cr-2CohenMauthnerCassirerW. MoogF. Kuntze     
 
HEINRICH CZOLBE
Die Mathematik als Ideal
für alle andere Erkenntnis

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"Die sinnliche Wahrnehmung ist der feste Punkt, den die Empiriker stets im Auge haben."

"Je abstrakter oder allgemeiner, desto unbestimmter, undeutlicher oder weniger klar wird das Denken, desto leichter kommen Verwechslungen, Mißverständnisse und Verwirrung vor. Die Mathematik hilft sich bei ihren an und für sich gar nicht denkbaren Abstraktionen der Grenzen und Wiederholungen der Dinge, z. B. dem Punkt ohne Ausdehnung, der Linie ohne Breite durch die hypothetischen grobsinnlichen Figuren der Geometrie und die ebenso beschaffenen Zeichen der Arithmetik. Für die Abstraktionen der Philosophie gibt es keine solche gröbere Versinnlichung."


§ 2. Der Unterschied des Gegenstandes der
empirischen Wissenschaften und der Philosophie

Die empirischen Wissenschaften, den der Erfahrung zu ferne liegenden ersten Ursprung und die  erste  Entwicklung der Dinge, d. h. ihre Prinzipien überspringend und den Philosophen überlassend, erklären die  spätere  Entwicklung der Dinge und das Ende derselben oder ihre Vollendung. So erklärt die Entwicklungsgeschichte die spätere Entwicklung des Keims des Menschen (abgesehen von seiner Entstehung bei einer etwaigen Kosmogonie oder im Samen und Eierstock und dem Anfang seiner Entwicklung), die Anatomie und Physiologie den ausgewachsenen oder vollendeten Menschen; so überlassen die Physiker die Spekulationen über die Materie den Philosophen, nur die späteren Entwicklungen und Endresultat untersuchend; so überspringen die empirischen Juriuten den Rechtsbegriff und seine erst Entwicklung, sich nur mit der historischen Untersuchung der späteren Entwicklung und Vollendung bestimmter Rechtssystem beschäftigend. Die Philosophie dagegen hat teils in der Erkenntnis der letzten Ursachen oder Elemente der Welt, die nicht weiter erklärlich sind, teils in der Erklärung des ersten Zusammenwirkens oder der  ersten  Entwicklung jener Elemente zu bestehen. Eine scharfe begriffliche Grenze zwischen empirischen Wissenschaften und der ihren Anfang oder ihr Zentrum, insofern man das Zentrum als den notwendigen Anfang der Kreisfläche oder vielmehr der Kugel betrachten kann, bildenden Philosophie, die mit einem Wort  Wissenschaft der Prinzipien  zu nennen ist, besteht hiernach nicht. Da außerdem sämtliche empirische Forscher ein philosophisches Bedürfnis in gewissem Grad haben, benutzen sie zu einer einigermaßen zusammenhängenden Darstellung ihrer Wissenschaft philosophische Hypothesen -, ohne freilich auf diese Spekulationen einen besonderen Wert zu legen und sich um ihre befriedigende Ausprägung zu bemühen. Zur zusammenhängenden Darstsellung philosophischer Ansichten dagegen bedarf man Teile der empirischen Wissenschaften, so daß nicht nur begrifflich, sondern auch in der tatsächlichen Darstellung eine scharfe Grenze beider Erkenntnisgebiete nicht stattfindet.

Die menschliche Erkenntnis oder die Wissenschaft ist eben ein Ganzes: das Bild der gesamten körperichen und geistigen Weltordnung, von dem der mehr zutage liegende Teil die empirischen Wissenschaften, der tiefer liegende die Philosophie bildet. Beide Teile aber hängen notwendig aufs innigste zusammen und werden nur künstlich aus Rücksicht auf die später zu schildernde Verschiedenheit ihrer Methode getrennt.

Ebensowenig endlich, als eine scharfe Grenze zwischen den einzelnen empirischen Wissenschaften ist, z. B. zu einer gründlichen Physiologie des Menschen auch die Kenntnis der Anatomie, Physik, Chemie, Mathematik, zu einer gründlichen Rechtswissenschaft auch Kenntnis der Nationalökonomie etc. notwendig sind, ebenso sind auch die einzelnen Disziplinen der Philosophie: die Metaphysik, die Naturphilosophie, die Logik, die Psychologie, die Ethik nur künstlich oder aus gewissen Zweckmäßigkeitsrücksichten, z. B. wegen des Vorteils der Teilung der Arbeit getrennt. Was man Metaphysik nennt (der Name rührt von der Stellung der betreffenden aristotelischen Schrift hinter seiner Physik her) stimmt mit der von mir gegebenen Definition der Philosophie als Erkenntnis oder Wissenschaft der Prinzipien überein, insofern dieselbe nicht spezieller ausgeführt wird. Werden einzelne Teile an und für sich spezieller entwickelt, so entstehen die Naturphilosophie, oder die Ethik etc. Die formale Logik ist als die spezielle Entwicklung eines Teils der Psychologie zu betrachten. Alle diese Einzeldisziplinen brauchen einander. Die Ethik z. B. bedarf bei der Frage nach der Willensfreiheit der Psychologie, diese bei der Frage nach dem Zusammenhang der Seele mit dem Körper der Naturphilosophie. Das innere Band aller dieser Einzelheiten ist die Metaphysik, die man auch allgemeine Philosophie nennen kann. Die in dieser Abhandlung gegebene Einleitung in dieselbe, welche über die Methode der Erkenntnis und das Verhältnis der Wissenschaften untereinander handelt, bildet die Erkenntnistheorie oder Wissenschaftslehre. Die Mathematik als Abstraktion aus der Erfahrung, wie ich es in § 1 dargestellt habe, vertritt die Stelle der sogenannten oder ist allein die wahre Ontologie. Die Summe der koordinierten philosophischen Einzeldisziplinen nennt man auch Enzyklopädie der Philosophie.


§ 3. Der Unterschied der Methode der
empirischen Wissenschaften und der Philosophie

Während das Gemeinsame in der Methode aller Erkenntnis oben im Wesentlichen als die Analyse der komplizierten unmittelbaren Erfahrungen in immer einfachere bis auf die Elemente, und die Synthese der letzteren zu den kompliziertesten Erscheinungen (auch Deduktion derselben aus den Elementen genannt) definiert wurde -, besteht doch folgender Unterschied zwischen den empirischen Wissenschaften und der Philosophie.

In den empirischen Wissenschaften findet jene Analyse und Synthese ganz auf dem Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung statt, indem man dazu körperliche Tätigkeiten, Instrumente und andere derartige Mittel anwendet und nach vielfachen Wiederholungen das für unmittelbar wahr hält, worin die meisten Menschen übereinstimmen. Sind die Analyse und Synthese in dieser Weise nicht unmittelbar sicher, sind sie geistig oder in Gedanken ausgeführt, so werden sie als unsichere geistige auf doppelte Weise kontrolliert und verifiziert. Es ist nämlich nicht ausreichend, daß diese geistigen Angaben nur möglich, d. h. mit den Denkgesetzen nicht im Widerspruch sind; es ist selbst nicht ausreichend, daß sie mit mathematischer Notwendigkeit aus sicheren Tatsachen zu folgen scheinen, ihre Verneinung undenkbar oder absurd zu sein scheint. Es wird Vieles irrtümlich für allein möglich oder notwendig, Vieles für undenkbar gehalten, was es aber nicht ist. Außer dieser  ideellen Probe  wird zweitens noch die  reelle  angewandt, nämlich einerseits die Kontrolle durch Experimente, d. h. künstliche Erfahrungen im Gegensatz zu den gewöhnlichen, andererseits bei meßbaren und berechenbaren Dingen die Kontrolle durch die Mathematik, da sich alles in der Welt in mathematischen Verhältnissen bewegt und deshalb unter Umständen eine genaue Bestimmung der Quantitäten von Zeit, Raum und Kraft ausführbar ist. Die Verifikation durch die gewöhnliche Logik ist nicht ausreichend. Sauerstoff und Stickstoff z. B. sind zwei farblose Gase, so daß nach der gewöhnlichen Denkweise durch ihre Verbindung keine Farbe entstehen könnte. Trotzdem entsteht daraus die dunkelorange Salpetersäure. Mit der größten Vorsicht oder Skepsis sucht man die Analyse immer genauer, die Instrumente dazu immer richtiger und feiner zu machen und bei der Vergleichung der Beobachtungen selbst die indidividuellen Verschiedenheiten der Beobachter (die sogenannte persönliche Gleichung) mit in Rechnung zu bringen. Die ideelle und reelle Probe, d. h. die Erkenntnis der Übereinstimmung gewisser Angaben nicht nur mit den Denkgesetzen, sondern auch mit den sinnlichen Wahrnehmungen bilden beide zusammen das oberste Prinzip, den unentbehrlichen Kompaß bei jedem Schritt in den empirischen Wissenschaften und jeder Irrtum kann nachgewiesen werden als entstanden aus dem Sich-Verlassen auf unbewiesene Tatsachen, voreilige Induktionen oder bloßen ein Vorurteil bildenden Redensarten, von denen aus spekuliert wird, als seien es erwiesene Wahrheiten.

