cr-2ra-2C. GöringF. StaudingerG. SpickerTh. AchelisG. Simmel    
 
RUDOLF EUCKEN
E r f a h r u n g

"Die Streitfrage besteht, allgemein angesehen, vor allem darin, wie hoch man die Tätigkeit des Denkens in der Begreifung der Welt zu veranschlagen habe. Verhält sich der Geist wesentlich aufnehmend und die Dinge nur in sich abbildend oder hat er Recht und Pflicht, das an ihn herantretende einer Prüfung von seinen eigenen Gesetzen aus zu unterziehen und nach deren Ergebnis zu gestalten?"

"Die einzelnen Erscheinungen sind überhaupt nicht relativ abgeschlossen gegeben und daher auch nicht losgelöst für sich festzustellen, sondern werden immer durch den Zusammenhang und das Gesamtgeschehen beeinflußt, und dabei tritt doch nicht einfach ein Allgemeines aus dem Einzelnen hervor und nimmt es ohne Rest in sich auf, sondern es bewahrt das Einzelne in aller Verbindung eine gewisse Selbständigkeit. Damit aber stehen wir Problemen gegenüber, denen die induktive Methode durchaus nicht gewachsen ist."

"Jedes Faktum, das man als aus früherer Zeit her durch das Bewußtsein bekannt, oder überhaupt als schon geschehen und vor Augen liegend annimmt, kann in Zweifel gezogen werden, ja es muß bezweifelt werden, wegen der Schwankung aller inneren Wahrnehmung und wegen der äußersten Leichtigkeit, in ein solches Faktum durch Erschleichung etwas hineinzuschieben."

"Die Empiriker sprechen immer davon, daß die Dinge gegeben sind, aber es muß doch auch etwas sein, dem sie gegeben sind. Oder es heißt, daß es sich so oder so in der Welt findet, aber wer und was ist denn der Findende?"

"Wir lieben es nicht Rechts- und Tatsachenfrage schroff auseinanderzureissen, aber daraus folgt aber doch noch nicht, daß sie einfach vermengt werden sollen. Jedenfalls nimmt durch das Aufwerfen der Rechtsfrage die Forschung einen anderen Inhalt und einen anderen Charakter an. Über das Einzelne kann nun nicht mehr unmittelbar entschieden werden, sondern es muß sich im Zusammenhang rechtfertigen und Art und Grund des Zusammenhanges müssen selbst in einer systematischen Betrachtung erörtert werden."

"Erfahrungswissenschaft einen Zwitterbegriff, bei dem sich nichts Zusammenhängendes, oder der sich vielmehr überhaupt nicht denken läßt. Was reine Empirie ist, ist nicht Wissenschaft, und umgekehrt, was Wissenschaft ist, ist nicht Empirie."

"Die Hauptsache bleibt, daß Aufgaben und Ansprüche der Philosophie nun den Höhepunkt der gesamten wissenschaftlichen Arbeit ausmachen, so daß sie nicht als etwas ganz Abenteuerliches abgewiesen werden dürfen. Das gilt aber vor allem in der neueren Wissenschaft, die eine weit freiere Stellung gegenüber dem unmittelbar Vorliegenden einnimmt und mittels ihrer Analyse das ganze naive Weltbild umgeschaffen hat. Wenn nun die einzelnen Disziplinen diese Frage weder allgemein stellen noch sie bis auf den letzten Grund verfolgen, dies eben aber die Philosophie unternimmt, so ergreift sie damit ein notwendiges und durchgehendes Problem der Erkenntnis und rechtfertigt erst die gesamte wissenschaftliche Arbeit. Es hört die Philosophie auf, ein Anhängsel der Wissenschaften, eine bloße Krönung des Gebäudes oder gar ein Tummelplatz der Einfälle des gemeinen Verstandes zu sein, sie wird vielmehr die Wissenschaft der Wissenschaften, die recht eigentlich die Seele aller erkennenden Tätigkeit bildet und ihr eine innere Einheit gibt."

Der Begriff der  Erfahrung  hat seit dem berühmten Wort des POLUS (1) mannigfache und wechselnde Schicksale gehabt. Bei PLATO und ARISTOTELES steht die  empeiria  der Wissenschaft geradezu gegenüber, jener verbindet  empeiria [Erfahrung - wp] und  tribe [Übung - wp] und ARISTOTELES, der sich eingehender mit dem Begriff beschäftigt und auch wohl zuerst die Ausdrücke  empeirikos  gebildet hat, versteht unter  empereia  nichts anderes als die Summierung einzelner Einsichten, ohne Erkenntnis des Allgemeinen, so daß sie danach natürlich nur eine Vorstufe zur Wissenschaft bilden kann (2). Erst bei den Stoikern wird die wissenschaftliche Erfahrung (empeiria methodike) bestimmt von der gemeinen unterschieden, wie dies namentlich bei dem sich in Anschauung und Sprachgebrauch eng an dieselben anschließenden POLYBIUS hervortritt, Doch scheint sich dieser Terminus nicht allgemein durchgesetzt zu haben, namentlich verharrten wohl die Platoniker und Peripatetiker bei der aristotelischen Bestimmung, und so blieb es bis in die letzten Zeiten streitig, ob man die  empeiria  der  techne  gleichstellen darf oder nicht. Auch im Streit der medizinischen Sekten wurde als Kennzeichen der Empiriker angesehen, daß sie auf eine tiefere Erforschung der Gründe verzichteten (3).

Diese Bedeutung, wonach die Empirie der Wissenschaft entgegensteht, ist vornehmlich im Wort  empiricus  auf das Mittelalter übergegangen und wirkt bis auf die Gegenwart fort. BACO trennt den Standpunkt der Empiriker sehr bestimmt von dem seinigen, im 18. Jahrhundert finden wir öfter eine empirische oder gemeine und eine gelehrte Erfahrung gesondert und auch bei KANT ist ein Unterschied zwischen dem Empirischen und der Erfahrung im strengen Sinn zu bemerken. Auch das Parteiwort  Empirismus,  das, wenngleich aus dem 18. Jahrhundert entstammend und bei KANT nicht selten verwandt, namentlich durch SCHELLING in weiteren Gebrauch gekommen sein dürfte, soll die bezeichnete Ansicht als eine niedrigere erscheinen lassen.  Empeiria  selbst aber wurde duch  experentia  ersetzt, das einige Zeit auch bei uns, z. B. bei PARACELSUS, KEPLER u. a., Eingang hielt (Experientz); das Mittelalter bildet auch den Plural  experentiae  Erfahrungen, so z. B. ROGER BACO; der Terminus  scientia experimentalis  findet sich schon bei NIKOLAUS von KUES.

Unser deutsches Wort  ervarn  (eigentlich durch  varn  erreichen, erkunden) geht sehr weit zurück, schon deim ältesten philosophischen Schriftsteller deutscher Sprache, bei NOTKER, findet sich  comprehendere  so übersetzt, im Mittelalter ist der Ausdruck gebräuchlich, auch Erfahrung (ervarunge) kommt hier, dann aber namentlich bei LUTHER vor. Streng wissenschaftlich verwandt ist Erfahrung neben  Erfahrnuss  und dem vorherrschenden  Erfahrenheit  zuerst bei PARACELSUS. Erfahrenheit bedeutet ihm sowohl die Tätigkeit in der Aufnahme des Vorliegenden wie auch die Gesamtheit des Gegebenen selber. (4) Dieser Ausdruck, den auch KEPLER u. a. ähnliche verwenden, nahm später eine engere Bedeutung an (5), und da  Erfahrnis  und  Experientz  außer Gebrauch kamen, so ist allein  Erfahrung  übriggeblieben, das nun mannigfache Bedeutungen in sich vereinigt. Es wird auf der einen Seite subjektiv der Akt der Wahrnehmung selber, die durch Wahrnehmung erworbene einzelne Kunde und die Gesamtheit einer solchen Kunde, sodann aber objektiv der Gegenstand der Wahrnehmung (6) und die Gesamtheit des der Wahrnehmung zugänglich damit bezeichnet; wobei diese Mannigfaltigkeit der Bedeutung fortwährend begriffliche Verwirrungen veranlaßt.

Ein Problem philosophischer Forschung wurde der Begriff natürlich überall da, wo die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis erwogen wurde, aber zu einem Mittelpunkt philosophischer Tätigkeit wurde diese Frage erst in der Neuzeit. Eine empirische und eine spekulative Richtung wirkten hier zusammen, die Lage gegen früher umzugestalten. Einmal machte sich gegenüber der mittelalterlichen Weltansich der Drang geltend, das Tatsächliche unbefangener und genauer zu erfassen, es scharf von aller Zutat des aufnehmenden Subjektes zu scheiden und auf dem Gewonnenen, als einem sicheren Grund, die Wissenschaft neu aufzubauen. Wenn man sich erinnert, daß gleichzeitig mit den Forschungen eines BACO ein formal so bedeutender Denker wie SUAREZ eingehende Untersuchungen über den Verstand der Engel anstellte, so steht die ganze Größe des Umschwungs vor Augen. Die Aufnahme des Tatsächlichen war nun aber sowohl durch die schon begonnene Zerstörung des herkömmlichen Weltbildes als die Erfindung wissenschaftlicher Instrumente eine unendlich schwierigere Aufgabe, als sie bis dahin geschienen hatte, und es mußte daher von vornherein der Begriff der "Erfahrung" vertieft werden.

BACO gebührt das Verdienst, die aus einer solchen Sachlage erwachsenden Problem, wenn auch keineswegs gelöst, so doch mit zündender Lebhaftigkeit zu Bewußtsein gebracht zu haben. Er trennt auf das Schärfste das, was das gewöhnliche Leben  Erfahrung  nennt (die  experentia vaga),  von der für die Wissenschaft allein wertvollen und stellt die wesentlichen Merkmale der letzteren zusammen; er verlangt eine eigentlich gelehrte Erfahrung (eine  experentia literata),  wobei der eine dem andern die Beobachtungen und Ergebnisse übermittelt, auf daß sich eine kontinuierliche Gesamterfahrung der Menschheit bilde; er entwickelt zuerst die Grundsätze und Problem einer induktiven Methode und dehnt dieselbe auf alle Gebiete der Forschung aus, so daß er seine Philosophie eine induktive (7) nennen und eine Neugestaltung aller Wissenschaften einleiten kann.

Diese induktive Richtung wird aber durch eine spekulative ergänzt, welche die ganze Stellung des Denkens zur Welt umgestaltet und die Aufgaben der Wissenschaft wesentlich ändert. Die Forschung geht von dem Gedanken aus, daß wir die Dinge nicht kennen, insofern sie überhaupt sind, sondern nur dadurch, daß sie in uns und auf uns wirken, wir dürfen daher in der Erklärung nicht über die Tätigkeit hinaus zu einem jenseits Liegenden fortgehen, sondern haben danach zu streben, die mannigfachen Erscheinungen auf einfache und in der Wirklichkeit nachweisbare Grundkräfte zurückzuführen und sie wieder von diesen gesetzmäßig abzuleiten. Diese Richtung, welche sich schon bei hervorragenden Denkern der Übergangszeit, unter den Deutschen z. B. bei NIKOLAUS von KUES, NIKOLAUS TAURELLUS, KEPLER, bemerkbar macht, gelangt bei CARTESIUS zu einem klassischen Ausdruck. Hier werden geradezu die alten Kategorien durch neue ersetzt. Wir kennen nach ihm im Grunde nur Kräfte, müssen aber da, wo wir eine einfache Kraft finden, die Substanz als einen Hilfsbegriff hinzudenken. Die Qualitäten, welche als kleine Seelen der Substanz innewohnten und als verborgene Eigenschaften (qualitates occultae) ein Hemmnis exakter Erkenntnis gewesen waren, machen den Modifikationen (modi, modificationes) Platz, die sich erst im Zusammensein bilden und nur eine bestimmte Gestalt der Grundkraft ausmachen (8). Diese neuen Lehren bewegen sich freilich bei CARTESIUS, seiner Eigentümlichkeit entsprechend, vorwiegend in den Formen alter Terminologie, aber trotzdem läßt sich nicht verkennen, daß hier eine prinzipielle Neubildung vorgegangen ist, welche alle Wissenschaften ergreifen und die ganze Art der Arbeit umgestalten mußte. Es kam nun vor allem darauf an, die einfachen Kräfte zu ermitteln, das Mannigfache der Erscheinung auf sie zurückzuführen und die Bedingungen festzustellen, unter denen die besonderen Gestaltungen sich im Zusammensein der einzelnen Kräfte ergeben. Diese gesamte Lehre ist nicht über alle Angriffe erhaben, sie beruth auf einer bestimmten Theorie von der Welt und der Stellung des denkenden Subjekts zu ihr, aber sie erhielt zunächst eine glänzende Bekräftigung durch die mechanische Naturlehre, und indem sie sich dann überall durchzusetzen versuchte, hat sie geradezu die Arbeit des 17. und 18. Jahrhunderts beherrscht, bis sie durch KANT innerhalb der Philosophie die erste Erschütterung erlitt.

