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ERNST von ASTER
Prinzipien der Erkenntnislehre
[2/5]

"Platon  ist wohl zuerst, vielleicht unter der Nachwirkung sokratischer Gedanken, der Zusammenhang wissenschaftlicher  Einsicht,  einsichtigen Begreifens, evidenter Wahrheitserkenntnis auf der einen Seite und  allgemeiner  Erkenntnis auf der anderen Seite aufgegangen; jener Zusammenhang, den  Kant  bezeichnet, indem er  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit  in der Erkenntnis Wechselbegriffe nennt."

"Die Erkenntnis, daß die wissenschaftliche Wahrheitserkenntnis es stets mit dem Allgemeinen zu tun hat wird für  Plato  dann dadurch besonders wichtig, daß sie ihm den Weg bahnt, um seinen Hauptgegner, die Skepsis der Sophisten, niederzuwerfen. Die schrankenlose sophistische Skepsis gipfelt in dem Satz, daß es keine für alle Menschen gültige Wahrheit gibt."

"Wenn das Allgemein-Begriffliche das Wesen der Dinge sein soll, so ist damit gesagt, daß es für jeden individuellen Gegenstand nur  einen  allgemeinen Begriff gibt, unter den er gehört und den zu finden unsere Aufgabe ist. Nun drängt sich uns demgegenüber dennoch die Überzeugung auf, daß die Begriffsbildung innerhalb gewisser Grenzen doch eine Sache unserer  Willkür  ist, daß wir zwei Gegenstände, sofern sie gewisse Züge gemeinsam haben, auch immer unter denselben Begriff befassen, daß wir demnach einen Gegenstand beliebig vielen Begriffen zuweisen können."

"Das Allgemeine ist umfassend, es enthält aber auch wieder das Individuum, es ist als Gattung sicher vom Individuum verschieden, befaßt es aber doch wieder in sich.  Aristoteles  und  Locke  versuchten, sich von diesem Verhältnis Rechenschaft zu geben;  Aristoteles,  indem er das Allgemeine als den abstrakten Teil beschrieb, den die verschiedenen Individuen gemeinsam haben, der sich in ihnen wiederholt;  Locke,  indem er die allgemeine Vorstellung als ein Phantasieprodukt betrachtete, das durch die Verarbeitung der verschiedenen individuellen Gebilde entsteht."


5. Phänomenologische Deskription
und naive Beschreibung

Lassen sich alle Termini, die wir sinnvoll gebrauchen, durch den Hinweis auf gegebene Tatbestände definieren? Läßt sich der Sinn jedes von mir gebrauchten Wortes restlos zur Gegebenheit bringen?

Wenn wir dieser, für die Erkenntnistheorie offenbar sehr wichtigen Frage nähertreten, so stellen wir uns damit zugleich die ganz allgemeine Aufgabe einer Feststellung, einer Inventarisierung des rein Gegebenen als solchem, die Aufgabe einer allgemeinen Phänomenologie, das Wort im weitesten Sinn genommen.

Diese Aufgabe  scheint  zunächst sehr einfach. Ich brauche, so scheint es, doch bloß aufzuzählen, zu konstatieren, was in einem bestimmten Moment als unmittelbar gegeben für mich da ist, vor mir steht - wie ist es bei einer solchen Aufgabe überhaupt möglich, zu zweifeln, in einen Irrtum zu verfallen, verschiedener Meinung zu sein? Und doch stellt sich nun bei näherer Betrachtung die zunächst überraschende Tatsache heraus, daß kaum irgendwo größere Gegensätze bestehen, als in rein phänomenologischen, rein deskriptiven Fragen, in der bloßen Konstatierung des unmittelbar Gegebenen. Können wir uns allgemeine Gegenstände zur Gegebenheit bringen oder hat der Nominalismus recht, wenn er behauptet, daß es in keiner Form solche allgemeinen Gegenstände gibt, sondern nur - realiter und phänomenaliter - individuelle Inhalte und gleichlautende Worte (gleiche bzw. ähnliche Laute), die wir ihnen beifügen? Gibt es ein körperliches Ding als eigenartigen erfaßbaren Gegenstand oder ist das, was wir so nennen, wie der Idealismus BERKELEYs lehrt, nur eine Summe von Wahrnehmungsinhalten? Gibt es Gefühle als selbständige Bewußtseinsinhalte oder ist das, was wir so nennen, nur eine Reihe von Körperempfindungen? Gibt es "Akte" des Sehens, Hörens, Fühlens, Denkens als eigenartige, erleb- und erfaßbare Inhalte? Jeder, der die Literatur, die Geschichte dieser doch offenbar rein phänomenologischen Fragen kennt, weiß, wie scharf sich hier die Anschauungen gegenüberstehen.

Wie sind solche Gegensätze möglich? Wie können überhaupt Fehler in der reinen Deskription des Gegebenen entstehen und wie haben wir uns zu verhalten, um diese Fehler zu vermeiden?

Da doch sicherlich nur eine der streitenden Parteien recht haben kann (annehmen wollen, daß im Bewußtsein des einen eben etwas vorhanden ist, das in dem des anderen fehlt, wäre doch wohl eine etwas zu naive Lösung der Streitfragen), so müssen wir zunächst ganz allgemein annehmen, daß der Wunsch, die Absicht, die  Aufgabe die gegebenen Tatbestände festzulegen, in Worten zu bezeichnen und wiederzugeben irgendwie das Resultat der phänomenologischen Deskription beeinflussen, es gewissermaßen fälschen kann.

Genauer liegen hier zwei Möglichkeiten vor.

Einmal kann der Wunsch, das Gegebene zu beschreiben, und die mit diesem Wunsch verbundene, sozusagen theoretische Einstellung gewisse Dinge unserem Blick entrücken, vielleicht überhaupt zum Verschwinden bringen, oder auch umgekehrt Tatbestände für unser Bewußtsein in irgendeinem Sinn erst schaffen, entstehen lassen. Man denke etwa an flüchtige Gefühlserlebnisse, an Affekte, die mit einer solchen theoretischen Einstellung, mit der Absicht der Selbstbeobachtung unverträglich sind. Freilich kann hier innerhalb weiter Grenzen die Erinnerung, eventuell auch die Phantasie ergänzend eintreten, die dieser Schwierigkeit nicht unterliegt. Oder ein anderer Fall, der hier heranzuziehen wäre: Die Absicht, das Gegebene zu konstatieren und aufzuzählen, führt unwillkürlich zu einer Analyse, einer Zergliederung, also zu der Neigung, das, was uns da gegeben ist, in einzelne, scharf gegeneinander abgegrenzte Tatbestände zu zerlegen. Aber bedeutet nicht auch diese Analyse eine Art Fälschung? Erstens: haben wir ein Recht, das was uns im Moment der Analyse gegeben ist, auch als schon vorher gegeben zu bezeichnen, als noch der Tatbestand in unanalysierter Form vor uns stand? Man kann zumindest die Frage stellen. Und auf der anderen Seite: kann nicht durch diese Analyse manches zerstört und aufgehoben werden? Das Ganze ist oft mehr als die Summe der Teile; die Analyse aber neigt dazu, eine Summe von Teilen an die Stelle eines Ganzen zu setzen. So könnte auch hier das Resultat sein, daß gerade die Einstellung auf die reine Beschreibung des Gegebenen hin uns wichtige Bestandteile des Gegebenen eskamotiert [weginterpretiert - wp] und anderes an seine Stelle schiebt. Man sieht leicht, daß hier wirkliche und keineswegs unbedeutende Schwierigkeiten für die phänomenologische Deskription vorliegen, die zu Differenzen in den Anschauungen führen können.