Derartige voreilige Induktionen haben freilich zuweilen lange Zeit das größte Ansehen, z. B. heute meines Erachtens gewisse geologische und astronomische Verallgemeinerungen, aus denen man auf eine einstmalige Entstehung und eine dereinstige Zerstörung der Weltordnung schließt. Gegen die Meinung, daß weil in den verhältnismäßig sehr wenigen bisher untersuchten tieferen Sedimenten keine menschlichen Überreste gefunden sind, der Mensch zu irgendeiner Zeit auf rätselhafte Weise entstanden sein muß und nicht in einer von Ewigkeit her bestehenden Welt auch ohne zeitlichen Anfang bestanden haben kann - kann man AGASSIZ' Worte (The structure of animal Life, London 1866) anführen:
    "Was wissen wir von den Tieren, die in Afrika und Neuholland begraben sind? und nicht allein Afrika und Australien, auch der größte Teil Asiens und Südamerikas sind in dieser Hinsicht versiegelte Bücher. Wir haben nur  einzelne Teile  Europas und Nordamerikas durchforscht und schließen hieraus auf die ganze Erde. Wir können, wollen wir wissenschaftlich verfahren, nur gleiche Flächen miteinander vergleichen. Würden wir nicht einen großen Fehler begehen, wenn wir aus der Zahl der Bewohner einer Gegend auf die ganze Bevölkerung der Erde schließen wollten?"
Bedenkt man, daß AGASSIZ dabei noch die Sedimente des den größten Teil der Erdoberfläche einnehmenden Meeresbodens nicht erwähnt, so wird man die Voreiligkeit der Induktion erkennen, zu dem die Naturforscher sich durch das Vorurteil verführen lassen, daß doch alles einen Anfang gehabt haben muß; als ob es nicht ebenso notwendig wäre, letzte, d. h. anfangslose Ursachen zu denken.  Negative  Tatsachen, wie das obige Fehlen menschlicher Überreste sind oft genug widerlegt worden. Eine ähnliche im Interesse des obigen falschen Vorurteils gemachte Übertreibung ist die Induktion, daß die gesamte Erdrinde einst in einem glühend flüssigen Zustand war. Von den ebenfalls durch jenes Vorurteil bewirkten Übertreibungen des in gewissem Maße unzweifelhaft richtigen Darwinismus sagt AGASSIZ, a. a. O.:
    "Die von mir angeführten Tatsachen sind ein gewaltiger Streich gegen die Theorie einiger wohlunterrichteter, aber phantastischer Gelehrter, welche uns glauben machen wollen, daß die Tiere von  wenigen  Originalformen derivieren [sich ableiten lassen - wp], die im Laufe der Zeit nach bestimmten Gesetzen variierten und sich differenzierten."
Wie entschieden ich auch die theologischen Kombinationien von AGASSIZ verwerfe, so gehört er doch neben LINNÉ und CUVIER zu den  wenigen  in dieser Richtung ausgezeichneten Naturforschern, in denen der feste Glaube an einen persönlichen Gott, weil derselbe gewissen zu weit gehenden Spekulationen eine Grenze setzt, übereilte Induktionen hindert und sie dadurch gesund erhalten hat vor dem Kontagium [der Ansteckung - wp] der vulgären naturwissenschaftlichen Spekulation, wie ich Ähnliches schon früher in Bezug auf die Philosophie von LEIBNIZ und HERBART behauptete.

Andere Tatsachen, aus denen die Naturforscher die wichtigsten Schlüsse ziehen, scheinen mir dazu bisher viel zu wenig analysiert, z. B. in der Hypothese, daß weil vorgeblich der ENKE'sche Komet, mithin sämtliche Planeten durch den Äther des Weltraums gehemmt würden, ihre Bahnen durch den Äther des Weltraums gehemmt würden, ihre Bahnen immer enger werden müßten bis zu ihrem Sturz auf die Sonne. Da der Äther nach der Auffassung der meisten Physiker aus Atomen besteht, die sich gegenseitig nur abstoßen, da der innerhalb der Planeten befindliche dichtere Äther eine stärkere Stoßkraft besitzen wird, als derjenige außerhalb, so kann dieser durch jenen fortgestoßen werden, ähnlich wie die Vorderteile einer Lokomotive leichtere Hindernisse auf den Schienen so an die Seite werfen, daß der Wagen ungehemmt seine Bahn zurücklegt. Aus dem allerdings geringen Rückstoß auf den im Weltkörper befindlichen Äther kann nur eine verschwindend kleine Veränderung des Aggregatzustandes des Weltkörpers folgen, aber keine Hemmung seines Laufes durch den Weltraum, der offenbar ganz so stattfinden muß, als ob derselbe absolut leer sei, wie es auch die genauesten Berechnungen der Astronomen beweisen. Daß ENKEs Komet  durch den Äther  gehemmt ist, ist auch nicht bewiesen, sondern nur angenommen, um für die sonst notwendige Annahme des Äthers eine unmittelbare Tatsache anführen zu können. Der Komet könnte auch anderweitig gehemmt sein.

Alle derartigen Induktionen und Hypothesen gehören freilich genau genommen der exakten Naturwissenschaft gar nicht an, sie sind schon eine Grenzüberschreitung in das Gebiet der Philosophie der Natur. Ein selbständiger Philosoph sollte diese Grenzüberschreitung mit dem entschiedensten Mißtrauen betrachten. Die Philosophie der Naturforscher ist einseitig, wel sie bei der Beurteilung des Einzelnen die gesamte körperliche und geistige Weltordnung wenig im Auge haben; als Schluß aus der zeitigen, stets sich verändernden (d. h. vermehrenden) Summe naturwissenschaftlicher Tatsachen muß sie sich ferner auch  verändern,  während die echte Philosophie doch wohl nach der Erkenntnis der  unveränderlichen  absoluten Wahrheit strebt.

Die Methode der empirischen Wissenschaften, namentlich der Naturwissenschaft, nennt man mit Verallgemeinerung des Begriffs des induktiven Schlusses, d. h. der Annahme, daß, was unter gleichen Umständen stets beobachtet wird, ganz allgemeine Geltung hat - induktive Methode, obwohl darin, abgesehen von den Schlüssen per analogiam, auch die Deduktion (wenigstens im bisherigen Sinn) eine wesentliche Rolle spielt. Das Experiment, welches Verschiedenes zusammenfügt, um die Wirkung dieser Ursachen zu erkennen, oder daraus sinnlich zu deduzieren, fällt eben unter den allgemeinsten Begriff der Synthese, Kombination oder Deduktion. Ebenso geht man bei der deduktiven Methode doch von Voraussetzungen aus, die wenigstens meines Erachtens nicht aus einem nur inneren Bewußtsein des Menschen stammen oder aus der Luft gegriffen, sondern stets durch eine wenn auch sehr mangelhafte und falsche Analyse der Erfahrungen, durch Schlüsse der Induktion und dgl. erlangt sind. Anstelle des gebräuchlichen Gegensatzes der induktiven und deduktiven Methode scheint es mir richtiger, bei aller Erkenntnis Analyse und Synthese zu unterscheiden und dann einen Unterschied zu machen zwischen der sicheren Methode der empirischen Wissenschaften und der jetzt zu schildernden höchst unsicheren Methode der Philosophie, wie es z. B. auch LEWES in seiner Darstellung des ARISTOTELES (1865) tut, der mit anderen Worten zwischen wissenschaftlicher und metaphysischer Methode unterscheidet.