Im wissenschaftlichen Gesamtleben wirkten nun induktive und spekulative Richtung aufeinander und förderten sich gegenseitig; die eine hält den Forscher am Gegebenen fest und dringt auf die Fülle des Stoffs, die andere dagegen ist für die Wertschätzung des Gegebenen und seine Verarbeitung maßgebend, und so steigert das eine das andere. Eben diese enge Verbindung von beiden war es, welche dem Kampf der Neuzeit um die Wahrheit eine solche Intensität verlieh und der neueren Wissenschaft jenen eigentümlichen Charakter aufprägte, der sie von allen früheren Gestaltungen unterscheidet und allen verschiedenen Systemen einen gemeinsamen Grundzug verleiht. So ist auch im Kampf um den Ursprung der Erkenntnis weit mehr Übereinstimmung als es dem ersten Blick scheinen könnte. Allen fällt dieselbe als Prozeß in Welt und Leben hinein, sie soll nicht als ein überliefertes oder angeborenes, überhaupt fertiges, aufgenommen, sondern vielmehr unmittelbar erzeugt werden, und es kommen daher alle darin überein, von ihr Klarheit, Evidenz und die stete Fähigkeit der Verifikation zu verlangen. Nur darum bewegt sich der Streit, wo die solches hervorbringenden Kräfte zu suchen seien, und wenn sich hier die einen für die aus dem Innern entspringende Tätigkeit des Geistes, die andern für sich ihm kundtuende Kräfte der Außenwelt entschieden, so mußte der Kampf umso heftiger werden, je weniger in der einen eng zusammenhängenden Welt, die alle gemeinsam annahmen, ein Nebeneinander ertragen werden konnte. Auf die einzelnen Phasen dieses Kampfes einzugehen ist hier nicht möglich, und auch nicht erforderlich, da durch die Wendung, welche KANT dem Problem gab, für uns das meiste Vorangehende die unmittelbare Bedeutung verloren hat; nur den Gedanken LEIBNIZ' dürfte neben den kantischen ein selbständiger Wert verbleiben.

LEIBNIZ ist weit davon entfernt, die Erfahrung gering zu achten, aber er meint freilich, daß es uns unmöglich ist, bei ihr stehen zu bleiben, da nur eine die ganze Welt umfassende kausale Einsicht, welche die Erfahrung nicht gewähren kann, das Streben nach Erkenntnis befriedigt. Die Tatsachen der Erfahrung erscheinen ihm als ein durch die wissenschaftliche Arbeit in Sätze der Vernunft umzuwandelndes, letzthin ist wirkliche Erkenntnis nur dadurch möglich, daß die Daten auf Sätze zurückgeführt werden, in denen, wie in Gleichungen, das Zusammenfallen von Subjekt und Prädikat unmittelbar einleuchtet, so daß sich die Aufgabe der Philosophoie dahin gestaltet, das Verworrene bis zu solchen einfachen Sätzen hin aufzulösen. Vollkommen erreicht werden kann dies aber nur bei den notwendigen Wahrheiten (vérités de raison) [Vernunftwahrheiten - wp], während bei den kontingenten (vérités de fait) [Tatsachenwahrheiten - wp] der endliche Geist sich in der Auflösung nur in einem unvollendbaren Prozeß anzunähern vermag. Wenn also auch Erfahrungserkenntnis in Vernunfterkenntnis zu verwandeln recht eigentlich die Aufgabe der Philosophie ist, und nur insofern eine vollständige Sicherheit und Verifikation der Einsichten möglich ist, als die gelingt, so ist doch die Erfahrung sowohl als Ausgangspunkt und Mittel notwendig, wie als nie aufzulösender Rest von bleibender Bedeutung (9). KANT stimmt darin mit LEIBNIZ überein, daß die Philosophie die Erfahrung nicht zum Prinzip, sondern zum Problem hat, aber die Tätigkeit, die das philosophische Denken am Gegebenen vollzieht, wird ihm seiner ganzen Eigentümlichkeit entsprechend eine trennende und auseinanderlegende, und diese Tätigkeit dringt umso tiefer ein, als sie den Begriff der Erfahrung selber erfaßt und den Prozeß prüft, über dessen Ergebnis man sich so lange gestritten hatte. Wie nun aber überhaupt die prinzipielle Scheidung von Verstand und Sinnlichkeit für die Gestaltung seines Systems von grundlegender Bedeutung war, so trat auch in der Erfahrung beides auseinander, sie stellte sich heraus als "das Produkt des Verstandes aus Materialien der Sinnlichkeit" (10); und wie so in ihr Stoff und Form geschieden und das eine den Dingen, das andere dem Geist zugeteilt war, so wurde es überall die Aufgabe, das erfahrungsmäßig Gegebene in diese Faktoren zu zerlegen, um dann das Gesonderte in ein System zu bringen. Durch die großartige Ausführung eines solchen Strebens ist alles, was bis dahin an Bestand der philosophischen Erkenntnis vorlag, erschüttert, und vor allem das Problem der Erfahrung selber vollständig verändert; aber der Umschwung brachte wieder so viele neue Fragen mit sich, daß erst jetzt der Kampf recht begann.

Vor allem kann schon der Ausgangspunkt Zweifel erregen. KANT erörtert, wie Erfahrung möglich ist, aber es geht ihm hier wie an einem anderen entscheidenden Punkt seines Systems (in der Freiheitslehre), daß dadurch die Frage, ob der Gegenstand der Untersuchung auch wirklich sei, zurückgedrängt wird. Es ist das eine Stelle, wo immer der Skeptizismus seine Angriffe ggen die kantische Lehre einsetzen kann (11). Die empirische Richtung aber konnte daran Anstoß nehmen, daß die Erfahrung mit ihren Faktoren zu sehr als ein vollständig Gegebenes und von Anfang an zu Überblickendes hingestellt wurde. Es schien hier ins Gewicht zu fallen, daß vieles von dem, was als notwendige Erkenntnis a priori behauptet war, erst in einem langen Kampf anhand der Erfahrung sich aus gegenteiligen Überzeugungen herausgearbeitet habe, wonach auch eine weitere Umgestaltung keineswegs für ausgeschlossen gelten durfte. Der spekulativen Philosophie endlich schien die Stellung der Vernunft zur Erfahrung nicht widerspruchslos bestimmt. Einmal war das Denken der Erfahrung als seinem Produkt überlegen, und die Annahme, daß es von sich aus die Welt hervorbringt, schien nahe zu stehen, aber dann wurde wieder die Notwendigkeit des Dings-ansich aufrechterhalten und die Vernunft auf diese gegebene Welt eingeschränkt. Es lag da ein Widerspruch vor, der bei KANT selbst in der transzendentalen Dialektik zu einem schneidenden Ausdruck kommt und über den er durch die verschiedene Bestimmung der theoretischen und praktischen Vernunft hinauszukommen suchte.

Die konstruktiven Philosophen gingen nun in der Richtung der praktischen Vernunft groß und einseitig weiter; indem sie die ganze Welt durch die Tätigkeit des Denkens hervorbringen wollten, konnte die Erfahrung ihnen nicht mehr Ausgangs-, sondern nur noch Endpunkt sein: erst am Schluß der philosophischen Arbeit, die ohne alle Rücksicht auf das Gegebene nur den eigenen Gesetzen folgen sollte, war jene zur erprobenden Vergleichung heranzuziehen. Der Unterschied der Empirie und der Wissenschaft bestand darin, daß jene als fertig aufzeigte, was diese durch die Tätigkeit des Denkens entstehen ließ (12). Übrigens bemächtigt sich diese Strömung erst nach und nach des ganzen Wissenschaftsgebietes. Bei FICHTE geht die Philosophie immer nur auf die allgemeinen und notwendigen Bestimmungen (13), während für die besondere Beschaffenheit die Erfahrungserkenntnis eintritt. So verwahrt er sich nachdrücklich gegen eine Naturphilosophie, wie eine solche Geschichtsphilosophie, welche auch das Einzelne aus dem Begriff entwickeln zu können meint. SCHELLING tat durch seine Naturphilosophie schon einen Schritt weiter und auch bei den Geisteswissenschaften sehen wir ihn in seiner ersten Periode (14) immer mehr der philosophischen Konstruktion zuweisen, bis schließlich in HEGEL die Bewegung ihren Höhepunkt erreichte, auf dem für die Erfahrung nirgends eine selbständige Bedeutung blieb. Die besonnene Theorie HERBARTs, welche überall die Erfahrung als Ausgangspunkt anerkannte, aber sich durch die in ihr hervortretenden Widersprüche zur Philosophie und einer durch sie erfolgenden Umgestaltung des Gegebenen treiben lassen wollte (15), konnte dem gegenüber für weitere Kreise nicht aufkommen, und so ging der Rückschlag gegen jene souveräne Stellung, welche das Denken für sich in Anspruch genommen hatte, nicht so sehr von der Philosophie als von den Einzelwissenschaften und dem gemeinen Verstand aus.

Der gemeine Verstand, der gegen jede Philosophie wie alle höheren Vernunftzwecke einen versteckten Haß hat und an die Systeme nur herantritt, um Fehlerhaftes, Absurdes und Lächerliches aufzuzeigen, fand in den Lehren der konstruktiven Philosophen reiche Gelegenheit zu Angriffen. Solange man sich nicht in die philosophischen Motive der entscheidenden Probleme und in die geschichtliche Entwicklung der Gedanken hineinversetzte, mußte das Bekämpfte geradezu als abenteuerlich erscheinen, und es war nicht zu verwundern, wenn mancher eine geistige Überlegenheit dadurch zu bekunden wähnte, daß er Lehren, deren Begründung und Zusammenhang ihm einfach ein Rätsel geblieben war, mit Spott überschüttete. Da solche anti-philosophischen Richtungen aber doch den Mantel einer philosophischen Überzeugung lieben, so wurde der Empirismus als Schlagwort usurpiert.

Bessere Gründe hatten die Vertreter der besonderen Wissenschaften, namentlich die Naturforscher. Freilich war ihre Arbeit lange nicht in dem Maße durch den vorwiegenden Einfluß der konstruktiven Philosophie gekreuzt oder auch beherrscht, wie heute oft behauptet wird, aber unzweifelhaft war durch ein System, welches allen Inhalt der Erfahrung aus dem reinen Denken entwickeln zu können vermeinte, die prinzipielle Bedeutung jener Wissenschaften mit all ihrer aufopfernden und fruchtbaren Arbeit in Frage gestellt. Und dazu waren die Irrtümer der konstruktigen Denker auf diesen widerrechtlich für die Philosophie in Anspruch genommenen Gebieten augenscheinlich. So war eine Zurückweisung von exaktwissenschaftlicher Seite durchaus berechtigt, der Übergang zum Angriff leicht erklärbar. Gefahrbringend war nur, daß man dabei von den Konsequenzen, und zwar oft sehr vermittelten Konsequenzen, auf die Prinzipien schloß, so seinerseits das eigene Gebiet überschritt und eine Entscheidung über Probleme in die Hand nahm, deren Behandlung an noch manch andere Bedingungen geknüpft war; ja es fehlte nicht an solchen Männern, welche Fragen, an die ein LEIBNIZ und ein KANT ihre höchste Kraft gesetzt hatten, gewissermaßen in ihren Mußestunden neben der Hauptarbeit zu lösen versuchten. Dem Inhalt nach aber stimmten die von dieser Seite kommenden Äußerungen darin überein, der Philosophie ein Recht, über die Ergebnisse der Einzelwissenschaften hinauszugehen, mit Entschiedenheit zu bestreiten; der berechtigte Einspruch gegen die konstruktiven Philosophen führte demnach zu einer Abneigung gegen alle systematische Philosophie.

