A. RiehlR. HönigswaldK. LewinC. PrantlP. Natorp | ||||
Galilei
Diese Gemeinsamkeit bewährt sich zunächst in negativer Richtung in der Stellung, die KEPLER sowohl wie GALILEI zum herrschenden Schulsystem einnehmen. Es ist literarisch interessant zu verfolgen, wie beide sich gegenseitig die Waffen schmieden und darreichen, mit denen sie die Überlieferung bekämpfen: wie hier ein bezeichnendes Argument, das der eine prägt, vom anderen aufgegriffen und weitergeführt wird, wie dort eine epigrammatische Wendung des einen noch nach Jahren in den Schriften des andern fortklingt und nachwirkt. In solchen Zusammenhängen enthüllt sich uns gleichsam die Stilgeschichte der neueren Wissenschaft (2). Einig sind beide vor allem im Streit gegen die Syllogistik und ihren Geltungsanspruch.
Dennoch ist in dieser Formel, die die Renaissance bevorzugt, nur der subjektive Ausdruck des Gegensatzes gegeben, ist gleichsam nur der Affekt beschrieben und festgehalten, in dem sich die neuere Zeit vom Mittelalter loslöst. Die selbständigen, sachlichen Ziele der Forschung jedoch werden durch sie nicht aufgehellt, der systematische Sinn der neuen Fragestellung wird durch sie nicht positiv bestimmt und festgestellt. Denn einmal ist der Reichtum an empirischem Gehalt, der sich aristotelischen Natursystem verdichtet hat, wie auch die Schätzung die dem Faktor der Erfahrung im Ganzen der aristotelischen Erkenntnislehre zufällt, unverkennbar: GALILEI und KEPLER selbst sind es, die diesen Umstand hervorheben und die ihn den modernen Peripatetikern entgegengehalten. (6) Sodann aber - und dies ist die entscheidende sachliche Erwägung -: wie wäre es möglich, die "Abstraktion" zu verbannen und von der Grundlegung der Wissenschaft auszuschließen? Ein Blick auf das Ganze von GALILEIs Forschungen lehrt sogleich, daß gerade die Zerlegung komplexer Erscheinungen in ihre Teilbedingungen und die isolierte Verfolgung jeder einzelnen dieser Bedingungen es ist, worauf seine wissenschaftliche Genialität beruth. Das Vermögen der Analyse, das Vermögen der rein gedanklichen Sonderung der bestimmenden Momente des konkreten Einzelvorgangs, ist es, was für sein Verfahren charakteristisch ist. Und so wird dann auch hier die "Abstraktion" in einem neuen fruchtbaren Sinn gebraucht und anerkannt. In der Tat ist es lehrreich zu verfolgen, wie die Einwände, die an diesem Punkt gegen das Schulsystem erhoben werden, von ihm aus sofort eine eigenartige Rückwendung erfahren. Immer von neuem wird gegen GALILEI der Vorwurf erhoben, daß er in seinem Bemühen, die Natur unter allgemeinen Gesetzen und Prinzipien zu begreifen, den Einzelfall in seiner Unterschiedenheit und Bestimmtheit vernachlässige. Die Kraft und Eigentümlichkeit des Besonderen werde verkannt, wenn man, wie er, alle denkbaren Fälle der Bewegung von Körpern, wenn man den Flug der Vögel, wie das Schwimmen der Fische, die Fortbewegung der "einfachen" und der "zusammengesetzen" Körper, in eine einzige Formel zusammendrängen wolle. Sei es doch eben das Auszeichnende der physikalischen Betrachtungsweise, daß sie von diesen Unterschieden nicht absehen kann, daß sie schon vermöge ihrer ersten Fragestellung an sie gebunden und auf sie angewiesen bleibt. Die wahre Aufgabe der physikalischen Induktion, so betonen die Gegner nunmehr, besteht in der getreuen Sammlung und Sichtung des Einzelnen: man vermag ihr nicht gerecht zu werden, wenn man die Natur, statt sie durch all ihre Besonderungen hindurch zu verfolgen, in ein System allgemeiner