In der Philosophie oder Metaphysik nämlich bringt es die Tiefe des Gegenstandes, indem wir im Meer der Erkenntnis von der Oberfläche der äußeren und inneren Erfahrungen bis auf die letzten, tiefsten Gründe und ihre zunächst daraus folgenden Schlüsse hinabsteigen müssen, mit sich, daß bei der großen Entferntheit des unmittelbar gegebenen Materials Analyse und Synthese der Prinzipien nur geistig sein können und jede sichere Kontrolle, namentlich die oben geschilderte  reelle  Probe: die Verifikation durch Experiment und Mathematik fehlt und wohl unmöglich ist. Man ist auf seinen Scharfsinn im Erraten angewiesen und es werden nur zu oft ideelle Unterscheidungen und verbale Analogien mit wirklichen Verschiedenheiten und Ähnlichkeiten verwechselt; man versucht es oft gar nicht einmal, komplexe Erscheinungen in ihre einzelnen Elemente zu zerlegen, weil man nicht ahnt, daß sie komplex sind; die Analyse ist oft unvollkommen und nur annähernd. Andererseits hält man letzte Ursachen oder Elemente irrtümlich für komplex und supponiert ihnen illusorische Ursachen, die man unbegreifliche Kräfte nennt: man geht über die Grenzen der Erkenntnis, bei denen man stehen bleiben sollte, hinaus. Daher hier so viele individuelle Differenzen. Ähnlich ie mit manchen tieferen mikroskopischen oder in große Ferne gehenden astronomischen Beobachtungen, die durch ihre Unbestimmtheit unwillkürlich Deutungen veranlassen, die man mit unmittelbaren Beobachtungen verwechselt, so daß hier so wenig Übereinstimmung unter den empirischen Forschern stattfindet -, verhält es sich mit den blassen oder undeutlichen inneren Erfahrungen und Abstraktionen (der Selbstbeobachtung), welche vorzugsweise das Gebiet der Philosophie bilden. Je abstrakter oder allgemeiner, desto unbestimmter, undeutlicher oder weniger klar wird das Denken, desto leichter kommen Verwechslungen, Mißverständnisse und Verwirrung vor. Die Mathematik hilft sich bei ihren an und für sich gar nicht denkbaren Abstraktionen der Grenzen und Wiederholungen der Dinge, z. B. dem Punkt ohne Ausdehnung, der Linie ohne Breite durch die hypothetischen grob-sinnlichen Figuren der Geometrie und die ebenso beschaffenen Zeichen der Arithmetik, wie früher auseinandergesetzt wurde. Für die Abstraktionen der Philosophie gibt es keine solche gröbere Versinnlichung. Die innere Erfahrung und Unterscheidung oder Analyse der verschiedenen Philosophen ist deshalb höchst verschiedenartig, es gibt keine allgemein anerkannte. Deshalb findet hier vorzugsweise die deduktive Methode statt und zwar wegen mangelhafter Analyse der äußeren und inneren Erfahrungen wohl in der Regel eine Ableitung der Erscheinungen aus viel zu wenig Elementen, von denen es zudem nicht selten zweifelhaft ist, ob sie wirklich Elemente und nicht etwas Zusammengesetztes oder wohl ganz illusorische Begriffe: Phrasen sind. Die Zustimmung der Majorität der Menschen wäre eine Verifikation der Philosophie, wie es bei den Sätzen der empirischen Wissenschaften ist. Aber welche Zersplitterung der Ansichten!

Zur Erkenntnis der wirklichen Elemente kann man natürlich nur durch eine gründliche Analyse der äußeren und inneren Erfahrungen kommen, wobei eben das "gründlich" sehr subjektiv ist. Ums sich bei zu wenigen Elementen zu helfen, zieht man nicht selten das zum geistigen Bau der Welt fehlende Material, ohne sich dessen klar zu werden, aus der Erfahrung nachträglich durch gewisse systematische Kunstgriffe heran, was man  dialektische Methode  nennt. So hat z. B. TRENDELENBURG erwiesen, daß HEGEL durch seine dialektische Methode das scheinbar aus seinen sehr einfachen Prinzipien folgende Material in Wahrheit aus der Erfahrung herangezogen hat. Einzelne Philosophen mögen ihre Voraussetzungen scheinbar allein durch eine Analyse der inneren Erfahrung, oder, wie man sich unklar ausdrückt, direkt aus ihrem Bewußtsein erhalten, indem sie mittels Analogien der eigenen Natur die Dinge erklären, z. B. die Bewegungen der Dinge durch einen denselben innewohnenden Willen. Sie dürften jedoch unbemerkt Abstraktionen aus der sinnlichen Wahrnehmung dialektisch heranziehen, während andere ihre Metaphysik vorzugsweise auf sinnliche Wahrnehmung basieren. Es ist deshalb entschieden unrichtig, die Methode der empirischen Wissenschaften objektiv, die der Philosophie subjektiv zu nennen. Ein solcher qualitativer Unterschied besteht gar nicht, der Unterschied besteht zunächst nur, wie auseinandergesetzt wurde, in der unvergleichlich schwierigeren Ausführbarkeit einer richtigen philosophischen Analyse und Synthese.

Wenn schon aus den genannten Umständen die Unsicherheit, Unklarheit und teilweise vollständige Wertlosigkeit der Philosophie im Verhältnis zu den empirischen Wissenschaften begreiflich ist, so erscheint es mir doch außerdem als wesentlichster Grund dieser Übelstände der Philosophie, daß ihr die konsequente Durchführung des Prinzips der Sinnlichkeit als der notwendigen Bedingung der Klarheit oder Deutlichkeit des Denkens fehlt, welches Prinzip meines Erachtens nicht nur in den empirischen Wissenschaften, sondern auch in der Mathematik auf das Unbedingteste festgehalten wird.

Die empirischen Forscher halten die allgemein anerkannte sinnliche Wahrnehmung (also nicht etwa Sinnestäuschungen und Träume) zwar keineswegs für absolute Wahrheit, wohl aber für den klarsten und sichersten Ausgangspunkt aller Erkenntnis. Wenn sie nun auch keineswegs bei den sinnlichen Wahrnehmungen stehen bleiben, sondern, um ihren nicht unmittelbar wahrnehmbaren Zusammenhang zu begreifen oder zu erklären, daraus Begriffe, Urteile und Schlüsse, mit einem Wort  Gedanken  bilden, so halten sie die letzteren doch nur dann für vollständig klar (bestimmt, scharf), wenn sie anschaulich, d. h. aus Elementen der sinnlichen Wahrnehmung zusammengefühgte Bilder sind, in denen die Unterschiede und Grenzen zu Bewußtsein kommen. Im Gegensatz dazu ist das Übersinnliche unklar oder unbegreiflich. Wenn in den empirischen Wissenschaften auch vorläufig nicht selten auf ein unbekanntes  X  geschlossen wird und dieses nach seiner besonderen Beziehung einen besonderen Namen erhält, so hofft man doch später dafür eine sinnliche Vorstellung zu erhalten. Wie bei der Konstruktion jeder Maschine die Vorstellung des Zwecks derselben (die causa finalis) bei der Anfertigung und Zusammenstellung ihrer Teile (der causae efficientes) leitendes Grundprinzip ist, so muß auch die Vorstellung vom Zweck der empirischen Wissenschaften, ein sinnliches Bild gewisser Verhältnisse zu geben, d. h. Anschaulichkeit des Denkens oder, negativ ausgedrückt, Ausschließung des Übersinnlichen - neben der Sammlung der Erfahrungen und der daraus stattfindenden Bildung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen gleichzeitig als ihr leitendes Grundprinzip (ihre causa finalis) angesehen werden. Unter den weiteren Begriff des Übersinnlichen gehören als engere einerseits das subjektiv Unerklärliche oder Unbegreifliche, andererseits das Übernatürliche, indem die von den Theologen angenommene über der bekannten Natur bestehende zweite Welt nicht sinnlich gedacht werden kann und deshalb übersinnlich sein muß. Ausschließung des Übersinnlichen findet in den empirischen Wissenschaften da statt, wo der Zusammenhang der Tatsachen durch zwei logisch gleichmögliche oder gleichwahrscheinliche Vorstellungsweisen erklärbar ist, von denen die eine absolut sinnlich ist und die andere Übersinnliches enthält. Da man sich hiernach in der Sache selbst liegenden Gründen nicht entscheiden kann, muß man sich offenbar prinzipiell für die sinnliche Vorstellungsweise entscheiden oder dieselbe von den beiden logisch berechtigten auswählen. Das Prinzip der Ausschließung des Übersinnlichen in den empirischen Wissenschaften (die causa finalis neben den causae efficientes: den Erfahrungen und den daraus gebildeten Begriffen, Urteilen und Schlüssen) ist mithin nur ein Prinzip der Auswahl, durch welches die aus den tatsächlichen Erfahrungen gebildeten Gedanken in keiner Weise geändert werden. Dies ist nicht unwissenschaftlicher Apriorismus, denn das tut, wie oben bemerkt, jeder Mechaniker, der ein mechanisches System konstruiert. Schließlich ist mit dem Bisherigen keineswegs gesagt, daß die empirischen Forscher das Übersinnliche überhaupt leugnen (im Gegenteil glauben die Meisten daran), sie überlassen seine Erforschung aber der Theologie und spiritualistischen Philosophie, wobei beides als Ergänzung der empirischen Wissenschaft betrachtet wird. - Sicher oder bewiesen sind den empirischen Forschern ihre Gedanken nur durch den Nachtweis ihrer Denknotwendigkeit, d. h. wenn sie mit Notwendigkeit oder als die allein möglichen aus sinnlichen Wahrnehmungen folgen, oder wenn sie als mögliche wenigstens mathematisch bestätigt sind. Die sinnliche Wahrnehmung ist der feste Punkt, den die Empiriker stets im Auge haben.

