum Verteidiger und Vorkämpfer des wissenschaftlichen Begriffs geworden ist. In dieser Umkehrung deckt sich die Zweideutigkeit auf, die dem alten Begriffsgegensatz des "Allgemeinen" und "Besonderen" anhaftet. Es ist, als sollte sich der mittelalterliche Kampf des Nominalismus und Realismus, die Frage nach der "Wirklichkeit", die unseren universalen Ideen und Grundsätzen zukommt, hier auf höherer geschichtlicher Stufe nochmals erneuern. In der Tat werden wir noch einmal in den systematischen Mittelpunkt dieses Problems zurückversetzt; zugleich aber sehen wir von ihm aus den neuen Gesichtspunkt entstehen, der dazu bestimmt ist, den Streit zum Austrag zu bringen. -

Eins freilich müssen wir uns hier von Anfang an gegenwärtig halten: daß GALILEI, so sehr er eine neue Methode der Erkenntnis handhabt und zur Anwendung bringt, selbst kein Systematiker der Philosophie und Erkenntnistheorie ist. Die durchgängige Übereinstimmung zwischen Mathematik und Natur, die  Harmonie  zwischen dem Gedanken und der Wirklichkeit steht ihm, vor aller philosophischen Reflexion, als subjektive Überzeugung fest. Wir werden sehen, wie diese Grundüberzeugung alle Teile seiner Lehre gleichmäßig durchdringt und innerlich zusammenhält. Aber wenngleich sie sich immer prägnanter ausprägt und fortschreitend entfaltet: nach ihrem Grund und ihrer  Rechtfertigung  wird nicht gefragt. Gerade in der Selbstgewißheit, mit der das wissenschaftliche Denken sich hier erfaßt und bei sich selbst verweilt, liegt das Auszeichnende von GALILEIs Forschung: denn wenn ihr dadurch auf der einen Seite zwar ein Zurückgehen auf die allgemeinsten Fragen der Erkenntniskritik versagt ist, so ist sie andererseits davor bewahrt worden, den Ursprung der wissenschaftlichen Wahrheit aus einem "höheren"  metaphysischen  Prinzip erklären und ableiten zu wollen.

Der Gegensatz zur scholastischen Denkweise findet seine vollendete Darstellung in einer Stelle der "Dialoge über die Weltsysteme", in der die  Anwendbarkeit  der geometrischen Begriffe und Sätze auf die Gegenstände der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung erörtert wird. Der Schulphilosophie, wie sie hier in  Simplicio  verkörpert wird, bietet diese Frage keine Schwierigkeit. Die mathematischen Spitzfindigkeiten mögen, abstrakt genommen, richtig und zutreffend sein; aber es wäre unbillig, für sie eine genaue und exakte Entsprechung in der "sinnlichen und physischen Materie" zu fordern. Daß eine Kugel eine Ebene nur in einem Punkt berührt, trifft zwar in der Theorie, nicht aber in der Welt der Wirklichkeit zu. In der Analyse dieses Satzes geht GALILEI vor allem davon aus, den  Dualismus  zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, der hier vorausgesetzt wird, zu beseitigen. Die  Kugel,  wie die Ebene besitzen keine andere "Existenz", als die Wahrheit und Bestimmtheit, die aus ihren Begriffen fließt; es ist müßig und irreführend, diesem Sein der reinen  Definition  eine andersartige, konkrete Daseinsform entgegenzustellen. Daß ein vorhandenes empirisches Gebilde eine bestimmte Figur "ist", kann nichts anderes besagen, als daß es alle Forderungen und Relationen erfüllt, die im Begriff dieser mathematischen Gestalt zusammengefaßt sind. Die Wissenschaft besteht aus einem System reiner  Bedingungssätze,  deren Geltung von der Frage unabhängig ist, ob es in unserer Wahrnehmungswelt  Subjekte  gibt, auf die die vorausgesetzten Bedingungen zutreffen. Man kann die Existenz solcher Subjekte leugnen, ohne damit die Auffassung vom Charakter und Erkenntniswert der reinen Beziehungen im geringsten zu berühren. Somit ist es freilich möglich, daß einem bestimmten Begriff der mathematischen Theorie kein konkreter Anwendungsfall entspricht: sind aber die Bedingungen, die diese Theorie vorschreibt, an irgendeiner Stelle wahrhaft erfüllt, so gelten die Folgerungen aus ihnen mit derselben Stringenz und Notwendigkeit, gleichviel ob es sich um ideale oder reale, um rein gedachte oder um physisch vorhandene Gegenstände handelt. Die Sicherheit der Schlußfolgerungen, die die reine Theorie entwickelt hat, wird durch das spezielle Anwendungsgebiet nicht eingeschränkt: sie besteht, wenn überhaupt, so für jeden beliebigen Kreis von Objekten, innerhalb dessen sich die betreffenden Beziehungen aufweisen lassen. Es gibt nur eine Form der mathematischen Gewißheit, die vorhanden oder nicht vorhanen sein kann, die aber nicht das eine Mal unbedingt, das andere Mal nur ungefährt und mit gewissen Abschwächungen gilt. Diese Form erleidet keine Veränderung, gleichviel, in welchem Stoff, d. h. in welchem Umkreis physikalischer Probleme und Objekte sie sich darstellt. Und somit ergibt sich jetzt eine neue Fassung der allgemeinen wissenschaftlichen Aufgabe. Das Abstrakte und das Konkrete, die "Theorie" und das "Phänomen" stimmen freilich auf keiner Stufe unserer wissenschaftlichen Erfahrung jemals vollkommen überein. Aber der Grund hierfür ist nicht in irgendeiner ontologischen Differenz ihrer beiden "Naturen" zu suchen, so daß hier ein sachlich unaufhebbarer Widerstreit vorliegen würde: vielmehr ist es gerade die  fortschreitende Aufhebung  dieses Gegensatzes, die das Ziel und den eigentlichen Inhalt aller Erkenntnis ausmacht. Soweit der Gegensatz vorhanden ist, bezeichnet er daher immer nur den  Ansatz  zu neuen Problemen und Forschungen. Die mangelnde Übereinstimmung ist in diesem Fall "weder durch das Abstrakte, noch durch das Konkrete, weder durch die Geometrie, noch durch die Physik verschuldet; sie fällt allein dem  Rechner  zur Last, der die Rechnung nicht richtig anzustellen weiß". (7) Denn Aufgabe der Rechnung ist es, den Zusammenhang, wo er nicht unmittelbar deutlich vorliegt, durch die Einfügung von Mittelgliedern ersichtlich zu machen. Das komplexe Phänomen ist in seiner Gesamtheit freilich für den mathematischen Begriff nicht direkt faßbar; denn die mannigfachen Momente, die es bedingen, sind in der ersten sinnlichen Auffassung nirgends scharf gegeneinander abgegrenzt und können somit auch nicht für sich durch Zahl und Maß bestimmt werden. Erst die gedankliche Zerlegung, die wir an ihm vornehmen, schafft die Handhaben für seine quantitative Erkenntnis. Diese Zerlegung und damit die Verwandlung des empirischen Inhalts in ein System von Größen und Zahlen ist niemals abgeschlossen; aber, soweit sie dringt, teilt sie auch dem physikaliscshen Wissen den gleichen Charakter vollkommener Gewißheit mit, der der  reinen  Mathematik zukommt. Das Ziel der Physik besteht eben darin, die Begriffe, die ihr die Mathematik liefert, in aller Strenge festzuhalten und sie dennoch zugleich für immer weitere Gebiete von Einzeltatsachen fruchtbar zu machen. Mit meisterhafter Klarheit hat GALILEI dieses Doppelverhältnis entwickelt und erläutert. Der Begriff der gleichförmigen Beschleunigung, von dem er ausgeht, ist ihm zunächst nichts anderes als eine "hypothetische Vorausetzung", die nicht unmittelbar auf die "Tatsachen" der Natur bezogen und an ihnen gemessen werden darf, sondern zuvor der Zerlegung und Entfaltung in ihre einzelnen mathematischen Eigentümlichkeiten und Folgerungen bedarf. Erst nachdem dieser deduktive Teil der Aufgabe abgeschlossen ist, und nachdem er zu festen, zahlenmäßigen Beziehungen hingeleitet hat, ist für die Vergleichung des reinen Gesetzes mit dem Beobachtungsinhalt der Boden bereitet, ist das Maß gewonnen, mit dem wir jetzt an die Mannigfaltigkeit des Wahrnehmungsstoffes herantreten können.