Auch in diesem letzterwähnten Fall gewährt indessen die Herbeiziehung von Erinnerung und Phantasie eine gewisse Möglichkeit der prinzipiellen Entscheidung. Wir hören einen Klang, erst als einheitliches Ganzes, dann, indem wir uns auf seine Teiltöne oder auf diesen oder jenen einzelnen dieser Teiltöne einstellen. Dann zeigt uns der Vergleich des jetzt mit dem früher Gehörten, daß durch unsere Aufmerksamkeitseinstellung auf die Teiltöne in der Tat etwas Neues, etwas Anderes entstanden ist, daß wir also nicht ohne weiteres sagen dürfen, die Teiltöne seien schon vorher gegeben gewesen. Andererseits: ich habe ein Gesamterlebnis gehabt, und nun weist mir die Erinnerung an  eben dieses  Gesamterlebnis in ihm gewisse charakteristische Teilerlebnisse auf: dann werde ich behaupten dürfen, daß jene Teilerlebnisse damals  mitgegeben  waren, denn die Erinnerung zeigt mir ja eben in diesem damaligen Gesamtinhalt diese Teile als gegeben. Man sieht, worin der Unterschied beider Fälle liegt: die Erinnerung ist ein Mittel, den  früheren Tatbestand selbst  noch einmal, nämlich durch die Vermittlung des Erinnerungsbildes, zu untersuchen, das Ergebnis, das sie liefert, gibt also (die Treue der Erinnerung vorausgesetzt) die Beschaffenheit des früheren Tatbestandes selbst. Die hinterher kommende Analyse des Klanges dagegen vollzieht sich an einem Wahrnehmungsinhalt, der gegenüber dem voraufgehenden (dem unanalysierten Ton) eben einfach ein  neuer  Wahrnehmungsinhalt ist, nicht die Funktion einer Darstellung jenes voraufgehenden Inhalts besitzt. Schließlich: ich zerlege ein Gesamterlebnis in der Erinnerung in seine Bestandteile, aber die Bestandteile, die ich hier einzeln fassen, gewissermaßen isolieren kann, zeigen zusammengefaßt immer noch etwas charakteristisch Verschiedenes, einen Mangel gegenüber dem damaligen Gesamterlebnis: dann werde ich zu dem Ergebnis kommen, daß jenes Gesamterlebnis eben doch noch einen besonderen Zug aufweist, der sich aus irgendwelchen Gründen nicht in der Art zur Abhebung bringen läßt, wie es bei jenen anderen Teilerlebnissen möglich war. Irrtümer, Unsicherheiten des Urteils werden freilich auch so immer noch möglich bleiben. -

Dazu aber tritt nun eine zweite Möglichkeit, eine zweite Irrtumsquelle. Zum Beschreiben des Gegebenen gehört auch, daß wir das Gegebene mit  Worten  bezeichnen und wiedergeben. Es könnte sein, daß diese Wiedergabe unvermerkt allerhand hinzutut, eine unbeabsichtigte Formung oder Beurteilung des Gegebenen enthält und so hinterher, indem sie fälschlich als eine reine Deskription unbesehen genommen wird, uns etwas als "gegeben" behaupten läßt, was es tatsächlich nicht war. MARTY, der auf diese Irrtumsquelle neuerdings hingewiesen hat, spricht von einer Fälschung des deskriptiven Befundes durch die "innere Sprachform". Er wirft z. B. der Einfühlungstheorie vor, daß sie sich durch die innere Sprachform täuschen läßt, wenn sie allerhand gebräuchliche Redewendungen, die leblosen Dingen eine Tätigkeit zuschreiben, so versteht, als ob der Redende hier wirklich Leben, Seelisches in das Ding hineinfühlt (7). Oder, um von mir aus ein Beispiel anzuführen: ich konstatiere das Vorhandensein eines bestimmten Gefühlserlebnisses in den Worten "ich fühle Lust". Diese Worte zerlegen das Erlebnis in drei Faktoren: die Lust, das Fühlen der Lust und das fühlende Ich, sie konstatieren scheinbar das Vorhandensein dieser Dreiheit. Aber der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, daß diese Dreiteilung nur der sprachlichen Form zur Last fällt.

Mir scheint diese Irrtumsquelle, wenn wir sie genauer betrachten, von nicht zu unterschätzender Bedeutung zu sein, insbesondere auch im Hinblick auf das, was im vorigen Paragraphen festgestellt wurde. Wir bezeichnen einen vor uns stehenden Gegenstand ganz unmittelbar in der Absicht, ihn lediglich zu beschreiben oder zu bezeichnen, mit einem bestimmten Wort. Darum kann, wie uns die alltägliche Erfahrung lehrt, das von uns gebrauchte Wort noch sehr wohl bereits eine Beurteilung des Gegenstandes involvieren: eine Beurteilung in Bezug auf seine Herkunft, auf das, was wir von ihm zu erwarten haben, ohne daß wir uns dieser Beurteilung bewußt zu werden brauchen. Sie wird als solche gar nicht von uns vollzogen, sie liegt nur implizit im Sinn des Wortes, das sich uns instinktiv als die passendsten Bezeichnung des fraglichen Dings darbot. Stände der "Sinn" des von uns gebrauchten Wortes jedesmal gegeben vor uns, dann freilich müßten wir uns ohne weiteres darüber klar sein, wieweit das Wort wirklich den Tatbestand, den wir fassen wollen, deckt, aber wir wissen bereits: das ist nicht der Fall. Es bedarf daher einer besonderen Reflexion auf diesen Sinn, einer besonderen Überlegung, die sozusagen den Sinn erst mit dem gerade gegebenen Tatbestand konfrontiert, um überhaupt festzustellen, ob und wieweit das Wort als Benennung oder Beschreibung des Gegebenen gelten darf. Wenn mir also z. B. die Frage vorgelegt wird, was ich in diesem Augenblick "sehe", d. h. was mir als Gesehenes unmittelbar gegeben ist, so werde ich gewiß zunächst antworten: mein Schreibtisch. Aber damit ist nur bewiesen, daß mir ein Etwas gegeben ist, das mir automatisch diese Bezeichnung nahelegt; will ich wissen, ob es wirklich eine exakte phänomenologische Bestimmung war, die ich ausgesprochen habe, so much ich mich weiter fragen, ob nicht implizit in der Behauptung, das was ich hier sehe, sei mein Schreibtisch, erheblich mehr steckt, als eine bloße Benennung, ob wirklich der Ausdruck "mein Schreibtisch hier" ersetzbar ist seinem Sinn nach durch etwas, das mir hier gegeben vor Augen steht. Und ich kann auf diesem Weg eventuell zu dem Ergebnis kommen, daß es eines sehr viel komplizierteren Ausdrucks bedarf, um wirklich das hier Gegebene zu benennen.  Die Phänomenologische Festlegung des Gegebenen und eine naive Beschreibung desselben, - so können wir das kurz zusammenfassen - sind toto coelo  [absolut - wp]  verschiedene Dinge. 


6. Das Problem des Allgemeinen

Nachdem in den vorigen Paragraphen der Begriff der "Gegebenheit" umschrieben und zugleich die Bedingungen festgelegt sind, unter denen wir allein im exakten Sinn vom Gegebensein eines Tatbestandes reden können, wenden wir uns nun zu der Frage zurück: Läßt sich wirklich "der Sinn" aller von uns gebrauchten Worte zur Gegebenheit bringen, d. h. läßt sich jedem Wort ein gegebener Tatbestand zuordnen, der das betreffende Wort ersetzen, der als der Tatbestand gelten könnte, desse Name das Wort ist?