mathematischer Beziehungen und - Abstraktionen auflöst. Jetzt also erscheint der Gegensatz in einem neuen Licht: - denn GALILEI ist es nunmehr, dem man vorhält, daß er die Fülle der empirischen Wirklichkeit in einen Zusammenhang bloßer Begriffe verwandelt. Während sich im biologischen System des ARISTOTELES die Einheit und der Stufengang der organischen Formen vor uns enthüllte, ist jetzt nur die nackte "mechanische" Gesetzlichkeit zurückgeblieben - während dort die Natur in ihrer individuellen Lebensfülle den Vorwurf bildete, tritt sie uns nunmehr nur in der Leere und Allgemeinheit der mathematischen Formeln entgegen. Man sieht, wie sich die Rollen im Streit unmerklich vertauscht haben wie GALILEI, der davon ausging, der Syllogistik eine neue Ansicht der konkreten Wirklichkeit entgegenzustellen, eben dadurch mit Notwendigkeit zum Verteidiger und Vorkämpfer des wissenschaftlichen Begriffs geworden ist. In dieser Umkehrung deckt sich die Zweideutigkeit auf, die dem alten Begriffsgegensatz des "Allgemeinen" und "Besonderen" anhaftet. Es ist, als sollte sich der mittelalterliche Kampf des Nominalismus und Realismus, die Frage nach der "Wirklichkeit", die unseren universalen Ideen und Grundsätzen zukommt, hier auf höherer geschichtlicher Stufe nochmals erneuern. In der Tat werden wir noch einmal in den systematischen Mittelpunkt dieses Problems zurückversetzt; zugleich aber sehen wir von ihm aus den neuen Gesichtspunkt entstehen, der dazu bestimmt ist, den Streit zum Austrag zu bringen. - Eins freilich müssen wir uns hier von Anfang an gegenwärtig halten: daß GALILEI, so sehr er eine neue Methode der Erkenntnis handhabt und zur Anwendung bringt, selbst kein Systematiker der Philosophie und Erkenntnistheorie ist. Die durchgängige Übereinstimmung zwischen Mathematik und Natur, die Harmonie zwischen dem Gedanken und der Wirklichkeit steht ihm, vor aller philosophischen Reflexion, als subjektive Überzeugung fest. Wir werden sehen, wie diese Grundüberzeugung alle Teile seiner Lehre gleichmäßig durchdringt und innerlich zusammenhält. Aber wenngleich sie sich immer prägnanter ausprägt und fortschreitend entfaltet: nach ihrem Grund und ihrer Rechtfertigung wird nicht gefragt. Gerade in der Selbstgewißheit, mit der das wissenschaftliche Denken sich hier erfaßt und bei sich selbst verweilt, liegt das Auszeichnende von GALILEIs Forschung: denn wenn ihr dadurch auf der einen Seite zwar ein Zurückgehen auf die allgemeinsten Fragen der Erkenntniskritik versagt ist, so ist sie andererseits davor bewahrt worden, den Ursprung der wissenschaftlichen Wahrheit aus einem "höheren" metaphysischen Prinzip erklären und ableiten zu wollen. Der Gegensatz zur scholastischen Denkweise findet seine vollendete Darstellung in einer Stelle der "Dialoge über die Weltsysteme", in der die Anwendbarkeit der geometrischen Begriffe und Sätze auf die Gegenstände der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung erörtert wird. Der Schulphilosophie, wie sie hier in Simplicio verkörpert wird, bietet diese Frage keine Schwierigkeit. Die mathematischen Spitzfindigkeiten mögen, abstrakt genommen, richtig und zutreffend sein; aber es wäre unbillig, für sie eine genaue und exakte Entsprechung in der "sinnlichen und physischen Materie" zu fordern. Daß eine Kugel eine Ebene nur in einem Punkt berührt, trifft zwar in der Theorie, nicht aber in der Welt der Wirklichkeit zu. In der Analyse dieses Satzes geht GALILEI vor allem davon aus, den Dualismus zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, der hier vorausgesetzt wird, zu beseitigen. Die Kugel, wie die Ebene besitzen keine andere "Existenz", als die Wahrheit und Bestimmtheit, die aus ihren Begriffen fließt; es ist müßig und irreführend, diesem Sein der reinen Definition eine andersartige, konkrete Daseinsform entgegenzustellen. Daß ein vorhandenes empirisches Gebilde eine bestimmte Figur "ist", kann nichts anderes besagen, als daß es alle Forderungen und Relationen erfüllt, die im Begriff dieser mathematischen Gestalt zusammengefaßt sind. Die Wissenschaft besteht aus einem System reiner Bedingungssätze, deren Geltung von der Frage unabhängig ist, ob es in unserer Wahrnehmungswelt Subjekte gibt, auf die die vorausgesetzten Bedingungen zutreffen. Man kann die Existenz solcher Subjekte leugnen, ohne damit die Auffassung vom Charakter und Erkenntniswert der reinen Beziehungen im geringsten zu berühren. Somit ist es freilich möglich, daß einem bestimmten Begriff der mathematischen Theorie kein konkreter Anwendungsfall entspricht: sind aber die Bedingungen, die diese Theorie vorschreibt, an irgendeiner Stelle wahrhaft erfüllt, so gelten die Folgerungen aus ihnen mit derselben Stringenz und Notwendigkeit, gleichviel ob es sich um ideale oder reale, um rein gedachte oder um physisch vorhandene Gegenstände handelt. Die Sicherheit der Schlußfolgerungen, die die reine Theorie entwickelt hat, wird durch das spezielle Anwendungsgebiet nicht eingeschränkt: sie besteht, wenn überhaupt, so für jeden beliebigen Kreis von Objekten, innerhalb dessen sich die betreffenden Beziehungen aufweisen lassen. Es gibt nur eine Form der mathematischen Gewißheit, die vorhanden oder nicht vorhanen sein kann, die aber nicht das eine Mal unbedingt, das andere Mal nur ungefährt und mit gewissen Abschwächungen gilt. Diese Form erleidet keine Veränderung, gleichviel, in welchem Stoff, d. h. in welchem Umkreis physikalischer Probleme und Objekte sie sich darstellt. Und somit ergibt sich jetzt eine neue Fassung der allgemeinen wissenschaftlichen Aufgabe. Das Abstrakte und das Konkrete, die "Theorie" und das "Phänomen" stimmen freilich auf keiner Stufe unserer wissenschaftlichen Erfahrung jemals vollkommen überein. Aber der Grund hierfür ist nicht in irgendeiner ontologischen Differenz ihrer beiden "Naturen" zu suchen, so daß hier ein sachlich unaufhebbarer Widerstreit vorliegen würde: vielmehr ist es gerade die fortschreitende Aufhebung dieses Gegensatzes, die das Ziel und den eigentlichen Inhalt aller Erkenntnis ausmacht. Soweit der Gegensatz vorhanden ist, bezeichnet er daher immer nur den Ansatz zu neuen Problemen und Forschungen. Die mangelnde Übereinstimmung ist in diesem Fall "weder durch das Abstrakte, noch durch das Konkrete, weder durch die Geometrie, noch durch die Physik verschuldet; sie fällt allein dem Rechner zur Last, der die Rechnung nicht richtig anzustellen weiß". (7) Denn Aufgabe der Rechnung ist es, den Zusammenhang, wo er nicht unmittelbar deutlich vorliegt, durch die Einfügung von Mittelgliedern ersichtlich zu machen. Das komplexe Phänomen ist in seiner Gesamtheit freilich für den mathematischen Begriff nicht direkt faßbar; denn die mannigfachen Momente, die es bedingen, sind in der ersten sinnlichen Auffassung nirgends scharf gegeneinander abgegrenzt und können somit auch nicht für sich durch Zahl und Maß bestimmt werden. Erst die gedankliche Zerlegung, die wir an ihm vornehmen, schafft die Handhaben für seine quantitative Erkenntnis. Diese