Und dann entstand schließlich auch innerhalb der Philosophie eine Bewegung zugunsten des von den früheren Denkern mit Mißachtung behandelten Empirismus. Die ihm günstigen Momente, worüber jene oft flchtig hinweggegangen waren, traten nun wieder mit aufstrebender Kraft ins Bewußtsein; dazu gesellten sich manche Ergebnisse der Einzelwissenschaften, welche in philosophischer Verwertung die Frage nach dem Ursprung des Erkennens anders gestalten mußten. Einmal kommt hier die Einsicht in die Positivität der Formen unseres Erkennens und Seins in Betracht, wodurch ein für alle Mal eine Konstruktion des Erfahrungsinhaltes aus allgemeinsten Begriffen hinfällig wird. Hat hier der Empirismus bis zu einem gewissen Punkt KANT zum Genossen, so wendet er sich insofern gegen denselben, als er die ihm als fest geltenden Formen allmählich entstehen läßt, hier sich mit HERBART berührend, vor allem aber die Ergebnisse spezieller Forschung aufnehmend. Die weitere Verfolgung und philosophische Durchführung solcher vollberechtigter Tendenzen muß aber zu einer prinzipiellen Umgestaltung der Philosophie und ihrer Stellung zu den Einzelwissenschaften führen, und so können wir dem Empirismus dafür nur Dank wissen, daß er jene Punkte mit Nachdruck geltend macht. Seinem Einfluß im allgemeinen Leben aber kommt es zugute, daß er in seiner Arbeit am meisten die exaktwissenschaftlichen Forschungen zu würdigen und zu verwerten versteht, während die Anhänger anderer Richtungen sich, wie es scheint, dazu in Widerspruch setzen oder sie doch nicht nützen können.

Alle diese verschiedenen Bestrebungen aber wirken nun im allgemeinen Leben gleichzeitig und vereinen sich zu einer Gesamterscheinung, bei der es schwer ist, die einzelnen Momente auszusondern. Philosophisches, Unphilosophisches und Antiphilosophisches geht miteinander und durcheinander; wo das eine anfängt, das andere aufhört, ist nicht leicht zu entscheiden. Und damit hat auch die Kritik des heutigen Empirismus eine eigentümliche Schwierigkeit; man kommt bei dem Durcheinander in Gefahr, das eine für das andere verantwortlich zu machen, ja, den Freund als Feind und den Feind als Freund zu behandeln. Aber gerade diese Verbindung von Verschiedenartigem zu einer Gesamtwirkung ist für die heutige Lage charakteristisch; zumal für unsere Betrachtung nicht der philosophische Empirismus einzelner Forscher, sondern der Empirismus als Massenerscheinung wichtig ist, und daher müssen wir so gut wie möglich die hervortretenden Züge der Gesamtbewegung ins Auge fassen, auf die Gefahr hin, weniger die kritischen Erörterungen der Forscher als die dogmatischen Behauptungen der Menge zu würdigen.

Die Streitfrage besteht, so allgemein angesehen, vor allem darin, wie hoch man die Tätigkeit des Denkens in der Begreifung der Welt zu veranschlagen habe. Verhält sich der Geist wesentlich aufnehmend und die Dinge nur in sich abbildend oder hat er Recht und Pflicht, das an ihn herantretende einer Prüfung von seinen eigenen Gesetzen aus zu unterziehen und nach deren Ergebnis zu gestalten? Hat die Philosophie insbesondere das, was die einzelnen Wissenschaften ihr übermitteln, einfach aufzunehmen und zusammenzustellen, oder hat sie ihm gegenüber mit selbständiger Methode eine selbständige Aufgabe? Auf beiden Seiten sind mannigfache Stufen möglich, aber ein spezifischer Gegensatz bleibt darin, daß die einen im systematischen Ausbauch der Philosophie (nicht in der psychologischen Entwicklung) vom Denken zu den Objekten, die andern von den Objekten zum Denken fortzugehen. Für die heute im allgemeinen Leben vorherrschende Art des Empirismus aber darf als besonders bezeichnend gelten, daß die induktive Methode als das eigentliche Mittel wie der wissenschaftlichen Forschung, so auch der philosophischen Erkenntnis gepriesen wird. Bei dieser Auffassung wird die selbständige Tätigkeit des Geistes gegenüber den Objekten auf das geringste Maß herabgesetzt, das Denken hat sich im Wesentlichen darauf zu beschränken, das dem Bewußtsein ungetrübt zu übermitteln, was die Dinge für sich vollbringen; auch das Zusammenschließen des Einzelnen zu bestimmten Gestalten scheint sich aus den Dingen und von außen zu bestimmen, die Wissenschaft allmählich sich nach Art einer Pyramid zu einem Ganzen auszubauen. (16)

Von dieser streng induktiven Methode nun behaupten wir, daß sie nicht einmal auf dem Gebiet, das sie vor allem für sich in Anspruch nimmt, dem der Naturwissenschaften, herrscht, daß sie auf anderen Gebieten noch mehr zurücktritt, und daß sie an die letzten Aufgaben der Philosophie nicht einmal heranreicht. Die erste könnte schon aus einer genaueren Prüfung der Prozesse und Methoden, welche in der naturwissenschaftlichen Arbeit vorkommen, ausreichend erhellen. Wenn wir Begriffe wie  Hypothese, Analyse, Gesetz  u. a. einigermaßen zergliedern, wenn wir die Kategorien betrachten, unter welche die Erscheinungen hier, nicht sich ordnen, sondern von uns geordnet werden, wenn wir schließlich die systematische Gliederung dieser Wissenschaften überschauen, so möchten wir finden, daß für das alles die Induktion ein stets notwendiges Hilfsmittel, eine unerläßliche Bedingung, aber durchaus nicht die zureichende, ja nicht einmal die mächtigste Triebkraft ist. Aber einfacher ist es vielleicht, einen Blick auf die geschichtliche Bewegung dieser Wissenschaften zu richten, da in ihr die entscheidenden Mächte bemerklicher hervortreten. Hier glauben wir sagen zu dürfen, daß jeder, der sich einermaßen in die gewaltigen geistigen Kämpfe einlebt, welche der ungemein schwierige Übergang von der aristotelisch-scholastischen zur neueren, von einer naiven zu einer wissenschaftlichen Naturerklärung mit sich brachte, die Meinung, daß die induktive Art der Forschung dabei den Ausschlag gegeben habe, als unhaltbar fallen lassen wird. Die Induktion setzt voraus, daß die einzelnen Fälle für sich beobachtet werden können und für sich ein bestimmtes Ergebnis liefern, daß sich dann das Besondere aneinanderreiht, ordnet usw., bis ein Ganzes gewonnen ist. Aber wie nun, wenn der ganze Boden ins Schwanken gerät, wenn das Einzelne als festes und letztes in Frage kommt, wenn sich alles Bestehende dem Blick des Forschers auflöst und es nun gilt, Elemente einer neuen Welt zu ermitteln und in diesem Wirrwarr bleibende reine Formen zu unterscheiden? Wo es sich darum handelt, aus einer ungeheuren Erschütterung ein festes erst herauszuarbeiten, um dann nach neuen Zielen und von neuen Gesichtspunkten aus das Vorliegende zu gestalten und zu begreifen, da steht die Induktion vor überwältigenden Aufgaben, indem sie wohl ein Gegebenes auszubauen, nicht aber eine Welt wesentlich und innerlich umzugestalten vermag. Oder ist etwa die Kategorienlehre, in der sich die neue Naturerklärung bewegt, bei CARTESIUS durch Induktion ermittelt worden? Ist etwa durch Induktion die Aufgabe der Forschung dahin bestimmt, daß durchgehend das Erscheinende als ein Zusammengesetztes zu fassen und auf einfache Grundkräfte zurückzuführen, dann aber mit Hilfe der Idee der Entwicklung wieder von ihnen abzuleiten ist? Und im Einklang mit einer solchen theoretischen Bestimmung der Aufgabe war auch für die wirkliche Arbeit der Forscher, jener Männer, wie KEPLER und GALILEI, CARTESIUS und NEWTON, nicht die Induktion, sondern die Analyse das eigentliche Werkzeug des Fortschritts. Darin sahen sie vor allem ihre Aufgabe, das Verworrene der Erscheinung zu zerlegen, um zu einfachen Kräften zu gelangen und von da aus wieder zum Gegebenen hinzustreben. Man ging so freilich nur deswegen über dasselbe hinaus, um zu ihm zurückzukehren, aber allein dadurch, daß man sich also denkend erhob, wurde es möglich, in ihm etwas anderes zu sehen als man bis dahin gesehen hatte, konnte man das, was unverändert aufgenommen in Gewirr und Widersprüche verwickelte, nunmehr als Produkt festhalten und begreifen.

Dabei war natürlich eine genaue Feststellung des Gegebenen und eine stete Beobachtung desselben unbedingt erforderlich, und insofern hat die neue Naturwissenschaft unleugbar einen induktiven Zug, aber für jene entscheidende Arbeit selber war die Induktion durchaus unzureichend, da das, was für sie Gegenstand der Beobachtung wurde, selbst schon kompliziert war, die Erfahrung "Gesetz und Ausnahme zugleich gewahr werden ließ" (siehe GOETHE, Ausgabe letzter Hand, Bd. 50, "Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen", Seite 160), und daher die Umstände, unter denen sie entscheiden konnte, erst anderweitig herzustellen waren. Erkenntnisse wie das sogenannte Trägheitsgesetz, das Gesetz der Erhaltung der Kraft usw. sind nicht von einzelnen Daten aus in einem allmählichen Aufsteigen gefunden worden, denn dieselben alle enthielten zunächst mehr oder weniger scheinbar Widersprechendes, sondern sie sind nur dadurch möglich geworden, daß die Forscher die Gesamtheit mit einem überschauenden Blick zu umspannen wußten, das Mannigfache nicht nach Art eines Aggregats, sondern als System erfaßten, im Denken Reihen für sich ins Unendliche verfolgten und durch das alles einen Standpunkt gewannen, von dem sie, unangefochten durch jene scheinbaren Widersprüche, eine neue Welt bilden konnten. Auf diesem Weg sind alle jene großen Entdeckungen gemacht worden, die wir staunend bewundern. - Auch der mathematische Charakter der neueren Naturwissenschaft ist ein Zeugnis für diese Auffassung. Wenn das Wort KANTs, daß in der Naturwissenschaft nur soviel Wissenschaft wie Mathematik darin ist enthalten sei, richtig und damit die Erkenntnis der Gesetze und Formen als das erste hingestellt ist, so muß sich die Induktion mit dem zweiten Platz begnügen. Denn das Mathematische weist schon durch den Grundbegriff des reinen Quantums prinzipiell über sie hinaus. Und tatsächlich ist der erste Forscher, welcher mathematische Naturgesetze aufgestellt hat, JOHANN KEPLER, nicht auf gerader Landstraße von den Phänomenen aus dazu gekommen, sondern nach genügender Orientierung in der Welt hat er zunächst die Möglichkeiten ausgerechnet, hypothetisch die Konsequenzen entwickelt, und ist dann erst wieder an die Erfahrung herangetreten, um zu vergleichen und zu entscheiden. Nur weil der Geist Mathematisches in steter innerer Tätigkeit hervorbringt, hielt er es für möglich, daß derselbe in der Natur Gesetze finden kann, weswegen auch ausdrücklich ein solches Erkennen als Wiedererkennen (17) bezeichnet wird. Dieser von ihm verwandten Methode standen auch die anderen großen Forscher weit näher als der von BACO empfohlenen. Mochte sich ein Mann wie NEWTON durch manche Äußerungen scheinbar als Anhänger der induktiven Richtung bekennen, ein anderes ist die Meinung des Forschers von seiner Methode, ein anderes die Methode selbst: in seinem wirklichen Verfahren stimmt NEWTON mit KEPLER und CARTESIUS weit mehr überein als mit BACO und LOCKE. Es erregt bisweilen Verwunderung, daß ein Forscher, der die Methode der Naturwissenschaften so richtig erkannt hat wie BACO, die Wissenschaft selber durch eigene Arbeit so wenig gefördert hat, aber das Problem fällt dahin, weil jene Annahme unrichtig ist. BACO hat im einzelnen manche Prozesse und Methoden der Naturwissenschaft richtiger erkannt und diese Erkenntnis mit der ganzen Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit seiner Art zur Geltung gebracht, aber seine Methodenlehre als Ganzes betrachtet entspricht weder der wissenschaftlichen Arbeit der Neuzeit (18) noch konnte sie bei der damaligen Lage der Wissenschaft fruchtbringend wirken.