Ich stelle diese Frage gleich mit Rücksicht auf ein spezielles Problem: das Problem des  Allgemeinen.  Korrespondieren den Worten allgemeiner Bedeutung als solchen erfaßbare Gegenstände, Gegenstände, die wir uns zur Gegebenheit bringen können? Es ist offenbar der alte Gegensatz des Begriffs- Nominalismus  und Begriffs- Realismus  oder  -Konzeptualismus,  auf den wir hier stoßen. Der Nominalismus jeder Schattierung - das macht eben sein Wesen aus - behauptet, daß die allgemeinen Begriffe, die allgemeinen Gegenstände Fiktion sind, Gegenstände, die in keinem Sinn, weder als reale, noch als ideale, weder als physische, noch als psychische, weder als selbständige, noch als Teilgegenstände existieren, Gebilde, die uns also auch in keiner Form bekannt werden können, unter keinen Umständen als phänomenale Gegebenheiten für uns da sein können. Da nun die Frage nach dem Sinn eines Wortes nur dadurch endgültig beantwortbar ist, daß wir uns den Tatbestand, dessen Name das Wort ist, eben zur Gegebenheit bringen, so folgt, daß die allgemeinen Worte als solche eben überhaupt  keinen Sinn haben,  daß sie gar nichts bezeichnen, daß sie  leere  Worte, d. h. Laute, "flatus locis" sind; jede Redeweise, die ihnen einen Sinn zuweist, ist eine bloße Fiktion. Die einzige Frage, die zu beantworten übrig bleibt, ist die: wie eine solche Fiktion entstehen konnte, wie wir dazu kommen, Worte zu gebrauchen, von denen wir meinen, ihnen entspricht ein bestimmter, faßbarer Gegenstand, die wir so behandeln,  als ob  dies der Fall wäre, während es sich doch in der Tat nicht so verhält. In der Beantwortung dieser Frage gehen dann die verschiedenen nominalistischen Theorien - der mittelalterlichen Nominalisten, eines BERKELEY, eines HUME - auseinander.

Beantwortet man die Frage, ob wir uns auf irgendeinem Weg allgemeine Gegenstände als solche zur Gegebenheit bringen können,  verneinend,  so steht man  eo ipso  [schlechthin - wp] auf dem Boden des Nominalismus. Auf der anderen Seite müssen alle konzeptionalistisch-realistischen Lösungen des Problems - von PLATO bis zu den modernen Gegenstandstheoretikern - wieweit sie sich auch voneinander entfernen mögen, darin übereinstimmen, daß die allgemeinen Begriffe oder Gegenstände in irgendeiner Form existieren, und  für uns,  von uns erfaßbar, als phänomenale Gegebenheiten existieren. In der Frage, wie wir diese Existenz und wie wir dieses Erfassen näher zu bestimmen haben, gehen nun wieder die verschiedenen konzeptionalistischen Anschauungen auseinander. Wir können hier in der Hauptsache vier typisch verschiedene Auffassungen unterscheiden, die wir als diejenige PLATOs, ARISTOTELES, LOCKEs und der modernen Gegenstandstheoretiker (HUSSERL und MEINONG, die unabhängig voneinander zu offenbar sehr verwandten Theorien gekommen sind) bezeichnen.

Die Entdeckung des "Begriffs" und das heißt in diesem Fall: des Allgemeinen im Gegensatz zum Individuum ist bekanntlich die Leistung des SOKRATES, von dem sie PLATO übernimmt. Welchen Wert PLATO ihr beimißt, wie sehr der Begriff des  Begriffs  im Mittelpunkt seiner Philosophie steht, ist bekannt. Wenn im "Protagoras" über die Tugend, im "Theaetet" über die Erkenntnis gesprochen werden soll, so ist jedesmal das erste, das festgelegt wird: es handle sich nicht um eine Aufzählung der einzelnen Tugenden, Erkenntnisse oder Erkenntnisarten, sondern um eine Bestimmung  "der"  Tugend und  "der Erkenntnis, nicht um eine Angabe jenes  Vielerlei  von Gegenständen, die wir als Tugenden und Erkenntnisse bezeichnen, sondern um ein Erkennen des  einen  Gebildes, zu dem wir sie durch diese Bezeichnung logisch in Beziehung setzen. Damit ist zunächst beides scharf geschieden: die Summe, die Vielheit, die Mannigfaltigkeit der Individuen und das ihnen gegenüberstehende einheitliche Allgemeine, unter das wir sie befassen, platonisch gesprochen: an dem sie teilhaben - "der" Mensch und die unbestimmt vielen einander ähnlichen und auch voneinander verschiedenen einzelnen Menschen (8).

Der Grund, aus dem PLATO auf die Unterscheidung des Allgemeinen vom Individuum einen son besonderen Wert legt, der Grund, aus dem er überall auf die Wesensbestimmung  allgemeiner,  nicht individueller Gebilde ausgeht, liegt offenbar darin, daß ihm zuerst, vielleicht unter der Nachwirkung sokratischer Gedanken, der Zusammenhang wissenschaftlicher  Einsicht,  einsichtigen Begreifens, evidenter Wahrheitserkenntnis auf der einen Seite und  allgemeiner  Erkenntnis auf der anderen Seite aufgegangen ist; jener Zusammenhang, den KANT bezeichnet, indem er "Allgemeinheit" und "Notwendigkeit" in der Erkenntnis Wechselbegriffe nennt. Indem wir uns über das Resultat, das uns die tatsächliche Ausmessung der Winkelsumme eines  einzelnen  Dreiecks liefert, zu der Erkenntnis erheben, daß des  dem  Dreieck überhaupt nicht wesentlich ist, die Winkelsumme  2 R  zu haben, erheben wir uns von der bloßen Tatsachenkonstatierung, wie sie der Feldmesser übt, zur wissenschaftlichen Einsicht des Mathematikers. Und diese Erkenntnis, daß die wissenschaftliche Wahrheitserkenntnis es stets mit dem Allgemeinen zu tun hat (die er offensichtlich zuerst an der Mathematik eingesehen hat) wird für PLATO dann dadurch besonders wichtig, daß sie ihm den Weg bahnt, um seinen Hauptgegner, die Skepsis der Sophisten, niederzuwerfen. Die schrankenlose sophistische Skepsis gipfelt in dem Satz, daß es keine für alle Menschen gültige Wahrheit gibt. Wir tauchen beide Hände in dasselbe Wasser, und der einen Hand erscheint es kalt, der anderen warm - wie es hier keinen Sinn hat, wenn die Hände sich streiten wollten, welche von ihnen recht hat, so hat es auch keinen Sinn, wenn zwei Menschen bezüglich ihrer Gedanken sich streiten, wer sich von ihnen Wahrheit, wer sich Falsches vorstellt; für einen jeden ist eben  sein  Gedanke wahr. Es gibt kein Überzeugen, Beweisen oder Widerlegen, sondern nur ein Überreden, d. h. der Versuch, durch die Kunst der Rede (wie sie die Sophisten zu lehren vorhaben) dem andern die eigene Vorstellung anstelle der seinen aufzusuggerieren. PLATO sucht diese Skepsis zu widerlegen, indem er das Richtige, das in den Argumenten und Beispielen der Sophisten liegt, aufnimmt und on den falschen Folgerungen scheidet: Überall da, wo es sich nur um einzelne individuelle Gebilde handelt, gibt es allerdings keine allgemeingültige Wahrheit, gibt es kein Erkennen, sondern nur ein Vorstellen, ein Meinen, denn das Einzelne ist ein Entstehendes und Vergehendes, ein beständig sich Veränderndes, ein je nach der Betrachtungsweise Verschiedenes, wie auch die Beispiele der Sophisten zeigen - wie kann von einem Etwas, das niemals in strenger Identität erfaßbar ist, etwas gelten, ewig und für jedermann gelten, wie es der Gedanke der Wahrheit erfordert? So weit haben die Sophisten recht, aber den einzelnen und individuellen Gegenständen stehen nun die allgemeinen Begriffe gegenüber, die nicht entstehen und vergehen, die ihrem Wesen nach der Veränderung entrückt sind, deren jeder der Mannigfaltigkeit der sich verändernden Individuen als das Eine sich Gleichbleibende gegenübersteht. Der einzelne Mensch ist erst Kind, dann Jüngling, dann Mann und Greis; wir können ihm also keine dieser Bestimmungen als wirklich geltend beilegen, er ist in einer Hinsicht Sohn, in einer anderen zugleich Vater, es gelten also widersprechende Bestimmungen für ihn. Dagegen kann der Begriff des Kindes nie zum Begriff des Greises werden, dagegen stehen die Begriffe "Vater" und "Sohn" stets in einem festen Verhältnis zueinander. Das einzelne Ding kann aus einem zu zwei, drei und mehr werden: ich brauche es nur zu zerbrechen, ja es  ist  zugleich eines und eine Vielheit, denn es schließt Teile in sich; dagegen kann die Zahl  1  nie zur Zahl  2  werden, sondern zwischen beiden besteht unabänderlich eine bestimmte mathematische Beziehung. Darum gibt es nun in Bezug auf die allgemeinen Begriffe das, was es in Bezug auf die individuellen Dinge nicht gibt: eine streng gültige Wahrheit und Erkenntnis. Diese Erkenntnis bezieht sich eben auf die unveränderlichen Beziehungen, die zwischen den Begriffen bestehen, auf die systematische Ordnung des Begriffssystems. Freilich mittelbar übrträgt sich auch auf die Individuen, was für die Begriffe gilt, soweit die Individuen an den Begriffen teilhaben, sofern sie unter die Begriffe fallen, gilt auch für sie das, was für die Begriffe gilt:  sofern  der Mensch Kind ist, ist er nicht Greis,  sofern  das Ding eines ist, ist es keine Mehrheit usw.