    "Zeit die Erfahrung nunmehr, daß solche Eigenschaften, wie wir sie abgeleitet haben, im freien Fall der Naturkörper ihre Bestätigung finden, so können wir ohne Gefahr des Irrtums behaupten, daß die konkrete Fallbewegung  mit derjenigen, die wir definiert und vorausgesetzt haben, identisch ist:  ist dies nicht der Fall, so verlieren doch unsere Beweise, da sie einzig und allein für unsere Voraussetzung gelten wollten, nichts von ihrer Kraft und Schlüssigkeit, - so wenig es den Sätzen des ARCHIMEDES über die Spirale Abbruch tut, daß sich in der Natur kein Körper findet, dem eine spiralförmige Bewegung zukommt." (8)
Die Schroffheit, in der hier die Trennung des Begriffsgehalts von der Beobachtung vertreten wird, erklärt sich aus der polemischen Absicht dieser Sätze. Man begreift jedoch, daß es in erster Linie nicht auf die  Loslösung  der Begriffe, sondern auf ihre innigere Durchdringung mit dem Wahrnehmungsstoff abgesehen ist, eine Durchdringung, die jedoch nur dann erreicht werden kann, wenn die Begriffe rein aus sich selbst und unabhängig zu immer spezielleren Folgerungen fortgeführt worden sind. Bis in die astronomische Einzelforschung hinein hat GALILEI diesen Grundgedanken seiner Wissenschaft festgehalten: wie KEPLER verlangt er auch hier, daß der konkreten Beobachtung durch eine Frage des Denkens vorgearbeitet und die Richtung gewiesen wird. (9)

Schritt für Schritt entfaltet sich nunmehr der Inbegriff der hypothetischen Setzungen, die uns im stetigen Fortgang zum konkreten Sein der Dinge hinleiten sollen. Die "sinnliche und physische  Materie"  galt bisher als das Hemmnis, das der Ausprägung der reinen Mathematik in der empirischen Wirklichkeit entgegensteht. Sie erscheint somit als eine eigene metaphysische Potenz, die dem reinen Gedanken entgegenwirkt, als ein Zwang, dem der Begriff sich zu fügen hat. Es ist die alte aristotelische Entgegensetzung: alle Erkenntnis wird ihrem Inhalt und Ursprung nach durch die Allgemeinheit der "Form" erschaffen und gewährleistet, während die Materie ansich das schlechthin Unerkennbare bezeichnet. Die Lösung dieses Widerstreits kann nach den allgemeinen Grundsätzen GALILEIs nur in  einer  Richtung versucht werden: die Materie, die hier zum eigenen, unabhängigen Sein hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] ist, muß wiederum dem stetigen Zusammenhang der Prinzipien eingeordnet und aus ihm entwickelt werden. Sie darf nicht länger bloß die  Grenze  bezeichnen, bis zu welcher der reine Begriff vorzudringen vermag, sondern muß zu einem integrierenden  Bestandteil  des Begriffssystems selbst werden. Wir sahen, wie KEPLER bereits mit diesem Gedanken rang und wie er in ihm die Abgrenzung seiner Lehre von der Naturphilosophie zu vollziehen suchte. Die Entwicklung, der er zustrebt, vollendet sich jetzt klar und mühelos. Denn die "Form", die GALILEI als Musterbild vor Augen steht, ist nicht die ontologische, sondern lediglich die mathematische Form. Die Bewältigung des Gegenstandes durch sie ist also überall dort verbürgt und gesichert, wo dieser Gegenstand selbst den Charakter der vollkommenen  geometrischen Bestimmbarkeit  trägt. Eben diese Forderung aber wird durch den Begriff der Materie, wie die neue Physik ihn faßt, vollständig erfüllt: denn er bezeichnet den völlig  homogenen  Stoff, in welchem alle qualitativen Unterschiede, wie sie die sinnliche Empfindung darbietet, aufgehoben und lediglich jene Momente, die der quantitativen Vergleichung und Messung unterliegen, zurückbehalten sind. Der Begriff der Materie bildet somit nicht mehr, wie bisher, den Gegensatz, sondern das Korrelat zum Begriff der gedanklichen  Notwendigkeit.  Er wird zum unentbehrlichen Mittelglied in dem Prozeß, kraft dessen wir das Mannigfaltige der Wahrnehmung in die Form des physikalischen Begriffs umsetzen. In diesem Sinne gehört er selbst durchaus der wissenschaftlichen  Vernunft  an, der er ein neues Gebiet von Objekten und Problemen aufwirft. Identität und Unveränderlichkeit sind die wesentlichen objektiven Merkmale, die wir der Materie als solcher zuzuschreiben pflegen: eben diese Merkmale aber enthalten zugleich die Gewähr dafür, daß von ihr ein vollkommenes, dem mathematischen vergleichbares  Wissen  zu erreichen ist (10).