Kurz: Wir glauben, daß man die Eigentümlichkeit der neueren Naturwissenschaft verkennt und namentlich die eminente Denkarbeit, die sie enthält, unterschätzt, wenn man sie als vornehmlich durch Induktion geschaffen hinstellt. War einmal die Bahn gebrochen, so konnte die Induktion die Arbeit des Tages ausrichten, und es hat nichts Befremdliches, daß sie dabei weit mehr in ein reflektierendes Bewußtsein trat als Operation von überlegener Macht und Bedeutung. Denn gerade das Hervorragendste, wie es nicht von der Reflexion aus geschaffen wird, entgeht ihr, während es geschieht, je nachdem es geschehen ist, und das Bild des Ganzen bleibt damit hinter der Wirklichkeit zurück. Wollen wir also nicht "notwendige Bedingung" und "entscheidende Kraft" gleichsetzen oder aber dem Begriff induktiver Forschung einen so weiten Sinn geben, daß er etwas Selbstverständliches aussagt, so werden wir dieselbe anderen Methoden neben- und unterordnen müssen.

Nun aber soll auch auf das Geistesleben jene Methode übertragen werden, indem sich der Erfahrung des Äußeren eine des Inneren beigesellt. Natürlich wird dabei nicht das verteidigt, was die Mystiker unter innerer Erfahrung verstanden haben (19); daß es zu einem Widerspruch führt, etwas, das sich den wesentlichen Bedingungen und Formen des Erkennens entzieht, wie eine solche innere Erfahrung, nun doch als Quelle einer Erkenntnis und zwar einer alle sonstige Einsicht übersteigenden Erkenntnis geltend zu machen, darüber kann in wissenschaftlichen Kreisen kein Zweifel sein. Wenn demnach innere Erfahrung und Erfahrung des Innern bestimmt geschieden sind, so hat zunächst das Verlangen, die letztere zur Feststellung des Weltbildes mitbestimmend heranzuziehen, seine volle Berechtigung; aber zu einer sehr problematischen Behauptung wird die Sache, wenn die spezifische Gestalt, welche der Begriff der Erfahrung in der Erforschung der Außenwelt erhalten hat, ohne weiteres hierher übertragen und gar für Methoden, welche selbst dort nur mit und nach anderen Verwendung finden, hier eine ausschließliche Herrschaft verlangt wird.

Vor allem ist doch wohl, bevor das bei der heute vorherrschenden Strömung anlockende Losungswort der induktiven Psychologie ausgegeben wird, zu fragen, ob denn auch die Bedingungen der Anwendbarkeit der induktiven Methode wenigstens in dem Umfang gegeben sind, wie es bei der Erforschung der Natur der Fall ist; wenn sich die Methode nicht nach der Beschaffenheit des Objekts zu richten hat, und dies nicht einer Tendenz zu Liebe in nicht angemessene Formen gezwängt werden soll. Nun aber ist tatsächlich in diesem Punkt ein großer Unterschied zwischen der inneren und äußeren Welt unverkennbar. Die Phänomene der ersteren ordnen sich nicht unmittelbar zu einer zusammenhängenden, beharrenden und allen Beobachtern gemeinsamen Welt, so daß es, wenn auch eine Wahrnehmung des Innern, so doch keine innere Anschauung gibt, und auch das, was wir erlebt haben, in der fortschreitenden Bewegung des Ganzen einer steten Umwandlung ausgesetzt ist. (20) Die einzelnen Erscheinungen sind überhaupt nicht relativ abgeschlossen gegeben und daher auch nicht losgelöst für sich festzustellen, sondern werden immer durch den Zusammenhang und das Gesamtgeschehen beeinflußt, und dabei tritt doch nicht einfach ein Allgemeines aus dem Einzelnen hervor und nimmt es ohne Rest in sich auf, sondern es bewahrt das Einzelne in aller Verbindung eine gewisse Selbständigkeit. Damit aber stehen wir Problemen gegenüber, denen die induktive Methode durchaus nicht gewachsen ist.

Deshalb wir natürlich nicht bezweifelt, daß die Induktion innerhalb der Psychologie eine erhebliche Bedeutung habe (21), aber soviel wie in den Naturwissenschaften vermag sie nur auf dem Grenzgebiet zwischen Natur und Seele zu leisten; sobald das Problem ein spezifisch-psychologisches wird, ist die Induktion in engere Schranken gebannt. Man möchte z. B. fragen, wie etwa eine Moral oder Religion aus den psychischen Phänomenen in induktiver Weise begründet werden sollte. Etwa durch eine Zusammenstellung des Gleichartigen und ein Aufsteigen zu allgemeinen Sätzen? Aber um nur zu entscheiden, was an Material hierher gehört, muß schon ein Urteil gebildet sein, und um das Gleichartige, was hier doch ein innerlich Gleichartiges sein muß, herauszufinden, muß man sich über Ziele vergewissert haben? Oder soll hier etwa der Durchschnitt das Gesetz geben? Aus all dem dürfte zur Genüge hervorgehen, auf welch schwankendem Boden eine induktive Psychologie als System stehen würde, und wie verkehrt es wäre, auf einem solchen Boden die ganze Philosophie aufzubauen. Ja, wenn das, was der Wahrnehmung und Beobachtung unmittelbar vorliegt, reine Tatsache wäre, während es vielmehr schon durch unsere Auffassung hindurchgegangen und in die Verbindungen und Gestaltungen gebracht ist, worin es uns jetzt entgegentritt. Eine Umbildung des ursprünglich Tatsächlichen beginnt nicht erst der Metaphysiker, der dann freilich nicht genug zu tadeln wäre, sondern der denkende Mensch vollzieht sie, wenn auch unbewußt, von Anfang an, und so finden wir im Vorliegenden schon Ergebnisse, vielleicht sehr verwickelte Ergebnisse, deren tatsächlicher Gehalt und deren einfache Elemente erst durch philosophische Methoden ermittelt werden können.

Der Gedanke hat ja etwas Bestechendes, vom Seelenleben als dem Nächstliegenden und und Zugänglichstem auszugehen und alle weitere Erkenntnis die allergrößten Schwierigkeiten bietet. Die ganze Entwicklung des geistigen Lebens zeigt, daß die Bewegung nicht vom Mikrokosmos zum Makrokosmos, sondern von diesem zu jenem fortgeht; die Wahrheiten, welche der denkende Geist erfaßte, hat er zuerst immer auf die ganze Welt bezogen und dann erst zum Verständnis seiner selbst zu verwenden gesucht. Erst wenn ihm so die Wahrheit als ein weltbeherrschendes gegenüberstand, hat sie Kraft genug gewonnen, auch das Innere zu gestalten, und es hat dann freilich jede große Einsicht in das Ganze sich dadurch als wahr und kräftig erwiesen, daß sie uns über uns selbst aufklärte. Daher ist nun einmal, wir mögen es gut oder übel finden, die Psychologie von der Gesamtphilosophie, ja von der Metaphysik abhängig; verfolgen wir etwas eingehender ihre Geschichte, die Bildung der Grundbegriffe, ja selbst die Ausprägung der Terminologie: wir werden all das von den großen Gesamtbewegungen abhängig finden, wir werden sehen, daß überall selbst das, was man als Tatsache zu erkennen glaubte, bedingt war vom Standpunkt und Zusammenhang der Beobachtung. Denn hier drängen sich die Erscheinungen incht von Anfang an der Betrachtung auf, sondern sie harren des Beobachters und treten erst ins Gesichtsfeld, nachdem die Aufmerksamkeit auf den Punkt gerichtet ist. Was dann einmal entdeckt ist, scheint selbstverständlich, während doch der Umstand das Gegenteil bezeugt, daß vieles, was jetzt jeder unmittelbar und augenscheinlich zu sehen glaubt, im Gang der wissenschaftlichen Arbeit erst spät zu Bewußtsein gekommen und noch später zu einer deutlichen Ausprägung gelangt ist. Sehen wir genau zu, so stellen sich unsere Vorstellungen von der Seele im Grunde als Theorien und Hypothesen heraus (wie ja auch der Begriff der Seele selber empirisch angesehen eine Hypothese ist), abhängig von der allgemeinen Beschaffenheit unseres Denkens, abhängig aber auch von den geschichtlichen Gestaltungen; und unter dem Einfluß solcher Theorien steht nun unsere Beobachtung. Es kann daher nicht genügen, um zum Tatsächlichen durchzudringen, einfach die Metaphysik der Philosophie beiseite zu lassen, da wir uns damit nur unter den Einfluß einer unkontrollierten Metaphysik stellen würden.

Und damit sind wir beim entscheidenden Punkt der ganzen Erörterung angelangt. Das Denken hat entschieden nicht das mindeste Recht, über den Standpunkt des gewöhnlichen Empirismus hinauszugehen und von sich aus am Gegebenen eine Umwandlung vorzunehmen, wenn das, was uns vorliegt, etwas rein Tatsächliches ist; es hat aber nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, dies zu tun, wenn wir in demselben schon eine bestimmte Auffassung von der Welt anzuerkennen haben, die erst durch die Denkarbeit auf den tatsächlichen Bestand zurückgeführt wird. Das Denken will sich also nicht zu seinem Belieben eine Phantasiewelt neben der wirklichen schaffen, sondern durch seine Tätigkeit den anfänglichen Fehler verbessern und das Vorgefundene gewissermaßen  in integrum  restituieren [unversehrt wiederherstellen - wp].

Mag man als Inhalt dieser Tätigkeit nun mit LEIBNIZ die Überführung der konfusen Erkenntnis in eine distinkte, oder mit KANT die Auflösung des Zusammengesetzten in seine Faktoren und die systematische Verbindung der reinen Elemente, mag man sie mit den Idealisten als Umwandlung des Ruhenden und Zerstreuten in einen Gesamtprozeß oder mit HERBART als Entfernung der Widersprüche aus den Erfahrungsbegriffen fassen, oder mag man noch andere Wege einschlagen; gemeinsam ist die Überzeugung, daß es ein Irrtum ist "einen Begriff schon darum, weil er gegeben ist, für gesund zu halten" (siehe HERBART, Werke III, Seite 82), daß aus zwingenden Gründen das Gegebene nicht so beibehalten werden kann wie es gegeben ist, und daß es daher ein prinzipieller Fehler ist, nicht zur metaphysischen Umarbeitung fortzuschreiten (22). Indem der Empirismus einfach mit dem Gegebenen abschließt, spricht er eine These aus, die darum nicht weniger positiv ist, weil sie im Verbot, über die Erfahrung hinauszugehen, zunächst die Negation hervorkehrt, und die nicht weniger einen metaphysischen Charakter hat, weil sie das letzte Sein oder doch das letzte uns zugängliche Sein mit der Erscheinung zusammenfallen läßt. Darin aber liegt die Stärke dieser These, daß sie unmittelbar einzuleuchten scheint, und daß die Macht dieses Eindrucks sich dann gegenüber dem Denken behauptet. Offenbar ist der Geist zuerst wie eine leere Tafel, nach und nach erst sehen wir Einsichten sich bilden, nach und nach sich das Einzelne zusammenhängend ordnen, auch die Formen, welche der kantischen Philosophie etwas festes und miteinander Gegebenes waren, sind in einzelne Elemente aufgelöst und in die Entwicklung hineingezogen; überall zeigt sich diese Entwicklung als von außen angeregt und bestimmt, und woher anders als von außen sollte überhaupt der Inhalt kommen, wenn nicht die übelbeleumundeten angebornen Ideen eine Zuflucht bilden sollen? Danach ist nur soviel im Geist, wie er früher oder später von außen aufgenommen hat, nur soviel Wahrheit hat die Erkenntnis, wie sie die draussenliegenden Tatsachen spiegelt, allein durch die Beziehung auf dieselben wird sie verifiziert. Da wir aber dieses Aufnehmen von außen Erfahrung nennen, so ist das Gesamtergebnis, daß alles Erkennen aus der Erfahrung stammt, und daß es ebenso töricht wie vergeblich ist, darüber mittels Spekulation hinausgehen zu wollen.