Während man  konkret  jede aus Empfindungen und Gefühlen sozusagen zusammengewachsene vollständige sinnliche Wahrnehmung nennt, ist dagegen jeder Teil derselben abstrakt, wenn man von den andern absieht. Er ist aber trotzdem offenbar durchaus sinnlich. So ist die Mechanik, in der nur von Bewegungen gehandelt wird, zwar sehr abstrakt, aber von sinnlicher Klarheit, da die Bewegung ein Teil der sinnlichen Wahrnehmung und inneren Erfahrung oder daraus abstrahiert ist. Selbst die Mathematik, obwohl, wie mehrfach erwähnt, ihre von den sinnlichen Dingen gemachten Abstraktionen, ansich gar nicht denkbar, dies erst durch die hypothetischen sinnlichen Figuren und Zahlzeichen werden, - ist nur unter der Bedingung dieser Sinnlichkeit absolut klar und war ihre Entwicklung wohl nur dadurch möglich. Die Beweiskraft der Mathematik ist durch ihre sinnliche Klarheit notwendig bedingt. Klarheit des Denkens als große Intensität oder Energie nur des Bewußtseins - mit Ausschluß alles Sinnlichen - zu definieren, wie es fast alle Philosophen (auch CARTESIUS und SPINOZA) tun, erscheint mir falsch, weil das Bewußtsein an und für sich oder mit dem bloßen Inhalt des Seins (des Existierenden) als einfache psychische Qualität eben wegen seiner Einfachheit nicht verschieden intensiv sein kann, sondern von stets gleicher Energie gedacht werden muß. Nur in seiner Verbindung mit einem sinnlichen Inhalt: als Empfindung oder Gefühl, welche beide Bestandteile der sinnlichen Wahrnehmung sind, bedingt verschiedene Intensität oder eine größere oder geringere Zahl sinnlicher Elemente verschiedene Klarheit des Denkens. Daraus, daß sinnliches Denken stets klar und begreiflich ist, kann man wohl den induktiven Schluß ziehen, daß Sinnlichkeit oder Anschaulichkeit das Merkmal alles klaren und begreiflichen Denkens ist, oder daß dies stets aus Elementen der sinnlichen Wahrnehmung zusammengesetzt sein muß.

Nach allem bisher Gesagten scheint mir der hochwichtige Begriff der  Klarheit  der Erkenntnis aus drei Merkmalen zu bestehen, oder durch drei Merkmale bedingt. Ähnlich der klaren Gesichtswahrnehmung besteht sie zunächst in der scharfen Unterscheidung der dunklen oder verwickelten Erkenntnis in ihre Teile und der Erkenntnis des Zusammenhangs dieser Teile, indem dieselben durch ihre Ähnlichkeit Gruppen (Arten, Gattungen etc.) bilden, ferner im Kausalzusammenhang und Zusammenhag der Mittel zum Zweck stehen. Hierdurch wird man eine alles umfassende auch innerlich vollständige Übersicht des Ganzen erhalten. Zweitens kann die Erkenntnis nur als objektive, d. h. als Vorstellung der Ordnung der Dinge, wie sie  ansich  oder abgesehen vom menschlichen Erkenntnisvermögen sind, klar genannt werden. Dieser Punkt wurde schon früher bei der Erwähnung des kantischen Kritizismus vorläufig erledigt. Als dritte zur Klarheit der Erkenntnis wenigstens für die empirischen Wissenschaften und die Mathematik ganz unerläßliche Bedingung erschien mir die Sinnlichkeit der Teile, d. h. daß sie Teile des aus Empfindungen und Gefühlen zusammengesetzten sinnlichen Wahrnehmung oder von ihr abstrahiert, Abstraktionen derselben sind.


§ 4. Methodologische Aufgabe der Philosophie
und Skizze einer Lösung derselben

Will nun die Philosophie für den Verstand ebenso befriedigend sein, wie die Mathematik und die empirischen Wissenschaften, so muß sie soweit wie irgend möglich dieselbe Methode beobachten und deshalb zunächst ein durchaus sinnliches Bild von den Prinzipien der Dinge geben: die Elemente der körperlichen und geistigen Welt und ihren Zusammenhang, d. h. das Innerste des Kosmos gewissermaßen mit geistigen Händen fassen, begreifen, mit geistigen Augen klar sehen. Wenn das Wesentliche der menschlichen Erkenntnis früher als die Analyse der komplizierten sinnlichen Wahrnehmungen und inneren Erfahrungen in immer einfachere Teile bis auf die Elemente und in der Synthese aus den letzteren dargestellt wurde, so wird die Klarheit der philosophischen Erkenntnis nach dem Gesagten nicht nur in der übersichtlichen Ordnung und Folge dieser Analyse und Synthese bestehen, sondern auch durch die sinnliche Beschaffenheit aller Teile mit Einschluß der letzten Ursachen oder der Elemente notwendig bedingt sein.

Ich bemerkte schon früher, daß ich in meiner zitierten Schrift die körperliche und geistige Welt in drei Gruppen rein sinnlicher Ursachen zerlegt habe: die durch Analyse sämtlicher psychischer Prozesse entstehenden sinnlichen Empfindungen und Gefühle und, aus gewissen Teilen derselben zusammengesetzt, zweitens die Gruppe der ausgedehnten kristallförmigen und ursprünglich sich bewegenden Atome, sowie drittens die dadurch realisierte Gruppe der zweckmäßigen namentlich organischen Grundformen. Nur aus solchen unmittelbar klaren Elementen, die in Bezug auf die Anschaulichkeit in der auseinandergesetzten Weise den Grundgebilden und Axiomen der Mathematik ähnlich sind, kann eine vollkommen klare Weltauffassung abgeleitet werden. Unsinnliche oder übernatürliche Grundursachen: die Anziehungskraft als Grundursache der Bewegung, die Kristallisationskraft und Lebenskraft als letzte Ursachen der Form der Kristalle und der Organismen, die psychischen Vermögen oder Kräfte als letzte Ursachen der geistigen Prozesse -, alle diese dunklen Kräfte, von denen man sich kein sinnliches Bild machen kann, sind auf das Entschiedenste aus der Philosophie auszuschließen. Unter anderen Namen z. B. als des ARISTOTELES Dinge der Möglichkeit nach (dynamei on, potentia), als SPINOZAs ursprüngliche Attribute der Substanz oder des unbestimmten Selbständigen, als KANTs Ding-ansich, als innere oder immanente Ursachen oder das Prinzip der Immanenz überhaupt - haben diese übersinnlichen Kräfte zu allen Zeiten den mystischen Rest, die inhaltslose Phraseologie der philosophischen Systeme gebildet. Der GOETHE-Spruch: "Wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein", bedarf  der  Ergänzung, daß dieses Eintreten leerer Worte auch dann stattfindet, wenn man das Bedürfnis nach Dingen hat, die gar nicht existieren, wenn man mit seinem das richtige Maß nicht anerkennenden geistigen Bedürfnis die Grenze der Wahrheit überschreitet und in das Schattenreich derjenigen Art des Irrtums herabsinkt, welche das Übersinnliche bildet. Wie der Punkt, die Linie und die Zahl, von der sinnlichen Wahrnehmung abstrahiert, ansich weder sinnlich noch übersinnlich sind, so gibt es freilich noch andere derartige Abstraktionen: die Formen ansich, die Verhältnisse und Beziehungen ansich, die Bewegungen ansich, die aus einem Kausalverhältnis abstrahierte Notwendigkeit, die Unendlichkeit. All dies, allein denkbar oder realisiert durch das Sinnliche, ist dennoch keineswegs übersinnlich.