Zerlegung und damit die Verwandlung des empirischen Inhalts in ein System von Größen und Zahlen ist niemals abgeschlossen; aber, soweit sie dringt, teilt sie auch dem physikaliscshen Wissen den gleichen Charakter vollkommener Gewißheit mit, der der reinen Mathematik zukommt. Das Ziel der Physik besteht eben darin, die Begriffe, die ihr die Mathematik liefert, in aller Strenge festzuhalten und sie dennoch zugleich für immer weitere Gebiete von Einzeltatsachen fruchtbar zu machen. Mit meisterhafter Klarheit hat GALILEI dieses Doppelverhältnis entwickelt und erläutert. Der Begriff der gleichförmigen Beschleunigung, von dem er ausgeht, ist ihm zunächst nichts anderes als eine "hypothetische Vorausetzung", die nicht unmittelbar auf die "Tatsachen" der Natur bezogen und an ihnen gemessen werden darf, sondern zuvor der Zerlegung und Entfaltung in ihre einzelnen mathematischen Eigentümlichkeiten und Folgerungen bedarf. Erst nachdem dieser deduktive Teil der Aufgabe abgeschlossen ist, und nachdem er zu festen, zahlenmäßigen Beziehungen hingeleitet hat, ist für die Vergleichung des reinen Gesetzes mit dem Beobachtungsinhalt der Boden bereitet, ist das Maß gewonnen, mit dem wir jetzt an die Mannigfaltigkeit des Wahrnehmungsstoffes herantreten können.
Schritt für Schritt entfaltet sich nunmehr der Inbegriff der hypothetischen Setzungen, die uns im stetigen Fortgang zum konkreten Sein der Dinge hinleiten sollen. Die "sinnliche und physische Materie" galt bisher als das Hemmnis, das der Ausprägung der reinen Mathematik in der empirischen Wirklichkeit entgegensteht. Sie erscheint somit als eine eigene metaphysische Potenz, die dem reinen Gedanken entgegenwirkt, als ein Zwang, dem der Begriff sich zu fügen hat. Es ist die alte aristotelische Entgegensetzung: alle Erkenntnis wird ihrem Inhalt und Ursprung nach durch die Allgemeinheit der "Form" erschaffen und gewährleistet, während die Materie ansich das schlechthin Unerkennbare bezeichnet. Die Lösung dieses Widerstreits kann nach den allgemeinen Grundsätzen GALILEIs nur in einer Richtung versucht werden: die Materie, die hier zum eigenen, unabhängigen Sein hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] ist, muß wiederum dem stetigen Zusammenhang der Prinzipien eingeordnet und aus ihm entwickelt werden. Sie darf nicht länger bloß die Grenze bezeichnen, bis zu welcher der reine Begriff vorzudringen vermag, sondern muß zu einem integrierenden Bestandteil des Begriffssystems selbst werden. Wir sahen, wie KEPLER bereits mit diesem Gedanken rang und wie er in ihm die Abgrenzung seiner Lehre von der Naturphilosophie zu vollziehen suchte. Die Entwicklung, der er zustrebt, vollendet sich jetzt klar und mühelos. Denn die "Form", die GALILEI als Musterbild vor Augen steht, ist nicht die ontologische, sondern lediglich die mathematische Form. Die Bewältigung des Gegenstandes durch sie ist also überall dort verbürgt und gesichert, wo dieser Gegenstand selbst den Charakter der vollkommenen geometrischen Bestimmbarkeit trägt. Eben diese Forderung aber wird durch den Begriff der Materie, wie die neue Physik ihn faßt, vollständig erfüllt: denn er bezeichnet den völlig homogenen Stoff, in welchem alle qualitativen Unterschiede, wie sie die sinnliche Empfindung darbietet, aufgehoben und lediglich jene Momente, die der quantitativen Vergleichung und Messung unterliegen, zurückbehalten sind. Der Begriff der Materie bildet somit nicht mehr, wie bisher, den Gegensatz, sondern das Korrelat zum Begriff der