An diesem Punkt läßt sich der genaue Zusammenhang aufweisen, der GALILEI mit der antiken Spekulation verbindet. Die gedankliche Verwandtschaft GALILEIs mit DEMOKRIT ist mit Recht hervorgehoben worden (11): aber sie erweist sich nicht sowohl in seiner  Atomistik,  die, so interessant und problemreich sie ist, im Ganzen des wissenschaftlichen Systems doch nur ein Außenwerk bleibt, als vielmehr in den  logischen  Fundamenten seiner Physik. Der antike Materialismus ist geschichtlich nicht direkt aus der physikalischen Beobachtung, sondern aus dialektischen Problemen und Erfordernissen herausgewachsen. Es ist der eleatische Gegensatz des Einen und Vielen, des Denkens und der Sinneswahrnehmung, der in ihm zugleich geschärft und geschlichtet werden sollte. Die Forderung des reinen Begriffs, der Anspruch der strengen unveränderlichen  Identität  war fixiert: nun galt es, sofern eine  Wissenschaft  der Phänomene möglich sein sollte, die Erscheinungen derart zu bestimmen und zu deuten, daß sich in ihnen selber ein Ewiges und Unwandelbares darstellte und heraushob. Es ist dieselbe Aufgabe, wenn auch in unvergleichlich größerer Eindringlichkeit und Bestimmtheit gefaßt, mit der GALILEIs Denken einsetzt. Auch für ihn steht das allgemeine platonische  Ideal  des Begreifens fest: Wissenschaft ist nur von dem möglich, was sich in dauernder Einheit erhält (12). Aber wenn dieser Gedanke für PLATON einzig und allein in der Mathematik seine volle Bewährung fand, so wird jetzt die Forderung unmittelbar und strenger auf die physischen Objekte gerichtet. Diese Weiterführung aber wird sogleich verständlich, wenn man die Art erwägt, in der GALILEI zu seinem  Begriff  der Natur vorgedrungen ist. In ihm ist nicht eine Mehrheit beliebig zusammengeraffter Tatsachen und Beobachungen zu äußerlicher Einheit verknüpft, sondern eine strenge Abgrenzung und Bestimmung des Erfahrungsstoffes nach  Kriterien  der Geometrie getroffen. Zur Natur, im echten wissenschaftlichen Sinn des Wortes, gehören nur "die wahren und notwendigen Dinge, die sich unmöglich anders verhalten können" (13). In den Fragen der Jurisprudenz oder der Staatskunst oder in jeder anderen Wissenschaft, die von wandelbaren und willkürlichen  Satzungen  handelt, mag es hingehen, sich bloß  wahrscheinlichen  Argumenten zu überlassen. Die Physik dagegen, die von einem festen und bleibenden, durch menschliche Willkür nicht zu verändernden Gegenstand handelt, darf sich nur auf eindeutigen und zwingenden Beweisgründen aufbauen (14). Der physikalischen Induktion, wie GALILEI sie versteht, ist daher von Anfang an das Ziel gesetzt, die mathematisch-demonstrative Ableitung der Erscheinungen auseinander vorzubereiten und ihr den Weg zu weisen. Solange diese Ableitung nicht erreicht ist, solange besitzen wir noch keine Gewähr dafür, daß wir uns im Gebiet des wahrhaften  Seins nicht in einer erdichteten Fabelwelt, bewegen (15). Der aristotelische Satz, daß man in den natürlichen Dingen keine Beweise von mathematischer Strenge suchen und fordern muß, ist GALILEI daher innerlich unverständlich: er weiß und spricht es aus, daß mit ihm das eigentliche Problem seiner Forschung zur Chimäre würde. Lediglich durch den Mittelbegriff der geometrischen Verknüpfung hindurch gelangt er zum Gedanken der strengen kausalen Bedingtheit der Erscheinungen, und lediglich diese Bedingtheit ist es, der er den Namen der "Natur" beilegt.