Sinnliche Klarheit im auseinandergesetzten Sinn ist freilich noch keineswegs Wahrheit, aber die erste unerläßliche Bedingung dazu. Zweitens muß das sinnliche Bild der Weltordnung als das allein denkbare oder mögliche, d. h. mit Notwendigkeit aus den sinnlichen Wahrnehmungen folgen.

Obwohl allgemein bezweifelt wird, daß diese methodologische Aufgabe der Philosophie ausführbar ist, und man glaubt, daß in derselben die Existenz übersinnlicher Dinge angenommen werden muß, so soll doch im Folgenden der Weg gezeigt werden, auf dem mir jenes Ideal einer mathematischen oder empirischen, d. h. durchaus sinnlichen Philosophie, die im Gegensatz zur spiritualistischen und zur Theologie Naturalismus oder negativ ausgedrückt Atheismus zu nennen ist, erreichbar erscheint. Ich werde zu zeigen versuchen, daß sich von den Anfängen der Dinge ein sinnliches, d. h. nur aus Elementen der Sinneswahrnehmung zusammengefügtes Bild als Zentrum der Wissenschaften zeichnen läßt. Es wird zwar im Einzelnen vielfach aus Hypothesen bestehen, als Ganzes aber aus den Sinneswahrnehmungen als das allein mögliche oder notwendige folgen. Indem das Ganze bewiesen ist, ist dann auch das zunächst hypothetische Einzelne notwendig oder bewiesen.

Ausschließung des Übersinnlichen als spezifisches logisches Prinzip dieses Naturalismus anzusehen, ist insofern falsch, als dieses schon Prinzip der Mathematik und der empirischen Wissenschaften ist, was jene Art von Philosophie, um zu demselben befriedigenden Resultat zu gelangen, nur nachahmen will. Man kann es nur im Gegensatz zur spiritualistischen Philosophie und Theologie das logische, in gewissem Sinne sensualistische Fundament des Naturalismus nennen, welcher dadurch zu einer  sensualistischen Metaphysik  wird, während der mit der Theologie sehr wohl verträgliche Sensualismus LOCKEs und CONDILLACs nur in der Entwicklung der geistigen Prozesse aus Sinnesempfindungen bestand. - -

Es kann hier nun ferner nur kurz die Überzeugung angedeutet werden, daß die bekannte  natürliche,  das Geistes- und Gemütsleben einschließende und einer unendlichen Vervollkommnung fähige Welt dem Menschen im Allgemeinen das richtige Maß des Glücks gewährt. Deshalb ist neben dem tatkräftigen Streben nach dem Ideale einer vollkommen natürlichen Welt: einem ehrenhaften persönlichen Leben und der Aufopferung für Andere - die Zufriedenheit mit dieser natürlichen Welt das sittlichere (wie alles wahrhaft sittliche außerdem das richtigere und schönere) mit einem gewissen befriedigenden Gefühl verbundene Urteil des Verstandes, als die Unzufriedenheit. Während die letztere neben dem Glauben an die Existenz übersinnlicher Dinge die Wurzeln der Theologie bilden, tritt zu dem bisher entwickelten  logischen  Prinzip des Naturalismus: der Sinnlichkeit als notwendiger Bedingung der Klarheit des Denkens - als  sittliches  Prinzip die Zufriedenheit mit der einen sinnlichen oder natürlichen Welt, welches ebenfalls zur Ausschließung alles Übersinnlichen oder Übernatürlichen antreibt und die Überzeugung von der Ausführbarkeit einer sinnlich klaren oder natürlichen Philosophie kräftigt oder ein unbedingtes Vertrauen dazu einflößt. Das logische Prinzip des Naturalismus ist zwar vom ethischen nach dem Gesagten wesentlich verschieden, kann scharf oder reinlich davon gesondert werden, zwischen beiden: zwischen Kopf und Herz findet aber kein feindlicher Zwiespalt statt, wie in gewissem Maß zwischen KANTs reiner und praktischer Vernunft. Sie sind im Gegensatz zum Antrieb der sittlichen Handlungen, welchen KANT kategorischen Imperativ nannte, zwei kategorische Imperative, die zwei Mittel zu demselben Zweck bilden oder ein Bündnis dazu abgeschlossen haben, bei der Analyse der komplizierten äußeren und inneren Erfahrungen bis auf die Elemente und bei der Synthese der letzteren das Übersinnliche auszuschließen und eine Weltauffassung, ein Bild der Weltordnung von mathematischer Klarheit und Sicherheit herzustellen. Es erscheint mir jetzt zwar irrtümlich, diese beiden wesentlich verschiedenen Prinzipien auseinander ableiten zu wollen: das logische aus dem ethischen und umgekehrt. Indessen beeinflussen sie sich unzweifelhaft gegenseitig, indem das ethische Prinzip zumindest in vielen Menschen zunächst ein kräftiger Antrieb des logischen ist. Wer vom ethischen Prinzip wahrhaft erfüllt ist, der wird auch die unerschütterliche Überzeugung haben, daß eine Philosophie von sinnlicher Klarheit ausführbar ist, und nicht aufhören, ihre Ausführung zu versuchen. Das logische Bedürfnis nach einer sinnlich klaren Weltauffassung dagegen wird die Annahme einer rein natürlichen Welt als notwendig erscheinen lassen und Zufriedenheit damit bewirken.

Es ist eine schon bei der früheren Kritik des Spinozismus erkannte Jllusion, aus einem Prinzip oder einer Ursubstanz, sei es die Materie der Materialisten, oder der Geist der Idealisten, oder der Gott der Theologen, die Mannigfaltigkeit oder das Viele der Welt (womöglich mit mathematischer Notwendigkeit) in befriedigender Weise ableiten zu wollen, indem sowohl jene Ursubstanzen als auch die Art der Ableitung durchaus unklar bleiben. Wesentlich verschieden von einer solchen Ableitung aus einem Prinzip ist es offenbar, bei der Auswahl unter den aus äußeren und inneren Erfahrungen entstehenden gleich möglichen Begriffen, Urteilen und Schlüssen sich durch jene beiden Prinzipien der Ausschließung des Übersinnlichen: dem logischen und ethischen leiten zu lassen. Man entscheidet sich nur zu Gedanken von sinnlicher Klarheit.

Ich habe früher von einer Belebung spinozistischer Elemente durch aristotelische gesprochen. SPINOZA nannte seine gesamte Weltauffassung  Ethik,  weil er zunächst das feststellte, was er  Gott  nennt, und aus diesem letzten Grund die gesamte körperliche und geistige Welt ableitete. Im Gegensatz hierzu hat die hier verteidigte Weltauffassung allerdings auch einen ethischen Grund: die ja auch SPINOZAs Gemüt erfüllende Zufriedenheit mit der natürlichen Welt, neben der aber gewissermaßen als aristotelische Ergänzung der logische letzte Grund besteht: das Bedürfnis nach sinnlicher Klarheit.