gedanklichen Notwendigkeit. Er wird zum unentbehrlichen Mittelglied in dem Prozeß, kraft dessen wir das Mannigfaltige der Wahrnehmung in die Form des physikalischen Begriffs umsetzen. In diesem Sinne gehört er selbst durchaus der wissenschaftlichen Vernunft an, der er ein neues Gebiet von Objekten und Problemen aufwirft. Identität und Unveränderlichkeit sind die wesentlichen objektiven Merkmale, die wir der Materie als solcher zuzuschreiben pflegen: eben diese Merkmale aber enthalten zugleich die Gewähr dafür, daß von ihr ein vollkommenes, dem mathematischen vergleichbares Wissen zu erreichen ist (10). An diesem Punkt läßt sich der genaue Zusammenhang aufweisen, der GALILEI mit der antiken Spekulation verbindet. Die gedankliche Verwandtschaft GALILEIs mit DEMOKRIT ist mit Recht hervorgehoben worden (11): aber sie erweist sich nicht sowohl in seiner Atomistik, die, so interessant und problemreich sie ist, im Ganzen des wissenschaftlichen Systems doch nur ein Außenwerk bleibt, als vielmehr in den logischen Fundamenten seiner Physik. Der antike Materialismus ist geschichtlich nicht direkt aus der physikalischen Beobachtung, sondern aus dialektischen Problemen und Erfordernissen herausgewachsen. Es ist der eleatische Gegensatz des Einen und Vielen, des Denkens und der Sinneswahrnehmung, der in ihm zugleich geschärft und geschlichtet werden sollte. Die Forderung des reinen Begriffs, der Anspruch der strengen unveränderlichen Identität war fixiert: nun galt es, sofern eine Wissenschaft der Phänomene möglich sein sollte, die Erscheinungen derart zu bestimmen und zu deuten, daß sich in ihnen selber ein Ewiges und Unwandelbares darstellte und heraushob. Es ist dieselbe Aufgabe, wenn auch in unvergleichlich größerer Eindringlichkeit und Bestimmtheit gefaßt, mit der GALILEIs Denken einsetzt. Auch für ihn steht das allgemeine platonische Ideal des Begreifens fest: Wissenschaft ist nur von dem möglich, was sich in dauernder Einheit erhält (12). Aber wenn dieser Gedanke für PLATON einzig und allein in der Mathematik seine volle Bewährung fand, so wird jetzt die Forderung unmittelbar und strenger auf die physischen Objekte gerichtet. Diese Weiterführung aber wird sogleich verständlich, wenn man die Art erwägt, in der GALILEI zu seinem Begriff der Natur vorgedrungen ist. In ihm ist nicht eine Mehrheit beliebig zusammengeraffter Tatsachen und Beobachungen zu äußerlicher Einheit verknüpft, sondern eine strenge Abgrenzung und Bestimmung des Erfahrungsstoffes nach Kriterien der Geometrie getroffen. Zur Natur, im echten wissenschaftlichen Sinn des Wortes, gehören nur "die wahren und notwendigen Dinge, die sich unmöglich anders verhalten können" (13). In den Fragen der Jurisprudenz oder der Staatskunst oder in jeder anderen Wissenschaft, die von wandelbaren und willkürlichen Satzungen handelt, mag es hingehen, sich bloß wahrscheinlichen Argumenten zu überlassen. Die Physik dagegen, die von einem festen und bleibenden, durch menschliche Willkür nicht zu verändernden Gegenstand handelt, darf sich nur auf eindeutigen und zwingenden Beweisgründen aufbauen (14). Der physikalischen Induktion, wie GALILEI sie versteht, ist daher von Anfang an das Ziel gesetzt, die mathematisch-demonstrative Ableitung der Erscheinungen auseinander vorzubereiten und ihr den Weg zu weisen. Solange diese Ableitung nicht erreicht ist, solange besitzen wir noch keine Gewähr dafür, daß wir uns im Gebiet des wahrhaften Seins, nicht in einer erdichteten Fabelwelt, bewegen (15). Der