Der Weg zu der von den Sophisten geleugneten Wahrheitserkenntnis ist der Weg zu den allgemeinen Begriffen. Die allgemeinen Begriffe aber bilden eine in sich zusammenhängende Welt eigener, für sich bestehender, d. h. nicht in den individuellen Dingen, sondern getrennt von ihnen und nur in logischer Beziehung zu ihnen stehender ewiger und unveränderlicher Gegenstände. Wie nun erfassen wir diese Gegenstände? Es ist nicht gut zu verkennen, daß, indem PLATO dieser Frage nähertritt, die "Ideen" sich in ihrer Existenzweise stark den individuellen Dingen zu nähern beginnen. Wir "sehen"  den  Menschen nicht, wie wir die einzelnen Menschen sehen, aber wir erfassen ihn denkend angesichts des einzelnen Menschen. Dieses Erfassen aber wird nun als ein Erinnern bezeichnet: der Anblick des einzelnen Menschen ruft in mir die Erinnerung an die Idee des Menschen wach. Erinnern aber können wir uns nur an das, was wir früher gesehen, geschaut haben, so müssen wir also in einer Präexistenz in der Welt der Ideen so gelebt und diese Welt so geschaut haben, wie wir jetzt in der Welt der körperlichen Dinge leben.

Wir haben, so sagte ich eben schon, den unmittelbaren Eindruck, daß mit dieser Wendung ins Metaphysische in gewisser Weise gerade der Charakter des Logisch-Allgemeinen der Ideen zerstört wird, daß sie selbst zu etwas Individuellem werden. Der Grund ist leicht einzusehen. Alles, was zu einer bestimmten Zeit existiert, das "hic et nunc" [hier und jetzt - wp] ist eben damit zugleich ein Individuelles. Wir können ihm einen allgemeinen Begriff zuordnen, in den wir alle qualitativen Bestimmtheiten dieses Individuums in Gedanken aufnehmen können und wenn wir uns den gleichen  einen  Gegenstand - was wir ja jederzeit können - als noch zu einer anderen Zeit existierend vorstellen, so stellen diese zwei Gegenstände zwei Verkörperungen desselben Begriffs vor. Das Allgemeine muß also als etwas gedacht werden, das  seinem Wesen nach  weder jetzt, noch zu irgendeiner anderen Zeit existiert; sobald wir von etwas reden, das in dieser Weise an einen Zeitpunkt geheftet ist, sind wir bereits beim Individuum. Das Allgemeine muß demnach als zeitlos gedacht werden - aus dieser Zeitlosigkeit aber macht die metaphysische Ideenlehre PLATOs eine ewige Existenz im Sinn eines Immerwährenden. Was aber immer da ist, existiert auch zu einer bestimmten Zeit. So wird das Allgemeine aus einem zeitlos idealen zu einem zeitlich realen und damit zu einem individuellen Gebilde. Der letzte Grund dafür aber liegt auf der Hand: Die Ideen müssen erfaßbare Gegenstände sein, aber dieses Erfassen kann sich PLATO eben nur nach einer Analogie zur Wahrnehmung individueller Dinge vorstellen (9).

Indem nun "das" Rot zu einer Art Individuum neben dem einzelnen Rot, "der" Mensch zu einer Art wirkliches Wesen neben dem einzelnen Menschen wurde, entstanden die bekannten Schwierigkeiten, auf die ARISTOTELES in seiner Kritik hinweist. Dazu kamen die besonderen Unzuträglichkeiten, die sich aus der metaphysischen Wendung der Dinge bei PLATON ergaben, daraus, daß die Ideen nicht nur eine Welt neben der der Individuen, sondern schließlich die allein wirkliche und wahre WElt ausmachen sollten, zugleich der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis. Freilich sollten die Dinge an den Ideen teilhaben - aber was sollte unter diesem "Teilhaben" verstanden sein? So werden wir von PLATO zur aristotelischen Lösung des Problems des Allgemeinen hingeführt.