Es sind nur die ersten begrifflichen  Ansätze  der Problemstellung GALILEIs, die uns in den bisherigen Erwägungen entgegentraten: aber auch sie enthalten im Keim bereits fundamentale empirische Ergebnisse und Folgerungen in sich. So ist z. B. die Lehre von der  Subjektivität der sinnlichen Qualitäten  in den vorangehenden Begriffsentwicklungen unmittelbar enthalten und mitgesetzt; nicht als abgeleitetes Resultat wird sie erreicht, sondern die ursprüngliche Abgrenzung und  Definition  des Forschungsgebietes selbst ist es, aus der sie herfließt. Diese Lehre wird daher von GALILEI nicht in erster Linie auf bestimmte physiologische Einzeltatsachen gestützt; vielmehr werden diese Tatsachen, soweit sie herangezogen werden, ausdrücklich nur als  Beispiele  für die vorangehenden allgemeinen methodischen Erwägungen benutzt und bezeichnet. Die sinnlichen Merkmale der Farbe und des Tones, die sich je nach der Beschaffenheit des aufnehmenden Organs ins Unbegrenzte wandelbar erweisen, können nicht dem Gebiet des "wahrhaften" Seins angehören, das als ein Inbegriff "ewiger und notwendiger" Beschaffenheiten und Merkmale zu denken ist. Es ist eine erborgte und erdichtete Realität, die ihnen zukommt - eine Realität, die sich unter der scharfen und durchgeführten Analyse des  Gedankens  in Nichts auflösen muß. So übernimmt GALILEI auch diesen Satz durchaus in dem Sinne, in dem er bei DEMOKRIT gebrauch und angelegt war. Die Materie oder die körperliche Substanz läßt sich nicht  begreifen,  ohne in ihr zugleich die Merkmale der  Begrenzung,  der räumlichen  Gestalt  und der  Größe  mitzudenken, ohne sie ferner, sofern sie in individueller Bestimmtheit aufgefaßt werden soll, nach ihrer örtlichen und zeitlichen Lage, sowie nach ihrem Bewegungszustand als determiniert anzusehen. Alle diese Gesichtspunkte, die sich unter den Grundkategorien der  Zahl,  der  Zeit  und des  Raumes  zusammenfassen lassen, gehören somit notwendig ihrem Begriff an, von dem sie sich durch keine Anstrengung der subjektiven "Einbildungskraft" loslösen lassen. Ob sie dagegen rot oder weiß, bitter oder süß, tönend oder stumm, wohl oder übelriechend ist, ist für die Bestimmung ihres Wesens ohne Belang; alle diese Beschaffenheiten bezeichnen lediglich wechselnde  Zustände,  nicht  Bedingungen,  an die der gedankliche Vollzug des Begriffs gebunden wäre. Verstand und Vorstellungsvermögen (il discorso o l'immaginazione) vermögen für sich allein niemals zu dieser zweiten Gattung von Merkmalen hinzuführen; nur die direkte sinnliche Wahrnehmung ist es, die uns ihrer versichern kann. Damit aber ist erwiesen, daß jene Qualitäten aus dem objektiven Bild der Wirklichkeit auszuschalten sind, daß sie nicht mehr als bloße "Namen" sind und nirgends anders, als im empfindenden Körper ihren Bestand haben. Man denke sich die lebenden Wesen und ihre Organe aufgehoben: und die Welt der sinnlichen Eigenschaften wäre gleichzeitig vernichtet (16). Man muß sich, um sich der radikalen Schärfe dieser Folgerung ganz bewußt zu werden, in den Ausgangspunkt der Untersuchung zurückversetzen. Wir sahen, wie die Wissenschaft der neueren Zeit damit begann, gegenüber einem physikalischen Weltbild, das in ontologischen Gegensätzen und Unterscheidungen wurzelte, auf den Urquell der  Sinneserfahrung  zurückzuweisen; wie sie damit dasjenige, was bisher als festes und erschöpfendes System von  Begriffen  galt, zu einer bloßen Sammlung von "Namen" herabsetzte. Die sinnliche Empfindung selbst aber führte, je schärfer und klarer die Aufgabe, die sie in sich enthält, gefaßt wurde, zu der Forderung der mathematischen Analyse zurück, in der der Begriff nunmehr ein neues Sein und eine neue Verkörperung fand. Indem dieser neue Gesichtspunkt entsteht und sich fortschreitend vertieft, bildet sich damit zugleich innerhalb des bisherigen Gegensatzes eine völlige  Umkehrung  heraus: denn jetzt ist es, wie man sieht, die einzelne  