Das ganze Räsonnement scheint einfach, ja allzu einfach, denn es könnte wohl einer sich darüber Bedenken machen, wie es denn möglich war, daß Männer wie z. B. LEIBNIZ und KANT, eine so einleuchtende Sachlage verkannten; und einmal in solche Bedenken hineingekommen, könnte er sich dann leicht weiter zu fragen veranlaßt fühlen, ob nicht mehr als die Verkennung greifbarer Tatsachen die verschiedene Deutung und Wertschätzung eben dieser Tatsachen der Grund des Streites gewesen ist. Und so verhält sich die Sache in Wirklichkeit. Daß die Dinge sich äußerlich so darstellen, wie der Empirismus behauptet, geben auch die andern (wenn auch freilich mit einzelnen Verwahrungen) zu, aber daß dieses äußerlich Geschehende mit dem wesentlichen Geschehen einfach zusammenfällt, das scheint ihnen nicht vor vornherein ausgemacht. Sie leugnen nicht, daß der Geist anfänglich, von außen betrachtet, als leere Tafel (23) erscheint, aber sie nehmen daran Anstoß, ein Wesen ohne irgendeine Tätigkeit zu setzen, und meinen auch, daß gar kein Wirken von außen hineinkommen kann, wenn es nicht durch ein inneres aufgenommen wird; daß der Geist im Verhältnis zu den Dingen nur leidend aufzunehmen scheint, entgeht ihnen nicht, aber genauer betrachtet dünkt ihnen der Begriff eines reinen Leidens, indem er Wirkung ohne Gegenwirkung voraussetzt, unerträglich, und so sind sie darauf bedacht, durch ein tieferes Eingehen auf die Sache und eine schärfere Analyse der Prozesse auch ein Tun des Geistes in seinem Zusammensein mit den Dingen zu erweisen (24); die Gestaltung des schließlich vorliegenden Gesamtinhaltes von einfachen Elementen her erkennen sie bereitwillig an, können aber nicht auf die Frage verzichten, ob diese Gestaltung lediglich von außen bedingt wird und die Verknüpfung des Mannigfaltigen nicht auch auf innere Gesetze hinweist; die Erfahrung sind sie bereit so hoch wie möglich zu schätzen, aber es wird ihnen ein Problem zu erörtern, was sie schon voraussetzt, und zu fragen, ob sie selbst nicht schon zusammengesetzt und daher in verschiedene Faktoren zu zerlegen ist.

Aus all dem entsteht ein ganz anderes Problem als dasjenige war, von dem der Empirismus ursprünglich ausging; nicht darum handelt es sich, wie das Erkennen psychologisch betrachtet entsteht und ob es von der Erfahrung an anhebt und an die Erfahrung angeknüpft ist, sondern darum, woher das in der Erfahrung Erkannte ursprünglich stammt, und wie sich danach die Ansicht vom letztlich Tatsächlichen zu gestalten hat. Der Streit bewegt sich also nicht um eine Feststellung des phänomenal Geschehenden, sondern darum, wie das Geschehen selber endgültig zu beurteilen und wie aufgrund eines solchen Urteils das schließliche Wirken und Sein zu fassen ist. Es ist daher durchaus verkehrt, wenn der Empiriker seine Gegner sich gegen jenes erste Faktische wenden und sie etwas bekämpfen läßt, was experimentell erhärtet werden kann. (25) Auch hier hat KANT die Sache auf den richtigen Ausdruck gebracht (Werke VIII, Seite 536), wenn er die Frage, ob alle Erkenntnis von der Erfahrung anhebt, als  quaestio facti [Frage nach den Tatsachen - wp] sorgfältig von der  quaestio juris  [Frage nach der Berechtigung - wp] unterschied, ob sie auch allein von der Erfahrung, als dem obersten Erkenntnisgrund, abzuleiten sei. - Wir lieben es nun auch heute nicht bei diesem Problem Rechts- und Tatsachenfrage schroff auseinanderzureissen, aber daraus folgt aber doch noch nicht, daß sie einfach vermengt werden sollen. Jedenfalls nimmt durch das Aufwerfen der Rechtsfrage die Forschung einen anderen Inhalt und einen anderen Charakter an. Über das Einzelne kann nun nicht mehr unmittelbar entschieden werden, sondern es muß sich im Zusammenhang rechtfertigen und Art und Grund des Zusammenhanges müssen selbst in einer systematischen Betrachtung erörtert werden.

Zunächst ändert sich gegenüber der psychologischen Untersuchung, die sich mti dem empirischen Entstehen der Erkenntnis befaßt, in der transzendentalen, welche den Ursprung, und der metaphysischen, welche die letzte Bedeutung desselben ergründen möchte, der Ausgangspunkt der Forschung. Dort mußte, beim empirischen Fortschreiten der Bildung von Außen nach Innen, von der Welt als einem Objektiven ausgegangen werden, hier, wo es sich um den letzten Ursprung handelt, ist der Geist das Erste. Dort mußte man ferner einfach beobachtend schildern, was in diesem Prozeß vorgeht und beim Vorliegenden sich zufrieden geben; hier, wo es gilt, Geist und Welt auseinanderzusetzen und zu den letzten uns erreichbaren Tatsachen vorzudringen, darf jenes nur als Erscheinung gelten und muß geprüft und umgestaltet sein, um anerkannt zu werden. Eine solche Bestimmung der Aufgabe und die damit verknüpfte Umwandlung der beschreibend aggregierenden Forschung in eine analytisch-systematische muß aber alle einzelnen Begriffe wesentlich ändern.

Der Empiriker pflegt sich auf Tatsachen zu berufen, d. h. auf "Gegenstände für Begriffe, deren objektive Realität - bewiesen werden kann" (siehe KANT, Werke V, Seite 482), aber was wird denn überhaupt von diesem Begriff umfaßt? Nur das einzelne Geschehen in der Außenwelt? Oder gibt es auch allgemeine Tatsachen, gibt es auch innere Tatsachen? Und ist KANT für einen phantastischen Schwärmer zu erachten, wenn er auch eine Vernunftidee, nämlich die Idee der Freiheit, als Tatsache angesehen wissen wollte? (26) Dann aber, und das ist hier das Wichtigste, sind die Erscheinungen, wie sie unmittelbar dem Bewußtsein vorliegen, schon reine Tatsachen? Wie jeder Forscher in seinem Gebiet nach seiner Art, so wird der Philosoph in der letzthin zusammenfassenden und abschließenden Untersuchung das behaupten, daß erst durch die Arbeit des Denkens aus den Erscheinungen die Tatsachen zu ermitteln sind (27), daß diese Aufgabe nur in der Würdigung des Ganzen mit Erfolg behandelt werden kann, und daß die einzelnen Data nur durch den Zusammenhang ihre feste Bedeutung gewinnen (28).

Ähnlich aber wie der Begriff der  Tatsache  gestaltet sich auch der der Verifikation um. Gewöhnlich wird dabei an einen Vergleich des Vorstellungsinhaltes mit dem draußen liegenden Objekt gedacht, aber diese Bestimmung genügt shon den einzelnen Wissenschaften nicht. In der Mathematik z. B. wird man nur durch die Konsequenz des Denkprozesses selber, der das Problematische auf unmittelbare Einsichten zurückführt, sich über Wahrheit oder Unwahrheit vergewissern können (29). In der Philosophie aber, wo nicht nur die Gesamtheit der Außenwelt als solcher, sondern das Wissen überhaupt in Frage gestellt werden kann, werden sich ganz neue Probleme eröffnen, die nur von einer systematischen Forschung aufgenommen und so weit geführt werden können als uns überhaupt möglich ist. Die Meinung, hier durch isolierte Data prinzipielle Fragen lösen zu können, wird entschieden zurückzuweisen sein.

Und nun endlich der Begriff der  Erfahrung  selber, aus der vermeintlich alle Erkenntnis stammt. Soll das heißen, daß wir alles, was wir wissen, aus der im Verhältnis zur Welt sich gestaltenden und wirkenden Tätigkeit des Denkes gewinnen, so wird niemand etwas einzuwenden haben; versteht man darunter, daß die Tätigkeit immer an die entgegenstehenden Objekte gebunden sei, so wird die Behauptung schon problematischer, und nicht nur ein Blick z. B. auf die Ethik (30), sondern auch auf die reine Mathematik könnte daran Zweifel erregen; soll aber gar behauptet werden, daß in diesem Zusammensein der Geist alles von außen ohne gestaltende Tätigkeit seinerseits letztlich erhält, so haben wir keine Darstellung erscheinungsmäßiger Vorgänge mehr, sondern eine spezifisch dogmatische These über ihren Gehalt (31), eine These, deren gewöhnliche Beweisführung an einer steten  petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp]leidet. Denn dabei pflegt die Außenwelt als eine gegebene und an den Geist fertig herantretende angesehen zu werden; dieses aber, was dem unphilosophischen Bewußtsein als selbstverständlich erscheinen mag, steht ja eben in Frage, denn es handelt sich ja gerade darum, ob wir im Aufnehmen oft nicht etwas nur wieder erhalten, was wir selbst in die Welt hineingelegt haben, und ob nicht der Empiriker etwas vergißt, was doch auch mit zur Erfahrung gehört: den Beobachter.

Ebenso mehrdeutig ist es, wenn verlangt wird, daß wir nicht über die Erfahrung hinausgehen sollen. Ist der Sinn, daß die Erscheinungen, so wie sie uns gegeben sind, unverändert zu lassen sind, so ist damit nicht nur die Philosophie, sondern jegliche Wissenschaft zerstört, denn ein jedes Wissen muß, indem es Gesetze und kausale Verbindungen zu ermitteln und das Zusammengesetzte der Erscheinung aufzulösen, das Zerstreute zu verbinden sucht, über das unmittelbar Vorliegende hinausgehen und es umgestalten. Die konstruktiven Philosophen hatten vollkommen Recht, wenn sie, diese Bedeutung von Erfahrung voraussetzend, den Begriff der Erfahrungswissenschaft angriffen (32) und geradezu einen Widerspruch darin sahen, die Erfahrung selbst, deren Wesen eben darin bestehe, nie auf ein Prinzip zu führen, zum Prinzip und zwar zum obersten in der Philosophie zu machen (siehe SCHELLING, Werke VI, Seite 78); nur darin gingen sie fehlt, daß sie einen solchen Begriff von Erfahrung irgendeinem wissenschaftlichen Kopf zutrauten. Natürlich soll es die wissenschaftliche Erfahrung sein, zu der man sich bekennt, aber nun entsteht die Frage, ob dieselbe nach dem eben Bemerkten nicht shcon eine selbständige Tätigkeit des Geistes voraussetzt, und der Vorkämpfer einer solchen Erfahrung sich in eine Bewegung einläßt, die konsequent verfolgt notwendig auch der Philosophie eine eigene Aufgabe über der Erfahrung zuerkennen muß. Es gerät der Empiriker in das Dilemma, entweder bei festgehaltener Leugnung der Tätigkeit des Geistes sich auf die gemeine Erfahrung zurückverwiesen zu sehen, oder das in der Philosophie in Abrede zu stellen, wofür er in den einzelnen Wissenschaften eintritt, und die Folge davon ist ein stetes Schwanken im Begriff der Erfahrung selber. Ist aber einmal nur das Recht zugestanden, die Form des Gegebenen umzugestalten, so ist der Frage nicht auszuweichen, ob nicht eine solche Umgestaltung (ganz abgesehen von der Relativität der Begriffe  Form  und  Inhalt)  auch materiell weiterführt, und sich also die Denktätigkeit in einem gesetzmäßigen Fortschreiten problematisch wie assertorisch [als gültig behauptet - wp] über jene Grundlage erhebt.