Der neuerdings namentlich durch LUDWIG BÜCHNER vertretene Materialismus leitet die körperliche und geistige Welt aus einer mit organischen und psychischen Kräften versehenen Substanz oder Materie ab, wobei man sich jedoch von diesem sehr umfassenden Begriff in keiner Weise ein sinnlich klares Bild machen kann. Es wird hier dreierlei nicht viel anders vereinigt, wie in der mysteriösen theologischen Trinität. Eine weitere Erklärung dieses deshalb meines Erachtens durchaus dunklen oder übersinnlichen  metaphysischen  Prinzips der Zukunft überlassend, schließt sich BÜCHNER dann an die betreffenden physikalischen, kosmogonischen und psychologischen Ansichten der heutigen Naturforscher an. Diesem Materialismus liegt ferner das vorhin entwickelte  ethische  Prinzip der Zufriedenheit mit der einen natürlichen Welt, und drittens das  logische  Prinzip der Ausschließung des Übersinnlichen zugrunde, insofern darunter nur der übersinnliche Gott, eine zweite Welt und eine unsterbliche Seele verstanden wird, welche drei Existenzen man auch  übernatürlich  nennt. Als  übersinnlich  ist aber nicht nur dieses Übernatürliche, sondern sind außerdem die als sinnliche Bilder nicht vorstellbaren oder denkbaren vorgeblichen Kräfte oder inneren, immanenten Ursachen der körperlichen und geistigen Welt (z. B. der Bewegung, der organischen Formen, die geistigen Vermögen etc.) anzusehen. IN der Mathematik gibt es keine übersinnlichen Kräfte, welche die immanenten Ursachen der mathematischen Gebilde oder Sätze, oder ihrer Entwicklung wären. All jene angeblich übersinnlichen Kräfte bilden meines Erachtens gewissermaßen die Wurzeln des oben genannten Übernatürlichen. Letzteres ist zwar ein Teil des Übersinnlichen, aber nicht alles. Der Begriff "übersinnlich" ist der weitere, umfassendere, der Begriff "übernatürlich" der engere. Das Unzureichende bei BÜCHNER besteht nur darin, daß er in Bezug auf die Ausschließung des Übersinnlichen zu konservativ, nicht radikal genug ist, daß er zwar das Übernatürliche ausschließt, aber die übersinnlichen, immanenten Kräfte der natürlichen Körper- und Geisteswelt: die Wurzeln der natürlichen Welt stehen läßt, so daß sie unter geeigneten Umständen immer wieder in die Höhe wuchern.

Die Ausreißung dieser Wurzeln, die Ausschließung  alles  Übersinnlichen: des Übernatürlichen und des eben genannten  Natürlichen  halte ich für unmöglich, wenn man das Mannigfaltige oder Viele der Welt aus  einer  letzten Ursache ableiten will. Mag man dieselbe mit BÜCHNER  Materie  oder mit den Idealisten  Geist,  oder mit den Theologen  Gott  nennen, so kann man sich doch weder von einer solchen Ursubstanz, noch von der Entstehung der mannigfaltigen Erscheinungen daraus irgendeine sinnlich klare Vorstellung machen. In meiner mehrfach erwähnten Schrift ist es speziell ausgeführt, wovon ich hier nur eine kurze, sehr mangelhafte Skizze geben kann, daß bei radikaler Anwendung des Prinzips der Ausschließung des Übersinnlichen BÜCHNERs übersinnliches und dadurch dunkles metaphysisches Prinzip: die organische und psychische Kräfte enthaltende Materie in drei Teile oder drei Gruppen sinnlich klarer zahlloser Elemente zerfällt, oder analysiert (erklärt) wird, durch deren Synthese oder mechanische Zusammensetzung dann die ganze Weltordnung notwendig entsteht, wie das System der Mathematik aus den sinnlich klaren Grundgebilden und Axiomen.

Als erste Gruppe der Elemente sind zunächst sämtliche nicht weiter zerlegbare oder einfache sinnliche Empfindungen und Gefühle anzusehen, deren gemeinsamer, d. h. in jeder Empfindung und jedem Gefühl enthaltener Bestandteil die einfache Qualität des Bewußtseins ist. Dieselbe nimmt, wie ich schon in § 1 bei der Kritik des Kantianismus erwähnte, wie ein Spiegel ihren Inhalt: die Empfindungs- und Gefühlsqualitäten auf und gibt ihn wieder, ohne ihn auch nur im Geringsten zu verändern. Wenn die Empfindung der roten Farbe aus der Empfindungsqualität  Rot  nebst der Qualität des Bewußtseins besteht, so ist sie freilich nur in einem weiteren Sinn Element. Sie ist ein konkretes Element im Gegensatz zu den beiden sie zusammensetzenden absolut einfachen Qualitäten, welche abstrakte Elemente genannt werden können, ähnlich wie ja auch in der Mathematik zwei Arten von Grundursachen von mir unterschieden worden: die einfachsten abstrakten Grundgebilde und die daraus zusammengesetzten konkreten Axiome. Ähnlich wie nun von den entgegengesetzten Bewegungen, die durch ihr Zusammentreffen ins Gleichgewicht traten oder latent wurden, die eine oder die andere durch eine dritte jenes Gleichgewicht zerlegende Bewegung aus dem latenten Zustand wieder hervortreten kann: so schwinden zunächst in unserem Bewußtsein die verschiedenen Empfindungen  derselben Art  und die verschiedenen Gefühle, wenn man sie sich in demselben Raum denken will. Man kann sich eine Rose zwar gleichzeitig  rot  und  duftend,  aber nicht gleichzeitig  rot  und  weiß,  angenehm und unangenehm riechend denken. Hiernach ist die Annahme berechtigt, daß jede Art verschiedener Empfindungen und die verschiedenen Gefühle, in demselben Raum sich durchdringend, einzeln latent werden, - und sämtliche einfachen Empfindungen und Gefühle, indem sie sich durchdringen, eine den unendlichen Raum erfüllende und die materielle Atomwelt, auch die Gehirne der Menschen und Tiere durchdringende latente Weltseele bilden, aus deren Gleichgewicht sie durch gewisse Gehirnbewegungen einzeln ausgelöst werden oder nach dem Schlaf wieder wach hervortreten. Mittels gewisser durch die Reize der Außenwelt veranlaßter räumlicher Bewegungen an einer kleinen Stelle des Gehirns werden aus der latenten Weltseele den äußeren Reizen entsprechende Empfindungen und Gefühle so ausgelöst, daß daraus Mosaikbilder und blasse Reproduktionen derselben entstehen, welche sich mit im Bewußtsein verschwindender Schnelligkeit weit ausdehnend, wie die Wellenkreise um den Punkt des vom Stein getroffenen Wassers, die großen Bewußtseinsräume der sinnlichen Wahrnehmungen und der anderen geistigen Vorgänge bilden.

Als die zweite Gruppe der im oben bezeichneten Sinn konkreten Elemente muß man sich zur anschaulichen Erklärung gewisser dunkler Kausalverhältnisse in der sinnlich wahrnehmbaren Körperwelt als Substrat derselben notwendig Systeme von Atomen denken, deren Vorstellungsbild aus gewissen Teilen der sinnlichen Wahrnehmung besteht. Zunächst muß man sich die Atome ausgedehnt vorstellen, so daß die Ausdehnung nicht nur Prädikat, sondern auch Subjekt oder Substanz ist -, ferner kristallförmig begrenzt und ursprünglich anziehend oder (bei den Ätheratomen) abstoßend. Schließlich nötigen Tatsachen zur Annahme, daß sie sich dabei nicht gegenseitig teilen, oder wie  leere  mathematische Raumfiguren durchdringen, sondern im Gegensatz zu letzteren  voll,  d. h. ursprünglich und tatsächlich unteilbar, wie undurchdringlich sind. Dieses Bild der Atome ist offenbar aus gewissen von der sinnlichen Wahrnehmung abstrahierten Teilen zusammengesetzt.