Wahrnehmung die, sofern sie sich nicht auf eine reine quantitative Bestimmtheit zurückführen und in ihr beglaubigen läßt, als willkürlicher "Name" gilt. Der echte  Gegenstand  der Natur wird erst gewonnen, wenn wir im Wandel und Wechsel unserer Wahrnehmungen selbst die notwendigen und allgemeingültigen Regeln festzuhalten lernen. Es ist besonders bezeichnend, daß GALILEI für die wissenschaftliche Konstituierung der Materie nicht nur auf Farbe und Ton, sondern zugleich auf die Tast- und  Widerstandsempfindung  ausdrücklich Verzicht leistet, daß ihm somit die  Schwere,  so wesentlich und unentbehrlich sie als empirische Eigenschaft ist, dennoch nicht in den  Begriff  des Körpers eingeht. Ja, es scheint, als solle durch die Reduktion auf Größe und Gestalt auch der physikalische Gesichtspunkt der "Masse" ausgeschaltet werden, wie es später bei DESCARTES der Fall sein wird. Man begreift diese Beschränkung jedoch aus dem logischen Interesse, das an dieser Stelle vorwaltet: die Realität des Körpters ist allein aus der  Mathematik  zu bestimmen, die hier noch wesentlich mit der  Geometrie  zusammenfällt. Der physikalische Körperbegriff hat sich bei GALILEI allmählich und im selben Maß entwickelt, wie die Mathematik bei ihm den Übergang von ihrer antiken Gestalt zur modernen Form der  Analysis  vollzog.

Der Fortschritt, der hier auf dem Weg zur Bestimmung des  konkreten  Inhalts erreicht ist, bewährt sich in einer Folgerung, die sich direkt aus den bisherigen Prämissen ableitet: mit dem Begriff der Materie, den GALILEI zugrunde legt, ist zugleich der Gedanke der  Erhaltung des Stoffs  gegeben. Indem wir den Wechsel und die Veränderlichkeit, die den subjektiven Inhalten der Wahrnehmung zukommt, vom "realen" Gegenstand der Natur ausgeschlossen denken, haben wir diesen damit als  beharrende  identische Einheit fixiert. Ein  absolutes  Entstehen und Vergehen würde einen unmittelbaren Gegensatz zu demjenigen  Weltbegriff  in sich schließen, den der Verstand aus sich selbst entdeckt und entwirft. Eine wahrhafte "substantielle Umwandlung", bei der ein Stoff sich derart umformt, daß er als völlig vernichtet gelten muß, ist ein unvollziehbarer Gedanke. Es ist charakteristisch, wenn in den Dialogen über die beiden Weltsysteme der aristotelische Gegner GALILEIs sich zur Widerlegung dieses Satzes auf den unmittelbaren Sinnenschein beruft: denn sehen wir nicht täglich Kräuter, Pflanzen und Tiere vor unseren Augen entstehen und vergehen, sehen wir nicht, wie die Gegensätze beständig miteinander ringen, wie die Erde sich in Wasser, das Wasser in Luft verwandelt und diese sich wieder zu Wolken, Regen und Gewitter verdichtet? Solche  offenkundigen Tatsachen  leugnen, heißt die  Prinzipien der Wissenschaft  selbst und damit die Möglichkeit jeder Beweisführung aufheben (17). Für einen "Empirismus" dieser Art hat GALILEI gemäß dem neuen Begriff der Erfahrung, der sich bei ihm entwickelt hat, kein Verständnis und keine Duldung mehr. Nicht alles, was sich auf das angebliche Zeugnis einer unmittelbaren Beobachtung stützt, gilt ihm als Faktum im Sinne der Wissenschaft. Erst die systematische Verknüpfung und die Übereinstimmung mit der Allheit der Phänoeme entscheidet über den Wert einer einzelnen "Tatsache": um aber diese Übereinstimmung zu prüfen, müssen wir den besonderen Fall mit allgemeinen systematischen Grundsätzen zusammenhalten. Durch die Beziehung auf solche  Kriterien,  wie z. B. auf das Gesetz der Erhaltung der Materie, wird ein Prozeß, der sich für die  Wahrnehmung  als absolute Schöpfung und Vernichtung darstellt, für das  Urteil  zu einer bloßen relativen Verschiebung von Teilen innerhalb der homogenen Gesamtheit des Stoffes. Wir wissen durch GALILEIs eigenes Zeugnis, daß die Richtung des Denkens, die hier geschildert ist, auch bei der Entdeckung des Grundfaktums seiner Wissenschaft, bei der Entdeckung der Fallgesetze, eingehalten worden ist (18).