Immer aber bleibt das hier für uns die Hauptsache, daß Aufgaben und Ansprüche der Philosophie nur den Höhepunkt der gesamten wissenschaftlichen Arbeit ausmachen, so daß sie nicht als etwas ganz Abenteuerliches abgewiesen werden dürfen. Das gilt aber vor allem in der neueren Wissenschaft, die eine weit freiere Stellung gegenüber dem unmittelbar Vorliegenden einnimmt und mittels ihrer Analyse das ganze naive Weltbild umgeschaffen hat. Wenn nun die einzelnen Disziplinen diese Frage weder allgemein stellen noch sie bis auf den letzten Grund verfolgen, dies eben aber die Philosophie unternimmt, so ergreift sie damit ein notwendiges und durchgehendes Problem der Erkenntnis und rechtfertigt erst die gesamte wissenschaftliche Arbeit (33). Sie selbst aber gewinnt dadurch erst eine klare und bestimmte Aufgabe, eine systematische Ordnung und eigene Methode; nun erst treten die Fragen durch die philosophische Behandlung in eine wirklich neue Sphäre ein; die Grundbegriffe gestalten sich um: in eine Erfahrung des Äußeren und des Inneren, die sonst auseinanderfallen, können nun zu einem Ganzen verbunden werden. Es hört die Philosophie auf, ein Anhängsel der Wissenschaften, eine bloße Krönung des Gebäudes oder gar ein Tummelplatz der Einfälle des gemeinen Verstandes zu sein, sie wird vielmehr die Wissenschaft der Wissenschaften, die recht eigentlich die Seele aller erkennenden Tätigkeit bildet und ihr eine innere Einheit gibt.

Vom Standpunkt des Empirismus aus aber kann folgerichtigt eine solche selbständige Aufgabe der Philosophie und damit eine Philosophie als eigenartige Wissenschaft nicht aufrecht erhalten werden. Denn zum Begriff der Wissenschaft gehört doch wohl eine systematische Verbindung von Erkenntnissen unter Prinzipien, sowie eine spezifische Methode. Der Empiriker aber muß entweder der Philosophie eine bloße Zusammenstellung der Ergebnisse der anderen Wissenschaften zuerteilen, oder sie auf eine Beobachtung der psychischen Vorgänge, als auf ein spezifisches Gebiet, einschränken; im ersteren Fall hätte man gar keine Wissenschaft, im zweiten zumindest keine Zentralwissenschaft der Prinzipien. Auf eine eigene Methode für die Philosophie scheint aber der heutige Empirismus nicht einmal Anspruch zu erheben, da er sich einfach zu den Methoden bekennt, welche man als den Naturwissenschaften eigentümlich anzusehen pflegt. Offener aber als mit einem solchen Verzicht kann man den Verzicht auf die Philosophie als einer selbständigen Wissenschaft wohl nicht aussprechen.

Dementsprechen ist dann auch der moderne Empirismus, seinen bisherigen positiven (34) Ergebnissen nach betrachtet, wenig über eine neue Formulierung und hypothetische Erweiterung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse hinausgekommen. Sobald er sich weiter vom Boden der Naturwissenschaften entfernt, sieht er sich auf den gemeinen Menschenverstand angewiesen, und so könnte man wohl, ohne unbillig zu sein, sagen, daß, wenn auch der Empirismus sowohl Wissenschaft als auch Philosophie enthält, beides nicht zusammenfällt: was hier Wissenschaft ist, ist nicht Philosophie, und was Philosophie, ist nicht Wissenschaft.

Dem entsprechend hat der Einfluß des Empirismus in der geistigen Bewegung der Gegenwart weniger in den spezifisch philosophischen Leistungen seinen Grund als in Strömungen allgemeiner Art. Es wirkt vor allem eine Abneigung gegen alle spekulative und systematische Philosophie, die, zunächst gegen HEGEL und die konstruktiven Denker gewandt, dann weit über diesen Anlaß hinausgeht. Weniger klare Einsicht als dunkles Gefühl liegt einer solchen Regung zugrunde, es ist die Antipathie gegen ein abstraktes und bloß formales Wissen, gegen das gewaltsame Konstruieren aus angeblich reinen, in Wahrheit oft leeren Begriffen, gegen die ganze Entfremdung der Philosophie von der Positivität des Gegebenen. Dieser Vorwurf mag vornehmlich HEGEL im Auge haben, er trifft im Wesen die ganze systematische Philosophie der Neuzeit, mit Ausnahme KANTs. Durchgehend und zunehmend ist hier alles Sein auf Operationen des Verstandes zurückgeführt und mehr und mehr aller positive Inhalt der Welt dahin aufgelöst. Dagegen ist nun der Rückschlag eingetreten, der Durst nach einer realen und konkreten Weltbegreifung ist mächtig geworden, und da er in der Philosophie keine Befriedigung findet, hat er sich gegen sie gewandt und begünstigt all das, was der unmittelbaren Erscheinung naheliegt. - Die zugrunde liegende Tendenz halten wir für vollberechtigt und freuen uns ihrer von ganzem Herzen, aber soll sie Bedeutung und Bestand gewinnen, so muß sie sich einen Platz innerhalb der Philosophie erkämpfen und nicht in allen Vorurteilen der gemeinen Auffassung stehen bleiben. So wie jetzt die Dinge liegen, mischt sich alles mögliche zusammen, alles was sich überhaupt idealistischen Bestrebungen abneigt, verbindet sich, um nicht diese oder jene Philosophie, sondern alle systematische Philosophie zu bekämpfen. Gegen solche Angriffe die Philosophie verteidigen hieße dieselbe herabsetzen; nicht darauf kommt es schließlich an, wie die Zeit über die Philosophie, sondern wie die Philosophie über die Zeit urteilt; nur an einem Punkt möchten wir gegen ein Mißverständnis kämpfen, das auch forschende Kreise ergriffen hat: gegen das Mißverständnis der metaphysischen Aufgabe. Der Ausdruck  Metaphysik  ist zu einem jener Schlagworte geworden, die ein ruhiges Nachdenken nicht aufkommen lassen. Alles, was es an Abstrusem, Willkürlichem, Leerem geben kann, wird auf einen solchen Begriff gehäuft, und die Wirkung ist damit gesichert. Nun ist allerdings der Terminus  Metaphysik  ein sehr unglücklicher, indem dadurch leicht die Vorstellung erwacht, als handle es sich um ein jenseits und außerhalb der Erfahrung liegendes Wissen. Aber schon ein Blick in die Geschichte zeigt, wie wenig berechtigt es ist, dafür nur einen einzigen hervorragenden Denker, geschweige denn die gesamte Philosophie, verantwortlich zu machen. Einem Mißverständnis entsprungen, dann von neuplatonischer Seite auf das Transzendente übertragen (35), ist der Ausdruck im Sinne von  Ontologie  ein Lieblingswort der Scholastik geworden und auch in der neueren Philosophie eben da, wo der scholastische Geist sich am längsten erhielt, in der wolffischen Schule, mit Vorliebe verwandt. Von hier aus hat, und zwar nicht ohne Entstellung, KANT sich den Begriff der Metaphysik gebildet, den er bekämpft. Wenn nun aber nie ein hervorragender Denker eine Freude an diesem Ausdruck gehabt hat, so könnte man darin wohl ein Anzeichen erblicken, daß eine tiefere Aufgabe der Philosophie durch die Angriffe auf die "Metaphysik" nicht getroffen wird. Worauf alle systematischen Denken und solche voran, welche den schulmäßigen Begriff der Metaphysik bekämpften, Wert gelegt haben, das ist eine selbständige Prinzipienlehre der Philosophie. Aus dem Nachdruck der Metaphysik kann man höchstens folgern, daß diese notwendige Aufgabe sich in gewissen Köpfen falsch darstellt, nicht aber, daß sie ansich eine verfehlte sei. Ebensogut, wie man dem systematischen Philosophen vorwirft, daß er das, was über der Welt liegt, erforschen will, könnte man sagen, daß er das untersucht, was vor der speziellen Erkenntnis liegt, die allgemeinen Bedingungen der Erkenntnis, richtiger aber ist es, hier alle Bestimmungen äußerer Art beiseite zu lassen und die Aufgabe nach dem Wesentlichen und Begrifflichen zu bemessen.

Der systematische Philosoph will in keiner Weise die Erfahrung mißachten, nur kann er die Sätze "nicht ohne Erfahrung" und "alles allein aus Erfahrung" nicht einander gleichstellen. An ihrer Stelle wird ihm die Erfahrung in gleichem Umfang wertvoll sein, wie dem Empiriker, nur glaubt er auf eine weitere Frage nicht verzichten zu dürfen. Auch fällt es ihm nicht ein, durch die Sätze, zu welchen er gelangt, das in der Erfahrung Gegebene verdrängen zu wollen; es bleibt vielmehr an seinem Platz unangefochten, nur kann es ihm nicht als das Letzte gelten, wohin das Denken zu gelangen vermag. Aber hier hat die Philosophie unter der Unsitte zu leiden, daß die Ergebnisse der Forschung, statt im Zusammenhang des Ganzen eine Würdigung zu finden, unmittelbar auf die einzelnen Phänomene bezogen werden; der philosophische Begriff scheint nun das evident Vorliegende verdrängen zu wollen, und da natürlich dem gemeinen Verstand nichts tatsächlicher zu sein dünkt, als was der Mensch sehen und greifen kann, so erscheint der Philosoph als Utopist und Wolkenkuckucksheimer, und jeder Gelegenheitsdenker glaubt die größten Forscher aller Zeiten spielend widerlegen zu können. Aus einer solchen Beziehung der Ergebnisse philosophischen Forschens auf die unmittelbare Erscheinung, sowohl auf theoretischem wie auf praktischem Gebiet, geht vor allem die Überhebung des gemeinen Verstandes über die Philosophie hervor, die nicht selten den Spott der Denker erregt hat.
    "Von jeher", meint  Schelling  (siehe Werke II, Seite 19), "haben die alltäglichsten Menschen die größten Philosophen widerlegt; mit Dingen, die selbst Kindern und Unmündigen begreiflich sind. Man hört, liest und staunt, daß so großen Männern so gemeine Dinge unbekannt waren und daß so anerkannt kleine Menschen sie meistern konnten. Kein Mensch denkt daran, daß sie vielleicht all das auch gewußt haben; denn wie hätten sie sonst gegen den Strom von Evidenz schwimmen können? Viele sind überzeugt, daß  Plato,  wenn er nur  Locke  lesen könnte, beschämt von dann gehen würde; mancher glaubt, daß selbst  Leibniz,  wenn er von den Toten auferstehen könnte, um eine Stunde lang bei ihm in die Schule zu gehen, bekehrt würde, und wie viele Unmündige haben nicht über  Spinozas  Grabhügel Triumphlieder angestimmt?"
Alle solche Übergriffe des gemeinen Verstandes treffen die Systeme in dem Maß mehr als sie für die philosophische Forschung eine selbständige Aufgabe fordern; je näher sie dem gewöhnlichen Weltbild bleiben, desto eher dürfen sie auf eine Verzeihung seitens des Verstandes rechnen. Dem Empirismus pflegt derselbe selbst ein gewisses Wohlwollen zuzuwenden, das freilich seine wissenschaftlichen Vertreter nicht verschuldet haben. Für die philosophische Behandlung der vorliegenden Frage hat diese ganze Parteinahme der Menge gar keinen Wert. Das transzendentale und metaphysische Problem ist ein so überaus schwieriges und setzt so viel wissenschaftliche und philosophische Arbeit voraus, liegt dazu auch der naiven Weltanschauung so fern, daß die Meinungen der Leute hier für den Philosophen genau die Bedeutung haben wie für den Astronomen die vulgären Vorstellungen von den Himmelskörpern und ihren Bewegungen.