ARISTOTELES nimmt zunächst Anstoß am metaphysischen Jenseits der Ideenwelt, das ihm als eine überflüssige Verdopplung der Wirklichkeit erscheint. So verlegt er das Allgemeine in die individuellen Dinge hinein. "Der" Mensch existiert nicht als ein besonderes Wesen außerhalb des einzelnen Menschen. Aber an jedem einzelnen Menschen können wir zweierlei unterscheiden: die rein individuellen Eigentümlichkeiten, die ihn von anderen Menschen unterscheiden, und die allgemein menschlichen Züge, die er mit anderen gemein hat und die ihn eben zum Menschen machen. Der Inbegriff aller diesen Menschen gemeinsamen Züge in jedem menschlichen Individuum ist der Mensch, d. h. das allgemein Menschliche, die "Menschheit" im allgemein abstrakten Sinn. Im Anschluß an PLATO erhält dann freilich dieser Gedanke bei ARISTOTELES noch eine besondere Wendung. Nur in Bezug auf das Allgemein-Begriffliche, hatte PLATO gelehrt, gibt es eine wissenschaftliche Einsicht, gibt es Notwendigkeitszusammenhänge, gibt es eine streng gültige Wahrheit, das rein Individuelle ist demgegenüber das nur Zufällige, wissenschaftlich nicht Bestimmbare. Damit wird dann weiter die Welt der Ideen zum eigentlich Wirklichen, die Welt des Individuellen zum bloßen Schein. Diese Vorzugsstellung des Allgemeinen für die wissenschaftliche Wahrheitserkenntnis (wie auch die darauf sich gründende Widerlegung der Sophistik) behält ARISTOTELES bei und dadurch auch die darauf sich gründenden Konsequenzen. Damit wird das Allgemeine im Individuum zugleich zu eigentlich wirklichen Wesenskern desselben, um das sich, wie eine äußerliche Schale, die "zufälligen", rein individuellen Bestimmungen legen. Der einzelne Mensch ist in erster Linie  Mensch  - damit ist sein innerstes Wesen ausgedrückt, zu dem dann nur als eine Wirklichkeit zweiter Ordnung die individuellen Eigentümlichkeiten treten. Damit glaubt ARISTOTELES die platonische Lehre verbessert und zugleich das eigentlich Richtige in ihr erhalten zu haben. Die allgemeinen Gegenstände werden nicht zu einer besonderen metaphysischen Wirklichkeit außerhalb der individuellen Dinge, und die individuellen Dinge werden nicht zu einer bloßen Scheinwelt herabgedrückt, sondern sie bleiben die einzige Wirklichkeit. Andererseits bleibt doch, wie PLATO gelehrt hat, das Allgemeine der alleinige Gegenstand wahrer Erkenntnis und damit das eigentlich Wirkliche: denn wir müssen im Individuum zwischen dem wahren Wesen und den zufälligen Anhängseln unterscheiden, und dieser Unterschied fällt mit dem des allgemeinen Begriffs und der individuellen Eigentümlichkeiten zusammen. Schließlich ist an die Stelle jenes unbestimmbaren "Teilhabens" der Dinge an den Ideen, wie es den Anschein hat, eine klarere Vorstellung vom Verhältnis zwischen Individuum und allgemeinem Begriff getreten, indem eben das Allgemeine zu einem (abstrakten) Teil des Individuums, zu dem in verschiedenen Individuen identisch wiederkehrenden Teil geworden ist.

Die allgemeinen Gegenstände sind also für ARISTOTELES ein direkt Erfaßbares, so erfaßbar wie die Individuen, denn sie sind ja  in  ihnen durch Abstraktion von den rein individuellen Bestandteilen erfaßbar.

Ist nun diese Lehre haltbar und verbessert sie wirklich die Schwierigkeiten der platonischen Auffassung? So naheliegend sie scheint, zeigt die genauere Betrachtung doch bald, daß dies nicht der Fall ist. Wenn das Allgemeine in irgendeinem Sinn existieren soll, so muß es, das hatte PLATO mit Recht betont, ein Einheitliches und Identisches sein gegenüber der unbestimmten Vielheit der Individuen. "Der" Mensch ist  eines  im Unterschied zu den  vielen  einzelnen Menschen usw. Und während alles Individuelle ein zeitlich und eventuell örtlich Bestimmtes ist, jeder einzelne Mensch sich zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort befindet, ist "der" Mensch etwas Zeitloses, kein "hic" et "nunc". Nun habe ich zwei Menschen vor mir, ich abstrahiere von ihren individuellen Zügek, ich fasse nur das Gemeinsame an ihnen ins Auge - wird dadurch aus diesen zwei Menschen ein einheitliches,  identisches  Gebilde? Man darf sich hier durch den Ausdruck: "wir achten auf das  Gemeinsame"  nicht irreführen lassen, denn dieses "Gemeinsame" ist nicht ein Identisches, sondern ein  Gleiches, gleiche  Züge finden sich im einen wie im anderen, und auf sie achte ich, aber Gleichheit ist nicht Identität, sondern setzt im Gegenteil eine Zweiheit voraus. Ich betrachte zwei blaue Farben in Bezug auf das, was in ihnen gleich ist; diese gleichen abstrakten Momente aber werden zu etwas Identischem nur insofern, als sie "dasselbe blau" sind, d. h. als sie derselben Gattung angehören. Von Identität ist also nicht schon aufgrund der Abstraktion, sondern erst dann die Rede, wenn die beiden gleichen Gebilde unter  einen  allgemeinen Begriff gefaßt werden, also ist das abstrahierend Herausgehobene als solches eben - noch nicht das Allgemeine, wenn auch zugegeben ist, daß das abstrahierende Herausheben der gleichen Momente in einer gewissen Beziehung zur Befassung der betreffenden Individuen unter denselben Begriff steht, daß wr, genauer gesprochen, verschiedene Individuen ein und demselben allgemeinen Begriff nur da unterordnen, wo wir dergleichen gleiche Bestandteile finden. (10) Es sei noch besonders betont, daß, auch wenn wir von der raumzeitlichen Stellung eines Gegenstandes absehen, nicht etwa aus dem individuellen ein allgemeiner Gegenstand wird. Wenn ich bei einem Ding davon absehe, daß es gerade hier und jetzt existiert, wenn ich auf seine raumzeitliche Bestimmtheit nicht achte, so heißt das: ich sehen von der bestimmten Raum- und Zeitstelle ab, an der es sich befindet, ich kann es in Gedanken an jede beliebige andere Stelle versetzen, ich kann seine Raum- und Zeitstelle ganz  unbestimmt  lassen - aber das heißt nicht: es wird zu einem  zeitlosen  Gebilde, zu einem Gebilde, das seinem Wesen nach nicht zu einer bestimmten Zeit existiert, dessen Existenz mit der wirklichen Zeit und dem wirklichen Raum nichts zu tun hat, wie dies für "den" Menschen, für "das" Dreieck, "die" Zahl "3" usw. zutrifft, kurz für jeden allgemeinen Begriff (11).

So ergibt sich als Resultat: entweder die Rede von  einem  identischen allgemeinen Gegenstand, "dem" Menschen, "der" Farbe usw. ist eine bloß  fiktive  Rede: dann stehen wir beim Nominalismus. Oder es gibt ein solches Gebilde, dann müssen wir insofern von ARISTOTELES zu PLATO zurückkehren, weil wir dieses Gebilde nicht  im  Individuum, sondern  außerhalb  desselben, wenn auch nicht als real existierendes Ding suchen müssen.

Und nun die andere Seite der aristotelischen Theorie. ARISTOTELES will die metaphysischen Bestandteile der platonischen Lehre ausmerzen, aber ist ihm das wirklich gelungen? Die metaphysische Wirklichkeit des Allgemeinen bleibt im Grund doch dieselbe, wenn auch das Allgemeine in das Individuum hineinverlegt wird. Vor allem: wenn das Allgemein-Begriffliche das Wesen der Dinge sein soll, so ist damit gesagt, daß es für jeden individuellen Gegenstand nur  einen  allgemeinen Begriff gibt, unter den er gehört und den zu finden unsere Aufgabe ist. Nun drängt sich uns demgegenüber doch die Überzeugung auf, daß die Begriffsbildung innerhalb gewisser Grenzen doch eine Sache unserer  Willkür  ist, daß wir zwei Gegenstände, sofern sie gewisse Züge gemeinsam haben, auch immer unter denselben Begriff befassen, daß wir demnach einen Gegenstand beliebig vielen Begriffen zuweisen können. Dieser Seite der allgemeinen Begriffe wird offenbar weder die von Ewigkeit her unveränderlich bestehende platonische Ideenwelt, noch die aristotelische Vorstellung des ebenfalls unveränderlich sich gleichbleibenden begrifflichen Wesens in jedem einzelnen Ding gerecht. Damit werden wir zu LOCKE hingeführt.