LITERATUR - Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 1, Berlin 1922
    Anmerkungen
    1) Kepleri Dissertatio cum Nuntio Sidereo nuper ad mortales misso a Galilaeo Galilaeo (1610), Op. II, 490. - Keplers Briefwechsel mit Galilei, Op. II, Seite 454f.
    2) So wiederholen KEPLER wie GALILEI den Satz des ALKINOUS, der - nach dem Bericht des RHAETICUS - der Wahlspruch des KOPERNIKUS war:  dei eleutherion einai te gnose ton mellonta philosophein  [Die Freiheit zu wissen ist die Zukunft des Philosophierens. - wp]. (KEPLER, Op. II, 485; GALILEI, Opere, ed. ABLBÉRI, XII, Seite 11) - Vgl. ferner zur Übereinstimmung der Motive, Seite 349, Anm. 1 und Seite 381 Anm. 1.
    3) KEPLER, Op. VII, Seite 290
    4) vgl. die höchst bezeichnende Schilderung, die PAOLO GUALDO in einem Brief an GALILEI vom 6. Mai 1611 von einer Unterredung mit CREMONINI, dem berühmten Aristoteliker der Universität Padua, entwirft. Siehe Opere di Galilei, Supplemento, Florenz 1856, Seite 49f. - Über CREMONINI und sein Verhältnis zu GALILEI siehe FAVARO, Galileo Galilei e lo studio di Padova, Florenz 1883, Bd. II, Seite 36f.
    5) siehe z. B. GILBERT, Philos. nova, Bd. 1, Seite 55
    6) KEPLER, De Stella nova in pede Serpentarii, 1606, Op. II, Seite 693f. - Wörtlich übereinstimmend: GALILEI, Lettere intorno alle macchie solari, Opere III, 1612, Seite 422.
    7) Dialogo dei massimi sistemi; Gironata seconda, Op. I, Seite 224f
    8) An CARCAVILLE (5. Juni 1637) Opere VII, Seite 156f. Siehe ferner "Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze", Giorn. terze, Op. XIII, Seite 154f. - Vgl. de PORTU, Galileis Begriff der Wissenschaft, Marburg 1904, Seite 28f
    9) Vgl. GALILEI an KEPLER (Kepler, Op. II, Seite 464)
    10) Discorsi I.; Op. XIII, Seite 7
    11) Zum Verhältnis GALILEIs zu DEMOKRIT siehe NATORP, Galilei als Philosoph, Philosophische Monatshefte, 1882 und LÖWENHEIM, Der Einfluß Demokrits auf Galilei, Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. VII, 1894.
    12) Dialogo, Vierter Tag, Op. I, Seite 497.
    13) Vgl. Dialog, Zweiter Tag, Op. I, Seite 174f.
    14) Dialog, Erster Tag, Op. I, Seite 61f; vgl. Dritter Tag, Op. I, Seite 439f.
    15) Vgl. Il Saggiatore, Op. IV, Seite 174, 258 und öfter.
    16) Il Saggiatore; Opere IV, Seite 333f.
    17) Dialog I; Op. I, Seite 48
    18) vgl. zum Beispiel Postille alle Esercitazioni di Ant. Rocco. Op. II, Seite 315f.