Aber die Verwirrung ist heutzutage über den Kreise der Halbdenkenden hinaus auch in den der wissenschaftlich Forschenden gedrungen; aus den Argumenten, die hier selbst von Männern, die in den Einzelwissenschaften eine hervorragende Stellung einnehmen, für den Empirismus geltend gemacht werden, geht klar hervor, daß das philosophische Problem nicht in seiner Eigentümlichkeit verstanden wird. So wird z. B. daraus, daß im psychologisch-physiologischen Problem der Gestaltung unserer Raumvorstellungen die Waagschale sich zugunsten der empirischen Erklärung gegenüber der nativistischen hinzuneugen scheint, ein Argument für den philosophischen Empirismus geschmiedet. Aber beide Fragen sind ja grundverschieden, das eine Mal handelt es sich um das psychische Entstehen und zum Bewußtseinkommen, das andere Mal um den letzten Ursprung; man kann jenes psychologische Problem durchaus im Sinne des Empirismus beantworten, ohne in einem transzendentalen Sinn ein philosophischer Empiriker zu sein. Die Gleichstellung beider Fragen zeigt ein starkes Mißverständnis der kantischen Philosophie, gegen welches sich KANT wiederholt ausdrücklich verwahrt hat. Gerade er, der auf die Ursprünglichkeit der Erkenntnisformen den größten Wert legte, hat die Frage, ob diese Formen als fertig und angeboren gegeben oder als erst im Leben sich entwickelnd anzusehen seien, von jenem Problem bestimmt geschieden und seine Sympathie für die später sogenannte empirische Erklärung unzweideutig ausgesprochen. (36)

Ferner sind mannigfach die neueren Untersuchungen über die Prinzipien der Geometrie, aus denen sich ergibt, daß unsere Raumanschauung eine bestimmte unter anderen möglichen ist, so verstanden, als seien durch die Erkenntnis dieser Positivität die kantischen Lehren widerlegt und die Frage zugunsten des Empirismus entschieden, indem ja nur durch die Erfahrung jene Beschaffenheit der Raumanschauung ermittelt sei. Aber für den Philosophen liegt ja die Frage gar nicht darin, woher wir uns die Einsichten zu Bewußtsein bringen, sondern darin, woher sie ursprünglich stammen, und es ist etwas ganz anderes, etwas vom Denken aus zu konstruieren, als es, nachdem es erkannt ist, aus geistiger Tätigkeit hervorgegangen zu begreifen. Dabei brauchen die Richtungen, welche die Ursprünglichkeit der Erkenntnisformen verteidigen, dieselben nicht im mindesten aus reinen Begriffen abzuleiten, sondern sie können eine spezifische Beschaffenheit, die wir erst in der Erfahrung erkennen, ohne jedes Bedenken zugestehen. Doch ich habe den Ausdruck zu verbessern, von Zugeständnis kann keine Rede sein, weil gerade von der systematischen Richtung aus jene Positivität zuerst behauptet wurde. Für LEIBNIZ war es ein besonders anziehender und in seinem System hochwichtiger Gedanke, das Wirkliche durchgehend als eine von verschiedenen Möglichkeiten zu fassen, bei KANT aber bildete die Überzeugung geradezu eins der treibenden Motive seines transzendentalen Idealismus, daß die bestimmte Beschaffenheit der Raumanschauung, darunter die drei Dimensionen, nicht aus einem allgemeinen Begriff des Raumes gefolgert werden könnte. (37) Er würde daher eben die Forschungen mit besonderer Freude begrüßt haben, durch die jetzt manche ihn glauben widerlegen zu können (38). Und überhaupt liegt nicht darin, daß der Geist die eigentümlichen Formen der Anschauung als ein spezifisches erkennt, zugleich eine Erhebung über die Schranken? Ist es nicht einer der größten Triumphe des Denkens, eine Geometrie ausbilden zu können, die von den spezifischen Bedingungen unserer Anschauung unabhängig ist? - Bei den Empirikern bewegt sich hier durchgehend die Beweisführung im Zirkel, denn man beruft sich einfach auf den erscheinungsmäßigen Vorgang; aber diesen zu prüfen und zu schätzen ist eben ein Problem, und das Ergebnis dieser Prüfung könnte sehr wohl eine Umkehrung der ersten Erscheinung sein. - Jedenfalls aber kann alles, was die wissenschaftliche Arbeit an Ergebnissen erringen, was sie namentlich in Bezug auf die Entwicklung und die Positivität des Inhaltes geistigen Lebens herausstellen mag, ganz und gar von einer systematischen Philosophie anerkannt und hochgeschätzt werden, ja es kann nach unserer Überzeugung erst in einer solchen seine volle prinzipielle Verwertung finden.

Die eben schon hinreichende Verwirrung der Begriffe wird nun durch die Art, wie man in gewissen Kreisen die Gegner des Empirismus darzustellen beliebt, noch gesteigert. Es hat nach manchen Auslassungen den Anschein, als wenn jeder Anhänger einer systematischen Philosophie nichts anderes als Freund eines begrifflich konstruierenden Systems in der Art HEGELs sein könnte, wobei wieder das Bild einer solchen Philosophie in arger Weise entstellt wird. Aber wie immer man über HEGEL urteilen mag, mit welchem Recht werden wir andern für seine Gedanken verantwortlich gemacht? Soll auch in der Philosophie eine solche Imputationslehre gelten, daß alle für etwaige Sünden von einem büßen müssen? Oder sollen gar wir Nichtempiriker uns alle ins Mittelalter zurückversetzen lassen und der Gunst, von der geistigen Bewegung der Neuzeit auch etwas zu lernen, durch einen Machtspruch der Empiriker beraubt werden? Ferner muß abgesehen von allen historischen Zusammenhängen dagegen eine Verwahrung eingelegt werden, daß jeder, der eine selbständige Bedeutung der Philosophie als systematischer Wissenschaft verteidigt, vom großen Haufen als unklar, phantastisch und unverständlich hingestellt wird. Schon LEIBNIZ mußte gegen die von LOCKE aufgebrachte Unart kämpfen, etwas den eigenen Gedankengängen fernliegendes als unverständlich zu bezeichnen (39) und damit beiseite zu schieben. Es darf hinzugefügt werden, daß der, welcher sich in dieser Weise der Sache überheben zu können wähnt, damit die Gemeinschaft wissenschaftlicher Arbeit aufgibt.

Wenn man nach all dem sich das Bild vorstellt, das sich manche heutzutage von den "Metaphysikern machen, jenen Männern, die verwegen über alle Schranken der Erfahrung ohne Kompass hinaussteuern und ernster Arbeit abgeneigt das, was nur durch dieselbe errungen werden kann, in einem kühnem Schwung der Einbildungskraft erhaschen wollen, und die sich dabei noch hochmütig über die wirklich Arbeitenden erheben, so scheint es, daß man über soviel Frevel nur Abscheu empfinden und sich nicht stark genug gegen die Gemeinschaft mit solchen Menschen verwahren kann. Aber wenn man sich nun die Gesellschaft dieser Nichtempiriker und Anti-Empiriker näher ansieht, so findet man nicht bloß Männer wie PLATO und PLOTIN, SPINOZA und HEGEL, sondern auch CARTESIUS und LEIBNIZ, KANT und HERBART, kurz: so ziemlich alles, was in der Philosophie bedeutend gewesen ist, und da, fürchte ich, wird es immer noch manche geben, die es vorziehen, in Gesellschaft jener von den Hohenpriestern des gemeinen Menschenverstandes verdammt zu werden, als mit den von ihnen Gefeierten die Gunst des philosophischen Dilettantentums zu teilen.