LOCKE geht davon aus, daß uns zunächst das, was uns die Wahrnehmung bietet, allein gegeben ist, und alles Wahrgenommene als solches ist individuell. Aus den Wahrnehmungen aber schafft der Geist neue Gebilde, indem er sie einerseits in Teile zerlegt und andererseits zu neuen Ganzen kombiniert. So entstehen auch die allgemeinen Vorstellungen. Wir haben Dreiecke verschiedenster Form gesehen, und nun vereinigen wir das Gesehene und Erinnerte zu der  einen  Vorstellung  des  Dreiecks überhaupt, des "Dreiecks im allgemeinen". Dieses Dreieck im allgemeinen ist nicht etwas metaphysisch Wirkliches  jenseits,  noch etwas physisch Wirkliches  in  der wahrgenommenen Welt, sondern es ist etwas durch uns Geschaffenes, das daher auch nur als unsere Vorstellung existiert.

Daß LOCKE damit das Metaphysische aus der platonischen und aristotelischen Doktrin abgestoßen hat, ist klar. Aber ebenso klar ist, daß sich gegen die Gemeinbilder, die die Phantasie seiner Meinung nach schaffen soll und durch die er das Problem des Allgemeinen lösen will, schließlich dieselben Einwände erheben lassen, wie gegen PLATOs Ideen und gegen ARISTOTELES abstrakte Gegenstände: sie sind ganz offenbar zeitliche Gebilde, sogar entstehend und vergehend, und damit individuelle Gegenstände. Nur keine physischen, sondern psychische. Dazu kommen die bekannten Unzuträglichkeiten, die sich aus der notwendigen Vereinigung widerstreitender Elemente in jenen Gemeinbildern und auf die dann BERKELEY seine scharfe Kritik der LOCKE'schen Lehre gründet.

So dem Wort allgemeiner Bedeutung wirklich ein erfaßbarer Gegenstand entsprechen, so kann dieser Gegenstand nicht als ein abstrakter Teil der individuellen Gegenstände, noch als ein aus ihnen gebildetes, schließlich auch individuelles Phantasiebild, sondern er kann nur als ein Gegenstand eigener Art,  zeitloser  Natur gedacht werden, der - insofern müssen wir zu PLATO zurückkehren - jenseits alles physisch und psychisch Wirklichen steht. Wir müssen diesen Gegenstand erfassen, freilich mit Hilfe der Wahrnehmung individueller Gegenstände, nur nicht in der Form einer bloßen assoziativ ausgelösten Erinnerung, nicht in der Form einer abstrahierenden Heraushebung und nicht in der Form phantasierender Zusammenfassung, sondern eben in einer eigenen Form, in einem besonderen "Akt" der Generalisierung. Damit sind wir nun bei der Position der modernen Gegenstandstheoretiker angelangt, die sich, fast möchte man sagen von selbst, als Ergebnis der Kritik der platonischen, aristotelischen und LOCKEschen Lehre herausstellt.

Ich zitiere das Beispiel HUSSERL:
    "Indem wir das Rot  in specie  meinen, erscheint mir ein roter Gegenstand, und in diesem Sinn blicken wir auf ihn (den wir doch nicht meinen) hin. Zugleich tritt an ihm das Rotmoment hervor, und insofern können wir auch hier wieder sagen, wir blicken darauf hin. Aber auch dieses Moment, diesen individuell bestimmten Einzelzug an einem Gegenstand, meinen wir nicht, wie wir es z. B. tun, wenn wir die phänomenologische Bemerkung aussprechen, die Rotmomente der disjunkten [unterschiedenen - wp] Flächtenteile seien ebenfalls diskunkt. Während der rote Gegenstand und an ihm das gehobene Rotmoment erscheint, meinen wir vielmehr das eine identische Rot, und wir meinen es in einer neuartigen Bewußtseins weise,  durch die uns eben die Spezies statt des Individuellen gegenständlich wird." (Logische Untersuchungen II, Seite 106f.
Wir "meinen" das eine identische Rot, das heißt natürlich nicht nur: wir meinen es etwa in Worten, sondern wir  erfassen  es, wie das ja auch der Ausdruck: "es wird uns  statt  des Individuellen  gegenständlich"  offenbar besagen soll.

Ich glaube nicht, daß diese Theorie HUSSERLs in der Weise angreifbar und widerlegbar ist, wie diejenige eines ARISTOTELES und LOCKE. Sie sieht sich nicht gezwungen, einem allgemeinen Gegenstand Eigenschaften, die ihn doch wieder zu einem individuellen machen, zuzusprechen.

Die Widerlegung MARTYs (Untersuchung zur Grundlegung usw. Bd. 1, Seite 337f) kann ich nicht als stichhaltig anerkennen. Sie geht gerade von der Verwechslung aus, die HUSSERL bekämpfen will, von der aristotelischen Verwechslung des abstrakten und individuellen Teilinhalts und des Allgemeinen (des "Rotmoments" und "der Röte in specie"). Auf die Frage, ob "die" Farbe nur einmal oder auch wieder in "dem" Blau und "dem" Rot existiert, was zu den bekannten Unzuträglichkeiten führen würde, ist zu erwidern, daß "die" Farbe als identischer Gegenstand nur einmal, im Blau und Rot aber das abstrakte Farbmoment existiert, das sich zu "der" Farbe als Spezies verhält, wie das Rotmoment in dem jetzt von mir gesehenen Rot zu "dem" Rot als Spezies. Die Behauptung aber, die Existenz wahrer Gattungen  "in abstracto"  und  "für sich"  involviert einen Widerspruch, beruth auf einer nicht klaren Ausdrucksweise. Ein Widerspruch wäre es, wenn man von einem  in concreto  existierenden  abstrakten  Teilgegenstand eines Individuums und ebenso wenn man von einer Gattung reden wollte, die nicht  Gattung von etwas  ist, also sich nicht in einer eigentümlichen Beziehung zu etwas Individuellem befindet, die dieses Individuelle unter die Gattung befassen läßt; einen weiteren Widerspruch finde ich nicht. Was schließlich die Frage anlangt, ob die Röte  in specie  in demselben Sinn Röte genannt wird, wie die Röte der vor mir stehenden individuellen roten Farbe, so ist darauf zu sagen, daß bei HUSSERL das Wort "Röte" hier jedesmal dasselbe bezeichnet, nämlich die Röte  in specie,  daß aber der Ausdruck: dieses Betreffende "ist" Röte, jedesmal einen verschiedenen Sinn hat: auf das abstrakte Rotmoment der Farbe vor mir angewandt, besagt er, dieses Moment steht zur Röte ansich in der logischen Beziehung des Individuums zur Gattung; auf die Gattung angewandt, besagt er, sie  heißt  Röte.

So können wir diese Theorie als die einzig mögliche Theorie des Allgemeinen bezeichnen, wenn wir auf der Voraussetzung beharren, daß den Worten allgemeiner Bedeutung erfaßbare Gegenstände entsprechen, daß also die Frage nach dem Sinn solcher Worte überhaupt mit Sinn gestellt werden kann. Sie bleibt also die einzig mögliche Theorie,  wenn wir uns nicht auf den Boden des Nominalismus stellen. 