Wie von einem Leuchtkörper das Licht nach allen Richtungen, allmählich schwächer werdend, ausstrahlt, ähnlich muß man sich auch die von den Atomen ausgehende, an das Kontinuum des Raums gebundene sogenannte  Wirkung  in die Ferne, sei sie Anziehung oder Abstoßung, vorstellen. Richtiger würde man dieselbe meines Erachtens letzte  Ursache  bezeichnen. In oder am einzelnen Atom kann sie selbstverständlich nicht zur Anschauung kommen, muß latent sein. Erst bei Hinzutritt eines andern kann gegenseitige Anziehung oder Abstoßung entstehen, mithin auch anschaulich gedacht werden, wie ihre Summe im Fall der Körper auf die Erde sinnlich wahrgenommen wird. Es gibt nicht eine übersinnliche im Atom steckende Attraktionskraft und daraus folgend die davon verschiedene Anziehung; letztere allein als sinnlich klare Qualität ist den Atomen ursprünglich eigentümlich. Es gibt durchaus keinen zwingenden Grund oder Beweis dafür, daß die Bewegung etwas Abgeleitetes, daß sie nicht im Sinne HERAKLITs etwas Ursprüngliches sei. Da die Anziehung hiernach als etwas elementares,  Einfaches  anzusehen ist, kann auch kein Widersinn in ihr sein, da letzterer stets etwas Zusammengesetztes voraussetzt. Deshalb ist auch die Frage, "wie die Kraft es anfängt, um von einem Stoffteilchen aus durch den leeren Raum hindurch in einem anderen eine Bewegung hervorzurufen" - ebenso sinnlos wie etwa die Frage, wie die rote Farbe es macht, rot, die Ausdehnung es anfängt, ausgedehnt zu sein. Es gibt eben Elemente oder Grenzen der Welt, die deshalb auch Grenzen der Erkenntnis sind. Die Naturforscher reden zwar viel davon, daß man diese Grenzen nicht überschreiten darf, sie selbst begehen diesen Fehler aber durch die Annahme übersinnlicher Kräfte, z. B. der Anziehungskraft, der Kristallisationskraft (deren Annahme bei Annahme kristallförmiger Atome durchaus überflüssig ist), der Lebenskraft als Ursache der organischen Form - alle Tage, halten das wohl gar für großen Tiefsinn und die entgegengesetzte Überzeugung für Oberflächlichkeit.

Die  Vorstellung  der ausgedehnten Atomwelt ist selbstverständlich rein geistig, hier sind die Atome nur kristallförmige Raumfiguren oder leere mathematische Körper, von denen man sich nur vorstellt, daß sie sich gegenseitig weder teilen noch durchdringen: diese Vorstellung ist aber veranlaßt durch eine Atomwelt, deren Ausdehnungen nicht leere Raumfiguren, sondern tatsächlich unteilbar und undurchdringlich oder voll sind. Diese undurchdringliche Atomwelt kann offenbar nicht in unserem, aus ebenso beschaffenen Atomen gewebten Gehirn, dem Ursprungsort unserer Seele sein, sondern außerhalb desselben bewirkt sie durch Vermittlung der Sinnesreize und der daraus folgenden Gehirnbewegungen in der das Gehirn durchdringenden latenten Weltseele (beides zusammen entspricht KANTs Ding-ansich) - alle subjektiven oder psychischen Vorgänge, die KANT  Erscheinungswelt  nannte. Trotz dieses Unterschieds ist offenbar die Vorstellung der Atomwelt ein treues Abbild ihrer geschilderten objektiven wirklichen Beschaffenheit.

Obwohl die den gesamten Raum erfüllende Weltseele auch die Atome durchdringt, so daß diese dadurch eine gewisse Ähnlichkeit mit LEIBNIZ' Monaden erhalten, so sist doch in den Atomen an und für sich nichts Psychisches enthalten; am allerwenigstens aber kann man sich ein sinnliches Bild von solchen in den Atomen liegenden Kräften machen, welche ihre Zusammenfügung zu zweckmäßigen Formen, namentlich zu den so höchst zweckmäßigen Organismen, bewirken sollten. Auf den Einwand, daß, wenn man  willkürlich  aus der Materie die psychischen und organischen Kräfte ausschließt und dadurch den Begriff einengt, dies nocht lange nicht beweist, daß sie nicht trotzdem darin sind, der Begriff der Materie im oben erwähnten Sinn BÜCHNERs ein weiterer ist: ist zu erwidern, daß von einer Willkürlichkeit der Ausschließung hier gar nicht die Rede sein kann. Das Bedürfnis nach sinnlicher Klarheit nötigt dazu, macht die Ausschließung jener leeren Worte  notwendig,  wonach dann das geistige und organische Leben anders erklärt werden muß. Ein sinnliches Bild der sogenannten Lebenskraft als der Ursache der organischen Form, nach dem man seit Jahrtausenden ebenso vergeblich gesucht hat, wie nach dem Bild der Anziehungskraft, der Kristallisationskraft, der geistigen Vermögen etc., ist absolut unmöglich. Es ist deshalb vom Standpunkt des anschaulichen Denkens allein möglich oder notwendig, gewisse Grundformen der Organismen, welche sich immerhin nach DARWIN zu anderen Formen entwickelt haben mögen, für ohne zeitlichen Anfang oder von Ewigkeit her bestehend, mithin auch die ganze Weltordnung für ohne zeitlichen Anfang oder für ewig zu halten. Wie früher schon die Empfindungen und Gefühle, sowie die Atome konkrete Elemente genannt wurden im Gegensatz zu gewissen sie zusammensetzenden Abstraktionen, so sind die Organismen als die konkretesten Elemente anzusehen.

Daß in den verhältnismäßig sehr wenigen bisher untersuchten tieferen Sedimenten der Erdrinde bisher keine menschlichen Überreste gefunden wurden, beweist nicht, daß sie nicht noch später in den zahllosen noch nicht untersuchten gefunden werden sollten. Es ist dies, wie ich schon früher mit Beziehung auf die durch AGASSIZ getadelte Voreiligkeit naturwissenschaftlicher Induktionen sagte, eine ebenso unwissenschaftliche Übertreibung, wie die Fabel, daß einstmals die ganze Erdrinde glühend flüssig gewesen sei. Alle geologischen und astronomischen Gründe für die Kosmogonie sind Schein, der nur für Wahrheit gehalten wird, weil der Glaube an die Kosmogonie zu den am tiefsten wurzelnden Vorurteilen der Menschen gehört.

Bei der Erörterung der Polemik SPINOZAs gegen den Zweckmäßigkeitsbegrif in § 1 wurde erkannt, daß eine von Ewigkeit her bestehende oder zeitlich anfangslose Welt zweckmäßig sein kann, ohne daß mit dieser Zweckmäßigkeit die Vorstellung eines Subjekts oder eines bewußten Willens zu verbinden wäre. Es wurde dort auseinandergesetzt, daß dasjenige ohne zeitlichen Anfang bestehende System von Kausalverhältnissen, welches gewissermaßen als Komplex dienender Ursachen einer letzten Wirkung oder einem letzten Zweck subordiniert sei, zweckmäßig genannt werde und daß als letzter Zweck der Welt das durch ihre möglichste Vollkommenheit bedingte Glück aller fühlenden Wesen betrachtet werden muß. Dieser letzte Zweck bildet für die von mir geschilderten drei Gruppen zahlloser Grundursachen und für die daraus sich ruhelos entwickelnde unendliche Mannigfaltigkeit die beruhigende Einheit, den die Harmonie des Ganzen herstellenden Zentralpunkt. Die Einheit der Welt besteht nicht in einer letzten  Ursache,  wie die Theologie, der Materialismus und der gewöhnliche Idealismus (SPINOZA glauben, sondern umgekehrt in einer letzten  Wirkung. 

Ich habe früher die Stelle aus der Molekularphysik von CORNELIUS angeführt, nach welcher die Grundgedanken der Atomistik von den Tatsachen und der Logik notwendig gefordert werden. CORNELIUS ergänzt dies aber durch folgende Worte:
    "Insofern die Atomistik jedoch in der Natur  nur  Anziehungs- und Abstoßungsphänomene und daraus resultierende Gleichgewichts- und Bewegungsverhältnisse der Atome sieht, ist sie nicht befähigt, den Erscheinungen des organischen und geistigen Lebens auf den Grund zu gehen, ist sie von denselben völlig abgeschnitten."
Ebensowenig wie dieses Rätsel aber durch BÜCHNERs Annahme organischer und psychischer Kräfte in den Atomen gelöst wird, ebensowenig erscheint mir die von CORNELIUS modifizierte herbartische Monadologie die allein mögliche Lösung. Wenn man an die inneren Zustände der herbartischen Monaden den Maßstab  sinnlicher  Klarheit legt, so unterscheiden sie sich in dieser Hinsicht (mag auch sonst eminenter Scharfsinn zu ihrer Entwicklung verwendet worden sein) kaum wesentlich von BÜCHNERs organischen und psychischen Kräften, auf welche die Herbartianer mit solcher Geringschätzung herabsehen. Die von HERBART und zuvor von LEIBNIZ ins Auge gefaßte, schon früher erwähnte Idee einer Vereinigung des mechanisch-mathematischen Denkens von CARTESIUS und SPINOZAs einerseits mit dem teleologischen und empirischen Denken des Altertums andererseits dürfte aber auch in der von mir versuchten  anschaulichen  Erklärung jenes Grundproblems der Philosophie nicht unberücksichtigt geblieben sein und insofern meine Auffassung der herbartischen nicht zu fern stehen.