aristotelische Satz, daß man in den natürlichen Dingen keine Beweise von mathematischer Strenge suchen und fordern muß, ist GALILEI daher innerlich unverständlich: er weiß und spricht es aus, daß mit ihm das eigentliche Problem seiner Forschung zur Chimäre würde. Lediglich durch den Mittelbegriff der geometrischen Verknüpfung hindurch gelangt er zum Gedanken der strengen kausalen Bedingtheit der Erscheinungen, und lediglich diese Bedingtheit ist es, der er den Namen der "Natur" beilegt. Es sind nur die ersten begrifflichen Ansätze der Problemstellung GALILEIs, die uns in den bisherigen Erwägungen entgegentraten: aber auch sie enthalten im Keim bereits fundamentale empirische Ergebnisse und Folgerungen in sich. So ist z. B. die Lehre von der Subjektivität der sinnlichen Qualitäten in den vorangehenden Begriffsentwicklungen unmittelbar enthalten und mitgesetzt; nicht als abgeleitetes Resultat wird sie erreicht, sondern die ursprüngliche Abgrenzung und Definition des Forschungsgebietes selbst ist es, aus der sie herfließt. Diese Lehre wird daher von GALILEI nicht in erster Linie auf bestimmte physiologische Einzeltatsachen gestützt; vielmehr werden diese Tatsachen, soweit sie herangezogen werden, ausdrücklich nur als Beispiele für die vorangehenden allgemeinen methodischen Erwägungen benutzt und bezeichnet. Die sinnlichen Merkmale der Farbe und des Tones, die sich je nach der Beschaffenheit des aufnehmenden Organs ins Unbegrenzte wandelbar erweisen, können nicht dem Gebiet des "wahrhaften" Seins angehören, das als ein Inbegriff "ewiger und notwendiger" Beschaffenheiten und Merkmale zu denken ist. Es ist eine erborgte und erdichtete Realität, die ihnen zukommt - eine Realität, die sich unter der scharfen und durchgeführten Analyse des Gedankens in Nichts auflösen muß. So übernimmt GALILEI auch diesen Satz durchaus in dem Sinne, in dem er bei DEMOKRIT gebrauch und angelegt war. Die Materie oder die körperliche Substanz läßt sich nicht begreifen, ohne in ihr zugleich die Merkmale der Begrenzung, der räumlichen Gestalt und der Größe mitzudenken, ohne sie ferner, sofern sie in individueller Bestimmtheit aufgefaßt werden soll, nach ihrer örtlichen und zeitlichen Lage, sowie nach ihrem Bewegungszustand als determiniert anzusehen. Alle diese Gesichtspunkte, die sich unter den Grundkategorien der Zahl, der Zeit und des Raumes zusammenfassen lassen, gehören somit notwendig ihrem Begriff an, von dem sie sich durch keine Anstrengung der subjektiven "Einbildungskraft" loslösen lassen. Ob sie dagegen rot oder weiß, bitter oder süß, tönend oder stumm, wohl oder übelriechend ist, ist für die Bestimmung ihres Wesens ohne Belang; alle diese Beschaffenheiten bezeichnen lediglich wechselnde Zustände, nicht Bedingungen, an die der gedankliche Vollzug des Begriffs gebunden wäre. Verstand und Vorstellungsvermögen (il discorso o l'immaginazione) vermögen für sich allein niemals zu dieser zweiten Gattung von Merkmalen hinzuführen; nur die direkte sinnliche Wahrnehmung ist es, die uns ihrer versichern kann. Damit aber ist erwiesen, daß jene Qualitäten aus dem objektiven Bild der Wirklichkeit auszuschalten sind, daß sie nicht mehr als bloße "Namen" sind und nirgends anders, als im empfindenden Körper ihren Bestand haben. Man denke sich die lebenden Wesen und ihre Organe aufgehoben: und die Welt der sinnlichen Eigenschaften wäre gleichzeitig vernichtet (16). Man muß sich, um sich der radikalen Schärfe dieser Folgerung ganz bewußt zu werden, in den