Trotzdem hat nun diese Theorie, wenn wir sie mit derjenigen eines ARISTOTELES und LOCKE vergleichen, unzweifelhaft etwas Unbefriedigendes. ARISTOTELES und LOCKE versuchen, uns in gewisser Weise das Allgemeine und den Weg, auf dem wir zu ihm vom Individuellen aus gelangen, verständlich zu machen. Sie tun das, indem sie auf den uns auch sonst bekannten Vorgang der Abstraktion oder auf die uns auch sonst bekannte zusammensetzende Funktion der Phantasie rekurrieren, das Allgemeine auf solche Dinge zurückzuführen suchen. Dagegen verzichtet HUSSERL auf jede solche Zurückführung, wir erfahren nur von einem eigentümlichen Akt der Generalisierung und der eigentümlichen Natur der zeitlosen idealen Gegenstände. Jede nähere Beschreibung, jede Bestimmung des Wesens dieser Dinge wird als unmöglich abgewiesen, es wird im Grunde nur gesagt, was sie  nicht  sind (nicht real, zeitlos). Darin liegt die Stärke, die Unwiderlegbarkeit, aber auch die offenbare Schwäche der HUSSERLschen Position. Diese Schwäche wird besonders deutlich, wenn wir weiter berücksichtigen, daß wir auch über das Verhältnis des Allgemeinen zum Individuum keine rechte Auskunft erhalten. Man kann es in verschiedenen Worten bezeichnen: Das Allgemeine ist umfassend, es enthält auch wieder das Individuum, es ist als Gattung sicher vom Individuum verschieden, befaßt es aber doch wieder in sich. ARISTOTELES und LOCKE versuchten, sich von diesem Verhältnis Rechenschaft zu geben; ARISTOTELES, indem er das Allgemeine als den abstrakten Teil beschrieb, den die verschiedenen Individuen gemeinsam haben, der sich in ihnen wiederholt; LOCKE, indem er die allgemeine Vorstellung als ein Phantasieprodukt betrachtete, das durch die Verarbeitung der verschiedenen individuellen Gebilde entsteht. Diese Bestimmungen leisteten nicht, was sie leisten sollten, aber sie waren doch Versuche nach dieser Richtung, während wir bei HUSSERL wieder nur auf ein Letztes und Unbeschreibbares stoßen, wie den "Akt der Generalisierung" und die "idealen Gegenstände". Wir empfinden hier im Grunde dieselbe Unbefriedigung, die wir dem platonischen "Teilhaben" gegenüber haben. Wir stoßen, wo wir eine Beschreibung, ein Verständlichmachen erwarten, entweder auf bloße Worte, die uns nichts Neues sagen (Generalisierung) oder auf vage Analogien, wie das Teilhaben. Und schließlich vielleicht das Wichtigste. Stellen wir Sätze auf über "das" Dreieck, das Dreieck im allgemeinen, so gelten diese Sätze  eo ipso  [ansich - wp] auch für das einzelne, und zwar für jedes einzelne Dreieck, für alle Dreiecke. Bei ARISTOTELES und ebenso bei LOCKE wird dieser Zusammenhang verständlich: Was für das Dreieck gilt, gilt auch vom einzelnen Dreieck, denn das Dreieck ist ja im einzelnen enthalten und es gilt für alle einzelnen Dreiecke, denn es ist ja das in allen gleichmäßig Wiederkehrende. Und ähnlich kann LOCKE sagen: Die einzelnen Dreiecke stecken in der allgemeinen Dreiecksidee, also sind sie mit beurteilt, indem das allgemeine Dreieck beurteilt wird. Dagegen kann HUSSERL diesen Zusammenhang wiederum nicht weiter verständlich machen. Das Dreieck ist ein vom einzelnen Dreieck verschiedener Gegenstand, wenn auch in ihm fundiert und in eigenartiger logischer Beziehung zu ihm stehend. Vermöge dieser Beziehung gilt "evidentermaßen" vom letzteren, was im Wesen des ersteren gründet. Eine Frage nach einem weiteren Warum bleibt unbeantwortbar.

Freilich beruft sich HUSSERL nun für alle seine Bestimmungen auf die unmittelbare phänomenologische Analyse. Was eine rote Farbe ist, läßt sich auch nicht weiter beschreiben, sondern nur in der Anschauung erfassen, zur Gegebenheit bringen. So auch der Akt der Generalisierung und die zeitlos ideale Natur der allgemeinen Gegenstände. Wer auf eine rote Farbe hinblickt und sie dabei speziell als Repräsentantin der Spezies  rot  ins Auge faßt, denkt, beachtet, der hat den betreffenden allgemeinen Gegenstand so direkt bekannt vor sich, der erfaßt auch den Unterschied von allgemeinen und individuellen Gegenständen so unmittelbar, wie wir im Vergleich den Unterschied einer roten und blauen Farbe erfassen. Und in dem wir uns die Beziehung von Spezies und Individuum in dieser Weise zur Gegebenheit bringen, bringen wir uns den Satz zur Evidenz, daß, was für diese Gegenstände  in specie,  auch für ihn  in concreto  gelten muß.

Logisch ist diese Argumentation nicht angreifbar. Aber: Spricht hier die phänomenologische Deskription wirklich so unzweideutig, wie HUSSERL meint? Angesichts des Bestehens der aristotelischen, LOCKEschen und der nominalistischen Theorien erscheint das bereits zweifelhaft. Fragen wir sachlich: Ist es wirklich so, daß, indem wir einen eindividuellen Gegenstand  in specie  betrachten, ein neuer Gegenstand für uns gegeben ist,, eben die Spezies als solche, den wir zu beurteilen, zu vergleichen und zu unterscheiden imstande sind? Ich kann nur sagen, daß mir diese Beschreibung als eine unzutreffende Ausdeutung des phänomenologischen Tatbestandes erscheint.

Freilich, gewisse Verschiedenheiten sind unbedingt zuzugeben. Erstens: Ich kann etwa eine blaue Farbe vor mir  einmal  rein für sich ins Auge fassen und betrachten. Ich bezeichne sie dabei entweder gar nicht oder als "dies hier", "diese Farbe hier" usw. und habe dabei ein Bewußtsein davon, daß diese Worte das hier Betrachtete eben nur benennen, fixieren sollen.  Ein anderes Mal  sage ich von der Farbe, sie ist blaut, eine blaue Farbe. Dann treten für mein unmittelbares Bewußtsein Wort und gegebener Tatbestand in eine andere Beziehung, ich weiß, daß ich hier nicht nur benenne und fixiere, sondern eben beurteile und damit über den hier gegebenen Inhalt hinausgehe. Aber das heißt nicht, daß ich den Gegenstand (oder die Gegenstände), zu dem ich im Sinne meines Urteils die gegebene blaue Farbe in Beziehung bringe, als einen bestimmten Gegenstand gegeben vor mir habe, indem ich das Urteil mit Verständnis ausspreche. Nur allerdings, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, daß, wenn ein Wort verständnisvoll gebraucht sein wird, auch der Gegenstand, den es meint, gegeben sein muß, ist das notwendig. Da HUSSERL auf diesem Standpunkt steht, ist seine Lehre von den unmittelbar erfaßbaren, idealen Gegenständen nur konsequent. Aber dieser Standpunkt wurde schon früher zurückgewiesen.

Zweitens: Wir können etwa ein auf Papier gezeichnetes Dreieck einmal beurteilen mit Rücksicht auf seine individuellen Eigenschaften und einmal zum Zweck einer geometrischen Demonstration mit Rücksicht auf die Wesenseigenschaften des Dreiecks überhaupt. Aber auch hier muß ich bestreiten, daß in diesem Fall für uns ein neuer Gegenstand entstände, der phänomenologische Tatbestand ist vielmehr, scheint mir, nur der, daß gewisse andere Momente an dem gezeichneten Dreieck für die Beachtung hervortreten und daß das Endresultat, sprachlich formuliert, als ein Urteil über das Dreieck überhaupt, für uns vom Bewußtsein getragen ist, daß es sich in seiner Geltung über den Inhalt dieser Zeichnung hinauserstreckt. Warum? diese Frage ist erst noch aufzuwerfen. Um es kurz zusammenzufassen: Es hat einen guten Sinn zu sagen: Wir betrachten das Dreieck einmal als Individuum und einmal als Dreieck überhaupt. Und wir haben ein Bewußtsein davon, ob das eine oder das andere der Fall ist. Aber dieses Bewußtsein scheint mir im zweiten Fall nicht ein Gegebensein der Spezies zu sein, sondern ein Wissen um die Zugehörigkeit des gegebenen individuellen Inhalts zu etwas, das nicht unmittelbar gegeben ist.