Wenn man das durch die möglichste Vollkommenheit bedingte Glück aller fühlenden Wesen für den die Einheit der Welt bildenden letzten Zweck derselben, oder für das Ideal ansieht, dem sich die Menschheit in rastlosem Streben nähert, so kann man diese letzte Konsequenz, weil man darüber hinaus unmöglich zu denken vermag, auch die  ideale  Grenze der menschichen Erkenntnis nennen. Zu derselben bilden die früher genannten drei Gruppen der zahllosen Ursubstanzen oder Elemente der Welt: die Atome, die dadurch bedingten (namentlich organischen) Formen und die aus Empfindungen und Gefühlen zusammengesetzte Weltseele als drei  fundamentale  Grenzen, über die hinaus man auch nicht denken kann, einen Gegensatz, wie die Wurzel einer Pflanze zu ihrer Blüte. Diese vier Grenzen der Erkenntnis sind Vorstellungen oder subjektive Abbilder der vier Grenzen der objektiven Welt, welche hiernach trotz ihrer räumlichen und zeitlichen Unendlichkeit in gewissem Sinne begrenzt ist.

Dies in Kürze die Skizze der Weltauffassung, deren spezielle Ausführung der Gegenstand meiner genannten Schrift ist. Da ich für die Methode der Erkenntnis die Analyse der  komplizierten und verwickelten  sinnlichen Wahrnehmungen und inneren Erfahrungen (der sogenannten körperlichen und geistigen Welt) in die Elemente nebst der Synthese der letzteren erklärt habe, so muß ich dort offenbar mit der Analyse des Kompliziertesten in der Welt, als welches mir ihr letzter Zweck: das durch die möglichste Vollkommenheit bedingte Glück aller fühlenden Wesen, namentlich des Menschen erscheint,  beginnen;  denn dasselbe ist die Resultante oder Wirkung aller anderen Teile der Welt. Zunächst ist jene Glück beim Menschen die Resultante der gesellschaftlichen Verhältnisse, in welche es sozusagen zu zerlegen in Kapitel 1, a. a. O. die erste Aufgabe war. Die weitere Anwendung der Methode besteht darin, daß ich die sozialen Verhältnisse zerlege in körperliche und geistige und dann zunächst die Körperwelt theils in die Atome (Kapitel 2), teils in die zweckmäßigen Formen (Kapitel 3). Die Analyse wird durch die Synthese vervollständigt. Dann werden die geistigen Vorgänge in ihre Elemente: die Empfindungen und Gefühle kurz zerlegt und wieder in speziellerer Weise zusammengesetzt, woran sich die Beleuchtung des Verhältnisses der Geisteswelt zur Körperwelt oder des Subjektiven zum Objektiven schließt (Kapitel 4). Die stufenweise Durchführung der von mir verteidigten mathematischen Methode der Erkenntnis wird hiernach einleuchten. Die Elemente der Weltordnung, oder die fundamentalen Grenzen der Erkenntnis sind gewissermaßen das Fundament der Pyramide, der letzte Zweck des Kosmos: das wahre Glück, oder die ideale Grenze, das Kompliziertes der Erkenntnis - die Spitze der Pyramide. Muß man nun die Analyse der komplizierten Erfahrungen selbstverständlich vom Kompliziertesten anfangen und allmählich herabsteigen zum einfachsten Fundamentalen, so steht man offenbar über der Spitze der Pyramide, oder, ohne Bild zu sprechen, über der Weltordnung, welche gewissermaßen dem Mikroskop unserer Seele als Objekt zugrunde liegt. Die richtige Beleuchtung, die selbst beim schärfsten Mikroskop die notwendige Bedingung einer klaren Erkenntnis der Teile des Objekts ist, bildet bei der philosophischen Betrachtung der Weltordnung meines Erachtens das Prinzip der Sinnlichkeit des Denkens. Wo diese Beleuchtung fehlt, ist die Erkenntnis, wie bei schlecht beleuchteten Objekten im Mikroskop das Sehfeld, ein dunkles Chaos: das Grau der bisherigen sich bekämpfenden philosophischen Systeme; wo sie eintritt, tritt auch der Zusammenhang der Dinge als deutliches, scharfes und farbenreiches Bild vor das geistige Auge. Die in dieser Weise stattfindende Auflösung des höchstmöglichen Glücks: der letzten Wirkung der Welt - in die drei Gruppen seiner zahllosen letzten Ursachen oder Elemente der Welt entspricht übrigens auch in gewisser Weise dem Streben der Philosophie, aus einem Punkt die Mannigfaltigkeit der Welt zu entwickeln, wenn dieser Punkt auch nicht wie sonst eine letzte Ursache, sondern umgekehrt die letzte Wirkung ist.

Es wurde früher erkannt, daß die empirischen Wissenschaften, weil hier die Analyse und Synthese meist im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung stattfindet und teils durch dieselbe, teils durch die Mathematik kontrolliert wird, unvergleichlich sicherer sind, als die Philosophie, deren Analyse und Synthese nur geistig sind und jeder Kontrolle entbehren. Trotzdem halte ich die Meinung nicht für richtig, daß man zuerst die Außenwerke der Festung nehmen und erst dann ins Innere dringen, d. h. nicht eher philosophieren soll, bis die empirischen Wissenschaften die nötige Reife erlangt haben. Denn zunächst läßt sich dieser Zeitpunkt gar nicht bestimmen: dann gibt es Dinge, die ihrer Natur nach nur geistig analysiert und kombiniert werden können, z. B. die psychischen Prozesse. Außerdem kann die philosophische Spekulation einen günstigen Einfluß auf die Richtung der empirischen Wissenschaften haben. Daher müssen meines Erachtens die empirischen Wissenschaften und die Philosophie beide zugleich arbeiten und sich gegenseitig unterstützen.

Da ich im Bisherigen zwei nicht erhabener zu denkende Ideale (ein logisches und ein sittliches) verteidigt habe: die  sinnliche Klarheit der Mathematik  als Ideal für das gesamte Denken und als Ergänzung oder notwendige Bedingung dazu neben den durch das Christentum gebotenen Pflichten gegen uns selbst und gegen Andere die sittliche Pflicht der  Zufriedenheit mit der natürlichen Welt,  welche es hindert, Unglückliche mit der Hilfe Gottes und dem Himmel wohlfeil zu vertrösten, und deshalb antreibt, ihnen selbst zu helfen, nach einem Himmel auf Erden, nach irdischer Vollkommenheit zu streben: so dürfte meine philosophische Auffassung im vollsten Maße den Namen  Idealismus  verdienen. Die möglichste Erreichung dieses Doppelideals hängt zunächst von seiner Anerkennung als solchem und dann vom tätigen Willen ab, es zu erreichen. Den Weg dazu, der freilich mit mächtigen geistigen Strömungen der Gegenwart im Widerspruch steht, habe ich im Bisherigen im Allgemeinen, in der Schrift "Grenzen und Ursprung der Erkenntnis etc." spezieller geschildert. Zu jener Anerkennung und dem tätigen Willen wird aber außerdem eine besondere Beschaffenheit des Charakters nötig sein, die sich nicht andemonstrieren läßt.
LITERATUR - Heinrich Czolbe, Die Mathematik als Ideal für alle andere Erkenntnis und das Verhältnis der empirischen Wissenschaften zur Philosophie, Zeitschrift für exakte Philosophie, Bd. 7, Leipzig 1867