Ausgangspunkt der Untersuchung zurückversetzen. Wir sahen, wie die Wissenschaft der neueren Zeit damit begann, gegenüber einem physikalischen Weltbild, das in ontologischen Gegensätzen und Unterscheidungen wurzelte, auf den Urquell der Sinneserfahrung zurückzuweisen; wie sie damit dasjenige, was bisher als festes und erschöpfendes System von Begriffen galt, zu einer bloßen Sammlung von "Namen" herabsetzte. Die sinnliche Empfindung selbst aber führte, je schärfer und klarer die Aufgabe, die sie in sich enthält, gefaßt wurde, zu der Forderung der mathematischen Analyse zurück, in der der Begriff nunmehr ein neues Sein und eine neue Verkörperung fand. Indem dieser neue Gesichtspunkt entsteht und sich fortschreitend vertieft, bildet sich damit zugleich innerhalb des bisherigen Gegensatzes eine völlige Umkehrung heraus: denn jetzt ist es, wie man sieht, die einzelne Wahrnehmung, die, sofern sie sich nicht auf eine reine quantitative Bestimmtheit zurückführen und in ihr beglaubigen läßt, als willkürlicher "Name" gilt. Der echte Gegenstand der Natur wird erst gewonnen, wenn wir im Wandel und Wechsel unserer Wahrnehmungen selbst die notwendigen und allgemeingültigen Regeln festzuhalten lernen. Es ist besonders bezeichnend, daß GALILEI für die wissenschaftliche Konstituierung der Materie nicht nur auf Farbe und Ton, sondern zugleich auf die Tast- und Widerstandsempfindung ausdrücklich Verzicht leistet, daß ihm somit die Schwere, so wesentlich und unentbehrlich sie als empirische Eigenschaft ist, dennoch nicht in den Begriff des Körpers eingeht. Ja, es scheint, als solle durch die Reduktion auf Größe und Gestalt auch der physikalische Gesichtspunkt der "Masse" ausgeschaltet werden, wie es später bei DESCARTES der Fall sein wird. Man begreift diese Beschränkung jedoch aus dem logischen Interesse, das an dieser Stelle vorwaltet: die Realität des Körpters ist allein aus der Mathematik zu bestimmen, die hier noch wesentlich mit der Geometrie zusammenfällt. Der physikalische Körperbegriff hat sich bei GALILEI allmählich und im selben Maß entwickelt, wie die Mathematik bei ihm den Übergang von ihrer antiken Gestalt zur modernen Form der Analysis vollzog. Der Fortschritt, der hier auf dem Weg zur Bestimmung des konkreten Inhalts erreicht ist, bewährt sich in einer Folgerung, die sich direkt aus den bisherigen Prämissen ableitet: mit dem Begriff der Materie, den GALILEI zugrunde legt, ist zugleich der Gedanke der Erhaltung des Stoffs gegeben. Indem wir den Wechsel und die Veränderlichkeit, die den subjektiven Inhalten der Wahrnehmung zukommt, vom "realen" Gegenstand der Natur ausgeschlossen denken, haben wir diesen damit als beharrende identische Einheit fixiert. Ein absolutes Entstehen und Vergehen würde einen unmittelbaren Gegensatz zu demjenigen Weltbegriff in sich schließen, den der Verstand aus sich selbst entdeckt und entwirft. Eine wahrhafte "substantielle Umwandlung", bei der ein Stoff sich derart umformt, daß er als völlig vernichtet gelten muß, ist ein unvollziehbarer Gedanke. Es ist charakteristisch, wenn in den Dialogen über die beiden Weltsysteme der aristotelische Gegner GALILEIs sich zur Widerlegung dieses Satzes auf den unmittelbaren Sinnenschein beruft: denn sehen wir nicht täglich Kräuter, Pflanzen und Tiere vor unseren Augen entstehen und vergehen, sehen wir nicht, wie die Gegensätze beständig miteinander ringen, wie die Erde sich in Wasser, das Wasser in Luft verwandelt und diese sich wieder zu Wolken, Regen und Gewitter