Ich vermag also nicht zuzugeben, daß die HUSSERLsche Theorie das Ergebnis einer evidenten phänomenologischen Deskription ist. Umso mehr haben wir das Recht, auf die vorerwähnten Mängel der Theorie hinzuweisen, die eine Reihe von Fragen abschneidet, anstatt sie zu beantworten. Lehnen wir nun HUSSERLs Lehre ab, so bleibt nur noch die Position des Nominalismus übrig. Denn wir sahen: Die Frage nach dem Sinn eines Wortes kann nur dadurch endgültig befriedigend beantwortet werden, daß wir uns einen Tatbestand zur Gegebenheit bringen, durch den das Wort ersetzt werden kann, zu dem es bloß noch als stellvertretender Eigenname gehört. Auf die Worte sogenannter allgemeiner Bedeutung angewandt, heißt das: Wir müssen uns allgemeine Gegenstände zur Gegebenheit bringen - "das" Rot, die Spezies "Ton". Diese Gegenstände können nur so beschaffen sein, wie sie HUSSERL bestimmt: zeitlos und ideell - denn alles Zeitliche ist eo ipso ein Individuum - außerhalb des individuell Gegebenen; von ihm und seinen Teilen geschieden - denn jeder Teil des Individuums ist auch ein individuell bestehendes und vergehendes Gebilde, das sich in gleicher Qualität, aber nicht als ein identisches in den verschiedenen individuellen findet. Gibt es nun solche ideellen Gegebenheiten nicht, so ist die Frage nach dem Sinn jener Worte unbeantwortbar, d. h. diese Worte können einen Sinn in der Bedeutung überhaupt nicht haben, wie wir ihn bisher vorausgesetzt haben. Es sind Worte, denen wir keinen erfaßbaren, uns bekannten Gegenstand zuordnen können, den sie bezeichnen würden und wenn wir von solchen Gegenständen, von allgemeinen Gegenständen reden, so vollziehen wir eine bloße Fiktion. Fassen wir den Begriff "Nominalismus" weit genug, um mit ihm diese freilich zunächst wesentlich negative These zu bezeichnen, so stehen wir mit der Ablehung der HUSSERLschen Theorie auf dem Boden des Nominalismus.

Eine wirkliche Theorie wird der Nominalismus natürlich erst dann, wenn er eine bestimmte Antwort auf die Frage hat, wie wir denn zu derartigen Fiktionen kommen, und mit welchem Recht, in welcher Bedeutung wir denn trotzdem davon reden können, wie wir es tatsächlich tun, daß es allgemeine Begriffe "gibt", unter die die einzelnen, individuellen Gegenstände befaßt werden können. Und wenn wir eine solche Theorie gewonnen haben, so wird es auch Zeit sein, sie daraufhin zu prüfen, ob sie die Fragen, die die HUSSERLsche Lehre abschneidet, befriedigend beantworten kann.

Endlich ein Letztes. Außer auf die unmittelbare phänomenologische Deskription beruft sich HUSSERL für seine Theorie noch auf einen Punkt, auf den er einen besonderen Wert legt. Die "Eigenberechtigung der spezifischen (oder idealen) Gegenstände neben den individuellen (oder realen)" sagt er, sei "das Hauptfundament für die reine Logik und Erkenntnislehre". Sie sei "der Punkt, an dem sich der relativistische und empiristische Psychologismus vom Idealismus unterscheidet, welcher die einzige Möglichkeit einer mit sich einstimmigen Erkenntnistheorie darstellt".
    "Natürlich meint hier die Rede vom Idealismus keine metaphysische Doktrin, sondern die Form der Erkenntnistheorie, welche das Ideale als Bedingung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis überhaupt anerkennt und nicht psychologistisch wegdeutet." (Logische Untersuchungen II, Seite 107f)
Hier liegt der wichtigste Punkt, an dem der Nominalismus seine Daseinsberechtigung vor allem zu erweisen hat; er muß zeigen, daß er die "Möglichkeit objektiver Erkenntnis" nicht aufhebt, daß er nicht zu den unhaltbaren relativistischen und skeptischen Konsequenzen führt. Damit ist zugleich die wichtigste Aufgabe der folgenden Kapitel bezeichnet.
LITERATUR - Ernst von Aster, Prinzipien der Erkenntnislehre [Versuch einer Neubegründung des Nominalismus] Leipzig 1913
    Anmerkungen
    7) ANTON MARTY, Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie, Bd. 1, Seite 175f
    8) Natürlich kann man, muß man in gewissem Sinne allgemeine  Begriffe  und allgemeine  Gegenstände  scheiden. Unter einem "Begriff" wird man sprachgebräuchlich meist etwas verstehen, das nur mentale Existenz besitzt, ein Produkt des Verstandes, und wird dann evtl die Frage stellen, ob das Allgemeine nur als "Begriff" oder auch als (extramentaler, realer oder idealer) "Gegenstand" existiert. Man kann aber beide Worte in ihrer Bedeutung auch weiter und unbestimmter nehmen: das Wort "Gegenstand" gleichbedeutend mit "Etwas" überhaupt nehmen, wie es vorhin schon angedeutet wurde, und unter dem "Begriff" ganz allgemein die Bedeutung eines Wortes als solcher, das in einem Wort Gemeinte verstehen. Dann kann man, wie das im Text geschehen ist, "allgemeiner Begriff" und "allgemeiner Gegenstand" zunächst promiscue [nicht klar voneinander geschieden - wp] gebrauchen. Ich komme später auf den Unterschied zurück.
    9) So geistvoll und konsequent durchgeführt NATORPs Versuch ist, all jene platonischen Termini, die die Welt der Ideen zu einem metaphysischen Jenseits machen, als bloße Bilder zu deuten, so kommen doch meiner Meinung nach Punkte, an denen eine solche Deutung dem Wortlaut und Gedankengang PLATOs Gewalt antut. Sollte wirklich der ganze Unsterblichkeitsbeweis im  Phädon  auf eine Allegorie hinauslaufen?
    10) Vgl. hierzu HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 153f. - Ich übe mit Obigem zugleich Kritik an meinen eigenen früheren Ausführungen in meinen "Untersuchungen über den logischen Gehalt des Kausalgesetztes", Leipzig 1905.
    11) MARTY scheint allerdings (Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik aund Sprachphilosophie, Bd. 1, Seite 328) der Meinung zu sein, man könne die Begriffe als etwas fassen, das zeitlich, aber nicht zu einer bestimmten Zeit existiert. Indessen: was zu  unbestimmter  Zeit existiert, existiert "entweder" jetzt "oder" zu einer anderen Zeit, kann "sowohl" jetzt "wie" zu einer anderen Zeit existieren. Das dürfen wir offensichtlich von "dem" Menschen nicht sagen, sondern nur von "einem beliebigen Menschen", d. h. von einem beliebigen Individuum, das unter den Begriff "Mensch" fällt. "Der" Mensch dagegen, der allgemeine Begriff  Mensch  existiert "weder" jetzt, "noch" zu einer anderen Zeit.