Doch genug des Scherzes, man soll die Heiterkeit, welche spätere Jahrhunderte bei der Betrachtung dieser gespreizten, trockenernsten und großen Probleme wie große Männer gleichmäßig schulmeisternden Dilettantentums empfinden werden, nicht antizipieren. Wir möchten vielmehr nach einer Seite hin unsere Darstellung gegen ein unliebsames Mißverständnis schützen. Unter den Männern philosophischer Forschung pflegen manche den Empirikern zugezählt zu werden, die sich mit Recht gegen unsere Darstellung verwahren könnten. Wir sehen diese Männer an konkreten und wichtigen Problemen in besonnener und kritischer Arbeit beschäftigt, die unsere volle Hochachtung hat, und die in ihrem Verlauf auch diejenigen einander näher bringt, welche sich zu Anfang fern standen. Mögen daher jene Männer uns gestatten, das Wort FICHTEs anzuwenden: "Wer überflüssig findet, was wir sagten, der gehört nicht unter diejenigen, für welche wir es sagten." Was wir bekämpfen, ist jene anti-philosophische Richtung im allgemeinen Leben, welche die großen Probleme des Denkens und Strebens verwirft, weil sie dieselben nicht versteht, welche dem Geist alle selbständige und gestaltende Kraft in der Welt abspricht, und die nun doch einen philosophischen Mantel anlegen möchte, um so mit scheinbarem Recht aus dem Mangel eine Tugend zu machen. Solche Strömungen direkt wissenschaftlich zu bekämpfen, ist unmöglich; wohl aber sollten alle philosophisch Forschenden ohne Unterschied der Partei für die Selbständigkeit und Hoheit philosophischer Wissenschaft und ihre Bedeutung im System menschlicher Zwecke eintreten. Diese Bedeutung mißt sich nicht nach der Summe einzelner Lehrsätze, die man jedem andemonstrieren könnte, oder gar nach wunderbaren Entdeckungen, die den gemeinen Verstand in Staunen versetzen, sondern nach der Fülle geistiger Kraft, die dadurch entwickelt, der Richtung derselben auf wertvolle Ziele, die daher bestimmt, der ganzen Hebung des geistigen und wissenschaftlichen Standortes, die von da aus bewirkt wird. Damit solche Güter gewahrt bleiben, ist es notwendig, an der ganzen Größe der Aufgabe festzuhalten, wenn wir heute auch noch so wenig Glauben und wenig Kraft haben, sie fördern zu können. "Denn wenn das Feuer in dir erlischt, ist es nicht überhaupt erloschen", (40) und in keiner Weise dürfen die letzten Ziele der Menschheit von den Stimmungen des Tages abhängig gemacht werden. Was aber speziell das Erkennen anbelangt, so würden wir eine systematische Philosophie dadurch schon gerechtfertigt finden, daß es nur durch sie ermöglicht wird, dem Vorliegenden gegenüber eine freie Stellung zu bewahren, die Erfahrung selber zum Problem zu machen und das Zufällige nicht von vornherein zu einem Notwendigen zu stempeln. HEGEL hat wiederholt hervorgehoben, daß das Erkennen einer Schranke die innere Erhebung über sie anzeigt, aber der Satz läßt auch die Umkehrung zu, daß man über eine Schranke hinaus sein muß, um ihrer in Wahrheit bewußt und eingedenk zu sein. Um also innerhalb der Erfahrung besonnen und umsichtig forschen zu können, ist eine Philosophie notwendig, die nicht in der Erfahrung abschließt.
LITERATUR - Rudolf Eucken, Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart, Leipzig 1878
    Anmerkungen
    1) PLATON, Gorgias, 448 C
    2) ARISTOTELES, Metaphysik, 981a 7
    3) Siehe darüber HÄSER, Geschichte der Medizin, Bd. I, Seite 245f.
    4) PARACELSUS III, Seite 78: Weg der Erfahrenheit; II, Seite 380: Erforschung der Erfahrenheit.
    5) ADELUNG bemerkt, nachdem er die jetzt vorherrschende Bedeutung angeführt hatte: "Im Oberdeutschen wird dieses Wort auch für Erfahrung gebraucht. Ich habe es aus Erfahrenheit."
    6) So namentlich zu der Zeit, als der Ausdruck "Tatsache" noch nicht gebräuchlich war.
    7) FRANCIS BACON, Novum Organon I, 127. Die Induktion ist übrigens als eigenartige Methode zuerst von SOKRATES angewandt (siehe ARISTOTELES, Metaphysik, 1078b, 27). Die Bezeichnung und eine genauere Untersuchung erhielt sie bei ARISTOTELES.
    8) DESCARTES, Princ. Philos. I, § 52.
    9) LEIBNIZ kommt demnach der Unterscheidung synthetischer und analytischer Urteile nahe, nur daß er den ganzen Unterschied für einen subjektiven und in einer unendlichen Entwicklung aufzuhebenden erachtet.
    10) Sämtliche Werke (Ausgabe HARTENSTEIN), Bd. IV, Seite 64
    11) Nicht unbegründet ist daher HERBARTs Vorwurf (Werke 6, Seite 286), es liege eine  petitio principii  [Fehler im Ansatz - wp] darin, "daß die Erfahrung objektive Gültigkeit habe, die in sich eine absolute Festigkeit besitzt und über den Rang einer allgemeinen, gleichförmigen Gewöhnung der Menschen sich weit erhebe."
    12) SCHELLING nennt IV, Seite 97 "die Erfahrung nicht Prinzip, wohl aber Aufgabe, nicht  terminus a quo  [Zeitpunkt ab dem - wp] wohl aber  terminus ad quem  [Zeitpunkt bis zu dem - wp] der Konstruktion." III, Seite 283 sagt er: "Der Gegensatz zwischen Empirie und Wissenschaft beruth nur eben darauf, daß jene ihr Objekt im Sein als etwas Fertiges und zustande Gebrachtes, die Wissenschaft dagegen das Objekt im Werden und als ein erst zustande zu Bringendes betrachtet." Überhaupt hat SCHELLING sich am meisten unter den deutschen Idealisten mit dem Problem des Verhältnisses der Philosophie zur Erfahrung beschäftigt.
    13) Aber auch hier ist für das empirische Bewußtsein die Erfahrung Bedingung (siehe VI, Seite 313): Alle Vernunftgesetze sind im Wesen unseres Geistes begründet, aber erst durch eine Erfahrung, auf welche sie anwendbar sind, gelangen sie zum empirischen Bewußtsein.
    14) Die hierhergehörigen Erörterungen der zweiten Periode stehen trotz mancher blitzartig treffenden Bemerkung zuwenig auf der Höhe der neueren Forschung, um in das wissenschaftliche Leben eingreifen zu können.
    15) Unerwiesen blieb dabei freilich das Recht des Denkens, also die Erfahrung auf seine Gesetze hin zu prüfen, und unerwiesen blieben auch die besonderen Kriterien, nach denen dabei verfahren wurde.
    16) Für das alles ist BACO ein klassischer Typus.
    17) siehe Opus V, Seite 216. Überhaupt sollte die KEPLERsche Erkenntnislehre, die namentlich im 4. Buch der  harmonice mundi  entwickelt ist, nicht so ganz über der BACONs vergessen werden.
    18) Es erhellt sich dies schon allein aus der Geringschätzung der Mathematik.
    19) Den Ausdruck hat so in unserer Sprache namentlich WEIGEL aufgebracht ("innere Erfahrenheit" und "innere Erfahrung"), siehe z. B.  Christliches Gespräch vom wahren Christentum,  zweites Kapitel.
    20) Mit Recht sagt HERBART, Werke 6, Seite 358: "Jedes Faktum, das man als aus früherer Zeit her durch das Bewußtsein bekannt, oder überhaupt als schon geschehen und vor Augen liegend annimmt, kann in Zweifel gezogen werden, ja es muß bezweifelt werden, wegen der Schwankung aller inneren Wahrnehmung und wegen der äußersten Leichtigkeit, in ein solches Faktum durch Erschleichung etwas hineinzuschieben."
    21) Gegen eine empirische Psychologie, insofern sie nur eine Vorbereitung zur Philosophie sein will, haben wir nicht nur nichts einzuwenden, sondern verlangen sie unsererseits, aber die Beschreibungen, Klassifikationen und Analysen, die sie zu geben vermag, bringen noch keine Wissenschaft zustande und führen nicht zu einer letzten Scheidung des Tatsächlichen und Hinzugedachten. Und dann mögen wir hier immer der Mahnung SCHELLINGs (Werke III, Seite 282) eingedenkt sein: "Daß nur jene warmen Lobpreiser der Empirie, die sie auf Kosten der Wissenschaft erheben, dem Begriff der Empirie treu uns nicht ihre eigenen Urteile und das in die Natur Hineingeschlossene, den Objekten Aufgezwängte für Empirie verkaufen wollten; denn so viele auch davon reden zu können glauben, so gehört doch wohl etwas mehr dazu, als viele sich einbilden, das Geschehene aus der Natur rein heraus zu sehen, und treu so wie es gesehen wurde wiederzugeben."
    22) Am nachdrücklichsten hat dies HERBART geltend gemacht. Er findet (Werke VI, Seite 314) den Ursprung der falschen Metaphysik darin, "daß man die Grundbegriffe der Erfahrung gerade so läßt, und für gut annimmt, wie sie der psychologische Mechanismus zuerst zutage fördert. Er besteht in der Unterlassungssünde, daß man zur wahren Metaphysik nicht fortschreitet.
    23) Von seiten spekulativer Philosophie ist oft darauf aufmerksam gemacht, daß hier die Vorstellung den Geist im Grunde als etwas körperliches faßt.
    24) Die Empiriker sprechen immer davon, daß die Dinge gegeben sind, aber es muß doch auch etwas sein, dem sie gegeben sind. Oder es heißt, daß es sich so oder so in der Welt findet, aber wer und was ist denn der Findende?
    25) Der Gegebsatz zwischen LOCKE und LEIBNIZ ist nicht so unversöhnlich wie er gewöhnlich gilt. Der eine kann zuerst, der andere zuletzt Recht haben.
    26) KANT, Werke V, Seite 483
    27) Mit Recht sagt SCHELLING (Werke 10, Seite 228), daß in allen möglichen Untersuchungen die Ausmittlung der reinen, der wahren Tatsache das Erste und Wichtigste, aber auch zugleich das Schwerste ist.
    28) Der Ausdruck  Tatsache  ist abgesehen von anderem insofern ein unglücklicher, als er etwas als festbegründet und für sich abgeschlossen erscheinen läßt, das noch der Probe zu unterwerfen ist. Das Wort findet sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (so z. B. in LESSINGs Streitschriften gegen GÖTZE, bei HERDER u. a.); noch ADELUNG wollte es verbannen als "unschicklich und wider die Analogie zusammengesetzt" und "der Mißdeutung unterworfen". FICHTE drang der Tatsache gegenüber auf den Begriff der  Tathandlung. 
    29) Der erste Philosoph, der sich eingehender mit dem Problem der Verifikation in der Gesamtwissenschaft beschäftigt zu haben scheint, ROGER BACO, hat die Mathematik als Mittel der Verifikation der übrigen Erkenntnis und im Besonderen der Naturwissenschaft hingestellt (siehe  specula mathematica  dist. I)
    30) siehe KANT, Werke III, Seite 260: In Betracht der Natur gibt uns Erfahrung die Regel an die Hand und ist der Quell der Wahrheit, in Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird.
    31) Dabei ist auch der Sprachgebrauch, der Erfahrung und Vernunft einander gegenüberstellt, und das, was nur durch die wissenschaftliche Tätigkeit Bedeutung für die Erkenntnis gewinnt, als ein ihr gegenüber fertig und fest Gegebenes ansieht, irreleitend; mit Recht bemerkt in Bezug darauf BOYLE ("The Christian virtuoso" - gegen Schluß): "When we say, experience corrects reason, this is an improper way of speaking; since this reason itself, that upon the information of experience corrects the judgement it had made before." [Wenn wir sagen, die Erfahrung korrigiert die Vernunft, ist dies eine nicht korrekte Art zu sprechen, da diese Vernunft selbst, nämlich die Vernunft in Bezug auf die Informationen der Erfahrung, das Urteil korrigiert, das sie selbst zuvor gemacht hatte. - wp]
    32) So nennt SCHELLING (Werke III, Seite 282) den Begriff der Erfahrungswissenschaft einen "Zwitterbegriff, bei dem sich nichts Zusammenhängendes, oder der sich vielmehr überhaupt nicht denken läßt. Was reine Empirie ist, ist nicht Wissenschaft, und umgekehrt, was Wissenschaft ist, ist nicht Empirie."
    33) Auch die spezielle Art, wie in einer Zeitepoche jenes philosophische Problem behandelt wird, steht in enger Verbindung mit der Eigentümlichkeit der jeweiligen wissenschaftlichen Arbeit.
    34) Im Allgemeinen freilich ist die Negation weit überwiegend und die Empiriker können den konstruktiven Philosophen für ihre Verirrungen gar nicht dankbar genug sein.
    35) Der Ausdruck ging bekanntlich zunächst aus der Stellung der Schriften des ARISTOTELES hervor; wie schon GASSENDI vermutete, ist wohl ANDRONIKUS RHODIUS, der Ordner der aristotelischen Schriften, als sein Urheber anzusehen. Dann aber bürgerte sich das Wort rasch zur Bezeichnung der Disziplin überhaupt ein, die endlich durch den Neuplatoniker HERENNIUS als Wissenschaft von dem über der Natur Liegenden verstanden wurde (siehe BRANDIS, Abhandlungen der Berliner Akademie, 1831, Seite 80). Die Singularform  metaphysica  ist wohl erst im 13. Jahrhundert bei den Häuptern der Scholastik nachzuweisen. Übrigens bedeutet Metaphysik im Mittelalter keineswegs eine Wissenschaft vom Jenseitigen, und selbst für WOLFF trifft die kantische Ansicht von der Metaphysik nicht zu (siehe KANT, Werke VIII, Seite 576): "Der alte Name dieser Wissenschaft  meta ta physika  gibt schon eine Anzeige auf die Gattung von Erkenntnis, worauf die Absicht mit derselben gerichtet war. Man will mittels ihrer über alle Gegenstände möglicher Erfahrung (trans physicam) hinausgehen, um womöglich das zu erkennen, was schlechterdings kein Gegenstand derselben sein kann." Die alte Metaphysik ist vielmehr im Anschluß an die aristotelische Metaphysik die Lehre von den allgemeinen Bestimmungen des Seienden, weswegen von CLAUBERG dafür der Name  Ontosophie  oder Ontologie vorgeschlagen wurde (siehe "Prolegomena zur metaphysica de ente quae rectius ontosophia").
    36) Bei der Behandlung der Begriffe  a priori  und  angeboren  werden bestimmte Stellen dafür zur Anführung kommen.
    37) siehe Werke II, Seite 410.
    38) Wie man sich übrigens auch zu diesem Problem stellen mag, die Frage nach dem Ursprung mathematischer Erkenntnis überhaupt ist damit nicht entschieden. Wir wären begierig, z. B. den Begriff des reinen Quantums aus der Erfahrung nachgewiesen zu sehen, wenn man sich nicht mit leeren Redensarten, wie z. B. der Abstraktion aus dem Gegebenen, begnügen will. Denn wie ist eine solche "Abstraktion" möglich?
    39) Demgegenüber verwendet der dilletantische Empirismus gern als Waffe das "Selbstverständliche", ein unzulängliches Mittel im Kampf um die Wahrheit. Denn dieses Selbstverständliche gehört entweder der Sphäre der naiven Weltanschauung an, die selber der Wissenschaft wieder Problem wird, oder aber es ist nur ein unbewußt gewordenes Ergebnis früherer wissenschaftlicher Bewegungen. Die meisten Fortschritte in der prinzipiellen Erkenntnis der Welt sind davon ausgegangen, daß einer an etwas "selbstverständlichem" zu zweifeln begann.
    40) PLOTIN, Enneaden II. 9. 7, 24-28