verdichtet? Solche offenkundigen Tatsachen leugnen, heißt die Prinzipien der Wissenschaft selbst und damit die Möglichkeit jeder Beweisführung aufheben (17). Für einen "Empirismus" dieser Art hat GALILEI gemäß dem neuen Begriff der Erfahrung, der sich bei ihm entwickelt hat, kein Verständnis und keine Duldung mehr. Nicht alles, was sich auf das angebliche Zeugnis einer unmittelbaren Beobachtung stützt, gilt ihm als Faktum im Sinne der Wissenschaft. Erst die systematische Verknüpfung und die Übereinstimmung mit der Allheit der Phänoeme entscheidet über den Wert einer einzelnen "Tatsache": um aber diese Übereinstimmung zu prüfen, müssen wir den besonderen Fall mit allgemeinen systematischen Grundsätzen zusammenhalten. Durch die Beziehung auf solche Kriterien, wie z. B. auf das Gesetz der Erhaltung der Materie, wird ein Prozeß, der sich für die Wahrnehmung als absolute Schöpfung und Vernichtung darstellt, für das Urteil zu einer bloßen relativen Verschiebung von Teilen innerhalb der homogenen Gesamtheit des Stoffes. Wir wissen durch GALILEIs eigenes Zeugnis, daß die Richtung des Denkens, die hier geschildert ist, auch bei der Entdeckung des Grundfaktums seiner Wissenschaft, bei der Entdeckung der Fallgesetze, eingehalten worden ist (18).
1) Kepleri Dissertatio cum Nuntio Sidereo nuper ad mortales misso a Galilaeo Galilaeo (1610), Op. II, 490. - Keplers Briefwechsel mit Galilei, Op. II, Seite 454f. 2) So wiederholen KEPLER wie GALILEI den Satz des ALKINOUS, der - nach dem Bericht des RHAETICUS - der Wahlspruch des KOPERNIKUS war: dei eleutherion einai te gnose ton mellonta philosophein [Die Freiheit zu wissen ist die Zukunft des Philosophierens. - wp]. (KEPLER, Op. II, 485; GALILEI, Opere, ed. ABLBÉRI, XII, Seite 11) - Vgl. ferner zur Übereinstimmung der Motive, Seite 349, Anm. 1 und Seite 381 Anm. 1. 3) KEPLER, Op. VII, Seite 290 4) vgl. die höchst bezeichnende Schilderung, die PAOLO GUALDO in einem Brief an GALILEI vom 6. Mai 1611 von einer Unterredung mit CREMONINI, dem berühmten Aristoteliker der Universität Padua, entwirft. Siehe Opere di Galilei, Supplemento, Florenz 1856, Seite 49f. - Über CREMONINI und sein Verhältnis zu GALILEI siehe FAVARO, Galileo Galilei e lo studio di Padova, Florenz 1883, Bd. II, Seite 36f. 5) siehe z. B. GILBERT, Philos. nova, Bd. 1, Seite 55 6) KEPLER, De Stella nova in pede Serpentarii, 1606, Op. II, Seite 693f. - Wörtlich übereinstimmend: GALILEI, Lettere intorno alle macchie solari, Opere III, 1612, Seite 422. 7) Dialogo dei massimi sistemi; Gironata seconda, Op. I, Seite 224f 8) An CARCAVILLE (5. Juni 1637) Opere VII, Seite 156f. Siehe ferner "Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze", Giorn. terze, Op. XIII, Seite 154f. - Vgl. de PORTU, Galileis Begriff der Wissenschaft, Marburg 1904, Seite 28f 9) Vgl. GALILEI an KEPLER (Kepler, Op. II, Seite 464) 10) Discorsi I.; Op. XIII, Seite 7 11) Zum Verhältnis GALILEIs zu DEMOKRIT siehe NATORP, Galilei als Philosoph, Philosophische Monatshefte, 1882 und LÖWENHEIM, Der Einfluß Demokrits auf Galilei, Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. VII, 1894. 12) Dialogo, Vierter Tag, Op. I, Seite 497. 13) Vgl. Dialog, Zweiter Tag, Op. I, Seite 174f. 14) Dialog, Erster Tag, Op. I, Seite 61f; vgl. Dritter Tag, Op. I, Seite 439f. 15) Vgl. Il Saggiatore, Op. IV, Seite 174, 258 und öfter. 16) Il Saggiatore; Opere IV, Seite 333f. 17) Dialog I; Op. I, Seite 48 18) vgl. zum Beispiel Postille alle Esercitazioni di Ant. Rocco. Op. II, Seite 315f. |